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Im Kontrast zum schwärzlichen Nachthimmel leuchtete die Straßenlaterne grell gelb. Es war die letzte Laterne, die Minna passieren musste, bevor sie ihren Arbeitsplatz erreichte. Licht war schon lange zu einer der vielen Unerträglichkeiten des Lebens geworden. So wie alles zu hell war, war auch alles zu laut, zu hektisch. Nachtarbeit das einzige, das in Frage kam. Schon allein, weil nachts die Straßen nicht so voll waren, die Sonne nicht schien und der Stadtlärm sich in Grenzen hielt.

Sie arbeitete in einem Krankenhaus. Weil das künstliche Licht da dämmrig-grünlich war und nicht so in die Augen stach. Da konnte sie sitzen und nichts machen. Nachts kam ja keiner, der jemanden besuchen wollte. Keiner erkundigte sich nach dem Namen eines Verwandten oder Freundes, keiner hatte einen Blumenstrauß oder ein Stofftier dabei. Oder gar eine Schachtel teure Pralinen. Niemand kam. Nur Ärzte gingen ein und aus, die ihre Schichten überzogen hatten, Krankenschwestern mit geröteten, übermüdeten Augen durch Überstunden, Putzfrauen, die beim Putzen kein Radio hören durften, da es die Kranken im Schlaf gestört hätte.

Die Arbeit bestand im Grunde nur darin, auf einen Knopf zu drücken, wenn jemand kam oder ging, damit die Tür sich automatisch öffnete. Es durfte nämlich niemand herein, der nicht im Krankenhaus arbeitete. Nach 22.00 Uhr. Notfälle benutzten einen anderen Eingang. Wenn jemand herein oder heraus wollte, den Minna nicht als zum Personal des Krankenhauses gehörig erkannte, musste sie sich den Ausweis zeigen lassen, den Grund für den Aufenthalt im Krankenhaus in Erfahrung bringen und denjenigen ein Sonderformular ausfüllen lassen. War einer der Gründe, die auf dem Formular standen, gegeben, beispielsweise ein lebensbedrohlicher Zustand eines Angehörigen oder ein Kind, das nach Mutter oder Vater verlangte, weil es Angst allein im Krankenhaus hatte, dann durfte derjenige mit Sondererlaubnis herein. Wenn nicht, dann nicht. Da gab es keine Ausnahme. Das Formular entschied, wer herein durfte und wer nicht.

Es war eine recht entspannte Tätigkeit, die sie da ausübte. Viel Geld gab es nicht dafür, aber es reichte. Zum Leben reichte es. Denn zum Leben brauchte man nicht viel.

Minna hatte ein ziemlich blasses Gesicht mit grauen Ringen unter den schmalen grünen Augen, leicht eingefallene Wangen und bereits graue Strähnen in den Haaren. Dabei war sie erst achtunddreißig. Sicher kam das durch die Schlaflosigkeit. Der Körper war dünn und kraftlos, nicht sonderlich weiblich. Aber da sie kaum mit Menschen Kontakt hatte, machte sie sich über ihr äußeres Erscheinungsbild keine Gedanken. Fünf Nächte in der Woche saß sie hier hinter einer Glasscheibe. Trank Kaffee, aß Kekse. Spielte Solitär auf dem Computer. Schrieb Nachrichten an ihre jüngere Schwester. Der einzige Mensch, mit dem sie regelmäßig gern kommunizierte. Und das, wenn es ging, schriftlich. Las Bücher. Was ihr eben gerade in die Hände fiel. Romane, Sachbücher, philosophische Texte, Kurzgeschichten, Gedichte. Das meiste, das sie gelesen hatte, vergaß sie bald darauf. Es war nämlich nicht so, dass sie all das, was sie las, auch wirklich interessiert hätte. Das Lesen war eher mechanisch. Ein Zeitvertreib. Die Augen folgten den Zeilen, das Gehirn vollzog den Inhalt nach. Aber viel hängen blieb davon auf Dauer nicht. Sie las alles vollkommen teilnahmslos. Als hätte es nichts mit ihr zu tun. Im Grunde hatte ohnehin kaum etwas von außen mit ihr zu tun. Sie fühlte sich abgeschnitten. Sah die Welt durch einen dichten Schleier. Nichts kam an sie selbst heran. Alles befand sich zu ihr in großem Abstand. Deshalb konnte sie auch an nichts Interesse haben. Es war ja egal. Weil es sie nicht berührte.

Lustlos tauchte sie den Löffel in die Kaffeetasse, wirbelte die Milch auf, damit sie sich gleichmäßig mit dem Kaffee vermischte, betrachtete die entstehenden Wirbel und starrte auch noch dann in die Tasse, als alles eine Einheit gebildet hatte. Dann erst zog sie den Löffel heraus, legte ihn auf den Schreibtisch neben einen Drucker, den sie selten benutzte und wo schon viele Kaffeeflecke von dem immer gleichen Löffel waren, den sie stets an derselben Stelle abzulegen pflegte. Anschließend nahm sie einen großen Schluck aus der Tasse, stellte sie dort ab, wo sie sie immer abstellte und wo runde Rückstände auf der hellen Tischplatte waren. Dabei bemühte sie sich, die Tasse genau auf einen dieser alten Kreise zu stellen, um nicht einen neuen zu produzieren. Das tat sie seit einigen Wochen mit Erfolg. Es war kein neuer Kaffeetassenabdruck dazu gekommen. Dafür hatten sich die alten verstärkt und ein Muster gebildet.

Sie mochte das Muster. Eine zufällige Anordnung von sich überschneidenden braunen Kreisen, ineinander übergehend, aneinander anschließend, miteinander verschmelzend. In der Unordnung steckte ein gewisses System, so schien es ihr, je länger sie die Kreise betrachtete. Möglich, dass das, was nach Zufall aussah, doch keiner war. Denn eine Kombination von drei Kreisen, die sich auf eine bestimmte Art schnitten, schien sich mehrfach zu wiederholen. Außerdem waren es exakt sechsunddreißig Kaffeetassenkreise. Nach dem sechsunddreißigsten Kreis hatte sie aufgehört, neue Kreise zu hinterlassen. Von diesen sechsunddreißig Kreisen bildeten immer drei zusammen ein und dasselbe Muster. Zwölfmal dasselbe Muster. Die Zwölf war ja eine wichtige Zahl. Im Märchen, in der Mythologie, in der Bibel. Sie fragte sich, ob das einen tieferen Sinn hatte. Ob es eine Bedeutung hatte. Nun versuchte sie sich an das Datum des Tages zu erinnern, an dem sie zum ersten Mal einen alten Kreis verwendet und sich entschieden hatte, keine neuen mehr zu machen. Wahrscheinlich war es im August gewesen, genau wusste sie es nicht mehr. Doch der August war der achte Monat, das passte nicht zu der Zwölf.

Sie gab das Denken darüber auf und konnte auch bald die sich wiederholenden Muster in den Kaffeekreisen gar nicht mehr erkennen. Wahrscheinlich doch nur Einbildung, das Ganze.

Das Bild verschwamm vor ihren Augen, so wie sie häufig Probleme mit dem Sehen hatte in letzter Zeit. Die Kontraste der Umgebung lösten sich auf. Immer öfter war es, als habe jemand einen Weichzeichner über ihr Sichtfeld gelegt. Dabei waren ihre Augen vollkommen in Ordnung. Zumindest sagte das der Arzt. Sie brauchte keine Brille. Trotzdem konnte sie zwischendurch den Text im Buch nicht lesen, die Ärzte von Weitem nicht erkennen, weil die Gesichter unscharf waren, und auch Straßenschilder nicht entziffern, wenn sie mit dem Auto unterwegs war. Dadurch verfuhr sie sich oft. Weil sie zu spät sah, dass sie abbiegen musste. Und nicht mitdenken konnte beim Fahren. Viel zu sehr musste sie sich auf den Verkehr konzentrieren, zumal ihr Konzentration generell sehr schwer fiel. Da konnte sie nicht noch schnell die Schilder lesen. Insgesamt überforderte sie der Straßenverkehr. Zu viele Eindrücke, zu viel, auf das man gleichzeitig achten musste. Wo sie ja nicht mal auf eine Sache richtig achten konnte.

Mittlerweile ließ sie den Wagen manchmal stehen und nahm den Bus. Besser für die Umwelt, sagte sie sich. Weil sie sich nicht eingestehen wollte, dass sie Angst hatte vor dem Autofahren. Obwohl sie nie einen Unfall gehabt hatte.

An guten Tagen fuhr sie mit dem Auto. An schlechten nicht. Es gab Tage, an denen konnte sie die Schilder lesen. Dann wurde sie auch nicht so nervös, wenn sie die Spur wechseln musste. Oder einen neuen Weg finden sollte, den sie noch nicht gefahren war. Aber an schlechten Tagen hatte es keinen Sinn, sich hinter das Lenkrad zu setzen. Sobald sie auf der Straße war, brach Panik aus. Das Herz pochte heftig und schnell, die Hände zitterten, ihre Unterlippe bebte, die Knie wurden im Sitzen weich, sie spürte kaum mehr den Druck ihres Fußes auf dem Gaspedal. Wenn es sich vermeiden ließ, fuhr sie an solchen Tagen nicht.

Immer ließ es sich nicht vermeiden. Hektisch und fahrig war sie dann, total fertig mit den Nerven. Nur irgendwo verkriechen und heulen. In einem Schrank, unter dem Bett. Eingraben und fliehen vor der hässlichen Realität.

Warum sie überhaupt Autofahren musste? Ihre Schwester Lisbeth. Hatte sich vor zehn Jahren entschieden, dass sie mit Männern nichts anfangen konnte, aber trotzdem ein Kind wollte. Minna hatte das nicht verstehen können. Sie vertrat die Ansicht, dass ein Kind zu viel Arbeit war. Immer musste es beschäftigt werden, war im Weg, machte Ärger. Auf die Idee, ein Kind zu kriegen, wäre Minna nie kommen. Lisbeth hingegen, die im Gegensatz zu Minna sehr entschlussfreudig war und sich so einiges zutraute, was sich die meisten nicht zutrauen würden, hörte nicht auf die ältere Schwester. Minna wusste nicht genau, wie Lisbeth es angestellt hatte, aber kurz darauf kam die Mitteilung, dass sie schwanger war.

Bis heute hatte Minna nicht erfahren, ob ihr mittlerweile neunjähriger Neffe auf natürlichem Weg gezeugt worden oder einer Samenbank entsprungen war. In jedem Fall war er da und zwang Minna dazu, am Leben teilzunehmen. Lisbeth hatte mit Jakob zwar nicht das geringste Problem, die beiden waren ein Herz und eine Seele, Jakob war erstaunlich eigenständig und immer ein ruhiges, liebenswertes Kind gewesen. Leider hatte er (wie seine Mutter) einen gewissen Hang zur Hyperaktivität. Ständig musste er zu irgendwelchen Freunden oder Veranstaltungen gefahren werden. Gitarrenunterricht, Chor, Handball. Lisbeth ließ ihn immer machen. Und wenn er nicht wollte, dann eben nicht. Sie sagte, sie wolle ihn nicht beeinflussen. Er solle Dinge ausprobieren und sehen, was ihm gefiel und was nicht. Und wenn er lieber Zuhause sitzen und Computerspielen wollte, durfte er das. Solange es sich in Grenzen hielt und er die Schule nicht vernachlässigte.

Da Jakob also ausprobieren konnte, was er wollte, solange es sich im für seine Mutter finanzierbaren Rahmen bewegte, kam es nicht selten vor, dass Lisbeth ihn nicht bringen oder abholen konnte. Dann musste Minna einspringen. Je älter Jakob wurde, desto häufiger war das er Fall. Minna hatte tagsüber ja frei. Zwar schlief sie zwischendurch, meistens mehrfach kurz über den Tag verteilt, kaum mal lange am Stück. Aber sie war Zuhause und damit auch für ihre Schwester verfügbar.

Jakob trieb Minna in den Wahnsinn. Saß er bei ihr im Auto, sprudelte er los. Erzählte von jeder Einzelheit, die er erlebt hatte, auch wenn es Minna nicht die Bohne interessierte. Das war beim Autofahren die Hölle. Minna musste ihn dann ständig bitten, jetzt nicht mit ihr zu reden, weil sie sich beim Fahren konzentrieren musste. Aber Jakob war in seinem Redefluss kaum zu bremsen.

Minnas Neffe war in gewisser Weise der einzige lebendige Teil in ihren Leben. Lisbeth sah sie deutlich weniger als Jakob. Denn in der Regel war Minna so geschafft von Jakob, dass sie für Lisbeth keine Reserve mehr hatte. Sie konnte dann nur noch verschwinden und sich in die Ruhe und Dunkelheit ihrer Wohnung zurückziehen. Für andere Freizeitbeschäftigungen hatte sie keine Kapazitäten. Spazieren gehen vielleicht, Haushalt. Ansonsten eben Dösen, Schlaf sammeln, wo es ging. Im Internet surfen. Musik hören. So vergingen die Tage. Und nachts eben ab und zu auf einen Knopf drücken, ansonsten warten, Kaffee trinken, Solitär spielen oder andere einfache Spiele. Manchmal Kreuzworträtsel. Oder Schach gegen den Computer, wobei sie dabei immer verlor. Deshalb traute sie sich das nur selten, es deprimierte sie zu sehr. Sie verzweifelte dann, wenn sie nicht mehr wusste, welche Spielfigur sie wie bewegen sollte, weil alles aussichtslos wirkte. Das erinnerte sie zu sehr an ihr eigenes Leben. An die Hoffnungslosigkeit darin. Sie hatte das Spiel in solchen Momenten dann in der Regel abgebrochen. Ohne es weiter zu versuchen. Ehrgeiz war ihr fremd. Anstatt es solange zu versuchen, bis sie es schaffte, wie Lisbeth es getan hätte, ging Minna immer davon aus, dass sie es ohnehin nicht schaffen würde. Folglich war jeder Versuch Zeitverschwendung.

Und so wie Minna sich beim Schach verhielt, tat sie es auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Freundschaften oder gar Partnerschaften ließen sich nie halten. Bei den kleinsten Problemen hatte Minna umgehend abgebrochen. Abbrechen müssen, weil es sonst für sie zur Qual geworden wäre. Für sie war jede Beziehung nur eine zusätzliche Verpflichtung, nur Arbeit. Davon hatte sie genug. Mehr Beziehung als zu ihrer Schwester und zu ihrem Neffen konnte sie nicht leisten. Schon damit war sie überfordert. Kam noch eine Freundin oder gar ein Mann dazu, dann überschritt das Minnas Grenzen, dann musste sie aufgeben, bevor sie richtig angefangen hatte.

Sie pflegte keinerlei Kontakt zu Kollegen, zu Schulfreunden, zu Nachbarn. Auch nicht zu ihrer restlichen Familie. Das einzige, was sie wusste, war das, was Lisbeth ihr ab und an mal erzählte. Wobei Lisbeth selbst nicht viel auf die Familie gab und sich nur mal sporadisch bei Tante und Onkel meldete. Lisbeth hatte immer alles allein machen wollen. Und das konnte sie auch. Minna dagegen hatte nie etwas allein machen wollen und sich lieber an Lisbeth gehängt, die alles konnte und für die alles so leicht war, was für Minna eine unüberbrückbare Schwierigkeit darstellte. Ohne Lisbeth konnte Minna sich keine Existenz vorstellen. Zwar war ein Zusammenleben in einer Wohnung unmöglich, aber Minna brauchte Lisbeths Rat, sie brauchte ihre gute Laune, ihren Lebensmut zum Ausgleich ihrer eigenen dunklen Gemütslage. Dafür nahm sie auch Jakob in Kauf. Denn Lisbeth war wohl das einzige, was Minna je geliebt hatte.

Manchmal glaubte Minna, dass die Nachbarn sie für gestört halten mussten. Zumal sie sie nie sahen. Nur selten begegnete Minna morgens, wenn sie nach Hause kam, einigen Nachbarn, die aus dem Haus gingen und zur Arbeit wollten. Es war auch schon vorgekommen, dass Minna sich dann versteckt hatte, unten im Keller des Hauses. Bis das Treppenhaus wieder leer war. Wie es eben ging, war sie bemüht, den anderen auszuweichen. Außerdem waren ihre Rollos immer unten. Weil das Licht ja in den Augen schmerzte. Sie wollte tagsüber jede Gelegenheit zum Schlafen nützen, da wäre Licht hinderlich gewesen. In ihrer Wohnung war es also meistens dunkel. Zumindest ein wohliges Zwielicht herrschte dort. Von draußen musste es so wirken, als ob dort niemand wohnte. Aber das war Minna ganz recht so. Sollten die Leute denken, was sie denken wollten. Menschen, die nur nachts arbeiten, sind eben tagsüber etwas scheu.

[Als sie an diesem Morgen nach Hause kam, wurde sie kurz vor der Haustür von einer SMS von Lisbeth aufgehalten. Schlaftrunken und erschöpft hatte sich Minna soeben aus dem Bus gequält, wollte nur noch aufs Sofa fallen und dort unter einer Wolldecke verschwinden, da teilte Lisbeth ihr mit, dass sie dringend ihre Hilfe brauchte. Jakob war nämlich verschwunden. Minna schaute irritiert auf ihr Handy und las die Nachricht mehrfach. Auf einen Schlag war sie hellwach. Jakob verschwunden. Was hatte sie sich darunter vorzustellen?

Sie rief bei Lisbeth an und war schon auf dem Weg zum Auto. Lisbeth klang etwas weinerlich am Telefon. Das kam selten vor. Stockend erzählte sie umständlich, wie Jakob am vorigen Abend vom Handballtraining nicht nach Hause gekommen war. Er hätte mit einem Freund mitfahren sollen, doch dem hatte er gesagt, dass er den Bus nehmen wollte. Es fuhr aber gar kein Bus um diese Uhrzeit auf der entsprechenden Strecke. Lisbeth hatte dann am Abend gegen 21.00 Uhr noch die Polizei kontaktiert. Die hatte ihr gesagt, dass sie abwarten müsse. Es sei noch zu früh, um etwas zu unternehmen. Lisbeth wurde allerdings immer nervöser und war dann nachts auf eigene Faust durch die Gegend gefahren, hatte Jakob gesucht, ihn immer wieder auf dem Handy angerufen. Es blieb allerdings aus. Jakob war einfach weg. Und sie konnte sich nicht erklären, wo er plötzlich hin war. Natürlich war sie in großer Sorge. Die Angst war ihrer Stimme deutlich anzumerken. Häufig brach sie Sätze ab, fing neue an, ohne jede Überleitung. Es war nicht leicht, ihr zu folgen. Gerade für Minna nicht, die durch Schlafmangel bedingt ohnehin nicht gut dem folgen konnte, was andere sagten.

„Hör zu“, sagte sie zu Lisbeth, „ich komme jetzt zu dir. Ok? Keine Panik.“

Lisbeth rief: „Keine Panik? Mein Kind ist weg, Minna! Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet? Welche Ängste ich ausstehe? Was alles passiert sein kann? Und da soll ich keine Panik kriegen? Ich melde mich jetzt nochmal bei der Polizei.“

„Ja, mach das“, sagte Minna und legte auf. Hinter dem Lenkrad kam die Müdigkeit wieder und die Nervosität schlug voll zu. Einen Moment wusste sie nicht mehr, wie man den Motor startete. Das war schon öfter vorgekommen. So legte sie den leeren Kopf einen Augenblick zum Ausruhen auf das Lenkrad, atmete mehrfach tief durch, murmelte besänftigende Worte. Es war eine Art Blackout. Eben eine Überforderungssituation. Mit plötzlichen Ereignissen konnte Minna nicht umgehen. Schon gar nicht mit welchen, die dermaßen dramatisch waren. Und vor allem katastrophal enden konnten. Da war sie auf einen Schlag fertig, kraftlos, ihre Nerven lagen blank und vibrierten ängstlich.

Irritierend für Minna war dabei, dass sie sich keine Sekunde um Jakob sorgte. Das einzige, was sie beunruhigte, waren die Auswirkungen, der Stress für sie selbst und für Lisbeth. Wo war ihr Mitgefühl, fragte sie sich. Sie fand es nicht. Vielleicht untergegangen in der Gefühllosigkeit, die sie gemeinhin plagte. Eine generelle Leere in dieser Hinsicht.

In Bezug auf Jakob war sie vollkommen ruhig. Sie machte sich keine Gedanken, wo er sein könnte, was ihm zugestoßen sein könnte. Er war eben weg. Das kam vor und konnte unterschiedliche Gründe haben. Von ganz harmlosen bis zu ganz schrecklichen. Machen konnte man da ohnehin nichts, die Polizei würde schon ihr Bestes geben. Zu mehr war Minna nicht in der Lage. Sie hatte nur das Ziel, zu Lisbeth zu kommen und Lisbeth zu helfen, welche Hilfe sie auch immer brauchen konnte. Minna wollte für Lisbeth da sein. Und deshalb fasste sie auch Mut, versuchte die Angst wegzudrängen, drehte den Zündschlüssel um und vertraute darauf, dass sie wusste, wie man fuhr. Auch wenn es ihr vielleicht mal kurzfristig entfiel. Wie das meiste. In der Regel kam das vermisste Wissen allerdings von allein zurück.

Mühsam bewegte sie den Wagen durch die vollen Straßen. Der Berufsverkehr war ein Alptraum. Besonders für einen Menschen wie Minna mit Überängstlichkeit und herabgesetztem Reaktionsvermögen. Sie scheute sich, die Spur zu wechseln. Deshalb fuhr sie Umwege, versuchte die Hauptstraßen zu umgehen, stand trotzdem im Stau. Nach einer halben Stunde kam sie vollkommen aufgelöst, fahrig, fertig, mit schlotternden Knien, weit aufgerissenen Augen und extrem hoher Pulsfrequenz bei Lisbeth an. Ein Polizeiwagen stand vor der Tür. Minna versuchte sich zu sammeln, bevor sie den Haustürschlüssel herauszog und die Haustür aufschloss, die Treppen hoch in den zweiten Stock stieg und dort wiederum die Wohnungstür öffnete.

Ihr bot sich ein bislang unbekannter Anblick.

Lisbeth stand im Flur, lehnte an der Wand, die Augen stark gerötet, die Lippen blass und mit verkrampften Händen, die sich nervös hin und her bewegten. Eine Polizistin mit dunklem, kurzen Haar und etwas fülliger Figur hielt einen Notizblock mit einem winzigen Kugelschreiber in der Hand. Sie hatte ein ausgesprochen nettes und sympathisches Gesicht. Offenbar war sie bemüht, Lisbeth zu beruhigen. Der Polizist, der sie begleitete, hatte gerade ein paar Schritte in die Richtung von Jakobs Zimmer gemacht. Als Minna hereinkam, wandte er sich direkt an sie: „Sie sind die Schwester? Sie wurden uns schon angekündigt.“

Da hatte Minna kaum die Tür hinter sich geschlossen. Nun fürchtete sie sich vor den Fragen, denn auf Fragen musste man antworten und das möglichst schnell. Genau das, was Minna nicht konnte. Wie eine Prüfungssituation. Sie fühlte sich überfallen. Ihr ganzer Körper wurde kalt, sie zitterte leicht. Der Polizist war mittleren Alters, hatte recht schmale Schultern und einen dafür zu großen Kopf. Sein lichtes Haupthaar war deutlich zu sehen, nachdem er die Mütze abgenommen hatte. Minna fragte sich, warum er es jetzt erst tat. Nun zog auch er seinen Notizblock mit dem auffallend kleinen Kugelschreiber heraus und begann mit den üblichen Fragen.

„Wann haben Sie Jakob das letzte Mal gesehen?“

Schon auf die Frage konnte Minna nicht direkt anworten. Die Panik in ihr stieg an, sie durchforstete ihr Hirn nach der Erinnerung, sie suchte und fand nicht. Alles in ihr war wirr und sie hatte keinen Zugriff auf die irgendwo verborgene Information. Der Polizist trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Minna biss sich peinlich berührt auf die Unterlippe, kaute darauf herum, versuchte sich zu konzentrieren, schaffte es nicht, sah betreten zu Boden und es half alles nichts.

Wie eine Wand in ihrem Kopf.

Ihre zitternden Knie hielten sie kaum noch, sie musste sich an der Garderobe abstützen, schwankte bedenklich und sie dachte schon, dass sie aus dieser Situation sicher nie mehr herauskäme, da hörte sie Lisbeths Stimme: „Was ist denn? Was haben Sie gefragt?“ Der Polizist wiederholte verwirrt die Frage und Lisbeth erklärte: „Am letzten Samstag. Da musste ich arbeiten. Minna hat Jakob zu einem Handballturnier gefahren. Abholen konnte ich ihn dann selbst und mir noch das Ende des Spiels ansehen.“

Minna blickte den Polizisten prüfend an, der abwechselnd Minna und Lisbeth ansah. Minna stammelte: „Entschuldigen Sie, ich, ich erinnere mich manchmal nicht...nicht so gut...es ist...“

Lisbeth fiel ihr ins Wort, mit einem Mal selbst gefestigt und kaum noch weinerlich: „Es ist der Druck, wissen Sie? Wenn Sie mit Minna reden, dann geben Sie ihr Zeit. Setzen Sie sich hin, trinken Sie mit ihr eine Tasse Tee. Und fragen Sie nicht so zwischen Tür und Angel drauf los, da werden sie nichts herauskriegen. Für meine Schwester ist das eine Stresssituation, verstehen Sie das?“

„Sicher“, brummte der Polizist, machte allerdings ein zweifelndes Gesicht dazu, „das hier ist wohl für jeden Angehörigen eine Stresssituation, entschuldigen Sie. Vielleicht können wir im Wohnzimmer Platz nehmen?“

Er sprach mit Minna nun wie mit einer Geisteskranken. Minna hatte das schon befürchtet, denn das geschah meistens, wenn Lisbeth versuchte, Fremde darüber aufzuklären, wie man mit Minna am besten umging, ohne sie in Stress oder Angst zu versetzen. Jeder musste Minna für geistig defekt halten, der von Lisbeth erfuhr, was man alles nicht sagen oder bloß andeuten, was man wie formulieren musste. Lisbeth hatte ja recht mit allem, was sie sagte. Nur klang es für Fremde eben immer so, als sei Minna nicht zurechnungsfähig.

Lisbeth sprang dann eben umgehend in die Position der Beschützerin. Sie wollte Minna verteidigen, wollte sie abschirmen von allem Übel und ihr so das an sich schon viel zu schwere Leben erleichtern. Selbst in dieser für Lisbeth als Mutter unerträglichen Lage, in der sie um das Leben ihres Sohnes fürchtete, funktionierte noch der Schutzmechanismus für ihre ältere Schwester.

Minna ging voran ins Wohnzimmer, setzte sich dort in einen Sessel und der Polizist nahm auf dem Sofa Platz, während Lisbeth mit der Beamtin im Flur stehen blieb. Minna meinte ergänzen zu müssen: „Ich bin etwas...überängstlich, wissen Sie? Neue Situationen überfordern mich schnell. Das ist das, was meine Schwester meinte.“

Der Polizist hielt noch den Notizblock in den Händen, schrieb aber nicht. Er meinte: „Es ist schon in Ordnung, wirklich. Lassen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen beim Beantworten der Fragen, ja? Es ist nicht wichtig, dass Sie schnell antworten. Nur, dass Sie gut darüber nachdenken, was Sie sagen. Denn jeder kleine Hinweis, auch wenn er noch so unscheinbar wirkt, könnte uns helfen. Wenn Ihnen später etwas einfällt, können Sie sich auch jederzeit melden. Meine Karte lege ich hier auf den Tisch.“

Minna nickte, atmete tief durch und wartete.

Allerdings konnte sie auch nun mit den Fragen nicht viel anfangen. Ob ihr etwas Ungewöhnliches an Jakob aufgefallen sei in letzter Zeit, ob er neue Freunde habe oder neue Interessen, ob er anders geredet oder anders gewirkt habe. Darauf wusste Minna nicht viel zu sagen, denn im Grunde ignorierte sie Jakob, wie es eben ging. Sie achtete nie darauf, was er sagte, wie er sich verhielt oder ähnliches. Das sagte sie so direkt nicht, nur, dass ihr nichts aufgefallen sei.

Der Polizist merkte bald, dass Minna keine große Hilfe bei dieser Sache sein würde. Er und seine Kollegin versprachen Lisbeth noch, dass sie nun eine offizielle Suche starten würden. Doch Lisbeth war trotzdem sehr niedergeschlagen, als die Polizei wieder weg war. Sie sagte nichts zu Minna, sondern ging in die Küche und kochte stumm starken Kaffee. Minna folgte ihr, musterte sie nachdenklich und lehnte unschlüssig an der Tür. Lisbeth sagte, als sie den Kaffee in zwei Becher eingeschenkt hatte: „Du könntest mich ruhig mal in den Arm nehmen, meinst du nicht? Ich weiß, du magst das nicht. Aber mir würde es vielleicht ganz gut tun.“

Minna lief rot an und schämte sich. Dass sie nicht von selbst auf diese Idee gekommen war, nicht einmal bei ihrer Lisbeth. Also trat sie vor und umarmte Lisbeth so herzlich, wie sie eben konnte. Die legte den Kopf an die Schulter ihrer Schwester, seufzte herzzerreißend, drückte Minna fest an sich und murmelte: „Ja, das ist gut. Ist es ok für dich?“

Minna sagte: „Ja, es ist gut.“

In Wirklichkeit war es nicht gut, denn Minna hatte eine große Abneigung gegen Körperkontakt. Es war ihr alles zu nah, bedrängte sie, engte sie ein. Unangenehm. Bei Lisbeth mochte es noch gehen, denn für Lisbeth empfand sie große Zuneigung, aber bei anderen war ihr schon ein Händedruck zu viel. Zu aufdringlich. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf die Nähe und die Berührung zu konzentrieren, denn Berührung wahrzunehmen, die nicht unangenehm war, fiel ihr recht schwer. Sicher hatte es etwas Angenehmes, wenn Lisbeth ihr über den Rücken strich, sanft und liebevoll. Nur merkte Minna davon nichts. Es war ein stumpfes Gefühl für sie. Dabei wusste sie, dass es eigentlich anders hätte sein müssen. Deutlich spürte sie Lisbeths Hand auf dem Rücken, auf der Schulter. Und den anderen Körper an ihrem eigenen. Doch es löste nichts Positives in ihr aus, sie wollte nur weg, nur Abstand.

So war sie froh, als Lisbeth von selbst die Umarmung löste, Minna zum Dank einen Kuss auf die Wange hauchte und sagte: „Danke, dass du hier bist. Du beruhigst mich irgendwie. Auch wenn ich wahnsinnige Angst habe um Jakob. Ich darf gar nicht daran denken, was alles mit ihm passiert sein kann.“

Minna fragte: „Ist dir denn etwas an ihm aufgefallen?“

Lisbeth drehte sich um und griff nach einem Kaffeebecher. Eigentlich trank sie ihn mit Milch und Zucker. Nun setzte sie ihn schwarz an die Lippen, als wenn sie vergessen hätte, wie sie eigentlich ihren Kaffee trank. Minna schaute sie aufmerksam an, während Lisbeth einen Schluck nahm und dann mit abgewandtem Blick zugab: „Ja. Er, er fragte häufig nach seinem Vater. In letzter Zeit.“

Minnas Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, doch innerlich war sie verblüfft. Ziemlich verblüfft. Nicht so sehr, dass Jakob gefragt hatte, denn Jakob war ein neugieriger, direkter Junge, der alles, was ihn beschäftigte, auch aussprach. Doch Lisbeths Reaktion überraschte sie ziemlich. Deshalb hakte Minna nach: „Und? Was hast du ihm gesagt?“

Lisbeth zuckte mit den Schultern, es war ihr deutlich anzusehen, dass ihr das Gespräch nicht gefiel. Sie gab dann zögerlich zur Antwort: „Was soll ich schon gesagt haben? Dass ich seinen Vater nicht kenne, eben.“

Minna ließ die Augen nicht von Lisbeth, diese stierte betrübt in ihre Tasse. Leise fragte Minna: „Stimmt das? Weißt du wirklich nicht, wer es ist?“

Lisbeth sah auf zu Minna, schaute ihr direkt in die Augen, was Minna auch schon wieder unangenehm wurde, doch sie hielt den Blick aus. Sie zwang sich, ihn auszuhalten. Dann sagte Lisbeth: „Ich weiß seinen Namen nicht, Minna. Es war irgendwer, ok? Ich könnte es vielleicht herausfinden, aber ich will nicht. Und jetzt frag nicht, warum. Ich habe dafür meine Gründe.“

Minna nickte dazu. „Ja“, sagte sie, „die wirst du wohl haben.“

Sie besorgte sich dann Milch aus dem Kühlschrank und ging anschließend mit ihrem Kaffee ins Wohnzimmer, darüber nachgrübelnd, warum Lisbeth so nervös war und warum sie sich nicht bemühte, Jakobs Vater zu finden. Sicher war es wichtig für ein Kind, den Vater zu kennen. Dachte sich Minna. Warum sollte man darüber schweigen? Was war schon dabei?

Die Angst und das Engegefühl fielen langsam von Minna ab. Seit der Abwesenheit der beiden Polizisten war es schon besser geworden. Jetzt nach dem Ablassen der Umarmung wich das Überforderungsgefühl. Allein setzte sie sich ins Wohnzimmer, trank einen Schluck Kaffee und die Müdigkeit brach wieder aus. Ein Schweregefühl legte sich über ihren ganzen, zittrigen Körper. Die Hand mit der Kaffeetasse bebte leicht wie meistens, sie fühlte sich erschöpft und matt. Wollte sich nur hinlegen und eine Woche lang schlafen. Dieses Gefühl hatte sie täglich und nie ließ es sich einlösen. An erholsamen Schlaf war eben nicht zu denken. Keine Regeneration, keine Wiederherstellung möglich. Es gab nur diesen kaputten, übermüdeten Zustand für Minna.

Lisbeth trat nun ins Wohnzimmer und fragte: „Willst du dich hinlegen? Vielleicht wäre das ganz gut für dich. Du kannst dich in mein Bett legen, wenn du möchtest. Oder willst du lieber nach Hause?“

Minna stellte den Kaffeebecher auf den Tisch. Dort standen ein paar Keramikmäuse, die niedlich lachten und bunte Kleidung trugen. Sie sahen nach Sonne, Glück und guter Laune aus. Minna betrachtete die Mäuse deprimiert, bevor sie meinte: „Ich sollte besser hierbleiben, denke ich. Dein Bett nehme ich gern. Lang kann ich da ohnehin nicht herumliegen, aber ein bisschen Dösen wäre vielleicht gut. Danke.“

Sie stand auf, ließ den Kaffee stehen, ging ohne eine zusätzliche Bemerkung in Lisbeths Schlafzimmer, wo sie das Rollo herunterließ, bis es stockdunkel war und sich dann bis zum Bett vortastete. Dort fiel sie hinein, zog sich zur Sicherheit noch die Decke über den Kopf und hätte am liebsten geweint, wenn Tränen möglich gewesen wären.

Im Grunde blieb sie ziemlich genau zwei Stunden lang in dieser Position. Zwar wurde die Luft unter der Decke schlecht, aber immerhin war die Decke eine Art Schutz. Darunter fühlte sie sich in gewisser Weise sicher, geborgen. Nicht hilflos und ausgeliefert, wie es sonst häufig vorkam.

Einschlafen konnte sie freilich nicht in einem fremden Bett, auch wenn es Lisbeths Bett war. Schon in ihrem eigenen Bett fand sie keine Ruhe. Am ehesten noch auf dem Sofa im Wohnzimmer. Aber selten länger als eine Stunde am Stück. Danach war sie wieder wach, nervös, erschöpft, konnte jedoch trotzdem nicht mehr wegsacken.

In Lisbeths Bett gab es keine Entspannung. Sie versuchte sich halbwegs bequem hinzulegen, ein Gemütlichkeitsgefühl wollte sich allerdings in keiner Lage einstellen. Zu kalt war ihr, sie zog die Beine an, die Füße froren, die Hände waren eiskalt. Zuhause hatte sie viele Wolldecken, die sie wärmten. Lisbeth aber hatte nur eine dünne Bettdecke, die reichte bei weitem nicht aus. So konnte man keinen Schlaf finden. Außerdem schlug das Herz zu schnell und zu laut, es pochte in den Ohren, Minna wollte nicht hinhören, doch es wurde immer lauter. Ein übliches Phänomen bei ihr. Je mehr sie versuchte, das Pochen zu verdrängen, desto stärker und lauter und schneller wurde es, desto mehr schob es sich in den Vordergrund und dann konnte Minna nichts mehr dagegen unternehmen, außer aufzustehen und aufzugeben.]

Körperekel

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