Читать книгу 15000 Jahre Mord und Totschlag - Joachim Wahl - Страница 14
Unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten
ОглавлениеArchäologische Befunde im Kontext mit menschlichen Skelettresten lassen oft verschiedene Deutungen zu. Nicht selten ist dabei die Tendenz zu beobachten, einer spektakuläreren Variante gegenüber einer weniger aufregenden, jedoch nicht weniger plausiblen Interpretation den Vorzug zu geben. Als Beispiel mögen einige Aspekte im Zusammenhang mit dem „Mann aus dem Eis“ dienen, der im September 1991 rund 5300 Jahre nach seinem Tod am Tisenjoch in Südtirol gefunden wurde. Er ist zwar mit Abstand das berühmteste Beispiel eines prähistorischen Kriminalfalls, aber – wie die ersten Kapitel dieses Buches zeigen werden – nicht der älteste.
„Ötzi“ hatte Gallensteine, eine verheilte Rippenserienfraktur auf der linken Seite, litt an erblich bedingter Arteriosklerose und starb im Alter von vierzig bis fünfzig Jahren. 2012 konnten Genetiker auch Milchzuckerunverträglichkeit diagnostizieren. Es heißt, er sei ein bis zwei Tage vor seinem Ende in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen. Die bereits im Abheilen begriffene Schnittwunde an der rechten Hand könnte er sich aber genauso bei handwerklichen Tätigkeiten zugezogen haben. Er sei dann in die Berge geflohen, rücklings von einem Pfeil in die linke Schulter getroffen worden und innerhalb weniger Minuten verblutet, da die Schlüsselbeinarterie verletzt wurde. Doch während andere hölzerne Gegenstände bestens erhalten sind, fehlt der betreffende Pfeilschaft. Eine offensichtlich von modernen Kriminalfilmen inspirierte Theorie dazu lautet, dieser sei nach der Tat vom Schützen entfernt worden, damit man den Mörder nicht identifizieren könne oder das Ganze wie ein Unfall aussehe. Dabei hatte der Täter in der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends v. Chr. sicher noch keine offizielle Strafverfolgung zu befürchten. Aber wenn der oder die Täter tatsächlich so nahe bei ihrem Opfer gewesen sein sollten, warum haben sie dann die gesamte Ausrüstung, insbesondere das überaus wertvolle Kupferbeil des Eismanns nicht angetastet? Es könnte also auch sein, dass sie gar nicht vor Ort waren, als er starb. Vielleicht hat er sich den Pfeil selbst herausgezogen und beiseite geworfen, nachdem er seinen Häschern entkommen war. Solange der Pfeil in der Wunde steckte, wirkte er wie ein Pfropf. Es ist allgemein bekannt, dass man Pfeile, Messer oder Ähnliches bei einem Verwundeten nicht entfernen soll.
Ein weiterer Punkt sind Anzeichen einer Schädelfraktur über dem rechten Auge, die aber nicht zwangsläufig von einem Schlag, sondern ebenso von einem Sturz herrühren könnte. Und dass nur zwei von 14 Pfeilen des Eismanns einsatzfähig waren, muss nicht auf einen überstürzten Aufbruch hinweisen. Man hielt damals sicherlich permanent Ausschau nach geeignetem Rohmaterial für die spätere Weiterverarbeitung. Selbst mit weniger aufregenden Effekten ist seine Story immer noch spannend genug. Im Übrigen kam ein juristisches Gutachten zu dem Schluss, dass die Mumie vom Tisenjoch aus privatrechtlicher Sicht als Sache und nicht als Person mit eigener Rechtsfähigkeit zu betrachten ist.