Читать книгу Kollateralschaden - Joachim Koller - Страница 4
Tag 1:
ОглавлениеMontag, 11 Uhr
Bundespräsident Walter Schlinger war froh, in sein Amtszimmer zurückzukehren. Nach einer zweistündigen Unterredung mit den Vorsitzenden der österreichischen Regierungsparteien wollte er sich wenigstens für eine Stunde erholen. Das private Arbeitszimmer im Leopoldinischen Trakt der Wiener Hofburg bot braune, massive Holzmöbel, Bücherregale mit Literatur zur österreichischen Geschichte und mehrere kleine Schränke. Hier sah man keine weiße, edle Ausstattung, mit Goldstuck verziert, wie die Räumlichkeiten, die der Öffentlichkeit bekannt waren. Nur die Wände waren ebenso in Rot gehalten.
Da der nächste Termin erst für den späten Nachmittag geplant war, forderte er seinen Sekretär auf, vorerst keine Telefonate durchzustellen. Er wollte etwas abschalten und bei einem selbst zubereiteten Kaffee einige Berichte durchlesen. Diese stapelten sich schon wieder auf seinem Tisch.
Vom Lederstuhl hinter dem wuchtigen Schreibtisch konnte er über den Heldenplatz blicken, der wenig besucht war. Der Herbst zeigte sich mit sommerlichen Temperaturen und nur einigen Wolken am Himmel von seiner schönen Seite. Für Ende September war es etwas zu warm, was den Bundespräsidenten an den Bericht einer Umweltorganisation erinnerte. Er wurde um eine Stellungnahme gebeten, bezüglich eines aktuellen Berichtes über österreichische Firmen, deren Emissionswerte weit über den normalen Richtwerten lagen. Insgesamt wurden zwölf Firmen aufgelistet, ein Machtwort des Staatsoberhauptes könnte vielleicht etwas bewirken.
Der altmodische Klingelton seines Telefons riss ihn aus den Gedanken.
»Habe ich nicht gesagt, dass ich für eine Stunde nicht erreichbar sein möchte?«, fluchte er. Sein Sekretär kam ins Zimmer gelaufen.
»Ich verstehe das nicht, Herr Bundespräsident. Der Anruf ging direkt an sie durch, obwohl niemand die Durchwahl zu Ihnen hat«, verteidigte sich der junge Mann leicht schockiert. Das Telefon in seinem Amtsraum wurde nie direkt angerufen, selbst der Präsident kannte die Durchwahl nicht. Neugierig hob er den Hörer ab.
»Ja bitte?«
Ein dumpfes Klicken war zu hören, dann zwei Sekunden lang nur ein leises Rauschen. Er wollte den Hörer schon auflegen, als sich eine tiefe, monoton klingende Stimme meldete.
»Ich grüße Sie, Herr Bundespräsident Schlinger. Bevor Sie auf die Idee kommen, etwas zu sagen, will ich Sie darüber informieren, dass dies eine Tonbandaufzeichnung ist. Wir beide werden noch früh genug in den Genuss eines persönlichen Gespräches kommen. Vorerst möchte ich dafür sorgen, dass ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit bekomme. Nennen Sie mich einfach Bulut, Mitglied der Karabulut. Ihnen steht ein Spiel mit hohem Einsatz bevor, denn Sie stehen am Anfang einer Terrorwelle, die über Wien hereinbrechen wird. Der Einsatz dabei sind die Leben Ihre Bürger und Bürgerinnen, Herr Bundespräsident. Schon heute um 17 Uhr wird die schwarze Wolke der Vergeltung zum ersten Mal zuschlagen. Ein Aufhalten ist nicht mehr möglich, aber ich kann Sie beruhigen, die Opferzahlen in dieser Runde werden recht gering sein. Der Anschlag soll nur verdeutlichen, wie ernst wir es meinen. Sorgen Sie dafür, dass um Punkt 17 Uhr ihr Verteidigungsminister und der Bundeskanzler bei meinem Anruf anwesend sind. Bemühen Sie sich nicht, das Telefonat zurückzuverfolgen, es kostet Sie nur unnötig Zeit. Da dieses Gespräch automatisch aufgezeichnet wird, können Sie alles nochmals genau nachhören und den erwähnten Personen vorspielen. Bitte unterschätzen Sie den Ernst der Lage nicht.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Der Bundespräsident und sein junger Sekretär starrten mehrere Sekunden geschockt auf das Telefon.
»Ich benötige sofort die Notfallpläne bei einem Anschlag auf österreichischem Boden«, meinte Walter Schlinger erschüttert, ohne den Blick vom Telefon zu nehmen.
»Soll ich jemanden benachrichtigen?«
»Sagen Sie alle Termine für heute ab. Sorgen Sie dafür, dass die erwähnten Leute umgehend zu mir kommen. Und informieren Sie die Innenministerin. Ich muss schleunigst telefonieren. «
»Soll ich die Polizei ebenfalls verständigen?«, fragte der Sekretär, dessen Gesichtsfarbe immer blasser wurde.
»Nein, ich weiß jemanden, der hierfür besser geeignet ist.«
Der Bundespräsident war sich sicher, dass dieser Tag noch recht unangenehm werden würde.
11 Uhr
Der weiße Skoda Oktavia fuhr gemächlich über die Flughafenautobahn. Auf beiden Seiten klebten rote Streifen, auf den Türen das Logo des Roten Kreuz. Darunter stand in dicken, schwarzen Lettern »Blutspendedienst«.
Es herrschte wenig Verkehr, nur einige Taxis, welche es eilig hatten, überholten den Wagen. Am Steuer saß Markus, ein neunzehnjähriger Zivildiener, der seit einer Woche seinen Dienst in der Blutspendezentrale verrichtete.
»Der Job bei Euch ist echt ein Glückstreffer. Keine Patienten herumkutschieren, nur mit den Blutkonserven zu den Krankenhäusern fahren und Personal zu Blutspendeaktionen bringen«, stellte Markus fest.
Neben ihm saß Ben, der schon über zehn Jahre diesen Beruf ausübte.
»Es ist ein angenehmer Beruf, wenn man gerne im Auto sitzt und kein Problem damit hat, auch am Wochenende zu arbeiten. Außerdem hast Du bei uns keinen gewöhnlichen Acht-Stunden-Tag, sondern mindestens elf, aber dafür auch mehr freie Tage. Es hat seine Vorteile, trotzdem es ist nicht jedermanns Sache. Im Moment ist es für mich ideal, weil meine Tochter erst vier Jahre alt ist. So kann ich auch unter der Woche etwas mit ihr unternehmen«, erklärte er dem jungen Mann.
»Aber manchmal muss es ganz schön mühsam sein, den ganzen Tag nur zu sitzen, oder?«
Ben lächelte und klopfte auf seinen großen Bauch.
»Meine Statur kommt nicht von ungefähr. Wenn ich an meinen freien Tagen nicht etwas Sport machen würde und viel zu Fuß unterwegs wäre, dann würde der hier noch größer sein«, meinte er und deutete zuerst auf seinen Bauch und dann auf die Ausfahrt vor ihnen.
»Dort müssen wir von der Autobahn abfahren, dann rechts zum Terminal C, der Frachtaufgabe.«
Im Kofferraum hatten sie eine eineinhalb Meter große Transportbox, die mit Blutröhrchen gefüllt war. Diese mussten für eine Auswertung in ein Labor nach Frankfurt geflogen werden, eine Aufgabe, die ab morgen Markus übernehmen sollte.
»Rentiert sich das wirklich? Ist es billiger, fast jeden Tag etwas nach Deutschland fliegen zu lassen, als die Untersuchungen selbst zu machen?«, fragte Markus nach.
»Scheinbar, Genaueres erfährt man bei uns nicht.«
Sie fuhren zu einer der freien Rampen, wo ein Lagerarbeiter schon aufgeregt auf sie wartete.
»Endlich! Der Flug startet zwar erst gegen 17 Uhr, aber heute ist hier die Hölle los«, begrüßte er die beiden Männer aufgebracht.
»Wieso denn das?«, wollte Ben wissen, während er sich aus dem Wagen schälte und sein T-Shirt richtete.
»Ich weiß nur, dass ein Pilot ausgefallen ist, aber der Flug trotz allem stattfinden muss, egal ob der Typ noch auffindbar ist. Aber bis zum Abflug werden die hoffentlich alles im Griff haben.«
Schnell wurde die Transportbox ins Innere der Halle verfrachtet, und nachdem Ben die Bestätigung unterschrieben hatte, machten sie sich auf den Weg zurück nach Wien. Für die beiden Männer war es noch ein langer Dienst, bis 20 Uhr würden sie alle Ausfahrten gemeinsam unternehmen. Ben überließ dem jungen Mann wieder das Steuer, um unterdessen mit seiner Frau zu telefonieren. Sie hatte den Tag frei und verbrachte den Nachmittag mit ihrer Tochter im Schwimmbad.
11: 30 Uhr
Das kahle Büro bot gerade einmal genug Platz für zwei Personen samt Schreibtischen und einigen Aktenschränke. Mehr benötigte Hans Martin Gross auch nicht, um seinem Beruf nachzugehen. Zusammen mit seiner, um zehn Jahre jüngeren, Sekretärin teilte er sich das Zimmer. Eine kleine Metalltafel an der Bürotür verriet seine Tätigkeit:
Terrorismusbekämpfung und Vorbeugung
Abteilungsleiter: H.M. Gross
Sekretariat: Gabriele Zauner
»Was machst Du gerade, Gabriele?«
»Nichts Dienstliches, Chef«, gestand sie mit einem Lächeln. Seit acht Jahren war die 35-jährige Frau Hans Martins rechte Hand und wirkte auf den ersten Blick wie das typische Klischee einer Sekretärin. Eine schlanke Figur, sehr elegant gekleidet, schulterlange, dichte, strohblonde Haare und immer freundlich. Es gab nicht wenige Kollegen im Haus, die hinter vorgehaltener Hand spekulierten, ob sie die Anstellung ihrem Aussehen nach und anderen Qualitäten zu verdanken hatte. Doch niemand traute sich, solche Vermutungen ihrem Chef persönlich zu sagen. Hans Martin Gross war weder auffallend groß, noch besonders muskulös gebaut. Aber er war bekannt dafür, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen und seine Meinung teils auch sehr autoritär zu vertreten. Sein dunkelbrauner Schnauzbart galt als sein Markenzeichen. Er sah weitaus älter als fünfzig aus, die vielen Jahre im Außendienst hatten ihn gezeichnet. Nur wenige wussten genau, welchen Aufgaben Hans Martin früher nachging. Aber seine Bestellung zum Leiter der Antiterrorabteilung war derart einstimmig von oberster Hand bestimmt worden, dass viele überzeugt waren, dass er weit mehr als nur ein normaler Polizist gewesen war. Selbst Gabriele wusste nur von einigen Einsätzen, bei denen er undercover tätig war und deren Erfolg nie publik gemacht wurde.
Hans Martin Gross hatte nur eine Schwäche, was mit ein Grund war, warum Gabriele einen sicheren Job bei ihm hatte. Er hatte sich nie mit Computern anfreunden können, Gabriele hingegen erwies sich als Expertin auf dem Gebiet. Mit den Möglichkeiten der Abteilung war sie in der Lage, an nahezu alle Informationen zu gelangen, die sie suchte. Egal, ob am Computer, der vor ihr am Schreibtisch stand, oder ihrem privaten Tablet-PC, jedes Anliegen von Hans Martin wurde prompt von ihr erledigt.
»Nichts Dienstliches? Ist es wenigstens legal, Gabriele?«
»Da mir niemand auf die Finger schaut, wird auch niemand nachfragen.«
Hans Martin wusste, dass seine junge Kollegin immer wieder aufs Neue versuchte, ihre Fähigkeiten zu verbessern und in alle möglichen, gut gesicherten Netze einzudringen. Fast immer mit Erfolg.
»Chef, wenn wir mehr zu tun hätten, käme ich nicht in Versuchung ...«
»Wenn wir mehr zu tun hätten, würde es in Österreich nicht so ruhig zugehen. In diesem Job ist ein Tag ohne Arbeit ein guter Tag.«
In letzter Zeit waren es viele ruhige Tage gewesen. Erst vor einem Monat hatte Hans Martin einen Bericht auf dem Tisch liegen, der besagte, dass die Terrorgefahr für Österreich sehr gering war.
Hans Martin griff nach seinen Zigaretten, im selben Moment räusperte sich Gabriele.
»Ich weiß, werte Frau Kollegin«, jammerte er theatralisch, »Ich werde vor die Tür gehen.«
»Danke. Du weißt, dass ich den Qualm nicht aushalte.«
»Immer diese Nichtraucher«, stöhnte Hans Martin mit einem Grinsen.
Sein Telefon läutete. Die Nummer auf dem Display ließ ihn erstaunt seine dichten Augenbrauen heben und die Zigarettenpause vergessen.
»Der hat sich schon lange nicht mehr gemeldet.«
»Wer denn, Chef?«
»Der Bundespräsident«, meinte er und hob ab.
»Gross.«
»Ich grüße Dich, Hans Martin«, meldete sich Walter Schlinger persönlich. Die beiden Männer kannten sich schon seit der Zeit, als Hans Martin Undercovereinsätze im Außendienst hatte und Walter Schlinger als Innenminister seine Aufträge absegnete.
»Lange nichts mehr von Dir gehört, Walter. Als Bundespräsident hast Du wohl mehr zu tun, als damals im Innenministerium.«
»Ja und leider ist es kein Höflichkeitsanruf. Wir haben eine ... Situation.«
Binnen eines Augenblicks versteifte Hans Martin. Er schaltete den Lautsprecher des Telefons ein und deutete Gabriele, die Bürotür zu schließen. Sie blickte ihn erstaunt an, folgte aber sofort seiner Geste.
»Eine vertrauliche Situation?«
»Ja, streng vertraulich. Noch ist nicht sicher, ob es eine ernsthafte Bedrohung gibt, aber ich muss einige Vorkehrungen treffen.« Die Besorgnis in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Was ist passiert?«
»Ein Anruf mit einer Terrordrohung für heute, 17 Uhr.«
»Es gibt im Moment nicht das geringste Anzeichen für einen geplanten Anschlag. Woher kommen Deine Informationen?«
»Ich wurde direkt angerufen. Sagt Dir der Name Karabulut etwas?«
Hans Martin verneinte, Gabriele tippte auf ihrem Computer.
»Klingt türkisch. Was hat er gesagt?«
»Dass es um 17 Uhr einen Anschlag gibt und er sich danach nochmals meldet. Keine Hinweise, worum es geht oder wo es passieren soll.«
Gabriele mischte sich ein.
»Karabulut ist türkisch und bedeutet schwarze, dunkle Wolke oder Regenwolke. Es ist keine Gruppierung mit diesem Namen bekannt. Es sind auch keine Hinweise auf Probleme mit einer türkischen Gruppierung ...«
»Wer spricht da?«, warf der Bundespräsident überrascht ein.
»Gabriele Zauner, Sekretärin und Kollegin von Herrn Gross. Keine Sorge, ich bin absolut verschwiegen.«
»Dann kommen Sie beide umgehend zu mir. Ich werde ein Treffen mit einigen Ministern um 14 Uhr organisieren. Bislang darf nichts an die Medien weitergegeben werden, wobei wir ja selbst noch nicht wissen, ob es nicht doch ein Scherzanruf war.«
Das Gespräch war schnell beendet. Hans Martin nahm seine beige Jacke und forderte Gabriele auf, die notwendigen Unterlagen mitzunehmen. Sie deutete auf ihr Tablet.
»Alles abgespeichert. Wir können fahren, Chef. Obwohl ich eigentlich Hunger habe.«
Hans Martin sah kurz auf die Uhr, die über der Tür hing.
»Bis 14 Uhr haben wir noch etwas Zeit. Komm, ich lade Dich ein.«
13 Uhr
Vor ihrem Bereitschaftszimmer in der Zentrale des Blutspendedienstes standen Ben und Markus im Innenhof. Markus wollte Ben eine Zigarette anbieten, doch dieser winkte ab.
»Nein danke, ich bin gerade dabei, aufzuhören.«
»Okay, dann rauche ich auch nachher.« Markus wollte gerade weitersprechen, als Bens Handy läutete. Er sah, dass es seine Frau war, und entfernte sich einige Schritte von dem jungen Mann, um ungestört sprechen zu können.
»Hallo, Schatz, wie geht´s?«
»Hallo, ganz gut. Wir sind zurück vom Schwimmbad und die Kleine ist wieder einmal hundemüde. Was gibt es bei Dir?«
»Nichts Neues, ein ganz normaler, ruhiger Arbeitstag.«
»Warum warst Du denn bei unserem letzten Gespräch so kurz angebunden?«, bohrte seine Frau nach. Ben stöhnte auf, er wusste, was nun kommen würde.
»Weil ich nicht alleine unterwegs war, mein Schatz?«
»Wieso nicht? Wer ist mit Dir gefahren?«, kam sofort die misstrauische Frage.
Seit einiger Zeit war seine Frau Katharina extrem eifersüchtig und vermutete immer wieder aufs Neue, dass er sie betrog oder Geheimnisse vor ihr hatte.
Mehrmals erklärte er ihr, mit wem er unterwegs war und dass sie sich keine Gedanken machen bräuchte. Er versicherte ihr, dass er nur sie liebe und immer noch glücklich mit ihr war. An ihrer Stimme erkannte er aber, dass sie immer noch skeptisch war.
Als ihr Telefonat beendet war, kehrte er zu Markus zurück, dem auffiel, dass sich seine Stimmung verschlechtert hatte.
»Wenn Du einmal verheiratet bist, wird es Dir genauso ergehen, das verspreche ich Dir.« Mehr wollte er zu diesem Thema nicht sagen. In diesem Moment kam sein Chef, Georg Faltinger, zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern vorbei. Die beiden elfjährigen Zwillingsburschen grüßten Ben und Markus.
»Schönen Tag noch, wir sehen uns morgen wieder«, verabschiedete sich Bens Vorgesetzter von ihnen und verschwand mit seiner Familie in der Garage des Hauses.
»Mal schauen, was der Tag noch so bringt, ich warte immer noch darauf, bei einer Blaulichtfahrt mitzufahren«, meinte Markus und entschied dann, doch eine Zigarette zu rauchen.
13:45 Uhr
Gabriele und Hans Martin konnten sich im nahegelegen Restaurant bei ihrem Mittagessen Zeit lassen.
Ihnen stand danach nur ein kurzer Spaziergang über den Michaelaplatz bevor, um zur Hofburg zu gelangen.
Trotz des wenig einladenden Wetters waren unzählige Touristen unterwegs um die historische Altstadt Wiens zu erkunden. Die Fiaker standen bereit, um mit der zahlenden Kundschaft durch die Gassen des ersten Bezirks zu fahren. Es sah nach keinem guten Tag für die Fahrer aus, wie ihre Mienen verrieten.
»Ich war noch nie beim Bundespräsidenten, die Räume kenne ich nur von seinen Fernsehansprachen zum Jahreswechsel und Nationalfeiertag», meinte Gabriele mit etwas Ehrfurcht.
»Ich kenne Walter Schlinger schon lange, er ist ein ehrlicher, besonnener Mann. Obwohl wir in unmittelbarer Nähe zur Präsidentschaftskanzlei der Hofburg sitzen, habe ich ihn auch schon eine Ewigkeit nicht mehr persönlich getroffen.»
Gabrieles Handy läutete. Sie sah kurz nach, wer der Anrufer war und drückte ihn dann weg.
»Scheinbar nichts Wichtiges, oder?«, fragte Hans Martin nach.
»Wie man es nimmt. Mein Freund, mit dem ich eigentlich verabredet war. Ich werde ihn später zurückrufen.«
»Du hast gar nicht erwähnt, dass es einen Neuen gibt?«
»Das läuft erst seit knapp drei Monaten, Chef.«
»Und hast Du ihn schon überprüft?«, wollte Hans Martin wissen.
Gabriele verkniff sich ein Schmunzeln.
»Oliver Gradwohl, 38 Jahre, keine Vorstrafen, nichts Aktenkundiges und Nichtraucher.«
»Was Dir ja besonders wichtig ist.«
»Genau, Chef. Dafür ist er aber eifersüchtig und klammert etwas. Zum Beispiel ist es ihm ein Dorn im Auge, auch wenn er es noch nicht ausgesprochen hat, dass ich ganz alleine mit einem Mann im Büro sitze.«
Hans Martin lachte kurz auf und schüttelte belustigt den Kopf.
»Der kennt mich noch nicht. Sonst würde er nicht auf die Idee kommen, dass ich ... Also wirklich, Gabriele.«
»Ich habe es ihm gesagt und damit muss er leben«, gab sich Gabriele selbstbewusst.
Hans Martin sah in Gabriele nicht die hübsche, junge Frau, wie viele andere im Büro. Vielmehr war sie ihm mit der Zeit sehr ans Herz gewachsen, fast wie eine Tochter, auf die er aufpasste. Kurz, nachdem Gabriele bei ihm angefangen hatte, kam ihr Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Hans Martin hatte sich damals um sie gekümmert und versucht, sie zu trösten. Was nicht leicht war, für einen Mann, der nur äußerst selten Gefühle zuließ.
»Du weißt, wie ich über Dich denke, Gabriele. Wenn es Dir mit dem Mann ernst ist, stell ihn mir vor und ich kläre das mit ihm.«
»Ja, Papa«, antwortete sie grinsend.
Vor dem drei Meter hohen Eingangstor zum Trakt der Hofburg, der dem Bundespräsidenten zugedacht war, standen zwei Polizeibeamte. Sie waren über Hans Martins Erscheinen informiert und ließen ihn sofort ins Gebäude, als er sich vorstellte.
16:55 Uhr
Das Amtszimmer des Bundespräsidenten war prominent besucht. Neben Walter Schlinger waren der Verteidigungsminister, die Innenministerin, der Bundeskanzler sowie Hans Martin Gross und Gabriele Zauner anwesend. Sie hatten alle mehrmals die Aufzeichnung angehört und waren vom Ernst der Lage überzeugt.
»Sollte nicht auch Generalmajor Lechtaler bei diesem Treffen dabei sein?«, meinte Manfred Leininger, seines Zeichens Verteidigungsminister. Der groß gewachsene, glatzköpfige Mann blickte mit ernster Miene in die Runde.
»Generalmajor Lechtaler ist auf Urlaub, noch dazu im Ausland. Außerdem betrifft die Angelegenheit weniger meine Sicherheit, als die der Bevölkerung«, antwortete Bundespräsident Schlinger, »Deshalb habe ich Herrn Gross zu uns gebeten. Wir kennen uns seit Jahren und er …«
»Lechtaler ist nicht nur für Sicherheitsfragen zuständig, sondern auch ihr Verbindungsmann zum Bundesheer. Durch seinen Urlaub muss ich diese Position übernehmen.«
Hans Martin mischte sich ein.
»Im Moment müssen wir abwarten, was diese Terrorgruppe genau verlangt, wenn es überhaupt eine ist. Normalerweise spricht jemand, der einen Anschlag plant nicht von einem Spiel mit Runden und Einsätzen. Und meine Anwesenheit hier begründet sich vielleicht durch meine Funktion als Abteilungsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung«, stellte er klar.
Manfred Leininger musterte Hans Martin abschätzig und schüttelte dann den Kopf.
»Soweit ich informiert bin, sind sie für die Büroarbeit zuständig, hier geht es um eine ernsthafte Bedrohung durch eine ausländische Gruppierung. Da werden …«
Das Telefon läutete und ließ ihn verstummen, gleichzeitig sprangen die Anwesenden von ihren Sitzen. Das Telefon war inzwischen an einen Lautsprecher und eine weitere Apparatur angeschlossen. Diese sollte den Anruf zurückverfolgen, in der Hoffnung, dem Spuk ein schnelles Ende zu bereiten. Nach dem dritten Klingeln hob Hans Martin ab und legte den Hörer in die vorbereitete Ausbuchtung des Lautsprechers.
»Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen Nachmittag«, meldete sich die inzwischen bekannte Stimme höflich.
»Bevor wir uns weiter unterhalten, möchte ich Sie bitten, den Fernseher einzuschalten. Die Nachrichten, wenn Sie so freundlich wären.«
Manfred Leininger beugte sich zum Telefon vor.
»Bevor wir auch nur irgendetwas machen, was Sie verlangen, werden Sie uns verraten ...«
»Herr Leininger, es ist außerordentlich unklug, um nicht zu sagen dämlich, mich zu unterbrechen. Es stehen harte Entscheidungen vor Ihnen und den anderen anwesenden Personen, deshalb sollten Sie mir besonders gut zuhören. Glauben Sie nicht, nur weil Ihnen das Bundesheer untersteht, dass ich Sie ernst nehme. Sie sind ein Wehrdienstverweigerer, der nur aufgrund der richtigen Freunde in diese Position geschoben wurde.«
»Das ist nicht richtig!«, protestierte Leininger, »Ich habe niemals verweigert, meine damalige Gesundheit hat den Dienst an der Waffe nicht möglich gemacht.«
Inzwischen war der Fernseher eingeschaltet, gerade lief ein Bericht über einen Protestmarsch gegen die Regierung in Spanien.
»Genug mit den lächerlichen Streitereien, wir haben weitaus größere Probleme, genauer gesagt, Sie.« Die Stimme blieb weiterhin höflich, aber sehr bestimmend.
Es folgten mehrere Sekunden des Schweigens.
»Ich werde mich in ein paar Minuten wieder melden, bis dahin verfolgen Sie die Nachrichten. Ich gebe Ihnen einen kleinen Hinweis: Es wird Feuer regnen.«
Die Verbindung war unterbrochen. Gabriele tippte wie wild auf ihrer Tastatur herum, die die Handhabung des Tablet-PC erleichterte.
»Er ist in Wien, in einem der inneren Bezirke. Für eine genauere Angabe war das Gespräch zu kurz. Die Nummer gehört zu einem Wertkartenhandy. Keine Möglichkeit den Käufer ausfindig zu machen, die SIM-Karte stammt aus dem Fachhandel, wo sie haufenweise verschenkt werden«, fasste sie zusammen.
»Das alles haben Sie in der kurzen Zeit herausgefunden?«, wunderte sich Ingrid Böhm, die Innenministerin.
»Ich bin gut«, war Gabrieles Kommentar, bevor sie ihre langen, blonden Haare wieder fest zusammenband und weiter auf dem PC tippte.
17 Uhr
Ben und Markus waren auf dem Rückweg von einer Blutlieferung ins burgenländische Kittsee, östlich von Wien. Die Hinfahrt war für den jungen Zivildiener ein Highlight gewesen, denn er kam in den Genuss, bei einer Blaulichtfahrt Beifahrer zu sein. Jetzt fuhr er den Wagen.
»Das ist schon geil, wenn alle ausweichen und man mit knapp zweihundert Sachen über die Autobahn fährt.«
»So wie heute, ohne viel Verkehr, ja. Aber stell Dir vor, Du musst am Freitagnachmittag durch den Stau oder über die volle Autobahn. Selbst wenn die Rettungsgasse funktioniert, kannst Du trotzdem nicht derartig aufs Gas steigen.«
»Ich würde gerne auch einmal ...«
»Vergiss es gleich wieder. Als Zivildiener sicherlich nicht, aber Du kannst ja nachfragen, ob Du bei uns bleiben kannst, wenn es Dir so gut gefällt.«
»Das ist eine Überlegung als Nebenjob zum Studium. Mal schauen, ich bin ja noch einige Monate hier.«
Sie fuhren an einer Tafel vorbei, die auf die kommende Ausfahrt zum Flughafen hinwies. Vor ihnen sahen sie eine Maschine, die gerade abhob und über die Autobahn flog.
»Glaubst Du, werden wir heute noch etwas fahren, oder ...«
Ein lauter Knall unterbrach Markus und ließ ihn zusammenzucken. Vor ihnen verwandelte sich das Flugzeug binnen Sekundenbruchteilen in einen Feuerball. Eine Explosion in der Mitte des Flugzeugs riss die Maschine auseinander. Weitere kleinere Explosionen folgten, die eine dichte, dunkle Rauchwolke am Himmel bildeten. Brennende Einzelteile der Maschine regneten zu Boden.
»Brems! Fahr rechts ran!«, befahl Ben schlagartig und krallte sich am Armaturenbrett fest. Markus reagierte blitzartig und verriss das Steuer nach rechts. Dabei schlug er zu fest ein, der Wagen tuschierte die Leitplanke. Neben Ben sprühten Funken, dafür blieb der Einsatzwagen schnell stehen.
Die Rauchwolke war immer noch am Himmel zu sehen, die brennenden Teile landeten in den Wäldern und Feldern unweit der Autobahn. Rund um sie brach das Chaos auf der Autobahn aus. Es kam zu mehreren Auffahrunfällen, vor und hinter ihnen wichen Fahrzeuge auf den Pannenstreifen aus, manche wurden dennoch von zu spät reagierenden Autos gerammt. Überraschte Autofahrer krachten in die bereits stehenden Fahrzeuge. Hinter Ben und seinem jungen Kollegen knallte es unaufhörlich, dann mischten sich die ersten Schreie darunter.
»Ach Du ... Was ist denn ... da passiert?«, stotterte Markus, der immer noch zu der schwarzen Wolke am Himmel blickte.
»Ich würde sagen, das Flugzeug ist explodiert.« Auch Ben blickte mit aufgerissenen Augen herum. Das Flugzeug war schon etwas entfernt von der Autobahn gewesen, kein Teil fiel auf die stehenden Kolonen vor ihnen. In einem kleineren Wald konnten sie ein Feuer erkennen, mehrere Rauchsäulen stiegen aus den nahen Feldern hoch. Soweit Ben die Umgebung kannte, waren die Wrackteile auf unbewohntem Gebiet gelandet.
»Wie viel Erfahrung hast Du in Erster Hilfe?«, fragte Ben, der gleichzeitig das Diensttelefon in die Hand nahm.
»Erste Hilfe? Das Flugzeug ist explodiert!« Markus blickte entgeistert zur Absturzstelle.
»Siehst Du dieses Chaos hier auf der Autobahn?«
Ben informierte die Rettung und wies Markus an, den Wagen etwas zu bewegen, damit er aussteigen konnte. Mit einem Erste-Hilfe-Koffer machte er sich auf den Weg zum nahesten Wagen. Am Steuer saß ein älterer Mann, der zu spät gebremst hatte und einen Lieferwagen gerammt hatte. Der Zivildiener saß wie versteinert hinter dem Steuer und sah ihm mit blassem Gesichtsausdruck nach.
»Oh mein Gott … Ach Du Scheiße …«, stammelte er entgeistert.
17:15 Uhr
»Was meint dieser Bulut damit, es wird Feuer regnen?«, fragte Hans Martin zum wiederholten Male nach.
»Keine Ahnung Chef, ich suche immer noch Zusammenhänge ...«
»Das meint er!«, stieß die Innenministerin hervor und deutete auf den Bildschirm. Bundespräsident Schlinger griff nach der Fernbedienung und erhöhte die Lautstärke.
»... keine genaueren Informationen über den Unfallhergang. Die Pressestelle der Airline gab bislang nur bekannt, dass es sich um ein Frachtflugzeug handelt, das auf den Weg nach Frankfurt war. Es gibt keine Anhaltspunkte, warum die Maschine kurz nach dem Start explodiert ist. Die Amateuraufnahmen, die sie im Hintergrund sehen, deuten auf eine Sprengladung hin. Ob es aber eine Bombe war, oder ein Frachtstück detoniert ist, muss genauestens untersucht werden.«
Mit entgeisterten Blicken starrten alle Anwesenden auf den Fernseher.
»Feuer vom Himmel regnen ... Das hat er gesagt«, stotterte die Innenministerin.
Hans Martin Gross fand als Erster die Fassung wieder.
»Gabriele, ich will alles wissen, was wir haben.«
»Das ist nicht viel ...«, sie tippte auf ihrem Tablet-PC, »Weder internationale Warnungen, kein Treffer beim Namen der Terrorgruppe und auch der Heeresnachrichtendienst hat keine Informationen ...«
»Haben Sie überhaupt die notwendige Berechtigung, um auf diese Daten zuzugreifen?«, unterbrach sie Manfred Leininger mit deutlicher Überheblichkeit in der Stimme. Gabriele lächelte ihn schelmisch an.
»Nein, aber wenn Sie möchten, schreibe ich meine Personalakte diesbezüglich um. By the way, soll ich ihre ... nennen wir es Rechtsbeugungen, auch löschen, oder wollen Sie über Ihre Beziehung zum amerikanischen Geheimdienst reden.«
»Keine Ahnung, was Sie glauben, zu wissen, aber ...«
»Ein, von Ihnen unterschriebenes Dokument, das der NSA völlig freie Hand lässt, den kompletten Kommunikationsverkehr in Österreich abzuhören, mitzulesen und zu speichern.«
»Woher ... Ich will sofort wissen ...«, brauste Leininger auf, doch Gross brachte ihn zum Schweigen, indem er ihn die Hand auf die Schulter legte und leichten Druck ausübte.
»Erstens, Gabriele Zauner ist meine Assistentin und hat damit alle Rechte, die ich ihr einräume. Zweitens hat niemand ihr etwas zu sagen oder zu befehlen, außer mir. Und drittens, haben wir ein weitaus größeres Problem, um das wir uns schleunigst kümmern sollten«, stellte er unmissverständlich klar.
Er erwartete keinen Widerspruch und wandte sich an seinen langjährigen Freund, Walter Schlinger.
»Diese Gruppierung meint es ernst, sehr ernst. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, welches Ziel sie verfolgen. Dass sie bislang unbekannt geblieben ist, erhöht die Brisanz nur noch mehr.«
Das altmodische Klingeln des Telefons ließ alle aufschrecken. Schlinger griff nach dem Hörer, doch Gabriele gab ihm ein Zeichen, noch kurz zu warten. Nach einigen Sekunden nickte sie ihm zu und er hob ab, wobei er gleichzeitig den Lautsprecher einschaltete.
»Ich nehme an, ich habe nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie vermuten richtig, der Flugzeugabsturz ist unser Werk. Und das war erst der Anfang unseres Spiels.«
»Spiel? Sind Sie denn völlig verrückt!«, stieß Ingrid Böhm hervor.
»Wenn ich meiner letzten psychischen Untersuchung glauben soll, nein.«
»Wie krank muss man sein …«
»Bitte, ich wünsche keine Unterbrechungen, wenn ich rede, werte Frau«, blieb der Mann höflich, »Sie stehen am Anfang einer Terrorwelle, die die Stadt, sowie ganz Österreich erschüttern wird. Dabei ist unser Ziel sehr einfach. Wir beenden sofort jegliche Aktion, wenn Erkan Günes freigelassen wird.
»Erkan Günes, wer ist das?«, fragte Gross und deutete gleichzeitig seiner Assistentin, die sich in ihren tragbaren PC vertiefte.
»Identifizieren Sie sich, bitte.«
»Hans Martin Gross, Abteilungsleiter ...«
»Der Abteilung für Terrorbekämpfung. Es war vorherzusehen, dass Sie gerufen werden. Ich werde mich morgen um Punkt 14 Uhr wieder melden. Bis dahin sollten Sie dafür sorgen, dass Herr Günes ein freier Mann ist. Ansonsten würde der nächste Anschlag erfolgen und dieser wäre weitaus näher und tödlicher. Zur Identität von Herrn Günes wird Ihnen Herr Leininger sicherlich weiterhelfen können.«
Die Verbindung wurde getrennt und ließ alle im Raum mit fragenden Blicken zurück.
»Wir benötigen sofort eine Arbeitsgruppe, die sich mit den Auswirkungen auseinandersetzt«, meinte die Innenministerin.
»Wie bitte?«, fuhr sie Manfred Leininger an, »Was wir jetzt brauchen, ist ein Einsatzteam, das umgehend diesen Terroristen ausfindig macht. Ich werde die besten Männer zusammenrufen und mich mit ihnen beraten.«
»Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass die Medien nichts davon erfahren. Die würden uns regelrecht zerreißen«, fiel dem Bundeskanzler, Alfred Haim, ein.
»Meine Herren, Frau Minister, bitte bleiben Sie ruhig. Ich habe nicht umsonst Herrn Gross zu uns gebeten.«
»Wichtiger als ein Bürohengst ...«, weiter kam der Verteidigungsminister nicht, mit einem Satz war Hans Martin Gross bei ihm, sein eiskalter Blick brachte ihn zum Schweigen.
»Dieser Bürohengst hat schon Operationen geleitet, als Sie noch damit beschäftigt waren, sich in der Partei hochzuschleimen. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich Erfahrung im Außeneinsatz und wahrscheinlich mehr Ahnung von den Aufträgen des Bundesheers, als Sie«, schnauzte Gross ihn an, »Vielleicht beginnen wir zunächst einmal damit, dass Sie uns erzählen, von wem dieser Bulut spricht.«
Der Verteidigungsminister wich einen Schritt von Gross zurück, gab ihm aber auch keine Antwort. Gabriele wartete noch einen Moment, strich sich durch ihre Haare und setzte ein wissendes Lächeln auf.
»Wenn der Herr Verteidigungsminister nicht möchte, kann ich ihnen vielleicht ein paar Kleinigkeiten verraten, die uns hier weiterhelfen. Zunächst einmal, der Anruf kam von einem nicht registrierten Mobiltelefon. Das wird uns nicht weiterhelfen. Die Person, die Bulut erwähnt hat, lässt darauf schließen, dass er Insiderwissen hat, das ansonsten nur sehr hochrangige Politiker haben.«
»Wieso, wer ist dieser Erkan Günes?«, fragte der Bundespräsident.
Gabriele blickte zum Verteidigungsminister, dem der Name augenscheinlich vertraut war.
»Wollen Sie, oder soll ich es erzählen, Herr Verteidigungsminister?«
»Das unterliegt strenger Geheimhaltung. Eine ... Privatperson, wie Sie, kann darüber ...«
Gabrieles Grinsen wurde breiter, als sie ihn unterbrach.
»Erkan Günes wurde vor einem Monat in der Türkei von einer Spezialeinheit, die unter österreichischer Leitung stand, entführt und nach Österreich gebracht.«
»Was soll das? Diese Informationen sind streng vertraulich!«, protestierte Manfred Leininger, doch Gabriele hörte ihm nicht zu, sondern las weiter von ihrem Bildschirm ab.
»Es besteht der Verdacht, dass Günes ein internationaler Waffenhändler ist. Die Informationen sind nur vage, aber von amerikanischer Seite kam die Bitte - besser gesagt, der Befehl - den Mann dingfest zu machen. Nun sitzt er in der Maria Theresien Kaserne und wartet darauf, dass die amerikanischen Behörden sich um ihn kümmern.«
Der Verteidigungsminister schlug mit der Faust auf den Tisch, sein kahler Kopf war hochrot.
»Das wird ein Nachspiel haben, das schwöre ich Ihnen. Es kann nicht sein, dass eine gewöhnliche Sekretärin an solch brisantes Material kommt und mir unter die Nase reiben darf ...«
Im nächsten Moment war Hans Martins Hand an seinem Kragen. Mit eisernem Griff zog er den überraschten Mann nahe zu sich und blickte ihn verachtend an.
»Noch ein Wort und Deine Nase ist nur ein Teil von Dir, der gebrochen wird, haben wir uns verstanden?«, zischte er hervor. Der Bundespräsident trat neben Gross und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.
»Lass es gut sein, Hans Martin. Er ist neu im Amt und glaubt, sich profilieren zu müssen. Ich glaube, unsere Probleme sind größer, als euer beider Ego.«
»Zu diesen Problemen kann ich noch etwas sagen, wenn ich nicht andauernd unterbrochen werde.« Gabriele wirkte unbeeindruckt von Leiningers Drohung ihr gegenüber.
»Fahren Sie fort, Frau Zauner«, bat Walter Schlinger.
»Es stimmt, dass diese Informationen als streng geheim eingestuft sind. Natürlich habe ich leicht darauf Zugriff, da ich als Assistentin von Herrn Gross diesbezüglich Befugnisse habe. Die Frage ist aber, wer noch diese Ermächtigungen hat und es unserer Terrorgruppe verraten hat. Darüber hinaus möchte ich anmerken, dass das Gespräch eben recht seltsam war. Es war kurz und prägnant, trotzdem lange genug um den Anrufer zu orten. Ich gehe davon aus, dass ihm das bewusst war. By the way, es war ein anderer Standort als zuvor, mitten auf der Donauinsel. Die Chancen, ihn dort zu finden, sind wohl eher gering. Überdies muss er gute Beziehungen zum Bundesheer haben. Sein Wissen und auch, dass er den Verteidigungsminister sofort an der Stimme erkannte, sprechen dafür. Er hat klar gemacht, was er verlangt und mit einem weiteren Anschlag gedroht. Soweit so gut, aber es klang nicht danach, als würden wir mit einer türkischstämmigen Person sprechen. Das legt die Vermutung nahe, dass es keinen fundamentalistischen Hintergrund gibt. Es kamen auch keine religiösen Andeutungen vor. Demnach werden wir es wohl nicht mit Selbstmordanschlägen zu tun bekommen, sondern wieder mit einer versteckten Bombe. Er nennt das alles ein Spiel und genau so wird er vorgehen. Er will Runde für Runde gewinnen, bis wir auf seine Forderungen eingehen. Unser erstes Ziel sollte es sein, herauszufinden, wie die Bombe an Bord des Flugzeugs kommen konnte. Es war ein Frachtflugzeug der Lufthansa auf dem Weg nach Frankfurt. An Bord nur zwei Personen, Pilot und Copilot ... Moment, das stimmt so nicht.«
Gabriele stutzte und blätterte auf dem Bildschirm auf und ab.
»Du bekommst jede Unterstützung, die Du benötigst, um diese Verbrecher ausfindig zu machen und die Gefahr zu neutralisieren«, flüsterte der Bundespräsident Hans Martin Gross zu.
»Neutralisieren? Du weißt, was das in meinem Jargon bedeutet?«
Walter Schlinger nickte.
»Wenn es sein muss.«
»Das ist interessant«, fuhr Gabriele fort, »Der Copilot ist nicht geflogen. Er wurde kurz vor dem Start der Maschine in seiner Wohnung gefunden.«
»Gefunden? Was meinst Du damit, Gabriele?«
»Er ist überfallen worden, Chef. Ich habe nur einen kurzen Polizeibericht darüber, die Polizei fand ihn gefesselt in seiner Wohnung. Der Pilot, Stefan Riegler, hat auf Rücksprache mit der Airline den Flug alleine übernommen. Ich möchte nichts vermuten, aber das ist schon ein sehr großer Zufall, oder?«
»Was werden wir nun unternehmen?«, fragte Innenministerin Böhm aufgewühlt.
Der Bundespräsident blickte zu Hans Martin, der nachdenklich über seinen Schnurrbart strich und die Stirn runzelte.
»Ich benötige ein Team von Polizisten, die unter meinem Kommando stehen. Ein Einsatzwagen soll von früh bis spät bereitstehen, damit wir bei Bedarf rasch abfahren können. Alle Berichte vom Flugzeugabsturz kommen auf meinen Tisch. Die Spurensicherung vor Ort hat höchste Priorität, die müssen jeden Quadratzentimeter des Fliegers unter die Lupe nehmen. Der Copilot wird umgehend zu mir beordert, das ist im Moment unsere einzige Spur. Dazu benötige ich alles über Erkan Günes. Wie wurde er ausfindig gemacht, was wird ihm vorgeworfen, mit wem arbeitet er zusammen, was wollen die Amerikaner von ihm? Warum ist er überhaupt noch hier?«, fragte er den Verteidigungsminister.
»Weil ... also ... Die zuständigen Behörden wollen im Laufe der nächsten Woche einige Agenten zu uns schicken, die ihn mitnehmen. Scheinbar haben es die Kollegen nicht eilig, ihn zu holen.«
»Im Moment wird jede Kommunikation mit ihnen abgebrochen. Der Mann bleibt hier in Gewahrsam und bekommt keine Möglichkeit, mit jemanden zu sprechen. Zuerst will ich mit ihm reden. Ich benötige eine Aufstellung aller potenziellen Ziele in Wien und Umgebung. Wo können die Terroristen den größten Schaden anrichten, sowohl symbolisch als auch mit Todesopfern. Es sollte klar sein, aber ich sage es trotzdem: totale Nachrichtensperre. Der Flugzeugabsturz war ein tragisches Unglück, das genau untersucht wird. Ich will kein Wort von Terroristen, Anschlägen oder Ähnlichem hören. Damit der Copilot und mögliche weitere Personen nicht auf dumme Ideen kommen, werde ich hier bei Dir, Walter, ein Zimmer beziehen. Gabriele wird Dir sagen, was sie benötigt, um ordentlich arbeiten zu können.«
Hans Martin Gross war sofort in seinem Element. Jahrelang hatte er im Büro verbracht, mögliche Situationen bewertet oder nur mit kleineren Delikten zu tun gehabt. Diese Bedrohung könnte sich zu einer sehr gefährlichen Sache aufblasen, wenn sie nicht schnell und richtig handeln würden.
Ähnlich erging es Gabriele Zauner. Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass ihre bisherigen Spielereien am Computer und ihr Können auf dem Prüfstand standen. Seit sie als Sekretärin von Gross angefangen hatte, gab es noch keine ernst zu nehmende Terrordrohung. Nun musste sie beweisen, was sie konnte.
»Wo sollen wir anfangen, Chef?«, fragte sie und ließ sich ihre aufkommende Nervosität nicht anmerken.
»Du richtest das Büro für uns ein, Gabriele. Ich will den Copiloten haben, unverzüglich.« Er legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch.
»Und wir benötigen einen Kühlschrank. Mineralwasser, Energydrinks und Sandwiches. Uns steht eine lange Nacht bevor und das ist nur der Anfang, fürchte ich.«
Es dauerte knapp eine Stunde, bis das Büro neben dem Bundespräsidenten für Hans Martin und Gabriele eingerichtet war, inklusive eines gefüllten Kühlschranks. Der karge Raum wurde ansonsten nicht genutzt, er wirkte kühl und nicht besonders einladend. Im Vergleich zu den anderen Räumen der Hofburg glich ihr Büro mehr einer Abstellkammer mit Tischen.
»Ich kann mich nicht entscheiden, welcher Raum bescheidener aussieht, unser normales Büro, oder dieses hier«, bemängelte Gabriele ihre vorübergehende Unterkunft.
»Dafür bekommst Du einen Computer nach Wunsch. Was hast Du vorhin gemeint, mit dem Verteidigungsminister und Rechtsbeugungen?«
»Ich bin vor Längerem zufällig auf Dokumente gestoßen, in denen der NSA freie Hand bei der Überwachung auf österreichischem Boden gegeben wird. Als Gegenleistung gibt es bessere Geschäftsbeziehung zu einigen amerikanischen Firmen und ‚abgesprochene private Zuwendungen‘. Unterzeichnet und somit genehmigt vom amtierenden Verteidigungsminister. Ich glaube, das sagt schon alles.«
Hans Martin schüttelte den Kopf.
»Das soll uns im Moment nicht kümmern. Weißt Du mehr über Günes?«
»Noch nicht. Ich werde wohl den offiziellen Weg gehen müssen, da die Akten nicht vollständig digitalisiert wurden. Aber ich weiß, wer hier in Österreich sein Okay für die Operation gegeben hat und demnach auch mehr über die Hintergründe ...«
»Her mit ihm, heute noch«, fiel ihr Hans Martin ins Wort, »Wir müssen wissen, was es mit diesem Günes auf sich hat.«
»Jawohl, Chef. Der Copilot wird jeden Moment auftauchen. Sein Name ist Detlef Hermanns, deutscher Staatsbürger, wohnhaft in Wien, ledig, dreiunddreißig Jahre. Keine Vorstrafen, keine verdächtigen Hintergründe, soweit ich auf die Schnelle feststellen konnte.«
»Gut, dann lassen wir uns überraschen.«
19:15 Uhr
Als Detlef Hermanns von zwei Polizeibeamten in das improvisierte Büro gebracht wurde, sahen Hans Martin und Gabriele gerade die Nachrichten am Computer. Gabriele erhob sich und bot dem braun gebrannten, dunkelhaarigen Mann ihren Sitz an.
»Guten Abend, danke, dass sie so schnell kommen konnten, Herr Hermanns«, begrüßte Hans Martin ihn freundlich.
»Sehr gerne, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel mehr sagen, als ihren Kollegen heute Nachmittag.«
»Nehmen Sie erst mal Platz. Wir wissen nicht viel von den Kollegen, deshalb wäre es praktisch, wenn Sie uns alles noch einmal erzählen.«
Der Mann setzte sich gegenüber von Hans Martin und stöhnte auf.
»Wenn es sein muss. Wissen Sie, es ist mir schon peinlich genug, was passiert ist. Dann noch der Flugzeugabsturz. Dieser Tag ist einfach nur verrückt für mich.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Aber dennoch, wir bräuchten ihre Aussage. Darf es etwas zu trinken sein, Mineralwasser, Cola?«
Detlef Hermanns entschied sich für Wasser und begann seine Geschichte zu erzählen, die Gabriele, ohne nachzufragen, aufzeichnete.
»Wissen Sie, ich mache diesen Job seit vier Jahren, und etwas Derartiges ist mir noch nie passiert. Wenn wir im Moment nicht so einen Personalnotstand hätten, wäre der Pilot niemals alleine geflogen. Aber ... es war mein Glück im Unglück, könnte man sagen.«
»Kannten Sie den Piloten, Stefan Riegler?«
Hermanns überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.
»Der Name kommt mir bekannt vor, aber öfter als ein- oder zweimal bin ich nicht mit ihm geflogen. Ich habe kein Bild von ihm im Kopf.«
»Bleiben wir zunächst bei ihnen. Was genau ist Ihnen zugestoßen?«
»Eine heiße Frau, eine ...«, er blickte verstohlen zu Gabriele.
»Reden Sie ganz offen, ich werde es vertragen«, munterte sie ihn auf.
»Okay. Wissen Sie, ich bin Single und an sich sehr glücklich damit. Aber hin und wieder, na ja, wenn ich ausgehe, möchte ich auch etwas Spaß haben. Und so war es auch gestern. Ich wusste, dass mein Flug erst am späten Nachmittag geht, also hatte ich genügend Zeit, um wieder einmal durch die Stadt zu ziehen.«
»Alleine?«, wollte Hans Martin wissen.
»Zuerst noch mit einigen Freunden, Treffpunkt war unser Stammlokal im zweiten Bezirk. Dort ist mir dieser heiße Feger, also diese Frau schon aufgefallen. Sie stand immer in meiner Nähe, hat mir zugelächelt. Es hat nicht lange gedauert und wir sind ins Gespräch gekommen. Wissen Sie, mein Beruf als Pilot ist immer noch ein Magnet für manche Frauen. Ich dachte, dass es bei ihr genauso wäre. Es sah auch so aus, als hätte ich recht gehabt.«
»Bis auf die Kleinigkeit, dass sie scheinbar andere Absichten hatte«, meldete sich Gabriele zu Wort.
»Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht. Wir sind also am Kennenlernen, trinken gemeinsam einen Cocktail nach dem anderen und meine Freunde halten sich dezent zurück. Dann kommt diese Frau auf die Idee, dass wir gleich zu mir gehen könnten.«
»Einfach so? Ich will ja nicht den Moralapostel spielen, aber ...«
»Natürlich habe ich mich auch etwas gewundert, dennoch war ich nicht abgeneigt. Außerdem war mir klar, dass ich die nächsten Tage in Frankfurt verbringen werde, warum also nicht vorher etwas Spaß haben. Wissen Sie, ich suche ja nicht die große Liebe, da mache ich den Frauen nichts vor. Ihr schien es ganz recht zu sein, sie hat sogar gemeint, sie wolle etwas erleben, ohne viel Gequatsche.«
»Wie hieß die Frau denn?«
»Chantal. Wir sind dann also heim zu mir, waren kurz nach zwei Uhr in meiner Wohnung und ... sie wollen keine Details, oder?«
Hans Martin grinste.
»Nein, so neugierig sind wir nicht, außer es hilft uns weiter.«
»Sagen wir so, ich habe mich bei den Handschellen nicht gewehrt. Wir hatten auch eine schöne Zeit, die Frau war echt ein Wahnsinn. Sie ist abgegangen ... Okay, nicht so wichtig. Jedenfalls hat sie uns nachher etwas zu trinken geholt. Und wahrscheinlich ...«
»Moment!«, unterbrach Gabriele, »Warum holt sie etwas zu trinken? Diese Frau war zum ersten Mal in ihrer Wohnung.«
»Das ist richtig, aber ich habe ihr, bevor wir ... also vorher noch die Wohnung gezeigt. Und nachher war ich nicht in der Lage, aufzustehen.«
»So gut war sie?« Gabriele konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Hans Martin hingegen blieb todernst und ließ den Mann nicht aus den Augen.
»Auch, aber es lag mehr an den Handschellen, mit denen ich immer noch ans Bett festgemacht war. Sie hat mich nicht losgemacht, aber mir zu trinken gegeben. Wissen Sie, sie hat gemeint, es wäre nur eine kurze Verschnaufpause. Wahrscheinlich hat sie aber etwas in den Champagner gemischt, jedenfalls fehlt mir ab diesem Zeitpunkt die Erinnerung. Als ich munter wurde, war Chantal verschwunden, ich immer noch gefesselt und mit einem dicken Knebel verziert. Das Schlimme war, dass ich erst um halb zwölf munter wurde, das muss ein starkes Schlafmittel gewesen sein.«
»Was wurde denn aus Ihrer Wohnung gestohlen, Herr Hermanns?«
»Das ist ja das Verrückte, Herr Kommissar. Nichts.«
»Ich bin kein Kommissar, einfach nur Herr Gross. Nichts? Kein Geld, keine Wertsachen?«
»Nein und das wundert mich ja auch. Meine Geldbörse ist ziemlich dick, mein restliches Vermögen ist leicht in der Wohnung zu finden, aber alles ist immer noch an seinem Ort. Es war unmöglich, mich selbst aus dieser ... dämlichen Lage zu befreien. Mein Handy lag auch zu weit entfernt. Es hat andauernd geläutet. Erst als meine Nachbarn heimgekommen sind und mich gehört haben, ist kurz darauf die Polizei gekommen und hat mich befreit.«
»Wie haben sie ihre Nachbarn auf sich aufmerksam gemacht?«
»Mein Schlafzimmer, also das Bett, steht an der Wand zu deren Wohnzimmer. Ich bin mit dem Bett unaufhörlich gegen die Wand gerutscht. Wissen Sie, bei einem Messingbett ist das mit der Zeit schon laut.«
Gabriele schüttelte leicht den Kopf und grinste weiter. Da sie hinter Detlef Hermanns stand, konnte er ihre Schadenfreude nicht sehen.
»Nun gut, Herr Hermanns. Ich nehme an, sie haben eine Beschreibung der Dame abgegeben, oder?«
»Besser noch, Herr Kommissar ... Entschuldigung, Herr Gross. Ich habe ein Bild von ihr, hier am Handy.«
Sofort kümmerte sich Gabriele darum, das Bild auf ihren Computer zu überspielen. Sie musste zugeben, dass die Frau wirklich sehr attraktiv war. Sie war aufreizend, aber nicht übertrieben geschminkt. Ihre langen, gelockten Haare trug sie offen, und sie lächelte mit großen dunkelbraunen Augen und einem verführerischen Lächeln in die Kamera.
»Auch wenn der Name mit Sicherheit falsch ist, gib eine Fahndung nach dieser Frau raus. Mein Gefühl sagt mir, dass sie nicht zufällig aufgetaucht ist.«
»Ich werde mich darum kümmern, Chef«, antwortete Gabriele und tippte auf ihrem Computer.
»Habe ich etwas zu befürchten? Hat diese Frau etwas mit dem Flugzeugabsturz zu tun?«, fragte Detlef Hermanns aufgewühlt.
Hans Martin musterte ihn einige Sekunden lang mit ernster Miene.
»Nein, Sie haben nichts zu befürchten. Aber das nächste Mal sollten Sie etwas besser aufpassen, wen Sie mit zu sich nach Hause nehmen, Herr Hermanns.«
Der Copilot nickte schuldbewusst.
Zehn Minuten später waren Hans Martin und Gabriele wieder alleine in ihrem neuen Büro.
»Und, was glauben Sie, Chef?«
»Er lügt nicht und ich behaupte, er hat nichts mit der Sache zu tun. Es sollte nur dafür gesorgt werden, dass er nicht fliegt. Vielleicht war ein anderer Pilot geplant, um seinen Platz zu übernehmen. Ich bin gespannt auf den Bericht der Spurensicherung.«
»Der ist noch nicht da, aber eine vorläufige Liste von potenziellen Zielen. Wobei die Liste nicht wirklich viel aussagt.»
Gabriele druckte das zweiseitige Dokument aus und reichte es Hans Martin.
»Da haben sich die Kollegen im Innenministerium aber sehr bemüht«, spottete er.
»Bei der Gefahr eines terroristischen Anschlags in Wien ist dafür zu sorgen, dass alle größeren Kirchen, sowie alle Regierungseinrichtungen geschützt werden. Alle Plätze, die von besonderem touristischem Interesse sind, sollen überwacht werden. Die Auflistung darunter ist nicht mehr als eine Aufzählung aller Ministerien in Wien. Dieser Zettel ist nichts wert. Ich brauche keine Experten, um zu wissen, dass vor allem der erste Bezirk gefährdet ist. Nicht einmal die Uno-City wird erwähnt, Dilettanten!«, schimpfte er.
Hans Martin zerknüllte die Zettel und warf sie achtlos in den Papierkorb.
»Das bringt uns nicht weiter«, stellte er fest und erhob sich.
»Komm Gabriele, wir werden Erkan Günes aufsuchen. Mal sehen, was er zu erzählen hat. Wenn man mittels Terroranschlägen seine Freilassung erpressen will, muss er schon etwas ganz Besonderes sein.«
20:30 Uhr
Leise öffnete Ben die Eingangstür, da er wusste, dass seine kleine Tochter schon schlief. Auf Socken ging er in die Küche, wo ihn seine Frau Katharina erwartete. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass sie alles andere als gut gelaunt war.
»Hallo, mein Schatz. Du wirst nicht glauben, was ich heute …«
Katharina nahm ihre Brille ab und blickte ihn mit wutentbranntem Gesichtsausdruck an.
»Stimmt, ich glaube Dir nichts mehr!«, unterbrach sie ihn schroff und knallte ihm ein geöffnetes Kuvert auf die Brust.
»Kannst Du mir das erklären?«, fuhr sie ihn an, bemüht, leise zu sprechen.
Ben stutze kurz, sah sie fragend an und nahm dann den Brief heraus, der sich als amtliches Schreiben entpuppte.
»Eine Strafverfügung wegen Geschwindigkeitsübertretung. Da ich fast jeden Tag im Auto sitze, ist das hier nicht gerade eine …«
»Schau noch einmal auf das Datum und den Ort, mein Bester!«, unterbrach sie ihn fauchend. Katharina deutete mit zittrigen Händen auf den Tatzeitpunkt.
»Der 14. Juli, 23:46. Sagt mir im Moment rein gar nichts. Und die Linzer Straße …«, er überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf, »Ich weiß nicht, was ich dort gemacht habe.«
»Ich schon. Rein zufällig ist heute auch Deine Kreditkartenabrechnung gekommen. Interessanterweise hast Du am 14. Juli zu später Stunde in einem Lokal bezahlt.«
»Moment, mein Schatz. Jetzt wird das Ganze merkwürdig. Ich war sicherlich nicht alleine …«
»Doch warst Du. Ich war nämlich an diesem Tag mit Sophie bei meinen Eltern in Tulln. Das war das Wochenende, an dem Du angeblich so müde warst, dass Du zeitig ins Bett gegangen bist.«
Ben schüttelte den Kopf und griff nach der Abrechnung, die neben ihnen auf dem Küchentisch lag. Wie Katharina gesagt hatte, fand er darauf eine Abbuchung mit dem Betreff »Club Red Roses«.
»Verdammte Scheiße, was soll das bedeuten? Ich war nicht …«
Doch Katharina ließ ihn nicht ausreden. Ihr standen Tränen in den Augen.
»Ich habe Dich immer wieder gefragt … immer wieder, ob alles in unserer Beziehung passt.«
»Moment, Du glaubst doch nicht etwa …? Nein verdammt, ich habe nichts … Keine Ahnung, was es mit dieser Abrechnung und dem Strafzettel auf sich hat, aber ich weiß ganz genau, dass ich an dem besagten Wochenende nicht weggefahren bin. Schon gar nicht in so ein Lokal.« Ben bemühte sich, weiterhin leise zu sprechen, was ihm schwerfiel.
Seine Frau schien ihm nicht zuzuhören.
»Seit Wochen schon …«, Katharina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, » … erklärst Du mir, ich bin grundlos eifersüchtig. Und jetzt muss ich … muss ich erkennen, dass Du mich die ganze Zeit über nur angelogen hast«, stotterte sie unter Tränen.
»Ich habe nicht gelogen. Das hier …«, er hob die Zettel hoch, »… macht für mich keinen Sinn!«
Katharina drehte sich von Ben weg.
»Gib Dir keine Mühe, ich glaube Dir sowieso kein Wort mehr. Ich könnte brüllen und kreischen, so mies fühle ich mich. Ich bin nur deshalb so leise, weil ich unsere Kleine nicht aufwecken möchte. Sie muss nicht erfahren, was für ein Arsch ihr Vater ist.«
Ben wollte nach ihrer Hand greifen, doch Katharina wich vor ihm zurück.
»Fass mich nicht an!«, keifte sie.
»Katharina, bitte höre mir zu. Ich werde mich morgen darum kümmern.«
Seine Frau wischte sich erneut die Tränen aus dem Gesicht und blickte ihn an.
»Mach, was Du willst. Mein Chef hat mir heute Nachmittag einem Thermengutschein geschenkt. Vier Tage, zwei Personen. Du hast mir die Entscheidung sehr leicht gemacht. Ich werde mit Sophie fahren. Ein paar Tage Zeit zum Überlegen und vor allem ohne Dich. Das kann so nicht weitergehen und ich muss mir klar werden, ob es mit uns noch Sinn macht.
»Was soll das jetzt?«, fragte Ben erbost nach.
»Ich benötigte ein paar Tage Auszeit, um in Ruhe über uns nachdenken zu können.«
Nun wurde Ben aggressiver.
»Nachdenken? Stellst Du jetzt auch noch unsere Beziehung infrage?«
Mit einem Stoß auf die Brust schubste sie ihren Mann von sich weg.
»Beziehung nennst Du das? Du lügst mich an, gehst ins Puff und dann bist Du nicht einmal Manns genug, um dazu zu stehen? Sorry, aber so kann ich nicht mehr weitermachen, so kann es mit uns nicht weitergehen.«
»Wenn Du das so siehst ... Ach, vergiss es, so kann ich mit Dir nicht reden.«
Ben ließ seine Frau in der Küche stehen und marschierte ins Vorzimmer.
»Was machst Du, ich will mit Dir darüber reden. Wir werden das jetzt klären!«
»Nein, ich habe keine Lust mehr. Deine krankhafte Eifersucht kotzt mich schon dermaßen an. Der Tag heute war aufregend genug, da brauche ich das nicht auch noch! Ich weiß nicht, was es mit diesem Strafzettel und der Kreditkartenzahlung auf sich hat, aber ich weiß, dass ich nichts angestellt habe. Doch Du vertraust mir sowieso nicht, warum soll ich mich dann zum hundertsten Mal vor Dir rechtfertigen. Gute Nacht!«
Mit einem Knall fiel die Wohnungstür zu und Ben war verschwunden. Katharina ging langsam zurück in die Küche, wartete mit geschlossenen Augen noch einige Augenblicke und holte mehrmals tief Luft. Dann nahm sie die Beweise für die Untreue ihres Ehemanns, sah sie nochmals durch und legte sie auf das Fensterbrett. Der Blick auf die Uhr, die über der Küchentür hing, verriet ihr, dass der Streit mit Ben nur zehn Minuten gedauert hatte.
20:40 Uhr
Auf dem Bildschirm sah es aus, als würde Katharina direkt in die versteckte Kamera blicken.
Deutlich waren ihre verheulten Augen zu sehen, die Schminke war verschwommen und sie hatte sich noch immer nicht beruhigt, ihr Körper zitterte.
Die Frau vor dem Computerbildschirm grinste spöttisch. Mittels eines Knopfdrucks stellte sie eine Telefonverbindung her.
»Simon? Denise hier. Alles läuft nach Plan. Sie wird morgen abreisen.«
»Sehr gut. Dann bereite alles vor. In wenigen Tagen fängt unser neues Leben an«, antwortete die tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.
21 Uhr
Walter Schlinger bot Hans Martin und Gabriele seinen Chauffeur an, um zur Kaserne zu fahren. Da alle Termine des Tages gestrichen worden waren, hatte der persönliche Fahrer des Bundespräsidenten keine Aufgaben und stand ihnen somit zur Verfügung.
»Herr Schlinger hat uns persönlich angekündigt, sie werden demnach gleich von einigen Männern empfangen werden«, informierte sie der Fahrer bei der Abfahrt.
Gabriele wollte gerade ihr Tablet einschalten, als ihr Handy klingelte. Beim Blick auf das Display fluchte sie leise auf.
»Privat?«
»Ja, es ist Oliver. Wir waren für heute verabredet. Aber so wie es aussieht, wird das wohl nichts.«
»Wenn Du möchtest, kann ich die Befragung auch alleine ...«
»Nein, Chef!«, fiel sie ihm ins Wort, »Ich will nicht nur hinter dem Schreibtisch sitzen und auf meinem Computer herumtippen. Jetzt habe ich die Möglichkeit, mehr Erfahrung zu sammeln.«
Gleichzeitig schrieb sie ihrem Freund eine Nachricht, dass sie dienstlich unterwegs war und sich später melden würde.
Bei der Kaserne wurden sie schon erwartet. Ohne nachzufragen, begleiteten zwei Unteroffiziere Hans Martin und Gabriele in das Untergeschoss eines der Gebäude. Ein breiter und ein schmaler weißer Streifen, mit zwei sechszackigen Sternen darüber, zeichneten sie als Oberstabswachtmeister aus.
»Unsere Sicherheitsvorkehrungen erlauben es nicht, dass sie alleine gehen. Das verstehen Sie sicherlich.«
»Solange wir ungestört mit dem Mann reden können.«
»Natürlich, Herr Generalmajor. Wir wurden instruiert, ihnen völlig freie Hand zu lassen.«
Gabriele blickte leicht verwundert zu ihrem Chef. Sie hatte noch nie von seinem militärischen Rang gehört.
»Gut so, meine Herren.«
Sein Rang und Befehlston schien die beiden Unteroffiziere leicht einzuschüchtern.
Vor einer massiven Stahltür blieben sie stehen.
»Wenn Sie bitte ihre Hand auf diese Konsole legen, Herr Generalmajor.«
Unterdessen öffnete der zweite Mann mittels Schlüssel und einem Zahlencode die Tür.
»Diese Vorkehrungen sind schon etwas übertrieben, oder?«, meinte Gabriele und zog sich verächtliche Blicke der beiden Unteroffiziere zu.
»Dieser Mann gilt im Moment als einer der gefährlichsten Personen, die in Österreich in Gewahrsam sind. Seine Auslieferung an die amerikanischen Kollegen steht kurz bevor. Glauben Sie, wir wollen uns da auch nur den kleinsten Fehler erlauben?«, wurde ihr deutlich erklärt, wie ernst die beiden Männer ihre Aufgabe nahmen.
Die elektronische Stahltür öffnete sich und ließ Hans Martin und Gabriele staunen. Beide hatten sich auf eine schäbige Zelle eingestellt, einen halb verwahrlosten Mann, vielleicht in einer vergitterten Zelle. Doch vor ihnen war ein großer, hell erleuchteter Raum, freundlich eingerichtet mit Kasten, Fernseher, bequemer Couch und einem kleinen Regal, in dem einige Bücher standen. Anstatt Fenster hingen Gemälden von Landschaftsaufnahmen an den Wänden.
»Ist das ein Gefängnis oder eine Suite?«, fragte Hans Martin überrascht.
»Befehl der Amerikaner. Es soll unserem Gast gut gehen, bis er abgeholt wird.«
Die Tür hinter ihnen wurde verschlossen, eine Gegensprechanlage neben dem Eingang war ihre Möglichkeit, die Zelle zu verlassen.
»Kommen Sie nur weiter, ich freue mich immer über Besuch.«
Die Stimme kam aus einem kleinen Nebenraum. Erkan erschien im Durchgang und sorgte bei Hans Martin und Gabriele für weitere Verwunderung. Der Mann, der den Unterlagen nach 52 Jahre alt war, wirkte weitaus jünger. Er war elegant gekleidet, trug einen hellgrauen Anzug, eine perfekt geknotete Krawatte und seine dunklen Lederschuhe glänzten wie frisch geputzt. Sein Spitzbart war fein säuberlich gestutzt, seine dunkelgrauen Haare saßen bestens. Der Gefangene wirkte mehr wie ein Geschäftsmann, ein sehr sportlicher und agiler Mann.
»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Günes, wir wissen, dass es schon spät ist«, begrüßte Hans Martin den Mann.
»Ich bekomme hier nicht viel Besuch, deshalb freue ich mich über jede Abwechslung. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte der Mann freundlich.
Gabriele und Hans Martin wechselten einen Blick, beide wussten nicht, wie sie diese Situation einschätzen sollten. Der inhaftierte Mann vor ihnen machte nicht den Eindruck eines Gefangenen.
»Wir müssen mit Ihnen reden«, begann Hans Martin mit ernstem, strengem Tonfall, »Anscheinend haben Sie einige Freunde, die Ihre Freilassung erpressen wollen.«
Für einen Sekundenbruchteil schien Erkan Günes überrascht zu sein, er behielt aber sein Lächeln.
»Interessant. Vor allem, da niemand weiß, dass ich hier bin.«
»Genau deshalb möchte ich von Ihnen wissen, wer diese Leute sind. Ich verstehe zwar nicht, wieso sie hier in dieser Luxussuite untergebracht wurden, aber es geht um einen Anschlag auf österreichischem Boden und da hört bei mir jede Freundlichkeit auf.«
Erkan deutete auf zwei Ledersesseln und nahm selbst auf der Couch Platz. Er räumte den Tisch etwas auf, schob den geöffneten Laptop zur Seite und fixierte Hans Martin.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Sie müssen mich wohl verwechseln.«
»Können wir bitte dieses Rumgeplänkel lassen und Klartext reden?«, stellte Hans Martin klar, seine Stimme wurde bedrohlicher. Doch Erkan Günes schien davon wenig beeindruckt.
»Wie sie wissen, werde ich demnächst von den amerikanischen Behörden abgeholt. Dann sind sie mich los. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Wieso sind sie hier, Herr Günes?«, mischte sich Gabriele ein.
»Weil ihre Spezialeinheit mich in der Türkei aufgegriffen hat und hergebracht hat.«
»Warum diese ... spezielle Unterkunft?«
»Weil die Kollegen in Amerika es so gewünscht haben.«
»Was wird Ihnen vorgeworfen?«
»Das sollten Sie selber wissen. Vielleicht stellen Sie sich einfach einmal vor.«
»Gabriele Zauner und mein Chef Herr Gross. Wir sind hier, um Ihnen klar zu machen, dass ihre Freunde mit einem Terroranschlag keine Chance haben.«
Erkan Günes lehnte sich zurück und blickte belustigt zu den beiden.
»Sie reden immer von einem Anschlag. Ich bin nun seit mehr als zwei Wochen hier und habe keinen Kontakt zur Außenwelt. Ihre Anschuldigungen sind ... zu weit hergeholt.«
»Zu weit hergeholt!?«, fauchte Hans Martin ihn an und beugte sich dabei über den Tisch, »Heute wurde ein Flugzeug in die Luft gesprengt und ein weiterer Anschlag angekündigt. Sie finden das alles weit hergeholt?«
Für einen Moment wirkte Erkan Günes überrascht und verwundert.
»Bitte bleiben Sie ruhig, Herr Gross. Ich kann Ihnen versichern, dass sie den falschen Mann verdächtigen.«
»So viele Erkan Günes´ haben wir zurzeit nicht in Gewahrsam. Wenn Sie ihre Situation nicht drastisch verschlechtern wollen ...«
»Entschuldigung«, unterbrach er Hans Martin mit energischer Stimme, »aber ich heiße Ertan Günes. Ertan. Wenn Sie schon mit diesen verrückten Ideen aufkreuzen, dann sollten Sie wenigstens meinen richtigen Namen wissen.«
Hans Martin und Gabriele starrten Ertan Günes sprachlos an. Gabriele zog ihr Tablet heraus und tippte flink darauf herum.
»Sie heißen also Ertan und niemand weiß von ihrem Aufenthalt hier?«, fragte Hans Martin nochmals nach.
»Ganz genau. Vielleicht sprechen Sie zunächst mit den zuständigen Behörden. Wenn ich Sie nun bitten darf, mich wieder alleine zu lassen. Dieses Gespräch bringt uns allen nicht wirklich viel.«
Hans Martin und Gabriele waren zu perplex, um ihm zu widersprechen.
Zwei Minuten später standen Hans Martin und Gabriele wieder vor der gesicherten Tür und den beiden Unteroffizieren gegenüber. Sie sahen sich mit großer Verwunderung an und konnten sich nicht erklären, was gerade passiert war.
»Kurze Frage: Wie heißt der Mann in dieser Zelle?«, fragte Hans Martin den Offizier vor ihm.
»Erkan Günes, so wurde es uns mitgeteilt.«
»Welche Geheimhaltungsstufe?«
»Höchste. Nur wir und eine Handvoll Oberoffiziere wissen Bescheid.«
Hans Martin ließ sich versichern, dass der Gefangene bis aufs Weitere hier untergebracht blieb, da sich die amerikanischen Behörden noch nicht gemeldet hatten. Mehr wussten die beiden Männer auch nicht.
»Sie sollten mit Oberst Kern sprechen. Wir bekommen unsere Befehle von ihm.«
»Das werden wir, nur leider erst morgen früh. Vielen Dank meine Herren.«
Zurück im Wagen, der sie zurück in ihr neues Büro brachte, schüttelte Gabriele ungläubig den Kopf.
»Chef, dieser Erkan, der eigentlich Ertan heißt, verschweigt uns etwas. Aber nicht nur er, die ganze Sache ist mehr als seltsam.«
»Mir kommt es schon sehr fragwürdig vor, dass jemand seine Freilassung erzwingen will und nicht einmal den Namen richtig ausspricht. Günes wirkte überrascht, als wir ihm von dem Anschlag erzählten. Er dürfte gar nicht damit rechnen, freigelassen zu werden. «
»Das wundert mich nicht bei der Unterkunft. Ein Militärgefangener, der einen Flachbildfernseher, samt Satellitenanschluss in der sogenannten Zelle hat, dem Bücher zur Verfügung gestellt werden und der behandelt wird, wie ein Staatsgast, was soll das? By the way, er hat in seiner Zelle WLAN, eine gesicherte Militärleitung. Ich habe einen kurzen Blick auf seinen Laptop werfen können.«
Hans Martin strich sich über seinen Schnurrbart.
»Diese Sache stinkt …, und zwar gewaltig.«
21 Uhr
Ben benötigte nur wenige Minuten, bis er sein Stammlokal erreichte, in dem er sich kurzfristig mit seinem Freund verabredet hatte. Schon seit seiner Schulzeit war das gemütliche Café ein Treffpunkt für seinen Freund Peter und ihn. Unzählige Nächte hatten sie hier mit Bier, manchmal waren es auch härtere Getränke, verbracht und über Alltagssorgen, ihre Jobs und das Leben geplaudert. Die beiden Männer hatten im selben Jahr geheiratet und waren gegenseitig die Trauzeugen gewesen. Beim Nachwuchs war Bens Freund aber fleißiger, Peter hatte inzwischen schon drei Buben.
»Was ist passiert?«, fragte er Ben, dem seine Verärgerung anzusehen war.
»Eine Flugzeugexplosion, die ich live miterleben durfte und Katharina, deren Eifersucht mich noch wahnsinnig macht. Ich brauche dringend ein großes Bier, dann erzähle ich Dir alles in Ruhe.«
Ben begann mit dem Flugzeugabsturz, bei dem er Augenzeuge war. Er beschrieb seinem Freund, wie er sich um die leichtverletzten Autofahrer gekümmert hatte, bis die Rettung mit einem Großaufgebot eingetroffen war. Die Autobahn war mehrere Stunden lang gesperrt gewesen, nur dank des Blaulichts auf dem Einsatzfahrzeug, konnte er die Massenkarambolage früher verlassen.
Er berichtete ihm auch von dem Strafzettel, dem Kontoauszug und wie seine Frau ihm zum wiederholten Male unterstellte, sie zu betrügen. Außerdem erzählte er ihm, dass sie für einige Tage mit Sophie wegfahren würde. Als er mit seiner Geschichte fertig war, lehnte er sich zurück und nahm einen weiteren großen Schluck Bier.
»Zuerst die wichtigste Frage, ganz unter uns: Hast Du oder hast Du nicht?«
Ben sah seinem Freund in die Augen und schüttelte den Kopf.
»Ganz ehrlich, nein. Ich habe Katharina nie betrogen, habe keine Ahnung, wie es zu dieser Radarstrafe gekommen ist, die Zahlung kann ich mir auch nicht erklären. Ich muss mich morgen bei der Polizei und der Bank erkundigen, wie so etwas passieren kann.«
»Aber Du musst zugeben, dass es sehr verdächtig aussieht.«
»Ja, aber wenn sie mir etwas vertrauen würde, könnten wir vielleicht normal darüber reden. Aber nein, sie tobt und denkt an Scheidung.«
Peter holte eine Zigarettenpackung hervor und bot Ben eine an.
»Nein danke. Ich habe aufgehört.«
»Seit wann?«
»Erst eine Woche. Bislang ist es mir eigentlich recht leicht gefallen.«
»Da hast Du Dir einen guten Zeitpunkt zum Aufhören ausgesucht«, meinte Peter grinsend und steckte die Packung wieder ein.
»Dann sind eure Pläne rund ums Auswandern auch vorerst eingeschlafen?«, fragte Peter, während er dem Kellner deutete, noch zwei große Gläser Bier zu servieren.
»Ja. Erst vor knapp zwei Wochen haben wir uns im Internet ein paar Häuser in Spanien angesehen. Ein kleiner Ort in der Nähe von Palma de Mallorca, mit einer mehrsprachigen Schule für Sophie. Die Rettung in Spanien würde auch Leute suchen. Die Sanitäterausbildung habe ich und ein Auffrischungskurs in Spanien käme nicht teuer.«
»Ihr habt das alles sehr ernsthaft durchdacht?«
»Im Grunde schon. Aber bevor wir weiter darüber nachdenken können, muss sich Katharina entscheiden, ob sie mir endlich einmal vertraut oder weiterhin bei jeder Kleinigkeit zur eifersüchtigen Hyäne wird.«
Sie blieben bis spät in die Nacht sitzen und besprachen Bens Sorgen, die Auswanderungspläne und ließen sich über ihre Vorgesetzten aus.
Ben kam erst um drei Uhr in der Früh wieder heim, inzwischen schlief Katharina längst. Er zog die Couch im Wohnzimmer dem Schlafzimmer vor, um seine Frau nicht aufzuwecken und keine neue Diskussion zu provozieren.
22 Uhr
Hans Martin hatte sich in das improvisierte Büro in der Hofburg zurückbringen lassen und bat den Chauffeur, Gabriele heimzubringen. Sie würden in der Nacht keine neuen Erkenntnisse gewinnen, versicherte er ihr. Außerdem wusste er, dass er sich auf sie verlassen konnte. Morgen würde sie wieder früh im Büro sein.
Vor ihrer Wohnung im 18. Bezirk erkannte Gabriele sofort ihren Freund, der am Zaun der Wohnanlage stand.
»Oliver? Was machst Du denn hier, wie lange wartest Du schon?«, fragte sie erstaunt, noch bevor sie sich von ihrem Fahrer verabschiedete.
»Ich wollte Dich sehen, am Telefon hebst Du ja nicht ab.«
Der braun gebrannte, südländische Mann in Gabrieles Alter blickte den Chauffeur argwöhnisch an, der ihn aber keine Beachtung schenkte und losfuhr.
Gabriele begrüßte ihren Freund mit einem innigen Kuss.
»Oliver, ich habe Dir gesagt, es kann Tage geben, an denen ich etwas länger arbeite, oder etwas Unvorhersehbares passiert.«
»Ja, hast Du. Aber Du hast mir nicht genau erklärt, warum. Was macht Deinen Job als Sekretärin so besonders, wieso kannst Du nicht ganz normal darüber reden?«
»Weil gerade heute der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür ist. Aber ich habe einen viel besseren Vorschlag.«
Sie legte den Arm um ihren Freund und drückte ihn zu sich.
»Anstatt die ganze Zeit über meine Arbeit zu reden, könnten wir hinaufgehen und ich koche uns etwas Feines. By the way, ich hätte auch einige ... nette Ideen, für den Nachtisch«, erklärte sie ihm mit einem eindeutigen Lächeln im Gesicht. Seine Eifersucht war, jedenfalls vorläufig, verschwunden. Er folgte ihr voller Vorfreude auf den gemeinsamen Abend.
22:30 Uhr
Währenddessen kämpfte sich Hans Martin in seinem Büro durch die bisherigen Unterlagen durch, die aber nur sehr dürftig waren. Er hatte ein Glas als Aschenbecher missbraucht, das innerhalb kurzer Zeit mit Zigarettenstummeln gefüllt war.
Walter Schlinger blickte bei der Tür hinein.
»Weißt Du, dass jeder Raum in der Hofburg einen Brandmelder hat?«
»Weißt Du, dass ich in der Lage bin, eine Alarmanlage innerhalb von zehn Sekunden lahmzulegen? Da sollte ein Brand- oder Rauchmelder kein Problem sein.«
»Wenigstens hast Du liebenswerterweise das Fenster geöffnet. Lust auf einen Drink?«, fragte Walter seinen Freund.
»Meine Kollegin würde mir ansonsten wieder vorhalten, dass der Zigarettenqualm so stinkt. Und zu Deinem Angebot: wenn Du immer noch eine Vorliebe für guten schottischen Whiskey hast, sehr gerne.«
Hans Martin folgte ihm in dessen Arbeitszimmer, wo sich ein kleiner Holzschrank, gefüllt mit unterschiedlichen Spirituosen, befand.
Mit zwei vollen Gläsern setzten sie sich gegenüber in die Lederstühle.
»Es ist schon lange her, dass wir beide alleine zusammengesessen sind. Dabei arbeitest Du nur einige Gassen entfernt. Schade, dass es dafür einen so tragischen Grund geben muss«, meinte Walter Schlinger und hob sein Glas in Hans Martins Richtung,
»Auf uns, mein Freund. Und darauf, dass wir diese Wahnsinnigen schnell finden.«
Die beiden Männer schwiegen einige Zeit, bevor der Bundespräsident wieder das Wort ergriff: »Und, ist es wirklich so schlimm hinter dem Schreibtisch, wie Du es befürchtet hast?«
Hans Martin nickte.
»An manchen Tagen würde ich am liebsten schreiend hinausrennen, ich glaube, das sagt schon genug.«
»Aber Du weißt selbst, Hans Martin, es war damals die beste Lösung. Wenn jemand davon erfahren hätte, wie Du in einem Vergeltungsfeldzug gegen die Unterwelt Wiens über Leichen gegangen …«
»Es war notwendig«, stoppte Hans Martin seine Ausführungen.
»Deshalb habe ich Dich damals auch beschützt. Hast Du eigentlich inzwischen etwas von Sabine gehört?«, fragte Walter vorsichtig nach.
»Frisch verheiratet und nicht mehr in Wien lebend, kein Kontakt«, antwortete Hans Martin knapp.
Walter seufzte auf.
»Wie einfach es doch früher war. Du und Sabine, ich und meine Rebecca. Damals war es noch viel leichter, unbeschwerter. Heute sehe ich meine Frau und die beiden Jungs nur noch sporadisch. Rebecca hat erst vor einigen Tagen wieder gesagt, sie hofft, dass ich nicht zu einer zweiten Amtszeit antreten werde. Wir sollten wieder mehr Zeit für uns haben, meint sie.«
»Rebecca ist wirklich eine tolle Frau. Sei glücklich und dankbar, dass Du sie hast.« Hans Martin klang nachdenklich und leicht deprimiert.
»Danke, Hans Martin. Was ist mit Dir, wieso bleibst Du alleine?«
Hans Martin blickte durch das Fenster auf den spärlich beleuchteten Heldenplatz vor der Hofburg.
»Weil das Leben nicht gerecht ist«, meinte er leise und leerte sein Glas in einem Zug hinunter.