Читать книгу Paranoia - Joana Goede - Страница 3

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Die rote Frau sah ihn sonderbar an. Aus ihrem scharfen Blick sprach ein ausgeprägtes Misstrauen. Ganz so als könne sie spüren, weshalb er da war und so aufmerksam zu ihr hinüberschaute. Vielleicht war er in seinem Bemühen um Unauffälligkeit zu ungeschickt gewesen, überhaupt vollkommen ungeübt darin, jemanden zu beobachten. Vermutlich stand sie gleich auf, kam zu ihm und sagte ihm ins Gesicht: „Ich weiß genau, wer Sie geschickt hat. Aber machen Sie sich keine Hoffnungen. Sie werden nichts zu sehen kriegen. Also bleiben Sie ruhig sitzen und überwachen Sie mich, Sie werden sich furchtbar langweilen. Einen schönen Abend noch.“

Schweiß trat auf seine Stirn, die ganze Situation war ihm peinlich. Er kam sich schlecht vor, eine fremde Frau zu observieren, als wenn sie eine Verbrecherin wäre. Sein Körper spannte sich in der Angst, von ihr angesprochen zu werden.

Aber nichts dergleichen geschah.

Noch ein paar Sekunden starrte sie argwöhnisch in seine Richtung, musterte ihn wohl etwas nachdenklich, dann jedoch wandte sie ihr Gesicht von ihm fort und richtete ihre volle Aufmerksamkeit wieder auf ihren Begleiter.

Er atmete auf. Sein Körper erschlaffte auf dem Kneipenstuhl, er griff nach dem Bierglas vor sich und nahm einen großen Schluck davon. Anschließend linzte er wieder verstohlen zu der Frau hinüber, die keine Notiz mehr von ihm zu nehmen schien.

Ihr rot gefärbtes Haar stach ins Auge. Selbst in der vollen Kneipe mit schlechtem Licht hob sie sich gut sichtbar von ihrer Umgebung ab. Das Haar war dermaßen unnatürlich rot, dass die Leute auf der Straße zum Teil wie an einer roten Ampel vor ihr stehen blieben und sie ungläubig anstarrten, lachten, auf sie zeigten, zumindest aber die Stirn runzelten. Dieses Phänomen war ihm auf dem Weg hierher aufgefallen. Von ihrer Wohnung aus hatte er sie verfolgt, nur etwa zehn Minuten hatte das gedauert. Dabei waren seine Knie weich geworden und hatten gezittert, die Farbe war ihm mehrfach aus dem Gesicht gewichen und die zehn Minuten hatten sich wie eine Ewigkeit gezogen.

„Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Großkamm“, hatte sein Chef an diesem Morgen zu ihm gesagt, als sie in der Kaffeeküche beieinander gestanden und den üblichen Morgenplausch abgehalten hatten. Die Küche war winzig, so dass die zwei Männer darin kaum gut Platz finden konnten. Nur ein kleiner Tisch mit drei schmalen Stühlen hatte sich hineinquetschen lassen, an dem es so eng und unbequem war, dass dort nie jemand saß.

„Sicher, nur heraus damit“, hatte Severin darauf geantwortet, in der festen Überzeugung, es handle sich, wie üblich, um einen Auftrag von geringer Bedeutung. Etwa einen Anzug aus der Reinigung abholen oder das Auto in die Waschanlage fahren.

Das kleine Eventcenter mit den drei Partyräumen lief zwar nicht unbedingt schlecht, aber doch war oftmals nicht so viel zu tun, dass jeder der vier Mitarbeiter die ganze Zeit vor Ort gebraucht wurde. Da pflegte der Chef den einen oder anderen einmal zwischendurch in privaten Angelegenheiten fortzuschicken.

An diesem Morgen machte der Chef ein sehr ernstes Gesicht und blickte, bevor er den Mund erneut öffnete, unsicher in Richtung Tür, ob dort auch ja niemand stand, der hätte lauschen können. Dann sagte er leise, beinahe flüsternd: „Es ist eine heikle Sache und ich betraue Sie damit, weil ich den Eindruck habe, dass ich Ihnen vertrauen kann und Sie Stillschweigen über diese Sache bewahren können, wenn ich Sie darum bitte. Mit dieser Einschätzung liege ich hoffentlich nicht falsch.“

„Ganz und gar nicht!“, erwiderte Severin hastig, etwas neugierig geworden, was sein Chef da für ihn haben könnte. „Sie können sich auf mich verlassen.“

„Gut, dann hören Sie zu.“ Der Chef holte tief Luft, bevor er ansetzte, zu erklären: „Hören Sie. Meine Frau. Es geht um meine Frau. Ich gebe Ihnen Hundert extra, wenn Sie sie heute Abend nicht aus den Augen lassen.“

Severin schaute verdutzt drein, sagte aber nichts. Der Chef fuhr unbeirrt und immer noch sehr leise fort: „Ich werde heute Abend bei dieser Hochzeit anwesend sein müssen, es wird bis spät in die Nacht gehen. Meine Frau wird unsere Wohnung vermutlich gegen 20 Uhr verlassen. Ich möchte, dass Sie ihr nachgehen und mir anschließend Bericht erstatten, was sie während meiner Abwesenheit getan hat.“

Severin zog die Stirn in Falten und wollte wissen: „Glauben Sie, Ihre Frau...“

Der Chef unterbrach ihn etwas barsch: „Meine Frau ist jung, Herr Großkamm, 17 Jahre jünger als ich. Das muss Ihnen als Erklärung genügen, bitte stellen Sie keine weiteren Fragen. Wollen Sie mir diesen Gefallen tun oder muss ich mich an einen anderen wenden?“

Er schaute ziemlich ungehalten drein und da Severin das Geld gut gebrauchen konnte, zögerte er nicht lange. „Sicher, ich erledige das für Sie.“

„Ich wusste doch, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Bitte beziehen Sie gegen 19 Uhr vor meiner Wohnung Ihren Posten in Ihrem Wagen und lassen Sie die Haustür nicht aus den Augen.“ Der Chef klopfte seinem Mitarbeiter kumpelhaft auf die Schulter, nickte ihm nun wieder freundlich zu und verließ mit seinem Kaffee die Küche, in der Severin irritiert zurückblieb. Noch hatte er nicht nach einem der Kekse gegriffen, die auf einem Teller auf dem kleinen Holztisch lagen und von denen er normalerweise vor dem Morgenkaffee bereits drei oder vier verspeist hatte. Ihm war auch nicht sehr nach Keksen zumute.

Er hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Im ersten Moment war er nur verwirrt gewesen, dann hatte er in einem Anfall von Treue und durch die Aussicht auf womöglich leicht verdientes Geld zugesagt. Vielleicht auch ein wenig aus Angst vor seinem Chef, der ärgerlich gewirkt hatte, als Severin sich eine Nachfrage erlaubte.

Nun kam auf einen Schlag sein schlechtes Gewissen.

Und, er wusste nicht genau, was es war, das ihn beunruhigte, aber sein Magen hatte sich empfindlich zusammengezogen, so als stände ihm eine schwere Prüfung bevor.

Den restlichen Tag konnte er sich nicht gut konzentrieren. Er saß zwar an seinem Schreibtisch, erledigte die nötigen Anrufe allerdings nur mechanisch und ließ alles liegen, was nicht zwangsläufig an diesem Tag getan werden musste. Als er gegen 16 Uhr das Büro verließ und sich bei seinem Chef abmeldete, sagte der zu ihm: „Und denken Sie daran, heute 19 Uhr. Ich erwarte Nachricht von Ihnen, sobald die Sache erledigt ist.“ Mit diesen Worten drückte er ihm einen Fünfziger in die Hand.

Severin legte den kurzen Weg zu seinem Wagen zurück, ohne das Geld in die Tasche zu stecken. Es fühlte sich falsch an in seiner Hand. Als bekäme er es für eine illegale Sache. Im Auto legte er es kurzerhand ins Handschuhfach, um es aus den Augen und aus dem Sinn zu haben.

Zuhause empfing ihn seine chronisch gelangweilte Freundin Marie vor dem Fernseher. Sie arbeitete halbtags in einer Bäckerei und hatte kein einziges Hobby. „Ich gehe aus heute, mit Kira.“

„Jaja“, machte Severin und suchte sich in der Küche eine Tafel Schokolade, von der er die Hälfte in einer Minute in sich hineingestopft hatte. Ungeachtet der Tatsache, dass sich sein dreißigster Geburtstags näherte und er sich vorgenommen hatte, etwas mehr auf sein Gewicht zu achten. Marie erschien in kurzem Jeansrock und lila Pulli vor ihm, strich sich das blond gefärbte Haar aus dem runden Gesicht und fragte: „Frustriert? Willst du mit?“

„Danke“, meinte Severin, „vergnügt euch nur. Einen Mann könnt ihr wohl kaum dabei brauchen.“ Er merkte, dass er ein bisschen schmollte. Dabei war er eigentlich froh, dass Marie selbst wegging. So musste er ihr nicht erklären, was er an diesem Abend vorhatte. Marie legte die Arme um ihn, schob sich nah an ihn heran und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund. Er sah zu ihr herunter, sie war recht klein und ein wenig pummelig, das fand er eben gerade niedlich. „Wann gehst du?“

Sie antwortete: „Kira holt mich um 18 Uhr ab. Willst du mich loswerden?“

„Ganz und gar nicht“, behauptete er und küsste sie zurück. „Wohin geht ihr?“

Marie hob die Schultern wie meistens. Denn in der Tat zog sie mit Kira häufig planlos durch Clubs und Kneipen, bis die beiden irgendwo einkehrten und bis zum Morgengrauen dort blieben. Severin hielt nicht ganz so viel von dieser Angewohnheit, denn oft hatte er besorgt im Bett gelegen und sich gefragt, ob seiner Marie vielleicht etwas zugestoßen war. Halten konnte er sie allerdings nicht. Es war ihr Wochen-Highlight. Schlimm genug, dass sie es mit ihm nicht haben konnte. Da sie keine Hobbys hatte, saß sie ja im Grunde nachmittags nur herum, sah fern, surfte in Internet, traf sich vielleicht mal mit Freunden. Severin wusste gar nicht so sehr, was er an ihr fand. Im Grunde erschien sie ihm vollkommen uninteressant. Keine besonderen Talente, keine Interessen. Auffallend hübsch oder lieb war sie nicht, eine angenehme Stimme hatte sie nicht, meistens sprach sie sogar deutlich zu laut, fand Severin.

Grübelnd blieb er stumm und starrte mit einem irgendwie eigensinnigen Ausdruck in die Luft.

Als er keine Anstalten mehr machte, sich weiter auf ein Gespräch mit Marie einzulassen, nahm sie an, er sei sehr müde von der Arbeit und ließ ihn allein in der Küche stehen. Wahrscheinlich fand sie ihn ohnehin ähnlich langweilig wie er sie. Eine leise Melodie summend verschwand sie im Bad, um sich dort für die Nacht herauszuputzen. Die Dusche ging an und Severin hatte endlich Gelegenheit, sich eingehend Gedanken darüber zu machen, was für einen Auftrag er da angenommen hatte.

Unbekannte Mitmenschen auszuspionieren wäre ihm als Freitagabendbeschäftigung an sich niemals in den Sinn gekommen, er schämte sich sogar dafür, diese Sache für den läppischen Betrag von hundert Euro zugesagt zu haben. Was sollte die Frau schon verbrochen haben? Hatte sie einen Liebhaber? Wenn sie so viel jünger war als ihr Mann und dieser außerdem nicht gerade zu den attraktivsten seiner Altersgenossen zählte, musste der Chef dann nicht damit rechnen? Konnte er es ihr ernsthaft verübeln? Severin wusste nicht, ob es sich um eine einfache Eifersuchtsangelegenheit handelte oder ob mehr dahinter steckte. Entscheidend für ihn war lediglich, dass er damit nichts zu tun haben wollte. Nicht im Leben anderer herumschnüffeln.

Um ein Haar hätte er nach seinem Handy gegriffen, um seinen Chef anzurufen und ihm das zu sagen. Jedoch, er traute sich das nicht. Sei es, dass das Pflichtgefühl in zwang, diese Abmachung auch einzuhalten, sei es die Angst vor der Reaktion des Chefs, die übel ausfallen konnte.

Hier merkte er, dass er seinen Chef fürchtete. Dieser durch seinen Körperbau mächtig wirkende Mann, dessen Stimme auch flüsternd noch fest war, dessen Aussagen keine Widerworte duldeten, der auch andere Meinungen kaum bis gar nicht akzeptierte. Er schüchterte seine Angestellten ein. Durch seine bloße Präsenz sowie durch wenige, einprägsame Wutanfälle. Hatte man einmal einen erlebt, wollte man bei keinem zweiten anwesend sein. Denn entfaltete der Chef erst einmal die volle Bandbreite seiner Stimme und drehte er die Lautstärke komplett auf, konnte man denjenigen im selben Raum nur zur Flucht raten. Es war ein unglaubliches Donnern und Getöse. Einer der Mitarbeiter hatte dem Chef stets den Spitznamen Zeus gegeben. Diese Frechheit hatte der Chef ihm aber nicht lange durchgehen lassen, sondern ihn bei der nächsten Gelegenheit vor die Tür gesetzt. Und niemand hatte gewagt, etwas dagegen zu sagen.

Sollte nun Severin tatsächlich etwas gegen seinen Chef sagen? Sollte er es wagen, einen Auftrag von ihm abzulehnen? Das traute er sich nicht. Es war keine Loyalität, die ihn an seinen Chef band, wie er erst geglaubt hatte, es war Angst. Die Angst vor einem Wutanfall, die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Er merkte, er musste es erfüllen. Was auch immer es sein mochte, was sein Chef von ihm verlangte, er musste es erledigen. Und wenn es im Ausspionieren seiner Frau bestand, die es mit ihm sicherlich nicht leicht hatte, dann blieb Severin keine Wahl.

Zu diesem Schluss gekommen, saß er mit traurigem Blick auf der Couch, glotzte sinnlos auf sein Handy, das er vor sich auf den niedrigen Tisch gelegt hatte, und wartete auf einen Funken Mut zum Widerstand.

Er wartete vergebens.

Als Marie aus der Dusche kam, wartete er noch immer. Sie betrachtete ihn eine Weile ratlos, weil sie wohl merkte, dass ihn etwas bedrückte. Allerdings fragte sie ihn nicht. Vielleicht wollte sie es nicht wissen, weil sie Sorge hatte, es könnte an ihr liegen. Vielleicht war es ihr auch egal, weil sie sich für Severins Innenleben einfach nicht interessierte. Er bemerkte, dass sie hinter ihm stand und ihn ansah. Dabei wünschte er sich halb, sie würde ihn fragen. Fragen, damit er es ihr erzählen, ihre Meinung dazu hören konnte. Obwohl er sie ihm Grunde schon kannte. Außer dem leicht verdienten zusätzlichen Geld würde sie nichts sehen. Von ihr konnte er keine wirkliche Hilfe, keinen Rückhalt erwarten.

So schwieg er, da sich ein Gespräch nicht lohnte. Er blieb allein mit seinen Zweifeln, seinen Ängsten. Und musste in den Entschluss treffen, es dann jetzt eben durchzuziehen, wenn es sein musste, und sich nicht weiter den Kopf über diese Sache zu zerbrechen. Er hatte schließlich zugesagt.

Marie verließ die Wohnung zwanzig Minuten zu spät, in der Zeit war Severin bereits nervös geworden. Nun wartete er unruhig, bis er aus dem Fenster sehen konnte, wie die ebenfalls recht kleine, dafür aber ziemlich dünne Kira und Marie zum Bus liefen. Dann griff er selbst nach seiner Jacke, schnappte sich den Autoschlüssel und verließ die Wohnung nur zehn Minuten nach seiner Freundin.

Auf dem kurzen Stück Fußweg zu seinem Wagen fürchtete Severin permanent, Marie könnte zurückkommen und ihn sehen. Er schaute paranoid über die Schulter, später in den Rückspiegel und atmete erst auf, als er mit dem Wagen zwei Straßen weiter war.

Ausreden, weshalb er die Wohnung doch noch verlassen hatte, hatte er sich bereits zurecht gelegt. Am besten, er schob seine Arbeit vor, falls Marie vor ihm Zuhause sein sollte. Unwahrscheinlich, aber möglich. Es kam schließlich vor, dass Severin zu Abendveranstaltungen musste, die das Eventcenter organisierte. Marie würde da sicherlich keinen Verdacht schöpfen.

Er bemühte sich sehr, nicht zu schnell zu fahren. Die Straßen waren noch voll, Severin stand lange an den roten Ampeln, trommelte ungehalten mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, schaute jede Minute auf die Uhr und als er endlich bei seinem Chef ankam, konnte er keinen geeigneten Parkplatz entdecken. Die ganze Straße schien zugeparkt, nur zwei Häuser weiter gab es freie Plätze, von denen man die entscheidende Haustür allerdings nicht sehen konnte. Severin spürte leichte Panik in sich aufsteigen, er wendete und fuhr immer wieder auf und ab. Den Anwohnern musste es doch auffallen, dass da ein bestimmter Wagen ein so ungewöhnliches Verhalten an den Tag legte. Es gab ja Leute, die bei jedem Unbekannten, der länger als die Dauer einer Zigarette auf dem Gehweg vor ihrem Haus verweilte, die Polizei riefen.

Die Uhr zeigte bereits 19.14 Uhr, als Severin sie sah.

Auf dem Schreibtisch seines Chefs stand ein Bild von ihr mit dem unnatürlich roten Haar und der roten Kleidung. Alle Angestellten pflegten sie nur die „rote Frau“ zu nennen, obwohl kaum einer sie mal persönlich gesehen hatte.

Auch heute waren die einzigen Dinge an ihr, die nicht rot waren, ihre Haut und die schwarze Strumpfhose. Sie stöckelte hastig aus der Haustür heraus auf die Straße, blickte einmal prüfend nach links, dann nach rechts. Anschließend eilte sie die Straße hinauf. Severin war erst viel zu überrascht, um handeln zu können. Doch dann gab er vorsichtig Gas, folgte ihr ein Stück und stellte seinen Wagen schließlich unauffällig am Straßenrand ab. Während sein Opfer um die nächste Straßenecke verschwand, sprang Severin schnell aus dem Auto, hätte um ein Haar vergessen, es abzuschließen und rannte hinterher, um ja den Anschluss nicht zu verlieren. Als er um die Ecke spähte, prallte er entsetzt zurück, weil sie rot leuchtend direkt vor ihm an einer Ampel stand. Einerseits war er froh, sie nicht verloren zu haben, andererseits fiel es ihm schwer, sie im Blick zu behalten, ohne dass sie ihn sah. So blieb er hinter der Ecke stehen, zog sein Handy heraus und tat so, als würde er dort irgendetwas nachsehen. In dieser Haltung ließ er die Ampel auf Grün springen, sie rote Frau die andere Straßenseite erreichen und erst dann hastete er hinterher und schaffte es gerade noch, bevor die Autos wieder Grün hatten.

Severins Nerven lagen blank. Er atmete schnell und unregelmäßig, sein Herz pochte wahnsinnig laut. Sein Glück war vielleicht, dass viele sich nach der roten Frau umdrehten, sie erstaunt, begeistert oder abgestoßen anstarrten und die Frau selbst die Aufmerksamkeit so von Severin ablenkte. Vielleicht fiel es ihr auch gar nicht auf, wenn er sie ständig ansah. Sie musste diese fremden Blicke ja gewohnt sein.

Als sie endlich in der Kneipe verschwand, prüfte Severin erschrocken, ob er auch Geld dabei hatte. Zu seiner Beruhigung fühlte er sein Portemonnaie in der Jackentasche und betrat nun ebenfalls die Kneipe.

Zunächst war es nicht so voll, dass er Schwierigkeiten gehabt hätte, einen guten Beobachtungsposten zu finden. Er bestellte ein Bier, spielte mit seinem Handy und verhielt sich ganz so wie einer, der auf jemanden wartet. Die rote Frau aber brauchte nicht zu warten, sie hatte sich direkt zu einem Mann an den Tisch gesetzt, den sie gut zu kennen schien. Sie selbst mochte um die Dreißig sein, war aber zu stark geschminkt, als dass man es mit Sicherheit hätte sagen können. Severin schätzte es eher anhand des Alters seines Chefs, da er ja noch an diesem Tag den Altersunterschied von 17 Jahren hervorgehoben hatte.

Der Mann, der bei ihrer Ankunft wohl schon länger an dem Tisch gesessen hatte, was Severin aus seinem beinahe leeren Bierglas schloss, war vermutlich Mitte Dreißig, wirkte lebhaft und hatte ein ausgesprochen schmales Gesicht sowie kurzes, sehr dunkles Haar. Er war sichtlich erfreut über die Ankunft der Roten, erhob sich von seinem Stuhl und gab ihr zur Begrüßung die Hand. Ansonsten war der Umgang der beiden weniger förmlich. Sie nahm lächelnd Platz, er bestellte für sie und sich jeweils ein Bier. Den Rest seines ersten Biers leerte der Mann geradezu hastig in einem Zug. Dann stellte sich eine Art Plauderei ein, von der Severin kein Wort verstand. Die Musik im Hintergrund war zu laut, nerviges E-Gitarren-Gedudel. Der Wirt musste eine Vorliebe dafür haben.

Severin betrachtete die Rothaarige mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass sie seine auf sich ruhenden Augen vielleicht spürte, den Kopf irgendwann umwandte und ihn direkt anblickte. Das war der kurze Schreckmoment, der sich in Severins Wahrnehmung ewig zog. Als sich ihr Blick wieder auf ihren Begleiter richtete und Severin aufatmen konnte, wandte er sich seinem Handy zu und tat so, als sei er vertieft in irgendeine Tätigkeit. Die Kneipe hatte sich immer weiter gefüllt, allerdings blieb die Rothaarige durch ihre Haarpracht gut sichtbar.

Severin behielt sie im Augenwinkel, bestellte sich ein zweites Bier und bekam leichte Kopfschmerzen von der Lautsträke und der schlechten Kneipenluft. Auch schien Severin das Licht immer schlechter zu werden. Ihm fiel ein, dass er ohne Abendessen und mit zwei Bier nicht direkt wieder Autofahren durfte. So nippte er nur an dem Bier, als Alibi. Mit Alkohol am Steuer war er immer übervorsichtig gewesen. Es mochte daran liegen, dass Severin von sich aus panische Angst hatte, gegen Regeln zu verstoßen. Eigentlich wäre er nach einem Bier an dem Tag nicht mehr gefahren. Aber heute war ein Ausnahmetag, in jeder Hinsicht.

Einmal richtete er sich kurz auf, um sich einen Überblick zu verschaffen, wie es am beobachteten Tisch genau ausschaute, da sah er gerade noch, wie der kurzhaarige Mann der Rothaarigen etwas über den Tisch zuschob, das sie mit einer raschen Handbewegung ergriff. Severin kniff ungläubig die Augen zusammen, das Licht machte scharfes Sehen jedoch unmöglich. Auch tauchte das, was soeben seinen Besitzer gewechselt hatte, nicht wieder auf. Severin zweifelte bereits an seinem Verstand. Vielleicht war da gar nichts gewesen. Er sank unschlüssig zurück auf seinen Stuhl, stierte nachdenklich hinüber zu der roten Frau und ließ sein Hirn rattern.

Kurz darauf, nach etwa zwei Stunden, die sie an dem Tisch verbracht hatte, erhob sich die rote Frau. Severin wollte schon aufspringen, aber er sah, dass sie Mantel und Handtasche am Tisch zurückließ. Mit sicherem Schritt ging sie quer durch die Kneipe zu den Toiletten. Der Mann blieb am Tisch zurück. Gelangweilt blickte er auf seine Armbanduhr, die im Kneipenlicht hell aufblitzte, nahm schließlich einen großen Schluck aus seinem Bierglas und lehnte sich mit gespitzten Lippen zurück. Severin wusste nicht, was er aus dieser Haltung schließen sollte. Auch fühlte er sich nicht wohl dabei, die rote Frau nicht verfolgt zu haben. Hin und her gerissen, ob er ihr nachgehen oder lieber den Mann im Auge behalten sollte, saß er untätig da, bis der Mann aufstand, sich vor den Tisch stellte, so dass Severin lediglich seinen Rücken sehen konnte, und anschließend ohne Eile zum Ausgang schritt.

Severin traute seinen Augen nicht. Unbedacht sprang er auf, schob sich durch die Menschen, die überall grüppchenweise herumsaßen oder standen und schaute letztlich voll Entsetzen auf den leeren Tisch, an dem die Rote mit ihrem Begleiter gesessen hatte. Handtasche und Mantel waren fort, nur Geld lag auf dem Tisch. Fassungslos stand Severin da, unentschlossen, ob er zur Damentoilette laufen oder dem Mann folgen sollte. Er fürchtete, dass er auf der Damentoilette niemanden mehr finden würde.

Übelkeit stieg in ihm auf sowie das Gefühl, versagt zu haben. Dann aber fasste er doch einen Entschluss, drückte dem Wirt an der Theke Geld in die Hand, ohne zu wissen, wie viel es gewesen war, und rannte dem Mann hinterher. Er glaubte, dieser sei seine einzige Chance, die rote Frau wiederzufinden.

Die Uhr an der Apotheke gegenüber der Kneipe zeigte 21.27 Uhr, als Severin auf die Straße trat, sich prüfend umsah und gerade noch eine lange Gestalt erblickte, die die Straße hinunterging. Die Gestalt selbst war vollkommen dunkel, allerdings blitzte es für eine Sekunde hell am linken Arm auf. Das bestätigte Severin in seiner Vermutung, es müsse sich um den Gesuchten handeln. Ohne eine weitere Überlegung ging er dem Fremden nach und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Angestrengt suchte er nach einem Anzeichen für den roten Mantel und die rote Handtasche der verschwundenen Frau, aber er konnte nichts dergleichen an dem Mann entdecken. Womöglich hatte er beides weggeworfen oder irgendwie unter seiner Jacke verborgen. Es gab ja mehrere Möglichkeiten. Am unangenehmsten war Severin der Gedanke, der Mann könne die rote Frau draußen wiedergetroffen, ihr Mantel und Tasche übergeben haben, um dann in einer anderen Richtung als sie zu verschwinden. Dann hätte Severin die Frau seines Chefs vielleicht nur um ein paar Sekunden verpasst. Ungehalten biss er sich auf die Unterlippe, während er seinem einzigen Anhaltspunkt folgte.

Der Mann blickte sich kein einziges Mal um. Er ging sehr gerade und nicht so, als würde er vor etwas oder jemandem fliehen. Eine ganze Weile ging es durch kleine Nebenstraßen. Und Severin fürchtete schon, der Mann könne einfach nur nach Hause gehen. Aber dann wüsste Severin zumindest seinen Namen und seine Adresse. Als er gerade noch im Gehen darüber nachdachte, was der Mann der roten Frau in der Kneipe zugeschoben haben könnte, denn besonders groß konnte der Gegenstand nicht gewesen sein, da blieb der Mann an der Straße stehen, winkte und erst da erblickte Severin das Taxi, das herangefahren kam, neben dem Mann hielt und gleich darauf waren beide fort.

Severin stand wie vom Donner gerührt einfach da, mitten auf dem Gehweg. Mit aufgerissenen Augen schaute er dem Taxi nach, das sich schon lange nicht mehr in seinem Blickfeld befand. Er hatte jeden Anhaltspunkt für den Verbleib der roten Dame verloren. Enttäuscht und geplagt von einem schlechten Gewissen zermarterte er sich das Hirn, was er noch tun konnte.

Dann rannte er in einem Anfall von Verzweiflung los, den ganzen Weg zurück, verlief sich, fand die Hauptstraße wieder, erreichte die Kneipe. Denn dies, so sagte er sich, war der einzige Punkt, an dem er ansetzen konnte.

Seit seinem überstürzten Verlassen der Kneipe war etwas weniger als eine Stunde vergangen.

Paranoia

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