Читать книгу Anna C. - Joachim Günter - Страница 3
Оглавление1. Anfänge.
„Willkommen! Ich darf Sie doch Anna nennen, nicht wahr?“
Er schüttelte ihre Hand und ließ nicht wieder los.
„So ist es ja wohl üblich unter Kollegen. Und nochmals vielen Dank für Ihr Vertrauen. Ich freue mich, für Sie zu arbeiten.“
Niemals würde sie aus Berechnung ein falsches Kompliment machen, sie war glücklich und stolz, sah zu ihm auf und strahlte ihn begeistert an. Ihr Talent und ihre Leistungen in den Jahren zuvor hatten sie in die engere Wahl und schließlich durch eine letzte Entscheidung dieses recht bekannten Mannes an den Job gebracht - die eigene Live-Sendung bei Pro-Tel-Vision! Anfangs eine halbe Stunde in der Woche, später vielleicht sogar zweimal, je nach Einschaltquoten. Ihr großes Ziel schien erreicht. Für 10.00 Uhr hatte der Produzent sie zu sich gebeten, zur letzten Abstimmung, wie er es nannte.
„Nicht so formell! Ich habe dich lange genug beobachtet. Du hast es! Es wurde mein innigster Wunsch, dich in einer meiner Sendungen herauszubringen. Von nun an werden wir vertraut zusammenarbeiten. Und, ganz klar, das Du ist zwar üblich, aber ich verbinde mehr damit.“
Dabei legte er ihr den Arm um die Schultern, zog sie eng, sehr eng an sich heran. Ihre Hand hatte er noch immer nicht losgelassen. Nichts Besonderes; sie wusste, dass in der Branche nun mal eine gewisse Freizügigkeit an der Tagesordnung ist. Wer falsch reagiert, kann leicht als prüde und spießig eingestuft werden und endet im Abseits. Irgendwie empfand sie in diesem Moment sein Engagement allerdings übertrieben, zu direkt.
„Ich brauche die Zusammenarbeit; mir fehlt noch die Sicherheit in einer so anspruchsvollen Aufgabe.“
„Darüber mach dir mal gar keine Gedanken. Ich bin immer für dich da. Und du musst mir natürlich versprechen, auch für mich immer da zu sein. Wir sind ein Team, wir sind Partner.“
„Für Vorbereitungen und Proben gibt es doch wohl einen festen Zeitplan?!“
Er war nicht nur erfolgreich und prominent sondern auch attraktiv. Wenn er ihr Zeit gelassen hätte, wenn er es anders angefangen hätte..... Aber so, wie das jetzt gerade zu laufen schien, wollte Anna es nicht. Sein Arm lag wie eine Klammer um ihre Schultern. Mit festem Griff drehte er sie weiter zu sich herum, legte seine andere Hand in ihre Hüfte und spannte die Muskeln.
„Das mit dem Zeitplan ist selbstverständlich; am kommenden Dienstag beginnen wir. Heute und mit Vorrang geht es um dich und mich.“
Dabei beugte er sich weiter zu Anna hinab, sie konnte nicht anders, als nach oben zu schauen, und noch während er sprach, erreichten seine Lippen fast ihren Mund. Fast. Ohne sich zu rühren, mit ruhiger Stimme ermahnte sie ihn.
„Ich fände es besser, wenn wir Privatleben und Geschäft voneinander trennen. So habe ich es immer gehalten; so soll es auch bleiben.“
Noch ließ er sie nicht los, im Gegenteil nahm seine Muskelanspannung zu.
„Genau umgekehrt ist es bei mir. Eine gute Zusammenarbeit beruht auf größtmöglicher Übereinstimmung, auf Nähe, auf gemeinsamen Wünschen und deren Erfüllung.“
„Dann haben wir wohl ein Problem?“
Jetzt endlich gab er sie frei, nahm seine randlose Brille ab und begann, sie andächtig zu putzen.
„Wir scheinen tatsächlich ein Problem zu haben. Aber eigentlich nicht wir, sondern Sie.“
„Ach ja? Würden Sie mir das bitte erklären?“
„Ich habe versucht, herauszufinden, wie kooperativ Sie sind, wie anpassungsfähig und Team-orientiert. Und Sie spielen sich auf, als müssten Sie hier Ihre Unschuld verteidigen.“
Anna wurde wütend, war enttäuscht, dachte aber keinen Moment daran, das alles hinunterzuschlucken, nur, um ihre Sendung und ihre Zukunft zu retten. Völlig beherrscht und sachlich gab sie ihren letzten Kommentar.
„Sie kennen sicher auch diesen Spruch, dass man sich immer zweimal im Leben begegnet. Also werden wir diese erste Begegnung jetzt beenden und für die nächste bessere Bedingungen erhoffen.“
Dann drehte sie sich um und verließ den Raum, das Studio, den Sender.
Das Erlebnis am Morgen hatte sie in die rechte Stimmung gebracht, noch am selben Tag ein zweites Problem zu lösen. Seit fast einem Jahr plante sie ihre Hochzeit mit Bernhard. Besser gesagt, er plante. Anfangs war sie voll dabei gewesen, doch das ließ nach. Schließlich konnte sie nicht einmal mehr den Namen ertragen: von Schill und Rathlau! Sicher hätte sie auch ihren eigenen behalten dürfen, wenn sie nur genügend hart dafür kämpfte. Aber die Kinder, wie sollten die heißen? Solche Gedanken waren ganz klar nur Symptome; die eigentlichen Gründe für ihre wachsende Abneigung waren andere. Es war nicht ihre Welt. Bernhard war erfolgreich, Makler, auf der Karriereleiter bei einer bedeutenden Firma, nur exklusive Objekte und komplette Unternehmen wurden zur Vermittlung angenommen. Ursprünglich beeindruckt hatte er sie allerdings nicht damit, sondern mit seiner jungenhaft offenen und immer fröhlichen Art. Dass er außerdem ‚gut’ aussah, wie die meisten pauschal zusammenfassend meinten, spielte natürlich auch eine Rolle. Nach und nach vermisste Anna aber den Tiefgang, die Interessen außerhalb des Berufes, die Distanz zu den Äußerlichkeiten. Also Schluss.
Eine kurze, heftige Auseinandersetzung beendete das Kapitel, und Anna war frei.
Bis dahin hatte Anna C. ein recht behütetes Leben geführt; in engem Kontakt mit ihrer Familie, ihrer Zwillingsschwester Lara, ihrer Stiefmutter, ehemals Topp - Model aus Brasilien, und ihrem Vater, einem angesehenen Anwalt. Sie selbst besaß, was ein Mensch sich nur wünschen kann: Ein beneidenswertes Aussehen, Charme, Freunde, Geld, aber auch Klugheit, Unabhängigkeit, Durchsetzungsvermögen. Jedem schien absehbar, dass sie ein Leben mit angemessen großen Erfolgen führen würde, eingebettet in die Annehmlichkeiten und Privilegien der bürgerlichen High Society.
Seit ihrem Abgang von Pro-Tel-Vision und ihrer Trennung von Bernhard räumte sie aber erst einmal weiter auf. Sie ordnete ihre Beziehungen und Freundschaften neu, reiste viel und überprüfte kritisch ihre Einstellungen und ihre Lebensweise.
‚Ist das nicht ein bemerkenswertes Wort: ‚Einstellungen’?’ philosophierte sie. ‚Wir sind ein-gestellt wie eine Eieruhr, wie ein Fernseher auf hell oder dunkel, auf laut oder leise, auf die Sprache und auf den Sender. Das muss ich doch wohl nicht akzeptieren. Das Wort ‚Einstellungen’ streiche ich ab sofort aus meinem Wortschatz und aus meinem Leben. Ich ersetze es durch einen Ausdruck, der mehr Flexibilität zulässt: Launen. Ich habe keine Einstellungen, mache mich frei davon und leiste mir beliebig wechselnde Launen.’
Eine ihrer ‚Einstellungen’ war von diesem Sinneswandel allerdings nicht betroffen: Sex. Sex blieb für sie zu jeder Zeit eine der wichtigsten Angelegenheiten der Welt. Sie wartete nicht, bis ein Mann versuchte, sie zu verführen; sie wusste, wie man es anstellt, ein eigenes Ziel zu erreichen. Der eine oder andere mochte dadurch auf die Idee kommen, dass sie doch nicht so intelligent ist, sondern nur von ihren „Trieben getrieben“. Falls solche Kritiker Anna dann genauer kennen lernten, mussten sie sich immer korrigieren. Eiskalt in ihren Gedanken und messerscharf mit Worten, hat sie sich in jeder Situation im Griff, doch mit vollem Bewusstsein lässt sie sich auf die verwegensten Dinge ein, wenn die Sehnsucht sie packt. Man kann davon ausgehen, dass sie immer, bei jeder Gelegenheit, den Gedanken im Hinterkopf hat: was kann ich mit diesem oder jenem Mann wohl noch anstellen, außer mit ihm zu reden. Mit leichter Ironie ließe sich sagen, Sex gehört bei Anna zum ‚ganzheitlichen Denken’.
Und nachdem sie nun den ersten Teil ihres Lebens mit dem Eklat bei Pro-Tel-Vision beendet hatte, wird genau diese Neigung zum Ursprung eines völlig anderen, ganz neuen Lebens.
*******Urlaub*******
Ihre Energie ist beispiellos, doch irgendwann, nach etlichen Monaten der Auseinandersetzungen, der Besinnung und der Neuorientierung ist selbst sie geschafft. So nimmt sie sich vor, ein paar entspannte Tage am Meer zu verbringen. Nur zur Erholung, ohne besondere Absichten oder Erwartungen. Sie wählt die ungefähre Himmelsrichtung, orientiert sich etwas genauer im Internet und macht sich auf den Weg. Nach einer Autofahrt von wenigen Stunden ist sie am Ziel und lässt sich fallen.
Es ist das Ende des Sommers und schon kühl am Meer. Anna hüllt sich in ihren flauschigen Mantel. Was sie darunter trägt, ist kaum zum Wärmen geeignet; sie wird später zum Tanzen gehen, eine der Bars besuchen. Aber erst einmal sitzt sie im Strandkorb, hat den Sonnenuntergang genossen und träumt entspannt in den Abend, danach in die Nacht hinein. Mit hochgezogenen Beinen in eine Ecke gelümmelt, ist sie gut geschützt vor dem Wind; ihr Blick hängt gedankenverloren über dem Wasser und dem endlosen, verlassenen Strand.
Aus dem Augenwinkel sieht sie eine Gestalt im Jogging- Anzug auftauchen. Groß, schlank, die Arme angewinkelt, aufrecht und in leichtem, regelmäßigen Trab. Keine Spur von Anstrengung in der Bewegung, keine verkrampfte ich-muß-was-für-meinen-Körper-tun Haltung. Ein professioneller Sportler oder so etwas Ähnliches . Er läuft ein paar Meter entfernt an ihrem Strandkorb vorbei und weiter in die Dunkelheit hinein.
Mit etwas Glück will sie die Rückkehr des Athleten erleben.
Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, doch dann, tatsächlich – der Läufer hat irgendwo kehrt gemacht und kommt nun fast direkt auf sie zu. Sie richtet sich auf, nichts will sie sich entgehen lassen. Wenige Meter querab von ihrem Strandkorb wendet er seinen Kopf, und ganz kurz begegnen sich ihre Blicke im Schein des Mondes. Anna ist angespannt, vielleicht sogar ein wenig verwirrt. Als sie ihm nachschauen will, ist er vom Erdboden verschwunden.
Enttäuscht fällt Anna in die Ecke ihres Strandkorbes zurück. Aber was hatte sie sich versprochen? Sie wird sich auf den Weg machen, steht auf und rafft ihre Sachen zusammen.
„Warum wollen sie gehen?“
Niemand ist zu sehen.
„ Wer sind Sie, und wo sind Sie?“
„Gerade bin ich an ihnen vorbeigelaufen. Nun sitze ich im Strandkorb mit der Nummer 25.“
Die 25 kann sie nicht entdecken. Doch die Begegnung hatte sie ja gewollt, also setzt sie sich wieder.
„Und woher wissen Sie, dass ich gehen will?“
„Das kann ich sehen.“
„Sie sehe ich nicht.“
„ Suchen sie mich!“
„Oh nein, ich bleibe lieber hier. Aber nun mal genauer, wer sind Sie?“
„Ich bin Frank, eins fünfundachtzig, im Urlaub und vertreibe mir die Zeit gerade mit Dingen, die meinem Körper gut tun – zum Beispiel Jogging. Und was tun Sie, wer sind Sie?“
„Ich bin zum Nichtstun hergekommen. Ich heiße Anna.“
„Anna klingt gut in einer so wundervollen Nacht am Meer, bei Mondschein und in dieser Einsamkeit.“
Ihr fällt nichts dazu ein; ziemliches Bla Bla. Trotzdem. Das leichte Prickeln kennt sie, hat sich bei ihr schon angemeldet; sie muss dem Ganzen nur die richtige Richtung geben, um es zu verstärken.
„Sind sie verstummt?“
Mit einem sinnlichen Unterton flüstert sie:
„Ich bin versunken in den Mondschein, in die Nacht und in dem Blick auf das Meer.“
„Das gefällt mir.“
Seine Stimme ist gut zu verstehen, aber auch er hat sehr leise gesprochen, passend zu dem leichten Wind, dem monotonen Rauschen der Wellen und überhaupt zu allem.
„Ich möchte dich besser sehen können, Anna. Der Mond bescheint dich so schön. Setz dich doch mal gerade hin.“
Ein Fuß von ihr steckt im Sand, das andere Bein liegt angewinkelt auf der Sitzbank. Anna reckt sich, öffnet ihren Mantel und zieht ihn nach beiden Seiten auf wie einen Bühnenvorhang.
„Nun bist du dran“, bemerkt Anna.
„Mich hast du ja schon gesehen. Außerdem werde ich nicht vom Mond beschienen, so wie du. Wenn du einverstanden bist, bleibe ich weiter im Verborgenen, und wir spielen “Mensch belustige dich“.“
„Was ist denn das?“
„Das Gegenteil von „Mensch ärgere dich“.“
„Hat das was mit Lust zu tun?“
„Klar!“
„Und wie geht das mit der Lust?“
„Na, du sagst mir, worauf du Lust hast, und ich entscheide, was wir dann tun. Fang mal an. Worauf hast du gerade Lust?“
Soll sie sagen, was ihr spontan durch den Kopf schießt? ‚Ich will, dass du mich nimmst wie ich hier sitze, dass du mich in den Strandkorb drückst, mir die Kleider vom Leib reißt?’
„Ich habe Lust, mich vom Mondschein streicheln zu lassen.“
„Dann musst du Deinen Mantel ausziehen. Sonst fühlst du nicht das weiche Licht der Mondstrahlen vermischt mit dem Wind.“
Wieder richtet Anna sich im Sitzen auf, lässt den Mantel von den Schultern gleiten. Sie reckt die Arme in die Luft, streckt ihren Körper; ihr Busen wölbt sich in der engen Bluse.
„Fühlst du nun die Mondstrahlen auf Deinem Körper, auf Deiner Brust?“
„Nicht so richtig! Der Mond muss kräftiger strahlen, der Wind soll wärmer wehen, der Zauberer soll stärker wünschen.“
„Dann nimm die beiden Mondstrahlen, die die Spitzen Deiner Brüste treffen, fasse sie zwischen Daumen und Zeigefinger und hilf ihnen, dich stärker zu berühren.“
Hoch aufgerichtet kreuzt sie die Unterarme, ergreift mit jeder Hand eine ihrer Brüste und massiert sanft die schon erregten Spitzen zwischen den Fingern. Die zärtliche Quälerei hat eine wundervolle Wirkung, der lustvolle Schmerz zwingt sie schließlich, sich zusammenzukrümmen.
„Gut so, Anna. Noch ein bisschen mehr! Spürst du, wie der kleine, süße Schmerz bis in den Bauch zieht? Du musst aber gerade sitzen bleiben, damit die beiden Mondstrahlen dich nicht verlassen.“
Besser lässt sie jetzt los! Ein letztes Mal streicht sie mit gespreizten Fingern über ihre Brüste und streckt sich dabei dem Mond entgegen. Dann geht sie einen Schritt weiter. Mit schnellen, heftigen Bewegungen knöpft sie die Bluse auf, schiebt sie nach hinten und ihre Brüste recken sich nackt und weiß ins Mondlicht, umfasst und gestützt von ihren Händen.
„Frank, was machst du?“
„Was kann ich schon tun? Du bist zu weit weg. Ich würde gern deine Brüste streicheln, küssen, vielleicht auch beißen. Wenn du es dir vorstellst, spürst du den zärtlichen Biss?“
„Tu es doch!.... Komm!..... Jetzt!.....“
Anna spricht sanft, langsam, ein wenig abgehackt und rau.
„Noch nicht. Zieh deine Bluse aus und wirf sie in den Sand. – Gut. Nun steh auf, öffne deinen Rock, und lass’ ihn ebenfalls in den Sand fallen.“
Anna gehorcht nicht nur, sondern macht ein erregendes Spiel daraus. Behutsam öffnet sie den Reißverschluss, streift den Rock ganz langsam ein wenig nach unten. Ihr weißer Slip wird Zentimeter um Zentimeter sichtbar. Nach und nach lässt sie den Rock immer weiter hinab gleiten, bis auch der im Sand liegt. Nun zieht sie ein Bein hoch, stellt den Fuß auf die Bank des Strandkorbes, streicht mit der flachen Hand zärtlich erst über die nackte Haut ihres Oberschenkels, dann wieder und wieder über die feuchte Seide.
„Die Mondstrahlen sind stark, Frank! Sehr stark!“
„Du hast recht.“
Das hat er ganz leise gesagt. Doch sie hat sogar seinen Atem gehört. Er steht neben ihr, greift nach ihren Sachen, ihrem Mantel, hüllt sie darin ein. Dann hebt er sie auf und trägt sie über die Düne.
In der letzten Stunde war es stockdunkel geworden, der Mond vollständig hinter Wolken verschwunden. Kniend über sie gebeugt, hebt er sie auf, stemmt sich hoch; ihre Arme um seinen Hals erleichtern das Tragen ebenso wie ihre schläfrigen Küsse. Auf dem Steg setzt er sie ab, nimmt sie bei der Hand, und in eiligen Schritten kämpfen beide gegen die Kälte an. Bisher hatten sie sie kaum empfunden.
„Ich muss meine Sportsachen los werden. Und was machen wir danach? Gemeinsam essen gehen?“
„Ich habe keinen Hunger. Wie wäre es mit Aufwärmen bei einer gut gekühlten Flasche Champagner?“
„Ein optimaler Vorschlag. Der Champagner steht eh schon in der Minibar.“
Sein Apartment besteht aus einem Wohnraum und einem Schlafraum. Frank bestellt an der Rezeption zwanzig Kerzen, verteilt sie auf allen Möbeln, zündet sie an, öffnet den Champagner, schenkt ein, und das Spiel kann von neuem beginnen.
„Lass uns mit dem Aufwärmen anfangen. Nichts ist dafür geeigneter als ein weiches Bett.“
Sie verstehen sich, trennen sich nicht an diesem Abend, auch nicht am nächsten Morgen, bleiben einfach einige Tage zusammen, so, als wäre das schon lange vorgesehen. Zwischendurch geht Anna mehrmals in ihr Hotel, holt ein paar Sachen oder zieht sich nur um. Sie überlegt, ob sie nicht ganz zu Frank übersiedeln sollte, aber sie will ihre Zuflucht nicht aufgeben. Abenteuer ja, Abhängigkeit nein.
Zu erzählen gibt es genug; hunderte von kleinen und großen Geschichten aus ihren beiden Leben. Am letzten oder vorletzten Abend kommen sie dann hierauf.
„Du warst schon in einer Spielbank?“
„Ach du lieber Himmel, ja. Es gab eine Zeit, da zog mich das Glücksspiel magisch an. Meine Mutter hat mich auf wunderbare Weise davor bewahrt, vielleicht süchtig zu werden. Sie begleitete mich einfach und lenkte meine Aufmerksamkeit in die richtige Bahn. Bis ich die Hingabe mancher Besucher am Spieltisch dumm und schließlich widerlich fand.“
Er beugt sich weit zu ihr hinüber, schaut sie hypnotisch an und spricht fast feierlich beschwörend.
„Ich werde Dir jetzt ein Geheimnis verraten, das Geheimnis des genussvollen Lebens. Alles, was wir mit unkontrollierter Leidenschaft tun, ist gefährlich und mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos. Hast du die Leidenschaft aber im Griff, kombinierst sie mit Intelligenz und Rationalität, lässt sich ein großartiges Spiel daraus machen. Das gilt selbst für eine solch primitive Sache wie Roulette.“
„Du redest ja wie der Hohe Priester eines Geheimbundes. Kannst du mir verständlich machen, wie das gemeint ist?“
Jetzt schaltet er auf nüchtern und schulmeisterlich um.
„Du hast beim Roulette verloren? -?-- Oder etwa gewonnen?“
„Mal gewonnen, mal verloren. Aber insgesamt, na ja, schon verloren.“
„Und das war dir egal? Du wolltest einfach nur spielen?“
„So kann man das nicht sagen. Es war mir nicht egal; Gewinnen war natürlich schöner. Aber wenn ich verlor, glaubte ich, weitermachen zu müssen, bis ein glücklicher Moment sich wiederholte. Erst beim Zählen meiner Chips kam immer die Erkenntnis, dass die kleinen Höhepunkte zwischendurch nichts wert sind, sondern alles fast regelmäßig auf einem Tiefpunkt endet.“
„Mit Intelligenz nutzt man solche Erkenntnisse und entwickelt einen Plan daraus. Die eine Möglichkeit ist der Ausstieg aus der Leidenschaft. Das ist sehr anstrengend und frustrierend! Die andere Möglichkeit ist die weitere Befriedigung der Leidenschaft ohne nachteilige Begleiterscheinungen. Das führt zum ungetrübten Genuss des Lebens.“
„Und wie soll das funktionieren, zum Beispiel beim Roulette?“
„Lass uns dein eigenes Wissen benutzen, um der Antwort näher zu kommen. Glaubst du daran, die Gewinnzahl voraussagen zu können? Aus dem Bauch heraus oder nach irgendwelchen mathematischen Verfahren?“
„Das ist unmöglich. Deswegen setzen die Spieler mit Erfahrung ja kaum jemals auf nur eine Zahl.“
„Gut. Dann könnten wir ja auf Rot oder Schwarz setzen und decken damit immer die Hälfte aller Zahlen, also die Hälfte aller Gewinnmöglichkeiten ab.“
„So habe ich angefangen. Ich habe versucht, mit der Farbe zu gewinnen, die im vorhergehenden Spiel verloren hatte. Auch dabei verlor ich, weil eben doch immer und immer wieder, zigmal hintereinander, dieselbe Farbe kam.“
„Also lässt sich nicht einmal die einfache Chance voraussagen. Zusätzlich stört noch die Null; wenn Zero kommt, haben weder Rot noch Schwarz gewonnen.“
Fast ist es, als hielte Frank einen wissenschaftlichen Vortrag. Anna amüsiert sich. Wie kann ein solch leidenschaftlicher Mann plötzlich so trocken daher reden?
„Ein perfekter Plan verlangt Systematik. Wir müssen alle Möglichkeiten des Roulette-Spiels durchdenken, für jede eine Strategie entwickeln, die Gewinnchancen miteinander vergleichen und daraus die optimale Lösung auswählen. Zusätzlich ist dabei eine Rahmenbedingung zu beachten: wenn ich in einem Spiel verloren habe, muss ich im nächsten den Einsatz erhöhen, um den Verlust auszugleichen. Das kann sehr teuer werden, und unsere Nerven machen wegen der enorm ansteigenden Einsätze vielleicht nicht mit, oder wir erreichen den von der Spielbank festgesetzten Höchsteinsatz, müssen abbrechen, ohne unsere Verluste zurück gewonnen zu haben.“
„Das ist ja eine Lebensaufgabe! Ich kann jetzt schon deinen Erklärungen nicht mehr folgen, Herr Professor. Wie sollte jemand sich systematisch durch dieses Chaos hindurcharbeiten?“
„Das ist in der Tat eine riesige Fleißarbeit. Ich will es aber kurz machen heute Abend, wenn du mir das Ergebnis einfach glaubst. Es kommt bei der komplizierten Untersuchung ein banaler Ansatz heraus. Du musst auf das erste, zweite und dritte Dutzend oder auf die drei senkrechten Säulen setzen. Nach bestimmten Regeln, in einem bestimmten Rhythmus und immer auf die beiden Verlierer.
„Und so gewinnt man garantiert?“
„Nein, du erhöhst nur die Gewinnwahrscheinlichkeit. Gewinnen und Verlieren lösen sich ab, einige Extras in den Regeln sorgen allerdings dafür, dass du am Ende mehr Geld in der Tasche hast als am Anfang. Und das macht doch wohl den entscheidenden Unterschied!“
„Ich glaube, das ist zu kompliziert, um es spontan zu verstehen. Aber wir könnten es ja in der Spielbank praktisch erproben.“
„Dann werde ich dir aufschreiben, was du bei jedem einzelnen Spiel und in jeder Situation zu tun hast. Damit gehst du in die Spielbank und holst das Geld ab.“
„Na, du wirst mich begleiten!“
„Nein, das werde ich nicht, das bringt Unglück.“
„Ach du Spinner! Aber schön. Wir fahren bald nach Hamburg zurück; dann kann ich bei Gelegenheit in die Spielbank gehen. Schreib mir deine Rezepte mal auf.“
*******Wen Xiao*******
Ein Konferenzraum für dreißig Personen wurde einige Wochen zuvor im Dorchester Hotel reserviert. Das war ausreichend repräsentativ und garantierte äußerste Diskretion. Mit normalen Londoner Taxis fuhren die Teilnehmer vor; niemandem würden sie auffallen, niemand würde die Personen erkennen. Es lag in der Natur ihrer Jobs, dass sie kaum je in der Öffentlichkeit auftraten. Vize-Direktoren von Geheimdiensten sind weder leibhaftig in spektakuläre Fälle verwickelt, noch müssen sie ihre Behörden politisch nach außen vertreten. Sie sind die unbekannten Drahtzieher, bei denen die Fäden zusammenlaufen, und von denen neue gesponnen werden. Aus Vorsicht, die in diesem Geschäft an der Tagesordnung ist, ließen sie ihre Exekutiv-Direktoren in separaten Taxis und in angemessen großen Zeitabständen ebenfalls anfahren. Vertreter mehrerer Länder, die seit langem eng zusammen arbeiteten, fanden sich so zur Teilnahme an der Konferenz ein.
Anlass war der Vortrag eines Professor Wen Xiao, der bereits am Vortag angereist war und im Dorchester übernachtet hatte. Prof. Xiao von der University of Berkeley/Calif. sollte über seine Entdeckung berichten. Er hatte eine Hypothese aufgestellt und war seit Jahren unterwegs in aller Welt, um Belege für deren Richtigkeit aufzuspüren. Obwohl er sie reichlich fand, erhielt er weder den Nobelpreis, noch wurden seine Forschungen in der Tagespresse verbreitet. Alles blieb trockene Wissenschaft, alles schien Theorie, und alles wäre auf der Ebene eines Disputes unter Fachkollegen verblieben, wenn nicht...........
Wenn nicht in den Reihen des MI6 mehr zufällig und gerade zum rechten Zeitpunkt jemand auf seine Hypothesen gestoßen wäre. Und wenn dieser Jemand nicht eine Eingebung gehabt hätte. Zunächst misstraute er allerdings seiner Intuition. Nach dem vertraulichen Gespräch mit einem Kollegen beim CIA beschlossen die beiden jedoch, gemeinsam zumindest für einen Gedankenaustausch zu werben. So kam es zu dieser Konferenz und dem Einführungsvortrag des Professors aus Kalifornien, der allerdings nie erfuhr, wer seine Zuhörer waren.
Tom Kenwood begrüßte die Teilnehmer der erlesenen Runde und hielt eine kurze Ansprache zur Einstimmung in das Thema, ehe der Gastredner zugelassen wurde.
„Gentleman,
Kriege werden heute nur noch von und mit kleinen Staaten geführt. Umfangreiche Auseinandersetzungen mit Waffengewalt sind kontraproduktiv. Sie kosten Geld, Zeit und Menschenleben. Kämpfe um Machtpositionen werden in Zukunft mit Mitteln der Wirtschaft am Weltmarkt ausgetragen. Auch der Cyberkrieg gehört in diese Kategorie. Man braucht ein Land nicht mehr zu erobern und zu besetzen, man muss nur konkurrenzfähig, besser noch, konkurrenzlos für den Rest der Welt produzieren. Oder die Wirtschaft seines Gegners durch einen Virus im Datennetz stilllegen.
Das ist eines der umwälzenden Ergebnisse der Globalisierung und der IT-Entwicklung.
Waffen sind damit Machtmittel von gestern. Dasselbe gilt für bewaffnete Geheimdienste. James Bond ist ein Held des vorigen Jahrhunderts. Wenn es in Ausnahmefällen doch erforderlich sein sollte, auf traditionelle Aktionen zurückzugreifen, lässt sich das extern beauftragen, ‚Outsourcing’ ist der entsprechende Fachbegriff in der Wirtschaft. Auftragsmorde sind Klassiker, Söldnerarmeen werden immer populärer.
Unter diesen Prämissen ist auch daran zu arbeiten, völlig neue Wege zu gehen, um geheimdienstliche Ziele zu erreichen. Ein vielversprechender Ansatz könnte sich aus den Hypothesen von Prof. Xiao herleiten lassen.
Optimale Ergebnisse wird diese Methode allerdings vor allem bei internationaler Zusammenarbeit erbringen. Daher wurden Sie als Repräsentanten eng verbündeter Staaten zu dieser heutigen Veranstaltung eingeladen. Ich begrüße Sie und danke für Ihr Erscheinen.
Und nun werde ich unseren Gastredner herein bitten.“
Wen Xiao sprach etwa ein und eine halbe Stunde. Stark vereinfacht und zusammengefasst war seine These, dass man zur Ausführung eines beliebigen Verbrechens stets einen normalen, nicht kriminellen, unvorbelasteten Menschen motivieren könne. Um keine Spuren zu hinterlassen, am besten jemanden, der vorher nichts, aber auch gar nichts mit den Umständen der Aktion zu tun hatte, und dem die Zusammenhänge nicht bekannt sind. Allerdings sei nicht jeder beliebige Mensch derart motivierbar, sondern man müsse denjenigen (oder selbstverständlich auch diejenige) suchen, dem oder der die Tat psychologisch übertragbar ist; populär ausgedrückt jemanden, der sich scheinbar freiwillig „den Schuh anzieht“. Wen Xiao nannte es den ‚Aktions-Affinen Typ’, den AA-Typ.
Am Ende des Vortrages herrschte zunächst Schweigen. Für die Meisten schien nicht spontan erkennbar, welche praktische Bedeutung die Theorie für die Geheimdienstarbeit haben sollte. Schließlich gab es noch einige Nachfragen zur Klärung allzu fachlicher Ausführungen, und der Redner durfte gehen.
Bemerkungen in die Runde und Gesprächsansätze mit den Tischnachbarn signalisierten einen gewissen Unmut. ‚Was soll das?’ stand als unausgesprochene Frage im Raum. Doch ehe diese negative Stimmung sich als einheitliches Urteil artikulieren konnte, ergriff Tom Kenwood vom MI6 wieder das Wort.
„Genau das, was Sie jetzt empfinden, ist die Resonanz im Allgemeinen. Und genau aus diesem Grund kann es unsere neue, geheime Waffe werden.
Wir unterscheiden in unserem Geschäft ganz grob zwischen Spionage und Spionage-Abwehr, in beiden Kategorien noch einmal unterteilt in passiv oder aktiv. Die harmloseren passiven Methoden, wie z. B. Verschlüsselung, Verwahrung von Dokumenten, Bewachung, Abhören und Abfangen von Informationen werden von unseren Beamten praktiziert. Aktive Spionage und Spionage - Abwehr von der Sabotage bis hin zur Liquidation ist das Aufgabengebiet unserer Agenten. Auf diese Agenten könnten wir bei praktischer Anwendung der vorgetragenen Theorie in Zukunft weitgehend verzichten. Sie würden dann, wie James Bond, weiter zur Unterhaltung in Filmen bemüht werden, in der Realität müsste es sie nicht mehr geben.
Wir könnten uns darauf beschränken, nur noch den Ansatz für einen Sabotageakt zu entwickeln und zur Ausführung den Aktions-Affinen Typ suchen. Er oder sie wird – in der Regel freiwillig, hoch motiviert und eigenständig – für uns die Tat vollbringen. Auch bei Entdeckung bleiben unsere Regierungen aus der Schusslinie; der Täter wird ganz allein sich selbst das Motiv zur Tat zuschreiben – psychologisch adäquate Vorbereitung vorausgesetzt.
Wir müssen zur Realisierung dieses Konzeptes allerdings auf eine andere Art von Mitarbeiter umstellen – statt Agenten brauchen wir Mediatoren, die unter Umständen auch den Lösungsansatz liefern, aber vor allem den Ausführenden, den AA –Typ, suchen und anleiten.“
„Soll das heißen, dass wir vornehm im Hintergrund bleiben, einen Unschuldigen ausspähen und ihn - ohne dass es ihm bewusst wird – zum Begehen eines Verbrechens manipulieren, für das er ganz allein einstehen muss?“
„Genau so ist es!“
„Dem kann ich niemals zustimmen!“
„Ich ebenfalls nicht.“
„Niemals!“
Einige waren erregt aufgesprungen, andere hatten sich skeptisch zurückgelehnt, die Mehrheit bekundete spontan ihre ablehnende Haltung. Zustimmung gab es kaum, das Äußerste war diplomatisches Schweigen.
„Wir hatten doch noch nie Skrupel, auch einen Mord zu organisieren. Warum sind wir plötzlich so feinfühlig?“
„Weil wir unschuldige Bürger in unser nach dem Buchstaben des Gesetzes sehr wohl illegales Geschäft hineinziehen würden.“
„Wir könnten aber gleichzeitig auch unsere Problemlösungen anpassen. Wir müssten keine Tötung beauftragen, zumindest nicht zwingend, nicht als erste Wahl. Wir könnten über alternative Szenarien nachdenken, die aktive Spionageabwehr und auch Sabotage auf neue, intelligentere Art ermöglichen.“
„Das glauben Sie! Das werden wir aber nicht unter Kontrolle haben.“
„Doch. Über die Mediatoren. Sie werden unsere eingeschworenen Fachleute sein, die nach den neuen Regeln arbeiten.“
Inzwischen saßen alle wieder in ihren Sesseln, einer nach dem anderen wurde stumm und nachdenklich. Sie malten sich innerlich Szenarien aus, in denen der Geheimdienst unschuldig im Hintergrund bleibt, und das manipulierte Medium ohne Kenntnis der Zusammenhänge die von anderen geplante Tat ausführt. Einer in der Runde lachte kurz und trocken auf, sein Nachbar schaute ihn mahnend an.
„Und wie finden wir den AA -Typ?“
„Prof. Xiao hat, aufgrund seiner Sammlung praktischer Beispiele, Regeln hierzu aufgestellt. Wir können uns einweisen lassen in ihre Anwendung.“
Wieder schweigendes Nachdenken.
„Eine offizielle Verabschiedung einer solchen Strategie ist unmöglich. Beim ersten Fall, der bekannt wird, würde sich das Parlament einschalten und die Verantwortlichen in unserer Behörde zur Rechenschaft ziehen. Ich sage Nein und verlasse diese Konferenz. Bitte nehmen Sie das ausdrücklich ins Protokoll auf. Gleichzeitig empfehle ich – außerhalb des Protokolls – dass die Herren Exekutiv-Direktoren das Konzept abschließend diskutieren.“
Der Vize-Direktor des MI6 erhob sich und entfernte sich mit einer knappen Verbeugung. In kurzen Abständen folgten die anderen Vize-Direktoren wortlos oder mit ähnlichen Ansagen. Mit sich allein gelassen wurden die Executiv-Direktoren. Gemeinsam setzten sie das offizielle Protokoll auf. Bei der Verabschiedung gaben sie verhalten, aber ziemlich einvernehmlich zu erkennen, dass die Ideen ihnen sehr wohl als erprobenswert erschienen. Die beiden Urheber der Konferenz blieben noch zwei Stunden länger, unter sich. Tom Kenwood war fest entschlossen.
„Ich werde die Methode erproben. Ich werde es auf meine Kappe nehmen. Der erste Schritt in Richtung einer neuen Geheimdienst-Strategie.“
„Das Schwierigste ist der Einstieg, nämlich den Mediator zu finden.“
„Ich habe meinen Mediator bereits. Zumindest glaube ich, einen bestens geeigneten Mann aus dem Kreis unserer freien Mitarbeiter zu kennen.“
„Dann bin ich gespannt. Halt mich auf dem Laufenden.“
Diese Konferenz fand vor zwei Jahren statt. Ein Jahr später gab es keinen einzigen Hinweis auf die Forschungsarbeiten von Prof. Wen Xiao mehr, weder im Intranet der Bibliotheken noch auf neutralen Internet - Servern. Jede Art von Recherche über Hypothesen von Prof. Wen Xiao endete im Nichts. Nur wer die Library of Kongress in Washington DC besuchte und privilegierten Zugang zu den Archiven mit handgeschriebenen und persönlichen Unterlagen hatte, konnte fündig werden - vorausgesetzt, er wusste, wonach er suchte. Wen Xiao konnte sich dank glücklicher Umstände, die für ihn im Geheimen maßgeschneidert wurden, frühzeitig pensionieren lassen und stellte leichten Herzens seinen Entdecker- Ergeiz zurück. Nach einem weiteren Jahr beginnt der MI6 mit der testweisen Umsetzung einer nun praktisch unbekannten Theorie.
*******Erste Versuche*******
Nach ihrer Rückkehr lässt Anna fast eine Woche vorübergehen, ehe sie sich einen Besuch in der Spielbank vornimmt. Sie findet es beruhigend, ist zufrieden, nicht spontan und hektisch hingelaufen zu sein. Keine Leidenschaft, keine Gier. So recht glaubt sie auch nicht an den todsicheren Tipp von Frank, aber gerade deswegen will sie es ausprobieren. Da sie nichts Besseres vor hat, ist für Samstagabend ihr erster Versuch eingeplant.
Es ist eines der imposantesten Gebäude in der Innenstadt, mit einer Fassade, die sich sogar mit dem Casino von Monte Carlo vergleichen ließe. Der Eingang von Säulen umrahmt, darüber ein langer Balkon, von dem Fürsten und Könige auf das Volk hinunterschauen könnten. Riesige Sprossenfenster, teils als Französische Balkone gestaltet, sind über die drei sichtbaren Seiten des Hauses und seine vier Stockwerke verteilt. Der Wagen wird in der Tiefgarage geparkt, mit dem Lift geht es nach oben. Erster Halt im Empfangsbereich, ein langer Tresen für die Formalitäten. Dann noch einmal mit dem Fahrstuhl oder über die Treppe ein weiteres Stockwerk nach oben. Wenn sich die pompöse Tür öffnet, wird der Blick in den Spielsaal freigegeben.
Was Anna sieht, ist eine Enttäuschung. ‚Wie ist das alles eng, voll gestellt mit Spieltischen, wenig großzügig, kaum elegant. Hier wird doch wohl nicht wirklich das große Geld gewonnen oder verspielt!?’ Am liebsten würde sie auf dem Absatz kehrt machen. Aber sie überwindet sich; schließlich soll sie sich ja nicht vergnügen, sondern arbeiten.
Ihren Arbeitsplatz findet sie schnell. Es gibt nur einen einzigen Tisch mit französischem Roulette. An den amerikanischen Tischen mag sie nicht spielen. Dieses Grabschen mit den Händen nach dem Geld ist für sie abstoßend. Die Ansagen in Französisch, das Setzen für die Spieler durch den Croupier mit einem kunstvollen Wurf des Chips, das Einziehen der Einsätze der Verlierer mit dem Roulett-Rechen sind Rituale, die einen Teil des Flairs ausmachten, den sie von einer Spielbank erwartet. ‚Das müssen Zeiten gewesen sein, als sich Spieler nach dem Verlust ihres ererbten Vermögens im Garten der Spielbank stilvoll umbrachten!’ malt sie sich hingerissen aus. Heutzutage prickelt es für ihre Begriffe nicht mehr, es läuft automatisch, ist kaltes Geschäft, Ablenkung, Abzocke, wird ihr kaum echtes Vergnügen bereiten.
An der Bar bestellt sie einen Drink. Sie möchte aus der Distanz zuschauen, vielleicht auch erst ein wenig mehr in Stimmung kommen. Gedämpft dringen die Ansagen der Croupiers zu ihr herüber, einsehen kann sie den Tisch mit dem französischen Roulette von ihrem Barhocker allerdings kaum. Sie muss doch näher heran; in der zweiten Reihe bleibt sie stehen. Die Kugel rollte auf die 25, die Gewinnkombinationen werden ausgerufen, die entsprechenden Einsätze bleiben als einsame Häufchen auf dem Tisch und werden bezahlt. Schon setzen die ersten wieder, in kurzer Zeit ist der Tisch erneut mit Chips bedeckt. Das Spiel ist schnell und intensiv. Ihr Glas in der linken, den Notizzettel von Frank in der rechten Hand, studiert Anna die Anweisungen.
Zuschauen.
Rhythmus der Gewinnzahlen der vorlaufenden Spiele an mehreren Tischen analysieren.
Tisch auswählen.
Strategie des Setzens festlegen und konsequent durchhalten*.
*Mathematiker glauben nachweisen zu können, dass keine Gesetzmäßigkeiten existieren, die Gewinnvoraussagen beim Roulette ermöglichen. Entsprechend kritisch sind die Ansätze von Frank Frey zu betrachten.
Danach folgen die eigentlichen Strategien. Drei Alternativen gibt es für den Einstieg, und jede Alternative verzweigt wiederum in drei unterschiedliche Vorgehensweisen, je nachdem, ob das Spiel gewonnen oder verloren wurde, oder Zero alles zunichte gemacht hatte.
Anna spielt mit; nicht wirklich, sie setzt in Gedanken. Und nach und nach beginnt sie zu verstehen, worauf Franks Regeln hinauslaufen. Es gibt keine Voraussage einer Gewinnzahl, es ist die Wette auf den Wechsel; je öfter man verliert, desto wahrscheinlicher wird der Wechsel und damit der Gewinn. Der Einsatz muss dabei ständig steigen; bis zu einem festgelegten Maximum; ist das Maximum erreicht, wird die Serie abgebrochen. Verluste sind also unvermeidlich, sie sind sogar eingeplant. Ein Spieler kann bei 100 Spielen durchaus 70 Mal verlieren, und trotzdem vermehrt er sein Kapital. Absurd, aber real – je öfter der Spieler verliert, desto mehr kann er gewinnen.
Anna beschließt, sich die Permanenzen von Tisch 1 zu beschaffen und nach Hause zu gehen, um sich besser vorzubereiten. Am folgenden Samstag wird sie wiederkommen und wirklich einsteigen.
Eine Woche später. Sie wartet, bis ein Platz direkt am Spieltisch frei wird, kauft ihre Chips - mit Zehntausend Euro wird sie einsteigen.
Wie beim letzten Mal schaut sie eine Weile zu, analysiert die vorhergehenden Gewinnzahlen, wählt die Strategie, setzt zunächst in Gedanken. Nach und nach vergisst sie alles um sich herum. Beim Rollen der Kugel verfällt sie in eine Art Trance, ihr Körper geht förmlich mit, wiegt sich innerlich und unsichtbar, bis sie am Schluss, nach dem unüberhörbaren Tanzen und Klappern der Kugel, sich ruckartig aufrichtet. Sie ist dabei nicht angespannt, sie erwartet nicht mit Herzklopfen die Ansage der Gewinnzahl - sie weiß spontan, wann sie gewonnen hat. Auch wenn sie verliert, weiß sie es intuitiv. Vielleicht war es gut, dass ihre Mutter sie hier herausgeholt hat, schießt es ihr durch den Kopf. Ihr ganzes Empfinden scheint der rollenden Kugel zu folgen. Als sie dann wirklich setzt, ist es genau so. Aber sie lässt sich von keinerlei Emotionen ablenken, folgt exakt Franks Anweisungen und gewinnt. Erstes Dutzend, im nächsten Spiel wieder das erste Dutzend. Jetzt einsteigen, setzen. Gewonnen. Drittes Dutzend, dann erstes Dutzend, wieder drittes Dutzend. Warten, warten, warten. Wieder drittes Dutzend. Setzen. Gewonnnen. Nach einigen Spielen das zweite Dutzend zum vierten Mal hintereinander. Verloren, ein hoher Einsatz ist verspielt; aussteigen und warten bis der Wechsel kommt. Erstes Dutzend zum dritten Mal. Höchsteinsatz, Zero absichern. Zero! Perfekt! Die Chips stapeln sich vor ihr.
Es ist harte Arbeit! Anna merkt nicht, wie die Zeit vergeht. Nach hundertzwanzig Spielen rafft sie ihre Chips zusammen, steht abrupt auf. Schluss! Mehr als vier Stunden sind vergangen, wie aus einem Traum kommt sie in die Wirklichkeit zurück. Über ihr Geld hat sie keinerlei Überblick. Siebenundzwanzigtausend achthundert und fünfzig Euro bekommt sie an der Kasse ausgezahlt. Kein schlechter Stundenlohn. Herzlichen Glückwunsch, Frank. Aber sie hat keinen Nerv, ihn noch anzurufen.
*******Frank Frey*******
Frank Frey ist vierundvierzig Jahre alt, Millionenerbe eines erfolgreichen Vaters und ausgestattet mit der Intelligenz zu besonderen Einsichten. So hat er sich entschieden, seine Zeit nicht damit zu vergeuden, dieses Erbe zu vermehren, oder eigenem geschäftlichen Ruhm nachzujagen. Er will leben und in absoluter Freiheit alle Facetten dieser Welt kennen lernen; nicht nur kennen lernen, auskosten. Manche behaupten, er sei ein Playboy. Doch dagegen sprechen seine Lebensart, seine Bildung und das, was er daraus macht. Er hatte nicht wie jeder normale Student eine bestimmte Fachrichtung gewählt, nicht die entsprechenden Examina darin durchgestanden, um dann mehr oder weniger mühsam sein Wissen in einem soliden Beruf in Geld umzumünzen. Er hatte studiert, wie es vor hundert, oder besser noch, vor zweihundert Jahren üblich war, und sich auf den verschiedensten Gebieten gebildet. Psychologie, Kunst, Architektur, Literatur, Politik und einiges mehr waren die Gegenstände seiner ‚undisziplinierten’ Studien. Klausuren schrieb er nur so nebenbei als Test für sich selbst, Abschlüsse hatte er nie angestrebt, doch in zwei oder drei Disziplinen – niemand wird je erfahren in welchen – fielen sie ihm ohne große Mühen zu. Im Gegensatz zu den Experten und Koryphäen in ausgewiesenen Teilgebieten, behält er stets das übergeordnete Ganze und die Zusammenhänge im Auge, kann jederzeit Querverbindungen herstellen und auf diese Weise scheinbar fundierte Expertisen durch lebensnahe Argumente relativieren. Er kennt keinerlei Parteilichkeit, ist niemandem gegenüber verpflichtet und vertritt völlig unabhängig von Konsequenzen das, was er für richtig hält. Sein ererbtes Vermögen ist eine der Grundlagen dieser Freiheit, die andere und mächtigere ist sein unabhängiger Geist. Hitzige Diskussionen mit renommierten Managern und Politikern haben es ihm besonders angetan. Solides Spezialwissen der anderen kann ihm dabei nichts anhaben, denn er führt den Gesprächspartner an die Grenzen, an denen komplexe Zusammenhänge gefragt sind. Er wird sich nicht einlassen auf einen Streit, um wie viel Grad die Temperaturen auf der Erde in den nächsten fünfzig Jahren steigen werden, und ob es wirklich je nach Gradzahl erforderlich ist, etwas dagegen zu tun. Er wird eher den Beweis fordern, dass es todsicher keine Klimakatastrophe gibt; anderenfalls, also im Zweifelsfall, muss man seiner Ansicht nach aus humanitären Gründen das Schlimmste annehmen und entsprechend vorbeugend handeln. ‚Was schadet es unserer Zukunft, wenn wir auch ohne begründete Bedrohung weniger Treibhausgase erzeugen?’ könnte eine seiner typischen Fragen sein, die die Diskussion anheizt und – er liebt es – daraus ein handfestes Streitgespräch werden lässt. Man wollte ihm schon einen Lehrstuhl an der Universität aufdrängen. Er hat abgelehnt, und alle vermuteten damals, dass er wohl keine Lust zu regelmäßiger Arbeit habe.
Scheinbar undiszipliniert ist von je her der Ablauf seines ganzen Lebens. Wie freizügig er schon allein mit der Zeit umgeht! Der Morgen ist nie fest verplant, für den Nachmittag gibt es immer mehrere, möglichst unverbindliche Termine, und erst am Abend sind feste Verpflichtungen vorgesehen. Verpflichtungen nicht etwa zum Arbeiten, oder um Konventionen zu genügen, sondern verbindliche Verabredungen zum Vergnügen. Frank Frey liebt es, sogar geschäftliche Erfordernisse in unterhaltsame Ereignisse zu verpacken. Und er hat so ziemlich alles perfekt im Griff – auch seine Beziehungen. Sie sind nicht das Wichtigste für ihn; beneidenswert souverän baut er sie auf und, entsprechend den jeweiligen aktuellen Bedürfnissen, genau so souverän wieder ab.
Regelmäßig steht er recht früh auf und überfliegt einen ungewöhnlich großen Berg von Tageszeitungen – von populären bis intellektuellen. Worauf er dabei besonders achtet, bleibt sein Geheimnis. Heute unterbricht das Telefon seine Lektüre. Ärgerlich und unkonzentriert nimmt er ab.
„Ja?“
„Hallo Frank? Hier spricht Rosalie.“
„Oh, Rosalie! Fast hätte ich deine Stimme nicht erkannt. Der letzte Anruf liegt schon Monate zurück.“
„Das stimmt. Ich hatte viel zu tun. Heute Abend könntest du mich allerdings wieder mal besuchen.“
„Aber gern. Wenn ich einen Flieger bekomme. Ich glaube, frühestens gegen fünf wäre es möglich, dort zu sein.“
„Nicht vor sieben bitte. Erst dann habe ich Zeit für dich.“
„Ich werde mich auf den Weg machen. Falls es nicht klappt, melde ich mich.“
„Es klappt. Ich habe ein Ticket für dich hinterlegen lassen. 17.15 ab Hamburg. BA.“
„Danke. Bis dann.“
„Ciao.“
Jetzt ist er herausgerissen aus seiner Versunkenheit in die Nachrichten rund um die Welt. Er faltet auch die ungelesenen Seiten zusammen und wirft sie auf den Stapel Altpapier, den er jeden Morgen produziert. Noch ein kurzer Moment der Besinnung, dann springt er auf. Forsch reißt er die Tür zu seinem Tagesraum auf, genießt mit einem längeren Rundumblick die Aussicht auf den großen Garten und den gedeckten Frühstückstisch. Seine Haushälterin hat den Morgenkaffee vorbereitet und wartet geduldig auf das Zeichen zum Einschenken. Wie in alten Zeiten werden von ihr ein schwarzes Kleid, eine weiße Schürze, das weiße Häubchen auf dem Kopf und Pünktlichkeit verlangt. Es wirkt ein wenig englisch, ein wenig wie bei seiner Lordschaft.
„Guten Morgen Ella.“
Guten Morgen Herr Doktor. Darf ich einschenken?“
„Aber sicher. Ich freue mich schon auf Ihren guten Kaffee. Ach, und bitte packen Sie mir den kleinen Koffer für eine kurze Reise über Nacht. Ich werde gegen drei aus dem Haus gehen.“
Präzise läuft die Zeremonie ab. Frank setzt sich, rückt den Stuhl in bequeme Nähe zum Tisch und widmet sich konzentriert auch diesem fundamentalen Ereignis in seinem Tagesablauf – dem Frühstück. Er nimmt das gekochte Ei in die Hand, hält es in Augenhöhe, betrachtet es abschätzend zwei Sekunden und schlägt mit dem Messer die Spitze ab. ‚So etwas tut man nicht,’ hatte seine Mutter versucht, ihm beizubringen, aber ohne Erfolg.
Die Wohnung an der Elbchaussee ist aufgeteilt in einen Tagesraum, einen Nachtraum, ein Studio und die Wirtschaftsräume, zu denen auch eine große Küche gehört. So wurden die Räume bei Anmietung von Frank benannt und entsprechend eingerichtet. Der Tagesraum misst mindestens einhundertzwanzig Quadratmeter, ist komfortabel, aber spärlich möbliert, geeignet für die eigenen Mahlzeiten, oder auch für ein Essen und das gesellige Beisammensein mit einer größeren Gruppe von Freunden. Fenster, die bis auf den Boden reichen, machen es hell, freundlich, und der Blick wird fast zwangsläufig nach draußen auf eine Wiese und mächtige, alte Bäume gelenkt. Der Nachtraum ist zum Schlafen gedacht, wird aber entgegen der Namensgebung zu allen (Tages- und Nacht-) Zeiten auch für intime Zweisamkeiten genutzt; er ist ein wenig gemütlicher und plüschiger eingerichtet als das Studio, das vornehmlich ernsthafter Unterhaltung wie Briefe schreiben, lesen, Musik hören und auch Gesprächen zwischen engen Freunden gewidmet ist. Wer hier empfangen wird, hat Franks Vertrauen, während ein Zusammentreffen im Nachtraum nicht mehr als körperliche Bedürfnisse, in Einzelfällen vielleicht auch Zuneigung signalisiert.
Das Frühstück ist beendet. Mit den Händen auf dem Rücken steht er am Fenster und schaut in den Garten. Seine Gedanken sind bei Anna. Er könnte sich in sie verlieben. Er könnte es aber auch lassen. Wie immer bei solchen Gelegenheiten ist er unschlüssig. Verlieben ist mit Abhängigkeit verbunden, bringt Verpflichtungen, Auseinandersetzungen, Stress. Andererseits............Alles Mögliche geht ihm durch den Kopf, zu einem Ergebnis kommt er nicht. Muss er auch nicht; nicht jetzt schon, wie er meint. Er wird nichts übe
**********MI6**********
Etwa zur selben Zeit sitzt auch in London ein Mann hinter seiner Zeitung, liest aber eher uninteressiert die offiziellen Nachrichten. Die wirklich weltbewegenden Meldungen hat er schon längst auf anderen Wegen empfangen. Und ganz sicher mit mehr Informationen über die Hintergründe. Bei dieser und jener Notiz kann er sich schmeicheln, dass es von ihm veranlasste Manipulationen sind, die zu den veröffentlichten Ergebnissen geführt haben. Dann lächelt er über die Mutmaßungen und Spekulationen der Journalisten. Von denen hält er nichts. Die schreiben ein Zeug zusammen wie im Roman, nur in wenigen Fällen erkennen sie die wirklichen Zusammenhänge. Aber was konnten sie auch besseres tun, wenn Politiker, Wirtschafsführer und andere Mächtige sie belügen und manipulieren?
Manipulieren ist seit längerer Zeit sein Lieblingswort, das Motto des revolutionären Ansatzes seiner zukünftigen Arbeit. Nach langen Vorbereitungen will er den Praxistest erzwingen. Immer wieder hat er gezögert. Nicht, weil er Angst hätte, seinen Job zu verlieren und auf der Strasse zu sitzen. Er hat Bedenken, dass sein Land, seine Regierung bloßgestellt werden könnte. Die Deckung seiner beiden Vorgesetzten in der Hierarchie hat er nicht. Ausdrücklich haben sie abgeraten, gleichzeitig durch die Blume ihn aber angespornt. Es ist zu verlockend, er wird es testen. Jetzt.
„Rosalie, kommen Sie bitte zu mir.“
In einer Hand noch die aufgeschlagene Zeitung, hat er mit der anderen das Telefon bedient. Dann knüllt er nervös das Papier zusammen und stopft es unordentlich in den Abfall.
„Sir? Guten Morgen.“
„Guten Morgen. Bestellen Sie Frank Frey hier her, bitte. Heute. 19.30 in meinem Büro.“
„Ja, natürlich. Ich werde ihn sofort anrufen.“
„Und schreiben Sie ein Memo über das Treffen einschließlich aller Details über die Vorbereitungen. Schreiben Sie ausdrücklich hinein, dass Sie an dem Treffen nicht teilgenommen haben. Sie bringen Frank Frey bis zu meiner Tür und nicht weiter. Klar?“
„Verstanden. Das Thema der Unterredung? Brauchen Sie Unterlagen, Sir?“
„Kein Thema, keine Unterlagen. Auch das bitte in das Memo. Danke.“
So vergeht diesseits und jenseits des Kanals der Tag.
Zwei bewaffnete Polizisten sitzen hinter der Theke im Empfangsbereich. Als Frank Frey eintritt, und sie einen Blick auf seinen Ausweis geworfen haben, springen sie auf und grüßen fast militärisch.
„Sie werden erwartet; Sie werden hier abgeholt, Sir. Bitte nehmen Sie einen Moment Platz.“
Frank kennt die Vorschriften und auch die Prozeduren, die noch auf ihn zukommen, aber Rosalie wird ihn wenigstens schnellstens aus diesem ungemütlichen Hinterzimmer mit den Sperrmüllstühlen befreien. So bleibt er lieber stehen und schaut durch das kleine Fenster auf die belebte Strasse. London hat Atmosphäre, er ist gern hier, würde gern auch ein paar Tage bleiben, aber die Botschaft am Telefon schien das nicht zu signalisieren. Für mehr als eine Nacht werden sie wohl kein Zimmer reserviert haben. Eine ganze Weile hatte er nichts von ihnen gehört. Fast hatte er vergessen, dass er ihnen noch verbunden ist, oder besser, dass sie ihn einfach nicht loslassen wollen. Dann dieser plötzliche Anruf und die eilige Terminvereinbarung. Nicht irgendwann in der nächsten Woche, sondern innerhalb von wenigen Stunden.
Es dauert doch länger, mehr als zehn Minuten. So laut wie andere eine Tür zuschlagen, so laut stößt Rosalie dann die Tür auf, stürmt auf Frank zu und nimmt ihn in die Arme. Sie reicht damit nicht höher als bis etwas über seine Hüften, und alle ihre fleischigen Wülste bis hin zu den Unterarmen hindern sie, wirklich an ihn heranzukommen.
„Na mein Bester, hast du trotz der langen Unterbrechung gut hergefunden?“
„Habe ich. Befrei mich aus diesem Hinterzimmer, und dann begrüße ich dich standesgemäß.“
„Gut. Also ab durch die Kontrolle; ich erwarte dich im Allerheiligsten.“
Sie nickt den beiden Polizisten zu. Mit dem Druck auf einen verborgenen Knopf öffnet sich die Tür für Besucher. Frank kommt eine Station weiter. Nachdem er Reisetasche, Mantel und Jackett durch ein Loch in der Wand geschoben hat, tritt er mit seinen Füßen auf die am Boden markierte Position. Seine Hände drückt er gespreizt gegen die Glasplatte einer lebensgroßen Apparatur, die Stirn zwängt er in ein halbrundes Gestell. Während der Körper nach verborgenen Waffen und gefährlichen Gegenständen gescannt wird, werden die Fingerkuppen, die Handlinien und die Pupillen zur Identifizierung abgetastet. Dann die grüne Lampe - durch eine schmale Tür darf er den nächsten Raum betreten. Dort ist die Untersuchung seiner Reisetasche noch nicht abgeschlossen; er wird warten, bis alles wieder ordentlich eingepackt ist. Noch eine Tür, und er kann von Rosalie endlich und wirklich in Empfang genommen werden.
„Was liegt denn so Eiliges an, Rosalie?“
„Ich kann es dir nicht sagen. Ich bin ausgeschlossen, darf dich nur bis an seine Tür bringen.“
„Dann lass uns in dein Büro gehen, und du erzählst mir den neuesten Klatsch.“
„Ein andermal. Hier gibt es zurzeit keinen Klatsch. Er ist so angespannt und zugeknöpft wie noch nie. Um halb wirst du erwartet – wir haben noch drei Minuten. Das reicht gerade für den Weg durch die langen Flure.“
Wie in einem 5-Sterne Hotel bedeckt ein roter Läufer die endlosen Gänge, die massiven Holztüren rechts und links haben Zimmernummern; Schilder zur Kennzeichnung des Aufgabenbereiches oder mit den Namen der Beamten gibt es nicht. Wer jemanden sprechen will, muss wissen, wo er ihn findet. Rosalie klopft, wartet auf die Erlaubnis zu öffnen und lässt Frank eintreten. Erst als sie die Tür von außen wieder geschlossen hat, geht Tom Kenwood auf Frank zu.
„Schön, dich mal wieder zu sehen, Frank. Wie geht es dir?“
„Danke, Tom. Es geht so. Musste mich die ganze Zeit allein unterhalten. Von euch kam ja nichts.“
„Das wird sich schlagartig ändern. Nimm Platz. Ein Mineralwasser? Alles andere müsste gebracht werden, doch ich möchte nicht, dass irgendjemand uns stört.“
„Das klingt ja geheimnisvoll. Wasser brauche ich auch nicht. Schieß los.“
„In der Auseinandersetzung mit Afghanistan gibt es eine zentrale Aufgabe zu erfüllen: Verhinderung von Waffenlieferungen an die Taliban. Diese Aufgabe wurde unter den Verbündeten aufgeteilt. Wir hier sollen die Finanzierungsmöglichkeiten unterbinden. Eine der Geldquellen ist der Verkauf von Edelsteinen.“
„Diamanten?“
„Nein. Der wichtigste Stein in diesem Zusammenhang ist der Turmalin. Der Handel mit Diamanten wird international zu gut kontrolliert und kanalisiert. Die weniger wertvollen Turmaline aber können über beliebig viele Händler in alle Welt verkauft werden, ohne dass ein Kartell sich einmischt. Alle Minen in Afghanistan sind in der Hand der Taliban, und sie verkaufen weltweit an mindestens fünfzig bedeutende und zig weniger bedeutende Händler. Ein Millionengeschäft, das gestoppt werden muss.“
„Gibt’s eine Idee, wie?“
„Wir könnten ein paar der internationalen Händler erschießen lassen –immer, wenn sie gerade eingekauft haben. Das würde sich herumsprechen und abschrecken.“
„Das ist keine Art von Auftrag, wie er mir vorschwebt. Ist sicher auch nicht dein Ernst. Zu auffällig, zu primitiv, zu viele Leute im Spiel. Du weißt, dass ich keine generellen Bedenken hätte, aber wegen solch banaler Anfängerarbeiten hättest du mich wohl nicht kommen lassen.“
„Es war eher ein Scherz. Natürlich nicht. Nicht erschießen, sondern vielleicht ausrauben. Auch das spricht sich herum und würde nach und nach abschrecken. Oder, wenn man die Lieferungen zwischenzeitlich, für einige Minuten nur, in die Hand bekäme, könnte man die Steine erhitzen. Sie verlieren dann ihre Farbe und sind wertlos.“
„Das klingt für mich, als hättest du überhaupt keinen Plan. Alles Kinderkram, kein Konzept für einen renommierten Geheimdienst. Beachte das englische Wort intelligence service. Lass mal deine wahren Gedanken raus. Oder bist du ausgebrannt?“
„Also gut. Ich habe wirklich noch keinen konkreten Lösungsvorschlag. Aber ich habe eine Methode im Sinn, deren Anwendung ich seit langem vorbereite. Ich möchte sie in diesem Zusammenhang erproben.“
Eine lange Pause.
„Und du sollst das Versuchskaninchen sein.“
Frank schweigt und wartet, Tom überlegt, womit er anfangen soll.
„Ich muss dich an den Vertrag erinnern, den du hast. Oder den du nicht hast. Er existiert nicht auf Papier. Im Ernstfall würden wir leugnen, dich überhaupt zu kennen. Niemals würden wir dich austauschen, wenn du gefasst wirst. Wir würden dich im Regen stehen lassen wie einen, der nicht ganz richtig tickt. Ist das klar?“
„So haben wir es mal vereinbart. Ich kann aber auch jederzeit leugnen, dass ich euch kenne. Ich muss auch nicht reagieren, wenn ihr mich morgens um acht anruft.“
„Ja, verdammt noch mal. So ist es leider. Aber jetzt lege ich Wert auf deine Mitarbeit – zu diesen alten Bedingungen.“
„Dann sollte ich doch wohl zuerst erfahren, worum es geht.“
„Nein. Nur wenn du drin bist, kann ich dich einweihen.“
„Dann behalte einfach alles für dich, und ich werde in einen gemütlichen Londoner Pub gehen.“
„Wir sollten solche Leute wie dich nicht beschäftigen. Im entscheidenden Moment machen sie Probleme.“
„Erzähl das deinem Chef und nicht mir.“
„Oh, Scheiße! Setz du dich hinter meinen Schreibtisch, und ich gehe nach draußen, mache es selbst. Frank, ich brauche dich. Du bist im Moment der Einzige, dem ich die Aufgabe zutraue. Außer mir selbst.“
„Danke. Und was passiert, wenn ich versage? Oder, wenn ich die Nase voll habe und einfach aussteige?“
„Monate lang habe ich alles vorbereitet, geprüft, organisiert. Es ist ein grundlegend neuer Ansatz für unsere Arbeit. Sobald das Projekt gestartet ist, wird kein einzelner Mensch es in Gefahr bringen. Auch du nicht.“
„Wenn ich vernünftig wäre, würde ich jetzt gehen. Ich bin aber noch nie vernünftig gewesen, sondern immer neugierig. Und mir wird einfallen, wie ich dich ausschalte, ehe du mich liquidieren lässt. Von dem Augenblick an, wo bei mir etwas schief geht, oder, wenn ich den Eindruck habe, deinen Leuten lästig zu werden, solltest du Tag und Nacht deine Augen offen halten – dann bist du in Lebensgefahr. Das ist mein Ernst. Und nun pack endlich aus.“
Etwas zögerlich beginnt Tom von seiner Entdeckung der Arbeiten des chinesischen Professors zu erzählen, von der Konferenz in London vor zwei Jahren, von seinen Vorbereitungen, von den Vorbehalten seiner Vorgesetzten und von seiner eigenen Überzeugung, die Arbeit des Geheimdienstes revolutionieren zu können. Schließlich kommt er auf den aktuellen Testfall zu sprechen.
„Wir brauchen als Erstes eine Idee, auf welche Weise sich die Geldbeschaffung der Taliban unterbinden lässt. Dann brauchen wir Personen, die diese Idee aus eigenem Antrieb umsetzen, obwohl sie nichts mit den Taliban und deren Turmalinhandel zu tun haben – die sogenannten AA-Typen. Es ist deine Aufgabe, ihnen dafür ein Motiv zu liefern und sie auf die Fährte zu setzen, ohne dass sie es merken, ohne dass sie das eigentliche Ziel erkennen. Und natürlich musst du auch die Leute finden, die sich entsprechend manipulieren lassen.“
„Das klingt spannend. Aber gib zu, du hast keine Idee, wie man den Geld- und Edelsteingeschäften der Taliban das Wasser abgraben könnte. Du möchtest es, aber du weißt nicht wie.“
„Das hast du leider richtig erkannt. Ich will, nein ich muss dringend die Methode erproben, aber habe kein Konzept, wie das in diesem Zusammenhang aussehen könnte.“
„Aber ich!“
Tom schaut seinen Besucher verblüfft an.
„So spontan? Sag’s mir.“
„Nein.“
„Frank, wir müssen das abstimmen, gemeinsam planen. Es wird Geld für die Aktion gebraucht, ich muss die Kosten dafür überschlagen und genehmigen lassen.“
„Und du willst, dass ich mich hinter Deinen Schreibtisch setze, du willst die Arbeit da draußen erledigen? Vergiss es! Du könntest es nicht! Wenn du deine Idee durchsetzen willst, musst du mir vertrauen! Ich werde dir nicht sagen, wie es funktioniert.“
„Mein Gott, worauf habe ich mich da eingelassen?“
„Sei doch froh, dass ich angebissen habe. Die Idee ist genial, aber deine Vorgesetzten wollen dich nicht decken. Ich handle unabhängig, wie mein Vertrag es vorsieht. Wenn es schief geht, bin allein ich verantwortlich, und du behältst Deinen Job; wenn es gut geht, wirst du befördert, soweit das überhaupt noch möglich ist. Wie viel Geld bekomme ich für meine Dienste plus Spesen, Schmiergelder und so weiter?“
„Zehn Millionen. Bei Erfolg keine Abrechnung, bei Misserfolg Nachweis jeden Pennys.“
„Gut. Nun zur Auswahl der AA-Typen.“
„Ich habe ein Handbuch erarbeiten lassen. Hier ist es.“
Tom reicht es über den Tisch.
„Du wirst dich heute Nacht hier her setzen und es lesen. Das Zimmer wird abgesperrt. Wenn du damit durch bist, legst du es in diesen offenen Tresor und schließt ihn. Dann rufst du die Wache. Sie lässt dich raus. Mit dem Taxi fährst du zum Flughafen.“
„Ein Zimmer habt ihr mir nicht zufälligerweise bestellt?“
„Nein. Falls du müde wirst, kannst du in meinem Schreibtischsessel oder dort drüben auf dem Sofa ein Nickerchen machen. Ich geh jetzt, und du wirst arbeiten. Im Kühlschrank ist Wasser. Ciao.“
Stundenlang liest Frank, von Müdigkeit keine Spur. Eine faszinierende Idee. Eine Art perfektes Verbrechen. Jedenfalls, was den Urheber betrifft; der Urheber und Nutznießer verbirgt sich hinter Personen, die das Verbrechen freiwillig ausführen, ohne die Zusammenhänge zu kennen. Personen, die ganz allein und im Prinzip unschuldig die Konsequenzen tragen, falls das ganze auffliegt.
Gegen Mittag des nächsten Tages ist Frank Frey wieder in Hamburg und beginnt mit den Vorbereitungen.
*******Die Spielbankaffaire*******
Frank macht sich rar. Anna hat sich das anders vorgestellt. So wie im Urlaub am Meer möchte sie es fortsetzen; bei ihm sein, gemeinsam etwas unternehmen, mit ihm plaudern, schmusen, schlafen. Diese Ansprüche entstanden wie selbstverständlich aus ihrem Bauchgefühl. Sobald sie darüber nachdenkt, muss sie sich eingestehen, dass sie träumt, dass Menschen normalerweise noch anderes zu tun haben. Doch dabei kommt ihr etwas Merkwürdiges zum Bewusstsein. Frank erzählt viel, sie hört ihm gern zu, aber über sein eigentliches Leben hat sie dabei bisher kaum etwas erfahren. ‚Was macht er? Womit beschäftigt er sich? Wer ist Frank?’ Alles Kramen in ihren Erinnerungen bringt nichts, sie findet nicht den kleinsten Hinweis.
Erst nach einigen Tagen erreicht sie ihn endlich am Telefon, erzählt ihm begeistert von ihrem ersten Erfolg, aber ihre Sehnsucht, ihn schnellstens wieder zu treffen, nimmt er überhaupt nicht zur Kenntnis. Er redet ihr zu, einfach weiter zu machen. ‚Einmal zu gewinnen, sagt doch gar nichts; Ausdauer muss man haben. Auch, dass es nicht funktioniert, muss man erlebt haben.’ Was soll das alles? Aber noch macht der Gedanke ans Gewinnen Anna Spaß, irgendwie hat auch der Ehrgeiz sie gepackt. So kommt es, dass sie in den nächsten vier Wochen fast regelmäßig die späten Abende in der Spielbank verbringt. Da der Tisch mit dem französischen Roulette nicht immer besetzt ist, gewöhnt sie sich schließlich an das amerikanische, steht ihre gut hundert Spiele durch und gewinnt – meistens. Nur einmal geht es total daneben. Nach einer halben Stunde hat sie fast ihren gesamten Einsatz verloren und bricht ab, so, wie Frank es in seinen Regeln vorgesehen hat. Das wirft sie zurück, aber insgesamt ist das Ergebnis beeindruckend; Gewinnstand gute zweihundert Tausend.
Bis sie unverhofft voll ausgebremst wird.
Sie wollte gar nicht mehr hingehen. Es gibt nichts Langweiligeres, als ein und dieselbe Sache immer wieder zu tun, oder, noch schlimmer, tun zu müssen. Aber ein letztes Mal hat Anna sich aufgerafft, hat einen ihrer Stammplätze eingenommen, und die Kugel rollt wieder ganz zu ihren Gunsten. Inzwischen ist sie so routiniert, dass sie nebenbei die andern Spieler beobachten kann, ihre Arbeit sozusagen mit Links macht. Und dann stehen plötzlich zwei seriöse Herren neben ihr, einer auf jeder Seite. Äußerst diskret wird sie angesprochen.
„Entschuldigung. Wir möchten Sie bitten, das Spiel abzubrechen, und mit uns zur Direktion zu kommen.“
Anna kassiert ihren letzten Gewinn, sammelt ihre Chips ein und steht auf. Die beiden geleiten sie in ein respektables Büro, liefern sie dort ab. Ein älterer Herr eilt ihr entgegen, stellt sich vor, bietet ihr einen Sitzplatz an einem kleinen runden Tisch an.
„Frau Cortesius, wir möchten Sie vom weiteren Spiel ausschließen. Sie erhalten hiermit einen Spielbankverweis, der auch für andere Spielbanken wirksam ist.“
„So, so. Und was, bitte, ist der Grund?“
„Wir mussten leider den Eindruck gewinnen, dass Sie weniger zur Unterhaltung, zum Vergnügen am Spiel beteiligt sind, sondern eher einer ungesunden Leidenschaft folgen.“
„Könnte es auch sein, dass meine Gewinne sie irritieren?“
„Auf keinen Fall! Das hat gar nichts mit unserer Entscheidung zu tun. Übrigens haben wir uns mit Ihrem ja nicht ganz unbekannten Herrn Vater in Verbindung gesetzt. Er hat uns leider bestätigen müssen, dass Sie bereits in früheren Jahren ein diesbezügliches Problem gehabt zu haben scheinen.“
„Das hat sich seit längerem erledigt. Es ödet mich inzwischen an, meine Zeit hier zuzubringen. Meine Leidenschaft hält sich in engen Grenzen. Eigentlich gibt es nichts Langweiligeres als diese primitive Unterhaltung. Aber mein Kommentar wird Ihnen wahrscheinlich nichts bedeuten.“
„Ganz recht, Frau Cortesius. Wir kennen die Situation zur Genüge. Die Argumente, die wir dann zu hören bekommen, sind in der Regel sehr phantasievoll, aber irrelevant für unsere Entscheidung. Bitte seien Sie so freundlich, nun Ihre Chips einzulösen, und die Spielbank zu verlassen. Unsere beiden Mitarbeiter werden Sie begleiten. Es dürfte Ihnen klar sein, dass wir beim Betreten des Hauses stets eine Kontrolle mittels unserer Kartei durchführen, sodass keine Chance besteht, entgegen unserer Anweisung am Spielbetrieb teilzunehmen.“
„Anscheinend haben Sie mir gar nicht zugehört.“
Warum soll sie noch diskutieren? Also nichts wie raus. Anna steht auf, macht eine kleine Abschiedsgeste mit der linken Hand und geht zur Tür. Dort wird sie von den beiden Herren wieder in Empfang genommen. Auf dem Weg zur Kasse spricht jemand sie an, den sie zu kennen glaubt.
„Guten Abend, Frau Cortesius. Sie haben Spielverbot erhalten?“
Anna ist in leicht gehobener Stimmung – sie findet das alles ein wenig lächerlich und belustigend. So lässt sie sich zu einer Antwort hinreißen.
„Sieht so aus.“
Das war ein Fehler.
Am nächsten Morgen findet sich Anna auf der Titelseite einer recht verbreiteten Zeitung wieder.
Spielbankverbot!
Tochter eines berühmten Anwalts der Spielleidenschaft überführt.
Unser Lokalreporter war dabei als Anna C. aufgefordert wurde, das Spiel abzubrechen. Die Direktion sprach eine umgehend wirksame Sperre aus. Nur zum Einwechseln der Chips durfte sie noch einmal kurz den Spielsaal betreten. Dann war es aus mit dem spannenden, aber für viele Menschen gefährlichen Vergnügen. Einzelheiten Seite 3.
Sie liegt noch im Bett, als ihre Schwester anruft und ihr das Ganze vorliest. Nach und nach wird Anna wütend. Jetzt weiß sie, wer der Besucher war, der sie angesprochen hatte. Sein Name steht als Autor über dem Artikel, und sie kennt ihn von zwei oder drei Partys, bei denen er wahrscheinlich ebenfalls auf der Suche nach journalistischer Beute gewesen war. Sie ruft sofort ihren Vater an und stellt ihn zur Rede. Schließlich hatte sich die Spielbank ja auf ihn berufen. Dr. Cortesius fällt aus allen Wolken, gibt zu, dass er die negative Auskunft gegeben hat, aber verteidigt sich energisch.
„Wenn du meinst, dass du nicht süchtig bist, hättest du mich ja auch mal über deine Unterhaltungen informieren können.“
„Wer kommt denn auf so eine blöde Idee? Aber ich will dir mal was sagen. Mir ist das Ganze scheißegal, mir macht das gar nichts, ich bin so unabhängig wie nie und niemand. Vielleicht hast ja eher du ein Problem mit einer süchtigen Tochter.“
Robert Cortesius ist sich der Sache nicht so sicher. Er wird darüber nachdenken. Oder Gras darüber wachsen lassen. Oder abwarten, was für Kommentare bei ihm eingehen.
Dann versucht Anna wieder und wieder, Frank anzurufen – ohne Erfolg. Erst am späten Nachmittag erreicht sie ihn. Er weiß bereits alles, beginnt zu lachen und beruhigt sie.
„Komm am Abend zu mir. Dann wirst du mir alles haarklein erzählen. Nicht in der Zeitung steht, dass du nach einem bestimmten System gesetzt hast. Das sollten wir auf jeden Fall als kleines Geheimnis bewahren.“
*******
Anna ist wieder glücklich. Frank zu treffen ist alles, was sie braucht. Am liebsten gleich. Aber so ist es nicht verabredet, sie wird sich beherrschen müssen.
‚Es ist noch früh genug für eine Badewanne voll Entspannung, bevor ich mich in aller Ruhe zurechtmache.’
In ihrem Schlafzimmer sucht sie die passenden Sachen für den Abend zusammen; während dessen läuft das Wasser ein. Alle Türen ihrer Schränke sind geöffnet, alle Wäschestapel wühlt sie durch, alle Kleider schiebt sie unschlüssig auf den Stangen von links nach rechts und wieder zurück. Hin und wieder ein Blick um die Ecke. Wenn sie sich nicht bald entscheidet, läuft das Wasser über. Sie schafft es gerade noch.
Was sie am Leib hatte, liegt kurz darauf in einem unordentlichen Knäuel auf dem Fußboden; nackt läuft sie ins Bad, vorsichtig steigt sie in die Wanne und taucht ab. Die Arme seitlich unter Wasser, den Hinterkopf am Rand leicht aufgestützt, die Augen geschlossen, genießt sie die Wärme rundum. Noch ein Knopfdruck - die kleinen Jetstream- Düsen einschalten; ein herrliches Prickeln entsteht am ganzen Körper.
Bald träumt sie, fast schwebend, losgelöst von der Wirklichkeit.
‚Frank! Das warme Badewasser erregt mich. Wenn ich an dich denke, wird es ziemlich schlimm. Du müsstest jetzt hier sein, mit in die Wanne steigen; oder mich herausnehmen und ins Bett tragen. So nass wie ich bin.’
Dann lässt sie die Erinnerungen noch einmal wie einen Film ablaufen. Die erste Begegnung, die Tage am Strand, die Nächte im Hotel.
‚Wer bist du wirklich Frank? Du liebst mich nicht! Was fange ich damit an? O Gott, ich könnte jetzt ganz gut mit mir allein bleiben. Vielleicht wäre das schöner als die Wirklichkeit.’
Sie bleibt versunken in ihre Gedanken. Beim Abtrocknen hat sie ihre Haut sanft mit den Fingern gestreichelt. Nun windet sie sich in das enge Hemd, streift die Seide über die nackte Brust. Den Slip zieht sie vor dem Spiegel an, bringt ihn mit kleinen Verrenkungen in die richtige Position, streicht wieder und wieder langsam über den Stoff. So bleibt sie eine Weile stehen, betrachtet wie in Trance ihren Körper, fühlt die Zärtlichkeit ihrer Hände.
Nun greift sie nach den Strümpfen, setzt sich auf die Bettkante. Einen nach dem anderen streift sie vorsichtig über den Fuß, rollt ihn nach oben, zieht ihn glatt. Dann streckt sie beide Beine aus, stützt sich nach hinten ab und schaut prüfend an sich hinunter. Auch ohne Halter werden sie keine Falten werfen; silbrig glänzen sie im schummrigen Licht ihrer Schlafzimmerbeleuchtung. Die wenige freie Haut bis zum Spitzenbesatz des Slips erscheint ihr sinnlicher und erregender als ein vollständig nackter Körper.
Anna springt auf. Mit den nächsten Kleidungsstücken kommt die keusche Verpackung. Nach Auswahl der Schuhe tritt sie hochhackig wieder vor den Spiegel. Ihre Attraktivität ist ungedämpft, hat durch das einfarbige Kostüm - kurzer, ausgestellter Rock und enge Jacke - allerdings einen sportlich - sachlichen Einschlag bekommen, einen Hauch von Geschäftlichkeit. Der raffinierte Ausschnitt signalisiert Verborgenes, das auf Eroberung lauert, und der Duft ihres Parfums legt die Spur. So ist die Dramaturgie. Genau darauf hat sie es abgesehen.
Nach dem Make-up vor dem Spiegel im Bad und einer letzten Komplett- Kontrolle im Schlafzimmer, ruft sie ein Taxi.
Schon bei der freundschaftlichen Begrüßung kann sie sicher sein, dass Frank ihren Duft einatmet. Der bleibt zunächst leider ungerührt und setzt sich geschäftsmäßig an das Kopfende des Tisches.
„Na, dann schieß mal los; ich bin gespannt, wie meine Theorie funktioniert hat.“
„Hast du die Sache mit dem Roulette etwa nie selber ausprobiert?“
„Ich war noch nie in einer Spielbank!“
„Das gibt es doch wohl nicht! Du schickst mich los und weißt gar nicht, ob es wirklich funktioniert?“
„Doch, doch, das weiß ich schon. Ich meine theoretisch; das genügt. Was ich durchdacht habe, läuft. Darin kannst du mir blind vertrauen.“
„Ich bin sprachlos! Und mit so einem habe ich mich eingelassen! Darüber muss ich bei Gelegenheit in Ruhe nachdenken.“
Im Stehen beginnt Anna zu erzählen. Natürlich will sie los werden, was sie erlebt hat. Doch ihre Vorbereitungen zu hause haben sie schon so erregt, dass ihr Körper nebenbei eigene Ziele verfolgt, die mit Roulette nichts zu tun haben. Langsam wandert sie von Stuhl zu Stuhl, sechzehn rund um den Tisch herum, legt ihre Hände auf die eine oder andere Lehne, als wolle sie sich setzen, geht dann doch wieder ein paar Schritte weiter, macht kleine Pausen in ihrer Schilderung der ersten Eindrücke und der langen Abende. Scheinbar konzentriert auf ihren Bericht zieht sie wie nebenbei den nächsten Stuhl zu sich herum, setzt einen Fuß darauf, und schwingt sich mit leichter Körperdrehung auf den Tisch, mit den Armen stützt sie sich nach hinten ab. Hin und wieder macht sie eine Hand frei, gestikuliert, um Bemerkungen Nachdruck zu verleihen.
Und Anna steckt sich ein Ziel.
‚Ich will, dass Frank sich vergisst, noch bevor ich mit meinem Bericht am Ende bin.’
Je intensiver sie erzählt, desto mehr wendet sie sich Frank zu, schlägt ein Bein über das andere, beugt sich nach vorn, stützt ihre Arme vor ihrem Körper auf, um das Gleichgewicht zu halten. Ihre Stimme ist geschäftsmäßig, berichtet über Zahlenfolgen, Einsätze und Verluste, aber ihr ganzer Körper bleibt ständig in einer aufreizenden Haltung, die das konzentrierte Zuhören nicht leicht macht. Beim Aufzählen der Gewinne wird ihr Ton engagierter; sie schildert die Situationen spannend wie in einem Roman. Dabei dreht sie sich weiter herum, liegt schließlich auf dem Tisch, Ellenbogen aufgestützt, den Kopf zwischen den Händen. Die angezogenen Unterschenkel sind nach oben gereckt, pendeln langsam in der Luft. Ihre Schuhe hat sie längst verloren. Bei den Schlussszenen und dem Rauswurf ändert sie noch einmal ihre Position, dreht sich auf die Seite, richtet sich langsam auf; der linke Arm stützt dabei den Oberkörper, die rechte Hand bleibt frei verfügbar für ihre Gesten. Zum Schluss sitzt Anna mitten auf dem Tisch, mit angezogenen Beinen, um die sie beide Arme schlingt.
„Und das Ende kennst du ja aus der Zeitung.“
Frank hat durchgehalten, Anna hat ihr Ziel nicht erreicht; nicht ganz. Natürlich machte es ihm Mühe, aufmerksam zuzugehören, immer wieder wurde er abgelenkt durch ihre graziösen Übungen auf dem Tisch. ‚Table-dance’ schoss es ihm durch den Sinn. Ihr Profil war herrlich anzuschauen, nicht nur der Kopf, sondern der ganze Körper bis hin zu den Fußspitzen. Auch ihr Parfum steigt ihm wie geplant aufreizend in die Nase. Als Anna schließlich in Augenhöhe vor ihm sitzt, bleibt ihm nichts mehr verborgen. Er zwingt sich, noch eine Weile zuzuhören, doch schließlich streckt er seine Arme aus, umfasst Anna mit beiden Händen und zieht sie auf dem polierten Tisch dicht zu sich heran. Sie öffnet ihre gefalteten Hände, greift Frank in seine vollen Haare, ihre Knie geben nach, der kurze Rock schiebt sich weit nach oben. Franks Atem wird schwer als er seine Lippen abwechselnd auf ihre weiche Haut und in die zarte Seide drückt.
Sie schaffen es trotzdem, hinterher noch ganz in der Nähe ein Restaurant zu besuchen. Nach dem Essen und zwei Gläsern Wein kommen sie allerdings zurück auf ihre Körperkontakte, reizen sich durch kleine Annäherungen, bis sie beschließen, gemeinsam wieder in Franks Wohnung zu gehen.
Frühzeitig am Morgen bei seiner unausweichlichen Lektüre entdeckt Frank die neueste Nachricht über Anna. Auf Seite fünf findet er die Fortsetzung der Geschichte von gestern. Der Journalist hatte Anna doch länger schon beobachtet. So berichtet er jetzt haarklein, wie sie beim Roulette gesetzt und gewonnen hatte. Das Gute an dem Artikel ist, dass sie nun kaum noch als die zügellos Süchtige, sondern eher als eine abgebrühte Zockerin dasteht. Eiskalt hatte sie immer dasselbe gesetzt. Da es nicht allzu viele Spiele an dem Abend waren, konnte allerdings niemand die Strategien erkennen.
Frank geht hinüber in das Schlafzimmer, zieht den Vorhang einen Spalt breit auf und weckt mit leiser Stimme seine nächtliche Geliebte.
„Anna, du bist jetzt berühmt!“
Beim gemeinsamen Frühstück versucht Anna es zunächst mit einem belanglosen Gespräch. Ohne Erfolg. Von der Seite schaut sie Frank intensiv an, stößt mehrmals auffordernd mit ihrem Fuß gegen sein Bein. Ohne Erfolg. Er ist mit seinen Gedanken woanders. Dann versucht sie, herauszufinden, womit er sich beschäftigt; die knappen Antworten sind wenig aufschlussreich, wenn sie eine Frage stellt, kommt Ungeduld in seine Augen und in seine Stimme.
Anna gibt auf. Ihr erster Impuls ist, es nicht mit ihm zu verderben, sensibel auf seine Wünsche zu reagieren, Wünsche, die er allerdings nicht ausspricht. ‚Alles zu seiner Zeit’ scheint sein Motto zu sein. Gemeinsame Unternehmungen und Liebesspiele müssen einen geplanten Anfang und sollen wohl vor allem auch ein Ende haben. Erst will sie es hinunterschlucken, doch langsam überkommt sie die Wut auf sich selbst, nach und nach auch auf ihn und seine Art, sie zu benutzen. ‚So nicht!’ nimmt sie sich vor. Wortkarg verabschiedet sie sich ohne eine nächste Verabredung.
Er bringt sie förmlich zur Tür, setzt sich sofort wieder an den unabgeräumten Frühstückstisch und versinkt bei einer Tasse Kaffee noch einmal in seine Gedanken. Die Lösung für die Aufgabe hat er klar vor Augen. Er ist sich nur nicht sicher, ob er gleich damit beginnen soll. Gleich die Turmaline, oder erst noch ein Test? Die Spielbankgeschichte war keiner, es war eine verrückte Idee gewesen, nur so zur Unterhaltung. Ihr Engagement dabei hatte ihm allerdings weitergeholfen. Tom Kenwood hatte seine Gedanken noch nicht ganz ausgesprochen, als er schon wusste, wie es funktionieren kann. AA-Typ und Ablauf standen spontan fest. ‚Anna muss es tun! Ich brauche keine fünf Männer, ich brauche eine Frau. Diese Frau. Aber ist sie hartnäckig? Bestimmt. Ist sie ängstlich? Bestimmt nicht. Ist sie auch skrupellos? Kann sie verhandeln? Kann sie täuschen und lügen? Folgt sie mir bedingungslos? Ich brauche noch ein Testprojekt, um alle diese Fragen zu klären.’
Mit dieser Entscheidung macht er einen zweiten großen Fehler an diesem Morgen. Der erste war, dass er Anna wütend gehen ließ.