Читать книгу Körpergrenzen - Joana Goede - Страница 4

Kampf

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Es hätte vielleicht noch andere Wege gegeben.

Doch Niklas war zu müde, um über Alternativen nachzudenken. Gähnend stapfte er durch den Schnee, seine Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke darin und das Vorwärtskommen erschien ihm unfassbar mühsam.

Der zurückzulegende Weg war weit. Und außerdem ziemlich zugeschneit, so dass er an einigen Stellen kaum zu erkennen war. Wenn überhaupt. Da der Abend bereits hereinbrach und das Licht schlechter wurde, stieg eine leichte Nervosität in Niklas auf, die ihn jedoch nicht zum Beschleunigen seiner Schritte veranlassen konnte. Im Gegenteil. Er hatte eher den Eindruck, dass sie ihn lähmte, ihm zusätzlich Kraft raubte, die er zum Gehen gebraucht hätte.

Noch drei Schritte tat er, dann blieb er plötzlich stehen. Starrte nach vorn, warf einen prüfenden Blick über die Schulter. Er war umgeben von zugeschneiten Feldern. In keiner Richtung war irgendein Haus zu sehen oder ein anderer Anhaltspunkt, der die Orientierung erleichtert hätte. Die Luft wirkte genauso grau-weißlich wie der Himmel und die Erde, alles verschmolz miteinander zu einer kalten, abweisenden Masse.

Niklas fühlte sich verloren.

Er wünschte sich, dass er ein Licht mitgenommen hätte. Vielleicht eine Taschenlampe. Dunkel war es zwar noch nicht, aber er wusste, die Dunkelkeit konnte schnell hereinbrechen.

Während er stumm und erstarrt verweilte, in die Luft glotzend, als wenn sie ihm bei der Wegfindung hätte helfen können, landete eine einzelne, verträumte Schneeflocke unauffällig auf seiner kalten Stirn. Dort ruhte sie einen Moment, bis Niklas sie ärgerlich wegwischte und einen fassungslosen Blick zum einheitlichen Himmel empor richtete, der sagen wollte: Nun schick mir nicht auch noch frischen Schnee!

Er wusste genau, dass es unmöglich wäre, den Weg im Dunkeln zu finden, wenn es dabei schneite. Außerdem würde der neue Schnee seine Fußspuren unter sich begraben, so dass ihm auch der Rückweg bei Tageslicht abgeschnitten wäre. Niklas' Hirn arbeitete angestrengt. Es wog Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ab. War sich unsicher, ob Niklas weitergehen oder aufgeben und es am nächsten Tag wieder versuchen sollte. Besser ausgerüstet. Vorbereitet. Mit reichlich Zeit bis zur Dämmerung.

Schon begann er, mitten in der Unentschlossenheit, sich selbst zu beschimpfen, wie er so außerordentlich dumm hatte sein können, so spät am Tag einen Weg wie diesen bei solchem Wetter gehen zu wollen. Was hatte ihn denn dazu getrieben? Doch wohl nur die verrückten Gespräche seiner Geschwister und Eltern, die wirren Reden seines Bruders Konrad und seiner Frau, die Niklas in einer Stärke quälen konnten, der er einfach nichts entgegenzusetzen hatte. Dieses Kaffeetrinken und Kuchenessen hatte ihn hinausgetrieben, hatte ihn fliehen lassen und nun stand er hier. Mitten im Nichts. Auf einem Wanderweg, den er so oft schon gegangen war, allerdings nie zuvor allein bei Schnee. Und, so sagte er sich, womöglich bist du schon lange nicht mehr auf diesem Wanderweg.

Wer weiß, wo du bist?

Er fror. Das Stehen tat ihm nicht gut, er musste sich entscheiden. Winzige, in der grau-weißen Masse untergehende Schneeflocken schwebten unaufhaltsam zur Erde. Du wirst nicht mehr zurückfinden, wenn du länger wartest, sagte Niklas zu sich. Und war sich dabei nicht sicher, ob ihm überhaupt daran gelegen war, wieder zurückzufinden. Wollte er sich wieder mit an den Tisch setzen? Pünktlich zum Abendessen? Und sich wieder den Unsinn anhören, den die redewütigen Mitglieder seiner Familie von sich gaben?

Niklas war das Gequatsche leid. So sehr, dass er nun entschlossen los lief. Nicht zurück, wo ihm die tiefen Spuren den Weg gewiesen hätten, sondern nach vorn. Das Risiko war ihm bewusst. Fakt war eben, dass ihm selbst die Gefahr, sich zu verirren und eine Nacht in dieser Kälte draußen zubringen zu müssen, lieber war, als ein weiterer Abend im Kreis seiner Angehörigen.

Er genoss die Stille der verschneiten Welt. Wie in Watte gepackt kam er sich vor.

Bei seinen Eltern, da gab es keine Stille.

Da gab es keinen Moment des Schweigens.

Permanent wurde gesprochen, diskutiert, erklärt, gestritten. Die Situation, dass niemand etwas sagte, trat nur dann ein, wenn alle schliefen. Niklas fehlte die Geduld, um darauf zu warten, dass alle ins Bett gingen. Ihm fehlte überhaupt die Geduld für egal was. Seine Nerven waren gereizt, er war angespannt, er war verärgert und er hatte die Nase voll.

In dieser Stimmung war er relativ planlos hinaus in den Schnee gestürmt, hatte einen ihm bekannten Weg eingeschlagen, der zunächst durch ein Waldstück führte, bevor er sich in weiten Feldern verlor. Das Bekannte war schnell hinter ihm geblieben, er begab sich auf unbekanntes Terrain, denn in diesem Schnee war nun wirklich nichts mehr zu erkennen. Alles war ihm fremd, als wäre er nie hier gewesen. Er hatte es für zwecklos befunden, sich zu beeilen. Auch eine Uhr hatte er nicht dabei, so war es schwer für ihn festzustellen, wie lange genau er bereits unterwegs war.

Er schätzte, dass es an die drei Stunden sein mussten. Drei Stunden. In denen konnte er weit gekommen sein.

Es ist unmöglich, sagte er zu sich. Unmöglich, wieder zurückzufinden.

Stattdessen begann er Ausschau nach einer Art Unterstand zu halten, nach etwas, das ihm einen gewissen Schutz vor dem Wetter hätte bieten können. Etwas, wo sich ein frierender Mensch in einer Winternacht zumindest ein wenig verkriechen konnte, bis zum Sonnenaufgang, der hoffentlich etwas Klarheit mit sich bringen würde.

Niklas sah weit und breit nichts. Keine dichte Baumgruppe, kein kleines Holzhäuschen, in dem müde Wanderer rasten konnten. Er war sich sicher, dass er sich auf keinem Weg mehr befinden konnte. Die geschlossene Schneedecke ließ allerdings nicht zu, dass er einen Beweis dafür hätte entdecken können.

Seine Füße wurden kalt. Dass dies kein gutes Zeichen war, konnte er sich denken. Außerdem fühlte sein Körper sich müde an, die Beine wurden schwer. Um ihn herum brach die Dunkelheit immer mehr durch, die winzigen Schneeflocken wurden größer. Um Niklas herum wurde es dunkelgrau. In diesem Dunkelgrau fühlte er sich verloren. Ein Blick zurück zeigte ihm, dass er den Weg, den er gekommen war, nun endgültig nicht mehr wiederfinden konnte.

Es plagte ihn keine Wehmut, keine Angst.

Nur Kälte.

Diese mit der Dunkelheit über ihn kommende, nächtliche Kälte schien sich mit jedem Schritt, den er tat, zu verstärken. Er wusste, es musste Einbildung sein. Eventuell hervorgerufen durch die körperliche Erschöpfung. Er sehnte sich nach Ruhe. Und doch fürchtete er, er könnte bei einer kurzen Rast einschlafen und erfrieren. So kämpfte er sich weiter, um ihn herum färbte sich alles zusehends schwarz. Bald, sagte Niklas zu sich, wirst du nicht mal mehr sehen können, wohin du den nächsten Fuß setzt.

Es dauerte nicht lang, dann umgab ihn die vollendete Schwärze. Der bewölkte Himmel enthielt keinen Schimmer Mondlicht, auch kein einziger Stern ließ sich blicken. Nur die Schneeflocken stachen eiskalt in Niklas' Gesicht, brannten in seinen Augen, bewiesen ihm, dass es pausenlos schneite.

Ihm fiel ein, wie sehr er den Winter als Kind gehasst hatte. Diese dunklen Nächte, den kalten Wind, die vereisten Fensterscheiben, die Schneespaziergänge mit seinen Eltern. Er hatte anziehen können, was er wollte, es war immer zu kalt gewesen. Sein Vater hatte ihm gesagt, er solle sich nicht so anstellen, seine Mutter hatte ihm noch eine zweite Mütze über den Kopf gezogen, darüber die Kapuze der Winterjacke. Alles ohne Erfolg. Niklas war ein bibberndes Bündel geblieben, bunt seinen Eltern und Geschwistern durch den hohen Schnee hinterherpurzelnd.

Daran dachte er nun und das alte elende Gefühl von damals stieg wieder in ihm auf. Gezwungen, frierend immer weiter zu gehen. Die Länge des bevorstehenden Weges nicht einschätzen zu können.

Dieses Mal hatte seine Jacke keine Kapuze, seine Mutter hatte ihm keine zweite Mütze aufgesetzt. Und er war auf sich allein gestellt, hatte niemanden, der ihm den Weg wies.

Niklas fühlte sich halbtot, halb erfroren, als er irgendwo rechts einen leichten Lichtschimmer erblickte. Offenbar war er in eine waldigere Gegend gekommen, denn er musste einigen Bäumen ausweichen, als er dem Schimmer folgte. Dabei stolperte er mehrfach über Wurzeln oder heruntergefallene Äste, das ließ sich unmöglich erkennen. Wie eine Ewigkeit kam ihm die Entfernung zu dem Licht vor, das nur minimal näher zu rücken schien. Er fragte sich schon, ob es sich vielleicht selbst bewegte oder ob es eine Halluzination war. Ein kleines gelbes Licht, das kaum größer wurde. Womöglich eine Art Irrlicht.

Während er ihm folgte, da er sonst kein Ziel hatte, erinnerte er sich, dass ihn diese Situationen bei seinen Eltern schon häufig in die Flucht geschlagen hatten. Menschen, die durcheinandersprachen, ein Fernseher, der nebenher lief, Kindergeschrei, Töpfeklappern. Das alles verursachte Kopfschmerzen bei Niklas und den ausgeprägten Wunsch, zu verschwinden. Irgendwohin, wo tatsächlich niemand war.

Nun, im dunklen Wald, erschien ihm das Licht, dem er folgte, schon bald als zu hell. Er konnte kaum mehr direkt hineinsehen, es verursachte ein unangenehmes Ziehen auf den Netzhäuten, zum Teil stach es sogar mit einer Brutalität hinein, die man einem so schwachen Licht nicht hätte zutrauen wollen. Niklas musste sich nach allen Regeln der Kunst zusammenreißen, musste sich zwingen, weiter auf das sich nur wenig vergrößernde Licht zuzugehen und es auszuhalten, obwohl es ihn quälte. Die Vernunft war mächtig genug in ihm, um ihn voranzutreiben, um ihm fortwährend in die Ohren zu flüstern: Nur das Licht kann dich retten, ohne das Licht wirst du sterben.

Zum Sterben war Niklas noch nicht vollständig bereit. Der Lebenswille pochte in ihm, er hielt ihn aufrecht, er schob ihn vorwärts ins Ungewisse. Denn alles konnte nur besser sein als das, was Niklas hinter sich gelassen hatte.

In seiner Überempfindlichkeit spürte er die Kälte seine Beine bis zu den Knien hinaufkriechen, er fühlte sie sich in seinen Kniekehlen einnisten und konnte die eingefrorenen Gelenke bald nur noch mit großer Mühe beugen. Wobei er nicht sicher sein konnte, ob die Ursache für diese Unbeweglichkeit wirklich in einer Überempfindlichkeit zu suchen war oder ob es nicht doch die reale Kälte der Winternacht war, die ihn marterte. Zwar brannten die Schneeflocken nicht mehr so sehr auf seiner Haut, der Wald musste dicht genug sein, um als Schutz zu dienen, dafür erschlaffte sein Körper von Schritt zu Schritt mehr.

Das Ziel schien unerreichbar.

Es war unerreichbar.

In seinen Ohren begann es zu rauschen, das Rauschen wurde lauter, es folgte eine leere Schwärze, eine innere Nacht. Danach kam eine unerträgliche Helligkeit. Und Niklas begriff: das Licht, zu dem er nicht hatte kommen können, war zu ihm gekommen.

Körpergrenzen

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