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6 HOA im merowingerzeitlichen Lauchheim – einer seltenen Krankheit auf der Spur
ОглавлениеDie Mediziner lieben Abkürzungen. So steht zum Beispiel das Kürzel DISH für Diffuse idiopathische Skeletthyperostose, eine besonders die Wirbelsäule betreffende Knochenapposition mit unbekannter Ätiologie. Für den in diesem Kapitel präsentierten Fall ergab die Differenzialdiagnose den Befund HOA: Hypertrophe Osteoarthropathie. Wer in diesem Kürzel den Flughafen in Hola (Kenia) oder eine im Schienenverkehr mit Infrarotsensoren ausgestattete Heißläuferortungsanlage wiedererkennt, liegt aber auch nicht falsch. Die HOA ist selten, Männer sind davon häufiger betroffen als Frauen, und im archäologischen Kontext sind in der Fachliteratur bislang kaum mehr als ein halbes Dutzend Fallbeispiele beschrieben worden. Ob der Neandertaler La Ferrassie 1 tatsächlich dazugehört, ist fraglich.
Um HOA im vorliegenden Fall als wahrscheinlichste Ursache für die an den Skelettresten aus Grab 39 in Lauchheim vorgefundenen Auffälligkeiten zu bestimmen, kamen verschiedene Untersuchungsmethoden zum Einsatz: Licht- und Rasterelektronenmikroskopie, Histologie, Röntgen und Computertomografie. Das Ergebnis der Paläogenetik steht noch aus. Dabei steht die Variante B27 des auf Chromosom 6 lokalisierten HLA-B-Gens im Fokus, die für verschiedene rheumatoide Erkrankungen verantwortlich ist. Das sogenannte HLA-System, abgeleitet von Human Leukocyte Antigen, steuert die Gewebeverträglichkeit und ist im Rahmen der Transplantationsforschung entschlüsselt worden.
Besagtes Grab war 1999 im Rahmen systematischer Ausgrabungen auf dem insgesamt rund 12 ha großen frühmittelalterlichen Siedlungsareal „Mittelhofen“ in Randlage der neunzehn Bestattungen umfassenden Grabgruppe 5 entdeckt worden. Alles in allem konnten seinerzeit 79 auf sechs Grabgruppen verteilte oder isoliert angelegte Gräber der späten Merowingerzeit geborgen werden. Grab 39 enthielt das Skelett eines erwachsenen Mannes, zeittypisch westöstlich orientiert, in gestreckter Rückenlage mit zur rechten Schulter hin geneigtem Schädel und ursprünglich in der Unterleibsregion zusammengelegten Händen. Ob die als einzige Beifunde zwischen seinen Oberschenkeln angetroffenen Gefäßscherben als Beigabe zu werten oder zufällig mit der Füllerde ins Grab gelangt sind, muss offenbleiben. Die anthropologische Untersuchung ergab ein Sterbealter von mindestens 35, wahrscheinlich nicht über 50 Jahren. Eine nähere Eingrenzung ist aufgrund der pathologischen Befunde, die Einfluss auf die altersspezifischen Parameter genommen haben könnten, nicht möglich. Der Mann war etwa 1,75 m groß und dürfte entsprechenden Schätzformeln zufolge etwa 83 kg gewogen haben.
Lauchheim-Mittelhofen: Distale Gelenkenden des rechten Schien- und Wandenbeins des Mannes aus Grab 39 mit deutlich ausgprägten, für die sekundäre HOA typischen, unregelmäßig strukturierten Knochenauflagerungen.
An seinem Skelett lassen sich verschiedene krankhafte Veränderungen erkennen: auf dem rückwärtigen Teil des linken Scheitelbeins ein kleines sogenanntes Knopfosteom, ein gutartiger Tumor, von fünf Millimeter Durchmesser; vier Zähne des Oberkiefers mit Abszessen, die auf Vereiterungen im Bereich der Wurzelspitzen zurückgehen, drei davon im Frontgebiss, dazu Anzeichen entzündlicher Prozesse – Stomatitis und dentogene Sinusitis –, eine verheilte Fraktur des rechten Schlüsselbeins mit bajonettartig gegeneinander verschobenen Bruchenden, Exostosen (Knochensporne) vom Kreuzbein aus zur Lendenwirbelsäule und zu beiden Beckenhälften hin, degenerative Erscheinungen an den Wirbelkörpern – Spondylosis deformans und Schmorl’sche Knötchen – sowie vier zu einem Block verwachsene Lendenwirbel (vl II–V) und als anatomische Besonderheit ein übermäßig ausgestellter knöcherner Steiß (Sacrum arcuatum).
Besonders bemerkenswert sind allerdings die periostalen, mehrere Millimeter mächtigen Knochenneubildungen, die einen Großteil der Röhrenknochen zum Teil mehrlagig umhüllen und eine unregelmäßige, baumrindenähnlich wulstige, mit kleinen Auswüchsen (Spiculae) versehene Oberfläche aufweisen. Davon betroffen sind symmetrisch auf beiden Körperhälften vor allem die großen Langknochen und Metapodien, in schwächerer Ausprägung der Beckengürtel und die Schulterblätter, mit deutlicher Zunahme der Intensität in Richtung der unteren Extremitäten sowie von proximal nach distal. Die Markhöhlen sind symptomfrei, weitgehend auch die Gelenkflächen. Im Randbereich der Sehnenansatzstellen haben sich Osteophyten entwickelt. Die ursprüngliche Knochenoberfläche ist über einen Spalt hinweg durch feine Verästelungen mit den neu gebildeten, häufig mehrschichtigen „Schalen“ verbunden. Phänomenologisch lassen sich aktive Strukturen (poröser Geflechtknochen) von bereits zu kompaktem Lamellenknochen umgeformten inaktiven, das heißt abgeheilten Arealen unterscheiden. Die zugrunde liegende Krankheit trat demnach über einen längeren Zeitraum und in Schüben auf.
Im Hinblick auf das Erscheinungsbild der vorliegenden Veränderungen kommen diverse Krankheiten mit teilweise vergleichbarer Symptomatik in Betracht: unter anderem Fluorose, Treponematose, Tuberkulose, hämatogene Osteomyelitis, Hypervitaminose A, Melorheostose und primäre Pachydermoperiostitis (primäre HOA) sowie sekundäre hypertrophe Osteoarthropathie, vielleicht auch Akromegalie, Lepra, thyreohypophysäre Akropachie oder Morbus Paget. Unter Berücksichtigung der im Detail vorgefundenen Phänomene, deren Verteilung über das Skelett sowie des Sterbealters des Betroffenen können diese jedoch im Rahmen der Differenzialdiagnose sämtlich zugunsten der sekundären HOA ausgeschlossen werden.
Diese Krankheit wird nach deren vermeintlicher Erstbeschreibung durch die beiden Mediziner Pierre Marie und Eugen Bamberger auch als Marie-Bamberger-Syndrom bezeichnet. In Wahrheit gebührt diese Ehre jedoch Hippokrates von Kos, der die typischen Symptome schon zweitausend Jahre früher als eigenes Krankheitsbild erkannt hatte. Ihre eigentliche Ursache ist bis heute unbekannt, sie tritt im Zusammenhang mit chronischen Lungen-, Herzoder Lebererkrankungen auf, am häufigsten in Kombination mit Bronchial- und Lungentumoren, und ist auch schon bei Tieren nachgewiesen worden. Unter dem Namen Paraneoplastisches Syndrom gilt sie unter anderem als Anzeiger bösartiger tumoröser Erkrankungen. Typische Merkmale beim Lebenden sind verbreiterte Finger- und Zehenendglieder, sogenannte Trommelschlägelfinger bzw. -zehen, uhrglasförmig gewölbte Nägel, schmerzhafte Weichteilschwellungen, übermäßiges Schwitzen und Hitzewallungen, Durchblutungs- und Empfindungsstörungen, nicht selten begleitet von Gelenkschmerzen infolge Arthrose oder Arthritis. Von den erwähnten periostalen Neubildungen sind im vorliegenden Fall vor allem die Knochen des Zygopodiums – Elle, Speiche, Schien- und Wadenbein – betroffen, gefolgt von Oberarm- und Oberschenkelknochen sowie Mittelhand- und Mittelfußknochen. Seltener und erst in fortgeschrittenem Stadium werden auch die Phalangen – die Finger- und Zehenknochen – sowie die Schlüsselbeine befallen, Rippen, Becken und Wirbelsäule nur in Ausnahmefällen.
Die vier zu einem Block verschmolzenen Lendenwirbel warfen zunächst weitere Fragen auf. Dem äußeren Erscheinungsbild zufolge kamen infrage: DISH, eine angeborene Blockbildung, ein Trauma oder am ehesten eine Spondylitis ankylosans, auch als Morbus Bechterew oder rheumatoide Spondylitis bekannt. Bei Letzterer handelt es sich um eine chronisch entzündlich rheumatische Erkrankung, die bevorzugt die Brust- und Lendenwirbelsäule und zumeist auch das Iliosakralgelenk befällt, wahrscheinlich auf eine Störung des Immunsystems zurückzuführen ist und fast immer mit der Präsenz von HLA-B27 einhergeht. In diesem Zusammenhang käme auch Morbus Reiter in Betracht, eine Autoimmunerkrankung, die häufig auf einer beim Sexualverkehr übertragenen Chlamydieninfektion basiert, vor allem 20- bis 40-jährige Männer befällt und in einem Fünftel der Fälle chronisch verläuft. Beim Vorliegen einer Spondylarhritis wäre diese nur schwer von Morbus Bechterew zu unterscheiden. Anhand der Röntgenaufnahmen können die meisten der vorgenannten Grunderkrankungen ausgeschlossen werden. Trotz einiger eher atypischer Detailbefunde wie auch der fehlenden Verwachsung des Iliosakralgelenks erscheint Morbus Bechterew am plausibelsten.
Die markante Symptomatik an den Extremitätenknochen ist dagegen auf die sekundäre HOA zurückzuführen. Auflösungserscheinungen auf der rückwärtigen Seite des Sternums zeigen, dass die zugrunde liegende Primärerkrankung möglicherweise im Bereich des vorderen Anteils des unteren Mediastinums – in der Körpermitte zwischen Brustbein und Herzbeutel vertikal verlaufender Raum aus lockerem Bindegewebe – zu verorten ist. Auf den REM-Aufnahmen erkennbare, unterschiedlich „frisch“ erscheinende Resorptionen zeigen eine über einen längeren Zeitraum und in Schüben verlaufende Krankheit an und könnten aus topografischen Gründen auf einen Tumor der Thymusdrüse als Verursacher des vorliegenden Krankheitsbildes schließen lassen.
Der Mann aus Grab 39 litt demnach unter verschiedenen Krankheiten und wies eine Reihe von äußerlich erkennbaren Besonderheiten auf, die auch seinen Zeitgenossen nicht verborgen geblieben sein dürften. Vielleicht war das ein Grund dafür, dass man seinen Leichnam am Rand des für die Familie oder Sippe reservierten Bestattungsareals beigesetzt hat.