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90 Jahre später

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Wien

Freitag, 19 Uhr

Kaum hatte Leon die Wohnungstür hinter sich geschlossen, schlüpfte er aus den Schuhen und warf seine dunkelbraune Cordjacke auf den Haken. Ein kurzer Blick in den Spiegel genügte ihm, um zu sehen, wie ihn der anstrengende Tag im Reisebüro gezeichnet hatte. Seine kurzen Haare waren zerzaust, sein Blick müde. Er fühlte sich nicht wie achtunddreißig, eher zehn Jahre älter.

Rasieren sollte ich mich auch wieder einmal, dachte er und strich über seine schwarzen Bartstoppeln. Er wollte sich schon seiner Stoffhose entledigen, als er im Wohnzimmer nicht nur seine Frau Julia sitzen sah, sondern auch zwei groß gewachsene Männer, die mit ihr am Tisch saßen.

„Hallo, mein Schatz. Setz Dich bitte, wir haben Besuch.“

Er bemerkte an ihrem Tonfall, dass es keine guten Neuigkeiten waren. Die beiden Männer nickten ihm nur zu.

„Okay. Worum geht es, meine Herren?“

Leon setzte sich auf den freien Stuhl gegenüber seiner Frau und musterte die Männer neugierig. Beide waren in teuren schwarzen Anzügen gekleidet, blickten ihn mit versteinerter Miene an und machten auf Leon keinen besonders freundlichen Eindruck. Sie wirkten im Gegensatz zu dem hageren Leon wie überproportionierte Muskelprotze.

„Herr Hochberger, geboren Sagnier, wir kommen aus Barcelona. Mein Kollege, Mister Castello spricht kaum Deutsch und hat mich deshalb als Dolmetscher mitgebracht“, begann der dunkelhaarige Mann zu sprechen.

Auf dem Tisch vor ihm lagen ein verschlossenes Kuvert und ein knapp dreißig Zentimeter langes Paket, beides ungeöffnet.

„Wirklich? Interessant, und was führt sie den weiten Weg von Spanien zu uns?“

„Der Tod ihres Vaters, Herr Hochberger.“

Leon blieb für einen Moment stumm. Er hatte mit seinem Vater schon über zehn Jahre keinen Kontakt mehr, seit seiner Hochzeit mit Julia.

„Das ist tragisch, aber es trifft mich nicht wirklich. Sie müssen wissen …“

„Ihre Frau hat uns schon darüber informiert, dass ihr Verhältnis nicht besonders gut war“, fuhr der Dolmetscher fort.

Leon zog eine Grimasse und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Nicht besonders gut? Das Letzte, was ich von meinem Vater gehört habe, war, dass ich nicht würdig bin, den Namen Sagnier zu tragen. Deshalb habe ich ihm bei unserem letzten Telefonat erklärt, dass ich mit der Hochzeit den Namen meiner Frau annehmen werde. Seit diesem Tag habe ich nie wieder von ihm gehört. Ich weiß, dass er nach dem Tod meiner Mutter nach Barcelona gezogen ist, aber in den fünfzehn Jahren seit ihrem Tod, war ich nicht einmal in dieser Stadt. Es ist traurig, dass er verstorben ist, aber ich habe schon vor langer Zeit meinen Vater verloren.“

Der Dolmetscher übersetzte Mister Castello, was Leon gesagt hatte. Dieser nickte nur und meinte auf Spanisch: „Ich verstehe nicht, warum Joseph dann unbedingt wollte, dass wir ihm das Paket bringen.“

Leon überlegte kurz, ließ sich aber nicht anmerken, dass er ihn verstand.

„Nichtsdestotrotz hat ihr Vater uns beauftragt, im Falle seines Ablebens, ihnen diese Gegenstände zukommen zu lassen“, fuhr der Dolmetscher fort. Er deutete auf das Paket und das Kuvert.

„Darf ich fragen, wer Sie eigentlich sind?“

„Wir arbeiten in Barcelona für eine Anwaltskanzlei und wurden vor einiger Zeit von Herrn Sagnier beauftragt, sein Testament und seinen Nachlass zu verwalten. Ihr Vater war schwer krank und wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.“

„Bitte halten sie mich nicht für gefühlskalt, aber wie gesagt, für mich ist mein Vater schon lange aus meinem Leben verschwunden.“

„Ich verstehe. Unsere Aufgabe ist nur, Ihnen dieses Paket und den dazugehörigen Brief persönlich auszuhändigen. Wir machen nur unseren Job.“

Er holte eine dünne Mappe aus seinem Aktenkoffer, zog ein Blatt Papier daraus hervor und händigte es Leon aus.

„Ich würde ihre Unterschrift und eine Bestätigung ihrer Identität benötigen, dann sind wir wieder weg.“

„Wenn das wirklich alles ist, kein Problem.“

Leon las sich den Text kurz durch. Es war nicht mehr als eine Übernahmebestätigung für die Dinge, die sein Vater für ihn vorgesehen hatte. Während der Dolmetscher den Zettel wieder einsteckte, stand Mister Castello wortlos auf und nahm sein Jackett.

„Das war es dann auch schon. Ich danke Ihnen und wünsche noch einen schönen Abend. Frau Hochberger, Herr Hochberger, wir verabschieden uns.“

Er schüttelte beiden die Hand und ging ins Vorzimmer. Mister Castello schüttelte zunächst Julia die Hand. Als er Leons Hand ergriff, sah er ihm kurz intensiv in die Augen und flüsterte dann, dieses Mal aber in gebrochenen Deutsch: „Ihre Familie hat ein hohes Ansehen in Barcelona genossen. Schade, dass sie den Namen nicht mehr weitergeben.“

Leon reagierte nicht darauf und begleitete die beiden seltsamen Gestalten zur Tür. Als er die Tür hinter ihnen schloss, blickte er verwirrt zu seiner Frau.

„Was waren denn das für Leute?“, fragte sie ihn, ebenfalls verdutzt.

„Keine Ahnung. Aber bei meinem Vater wundert mich nicht wirklich etwas. Außer, dass er mir etwas zukommen lässt. Und das, obwohl ich seiner Meinung nach, nicht würdig bin, weil ich keinen Beruf in der Kunst oder Architektur gewählt habe.“

Leon zog seine Frau zu sich und küsste sie.

„Wo ist denn Dein Spitz?“, fragte er.

Seit er sie kannte, trug Julia unter der Unterlippe ein Piercing, ein kleiner blausilberner Metallspitz.

„Als unser seltsamer Besuch kam, war ich gerade dabei, unter die Dusche zu verschwinden. Aber das kann warten, wir können ja dann gemeinsam gehen.“

Sie band sich ihre dichten, dunkelbraunen Haare, die über die Schultern hingen, zusammen und schenkte Leon ein verführerisches Lächeln. Ihr bezauberndes Gesicht und ihre stets fröhliche Art waren nur zwei Gründe, warum er seine Frau über alles liebte. Er war ihrem hübschen Gesicht mit Sommersprossen und ihrem sportlichem Körper verfallen, noch genauso, wie zu Beginn ihrer Beziehung.

Julia richtete für sie beide Kaffee am Tisch an und sah gespannt zu wie Leon das Kuvert öffnete und den Brief von seinem Vater vorlas.

„Mein Sohn,

egal was zwischen uns war, Du musst unser Familiengeheimnis an Dich nehmen und weiterhin bewahren. Besuche Pater Adrián in der Kirche unseres Vorfahren. Er wird Dir das Bild zeigen, mit dem Du alles verstehst. Verliere das Quadrat niemals, ich vertraue auf Dich.

Dein Vater“

Leon hob seine dichten Augenbrauen und las den kurzen Text erneut. Er schüttelte den Kopf.

„Wirklich?“, brachte er nur erstaunt und leicht verärgert hervor.

„Welches Familiengeheimnis, mein Schatz?“, fragte Julia nach, die hinter ihm stand und ihn umarmte.

„Ich habe keine Ahnung.“

„Und welche Kirche Deiner Vorfahren?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Und welches Quadrat?“

„Ich habe keine Ahnung“, wiederholte sich Leon.

Er legte den Brief zurück auf den Tisch und nahm sich das Paket vor. Es war von einem Notar abgestempelt worden, händisch war auf dem Packpapier vermerkt, dass es seit der Empfangnahme nicht geöffnet wurde. Leon löste die dünne Schnur, die um das Paket gewickelt war, und hielt wenige Sekunden später eine dunkle Holzschachtel in der Hand.

„Bevor Du mich fragst, ich habe keine Ahnung, was das sein soll“, kam er ihrer Frage zuvor. Auf dem Deckel der Schachtel glänzte ein, in das Holz eingelassenes, goldenes Emblem.

Das goldene Herz war mit kleinen, türkisfarbenen Mosaiken ausgefüllt. Langsam strich Leon über das Symbol, das ihm nicht im Geringsten bekannt vorkam. Das filigrane Herz war fein und glatt verarbeitet. Er öffnete die Schatulle und fand im Inneren ein goldglänzendes Quadrat liegen. Es lag eingebettet in einer roten, weichen Auskleidung, die Leon zugewandte Seite war glatt poliert.

Julia kam näher und betrachtete den Inhalt der Schatulle.

„Ist das echtes Gold?“, fragte sie staunend.

„Ich habe keine …“

„Ich weiß, mein Schatz“, unterbrach sie ihn und nahm das Quadrat in die Hand. Leon schätzte die Länge auf fünfzehn Zentimeter, alle Kanten waren sorgfältig geglättet worden. Julia drehte das Quadrat um und zeigte es ihrem Mann.

„Da ist etwas eingeprägt, es sind Buchstaben.“

Leon sah es sich näher an und erkannte, dass seine Frau recht hatte.

„Aber spiegelverkehrt, als wäre dieses Ding ein Teil eines Stempels.“

Während er noch überlegte, was das alles zu bedeuten hatte, war Julia in ihr Zimmer verschwunden und kam mit einem färbigen Schwamm zurück.

„Nur gut, dass wenigstens ich mich etwas künstlerisch betätige, oder?“

Sie tupfte die beschriebene Seite mit dem bläulichen Schwamm ab und drückte das Goldquadrat danach auf ein leeres Blatt Papier.


Ratlos standen sie vor dem Blatt und betrachteten die Wörter vor ihnen.

„Sieht lateinisch aus“, meinte Julia.

„Sorry, das ist keine Sprache, die ich beherrsche.“

„Und nun?“

„Ich frage mich gerade, warum wir uns damit beschäftigen. Mein Vater wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Jetzt vermacht er mir ein Familiengeheimnis, welches sich als eine kleine Goldplatte herausstellt, auf der einige Wörter stehen.“

Doch Leon war selbst etwas neugierig geworden. Er nahm sein Tablet und schaltete es ein.

„Was hast Du vor?“

„Wir können nicht Latein, aber es gibt eine Suchmaschine, die auch übersetzen kann“, meinte er grinsend und tippte die Wörter der Reihe nach ein. Aber als er das Ergebnis sah, konnte er nur die Augenbrauen hochziehen und erneut den Kopf schütteln.

„So ein Schwachsinn, sieh her.“

Repertori - Entdecker

Inperfecto familia – Unvollendete Familie

Oculi obviam in – Treffen sie die Augen

Duobus rectis – Zwei rechts

Aperit quadratum in – Öffnet auf dem Quadrat

Ad Descensum – Der Abstieg

ultra tempus – Jahreszeit

„Das ergibt keinen Sinn“, meinte Julia.

„Ganz genau. Was auch immer mein Vater damit vorhatte oder sich dabei gedacht hat, ich erkenne keine Logik und keinen Sinn dahinter.“

Er nahm das Metallquadrat, wischte es ab und warf es in die Holzschachtel hinein. Dabei fiel ihm auf der Innenseite des Deckels eine eingestanzte Zeile auf.

Picture ostendit viam - Duo ex me - Aurea quadratum Antoni

„Nicht noch so ein …“, stöhnte Leon auf und ließ auch diesen Satz übersetzen.

„Das Bild zeigt den Weg. Zwei von mir, das goldene Quadrat von Antoni. Was soll ich damit nun anfangen?“

Er schloss die Schatulle und blickte zu Julia.

„Vielleicht ist er auf seine alten Tage hin etwas verrückt geworden“, überlegte er laut.

„Leon, es war Dein Vater, da kannst Du nicht so reden.“

„Du weißt schon noch, dass es mein Vater war, der Dir erklärt hat, Du bist nicht gut für mich, weil Du unbedingt Karriere machen willst. Mein Vater war derjenige, der mir erklärt hat, ich soll meinen Job hinschmeißen und Architektur studieren, damit die Tradition der Familie Sagnier weiter bestehen bleibt. Der Mann, der, anstatt sich auf die Hochzeit seines einzigen Sohns zu freuen, anruft und mir empfiehlt so eine unwürdige Frau mit neumodischen Ansichten nicht zu heiraten.“

Leon wurde etwas lauter, er verspürte keine Trauer, sondern nur dieselbe Wut, wie damals nach seinem letzten Telefonat mit seinem Vater. Julia schwieg und legte einen Arm um ihn.

„Ist schon okay. Wir werden diese Schatulle irgendwo hinstellen und damit ist die Sache erledigt. Einverstanden?“

Leon nickte, drehte sich dann zu seiner Frau und küsste sie.

Die Schatulle wurde verstaut und schon nach einigen Tagen war sie vergessen. Leon lebte sein Leben weiter, glücklich verheiratet mit Julia und verschwendete keine Gedanken mehr an seinen Vater oder das ominöse Geheimnis der seltsamen Worte.

Secret of Time

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