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3 Verwicklung

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Als Mehring gegangen war, fühlte Kromnagel sich verlassen und verängstigt.

So kam es auch, dass er ganz grässlich zusammenzuckte, als plötzlich das Telefon klingelte. Der Ton fuhr Kromnagel schrill in die Ohren, die noch von der Kälte leicht schmerzten. Selbst der Kater Tristan zuckte im Schlummer, öffnete jedoch nicht einmal ein Auge.

Kromnagel hatte sich dabei erwischt, auf dem Sessel kurz eingenickt zu sein. Die Brille war ihm dabei ganz nach vorn auf die Nase gerutscht. Fest hatte er sich vorgenommen, sie nicht mehr abzunehmen. Nur zum Duschen und Schlafen.

Ein Blick auf die Wanduhr sagte ihm, dass Mehring bereits vor einer halben Stunde gegangen war. Diese halbe Stunde war in Kromnagels Wahrnehmung auf eine einzige Minute zusammengeschrumpft. Das Telefon ließ erneut seinen unangenehmen Laut hören. Kromnagel sah sich gezwungen, sich ächzend von dem Sessel zu erheben und den Hörer abzunehmen. Immerhin hoffte er auf Anabell, die ihn in diesen Tagen hatte besuchen wollen. „Ein netter Mensch zum Reden wäre jetzt genau das Richtige“, dachte Kromnagel, kurz bevor er abnahm und sich mit seinem Namen meldete.

Zuerst hörte er nichts. Es herrschte Stille im Hörer. Kromnagel meinte schon, es habe sich jemand verwählt. Er sagte: „Hallo?“ Fast wollte er schon auflegen und sich mit einer Wolldecke auf den Sessel verziehen, dann hörte er mit einem Mal die Stimme. Diese Stimme jagte ihm ein Frösteln über den Rücken, ließ ihn erbeben und um ein Haar wäre ihm der Hörer vor Unbehagen entglitten.

Die Stimme war dumpf und klang unmenschlich. Sie wirkte nicht richtig verzerrt, aber irgendwie unnatürlich. Wie aus einer anderen Welt kommend, wie aus einer anderen Zeit. Die Betonung der Wörter war ungewöhnlich, die Silben zu sehr gedehnt.

Kromnagel hörte: „Sie werden schweigen.“ Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Denn er traute sich gar nicht zu antworten. Nur der Automatik in sich hatte er es zu verdanken, dass er nicht anders konnte, als auf diese Wörter, die für ihn keinen Sinn ergaben, folgendermaßen zu reagieren: „Wie meinen Sie das? Wer spricht da?“ Kromnagel konnte das gar nicht verhindern. Er hatte es fragen müssen, ohne sein Zutun. Das völlige Unverständnis drängte ihn dazu.

Die Stimme sagte nun: „Sie werden niemandem etwas sagen. Sie werden schweigen über alles, was Sie heute gesehen haben.“

Kromnagel stockte das Blut in den Adern. Er stotterte hilflos in den Hörer: „Ich...ich...habe...nichts...hören...hören...Sie....bitte...ich...“

Aber die Stimme unterbrach ihn barsch und bellte nun: „Sie schweigen! Hören Sie? Sie werden schweigen! Es wird Ihnen leid tun, wenn Sie etwas sagen!“

Aufgelegt. Einfach aufgelegt. Kromnagel glaubte, er müsse auf der Stelle das Bewusstsein verlieren. Mit dem Hörer in der Hand stand er still. Der Hörer tutete. Kromnagel sank langsam auf den Boden, verweilte auf den Knien. Hielt den Hörer fest umklammert. Sein erster Gedanke war: Mehring. Der zweite war, dass er in keinem Fall Mehring anrufen durfte. Er sollte schweigen. Doch wie sollte er? Worüber sollte er schweigen? Hatte er der Polizei nicht schon alles erzählt?

Kromnagel legte, noch auf den Knien, den Hörer zurück. Wollte die Verbindung zu dem anderen, dem Unbekannten, der ihn bedrohte, endgültig abbrechen. Und doch fürchtete sich Kromnagel weiter. Der Täter kannte Kromnagel. Er wusste seinen Namen, seine Adresse, seine Telefonnummer. Womöglich beobachtete er Kromnagel bereits seit dem Augenblick ihres Aufeinandertreffens auf dem Friedhof. Kromnagel wurde bewusst, dass der Mörder die ganze Zeit hätte unsichtbar irgendwo an einer Wand im Regen stehen können. Niemand hätte ihn sehen können. So viele Leute waren dagewesen, so viele hatten einfach herumgestanden. Friedhofsbesucher, Friedhofsgärtner, Polizisten, frühe Café-Gäste. In dem Gewühl hätte der Mörder Kromnagel in Seelenruhe beschatten können. Der Mann an der Haltestellte fiel ihm ein. Ein kalter Schauer stürzte seinen Rücken hinab.

Kromnagel wollte die Karte holen. Mehrings Karte. Alles in ihm schrie danach, beschützt zu werden. Beschützt vor einem Irren. Er kroch auf den Knien zu seinem Schlafzimmer, denn dort lag der Mantel, in den Mehring geistesgegenwärtig seine Karte mit der Telefonnummer für Notfälle gesteckt hatte. „Das ist ein Notfall“, dachte Kromnagel. „Das ist ganz bestimmt einer.“ Er erreichte das Bett, fand seinen Mantel, kramte darin herum und erstarrte. Er wurde richtig bleich und hielt inne. Denn das Telefon klingelte erneut. Erst konnte Kromnagel sich nicht bewegen, nach dem dritten Klingeln aber stürzte er erschrocken ins Wohnzimmer, griff nach dem Hörer und rief atemlos: „Ja?“

Zugleich erhofft und gefürchtet hatte er die Stimme des unheimlichen Anrufers, denn er wollte ihm sagen, dass er ohne Brille praktisch blind auf die Entfernung war. Dass er ihn nicht hatte sehen können und deshalb auch niemandem etwas sagen konnte.

Es war allerdings nicht die Stimme von vorhin, stattdessen war es Sixtus. „Du, wo warst du denn? Ich habe zehnmal bei dir geklingelt heute Vormittag. Ja. Hast du Essen da? Benni kommt heute direkt nach der Schule. Eigentlich sollte er heute nicht, aber seine Mutter hat Termine. Arzt oder so. Da hat sie ihn auf mich abgeschoben. Sie will nicht, dass er allein Zuhause rumhängt und am Rechner zockt. Er soll seine Schularbeiten erledigen. Naja. Da muss ich eben einspringen. Jetzt brauche ich für ihn Abendessen. Der frisst ja wie ein Scheunendrescher. Hast du nun was?“

Kromnagel sagte sauer und erleichtert zugleich: „Nichts. Gar nichts. Nur Katzenfutter. Das wird er nicht wollen.“

Sixtus seufzte tief und meinte: „Gut, dann werde ich noch einkaufen gehen müssen. So ein verdammter Mist. Brauchst du was, soll ich was mitbringen?“

Kromnagel sagte wieder: „Nichts. Ich brauche nichts. Danke.“

„Dann mache ich mich jetzt mal schnell auf die Socken, bevor der Bengel hier ankommt. Gut, dass heute meine freie Nacht ist. Da habe ich ja auch nichts Besseres zu tun als diesen Jungen zu hüten. Schönen Nachmittag noch, alter Hase.“ Er legte auf.

Kromnagel fand es merkwürdig, gerade an diesem Tag, der mit einem toten Hasen angefangen hatte, als alter Hase von seinem Bruder bezeichnet zu werden. Zwar nannte Sixtus alle möglichen Leute alter Hase, aber gerade jetzt rief diese Bezeichnung bei Kromnagel eine Menge unangenehmer Assoziationen hervor.

Und just als Kromnagel endlich wieder ins Schlafzimmer gehen und die so wichtige Karte suchen wollte, ging wieder das Telefon und dieses Mal nahm Kromnagel direkt ab. Nun war es Anabells liebe Stimme, die er hörte. Ein leichtes Wärmegefühl machte sich in ihm breit. Anabells Gutmütigkeit und Lebensfreude vertrieb ihm direkt ein wenig die schreckliche Angst, welche ihm die bedrohliche Stimme eingeflößt hatte.

Anabell rief in den Hörer: „Mann, Winni, bei dir ist aber auch wirklich ununterbrochen besetzt! Mit wem bitte musst du denn permanent quatschen, wenn ich dich anrufen will? Ich melde mich an, für heute Abend. Hast du Essen im Haus?“

Kromnagel sagte erfreut: „Nein, gar nichts. Nur Katzenfutter.“

Anabell lachte: „Na, dann werde ich uns etwas mitbringen müssen. Was ist mit Chinesisch? Tristan und du, ihr mögt das doch beide gern.“

Kromnagel erwiderte: „Ich möchte aber nicht, dass du dich für uns verschuldest. Eine Tiefkühlpizza würde es auch tun.“

Anabell meinte: „Red keinen Stuss, bitte! Wenn ich komme, will ich auch, dass ihr was Vernünftiges esst. Wenn ihr das sonst schon nicht so oft tut. Also. Hast du wenigstens einen schlechten Wein da?“

Kromnagel: „Schlechten Wein habe ich, wie du weißt, immer da.“

Anabell: „Na wenigstens darauf kann man sich verlassen. Ich komme um 18.00 Uhr. Du kannst den Tisch decken und eine von den alten Platten anmachen. Das passt zu dem Wetter draußen, wirklich grässlich. Warst du schon draußen, heute? Unfassbar, nur Regen, Regen, Regen. Selbst mit Schirm kann man unmöglich trocken bleiben.“

Kromnagel murmelte: „Ja, ich, ich weiß wohl.“

Anabell: „Gut, ich komme dann. Bis gleich.“

„Bis gleich“, sagte Kromnagel, dann hatte die flotte Anabell auch bereits aufgelegt. Er wusste nicht, ob er ihr hätte vom Friedhof erzählen sollen. Ob er ihr überhaupt etwas erzählen durfte. Schließlich wollte er sie unter keinen Umständen in diese Sache mit hineinziehen.

Anabell war für Kromnagel fast wie eine Tochter. Zwar war die Beziehung mit ihrer Mutter irgendwann zerbrochen. Doch sie waren in Freundschaft auseinander gegangen, sprachen noch ab und an miteinander und verstanden sich gut. Anabell sah in Kromnagel mehr als einen verflossenen Liebhaber ihrer Mutter. Für sie war er ein Ruhepol in ihrem aufwühlenden Leben, ein stiller Punkt, an dem man anhalten und durchatmen könnte. Einer, mit dem man fest rechnen konnte, weil er immer da war, wenn man ihn brauchte. Anabell hatte sich stets einen Vater gewünscht wie diesen Winfried Kromnagel, den sie liebevoll Winni nannte und der sich diesen Spitznamen von ihr, von sonst aber keinem gefallen ließ. Zu ihrem richtigen Vater hatte sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr.

Sie war nun auch schon Ende Zwanzig und arbeitete zu Kromnagels Freude in einer Buchhandlung. Durch ihn hatte sie die Liebe zum Buch entdeckt, er hatte mit ihr das Lesen geübt, als sie ein kleines Kind war. Am Anfang natürlich nur einfache Kinderbücher, aber bald hatte sie alles verschlungen, was er ihr anschleppte. Und sich alles von ihm vorlesen lassen, das seine Bibliothek bereithielt. Zusammen hatten sie gezittert bei Moby Dick und auch bei der Schatzinsel, hatten über die drei Musketiere gelacht und Tom Saywers Tante verspottet. Am liebsten aber ließ sich Anabell von Kromnagel seine eigenen Gedichte vorlesen. Das war nicht immer so gewesen. Seine Lyrik hatte sie erst zu schätzen gelernt, als die Liebe zwischen Kromnagel und ihrer Mutter sich in Nichts aufgelöst hatte. Durch diese schönen, feingliedrigen und sauber gestalteten Gedichte war sie Kromnagel noch näher gerückt. Kromnagel hatte ihr, seit er sie kannte, alles gewidmet, was er veröffentlichte. „Für meine liebe, kleine Anabell/ Der Freude größter, schönster Quell“ hieß es da etwas altmodisch. Aber so war Kromnagel eben. In der Zeit zurückgeblieben, hoffnungslos exzentrisch.

Und als er sich daran erinnerte, wie sehr er Anabell liebte, da ging ihm mit einem Mal einiges auf. Darüber vergaß er vollständig, dass er eine alte Platte hatte auflegen wollen.

Wenn er in Gefahr schwebte und ganz klar bedroht wurde, bedroht von einem Menschen, der offenbar vor nichts zurückschreckte, dann musste auch Anabell in Gefahr sein, wenn sie Kromnagel besuchte. Immerhin wurde sie durch ihren Besuch zu einer potenziellen Mitwisserin Kromnagels!

Erschrocken griff er zum Hörer, wählte mit zitternden Fingern Anabells Nummer, aber sie nahm nicht ab. „Wahrscheinlich“, dachte Kromnagel, „ist sie ohnehin unterwegs und hat vom Handy aus angerufen. Sie ruft meistens vom Handy aus an.“ Er wählte deshalb als nächstes die Handynummer, doch dort meldete sich nur die Mailbox. Kromnagel fluchte, legte auf und begann nachdenklich in seinem kleinen Wohnzimmer auf und ab zu gehen.

Tristan schnurrte auf dem Sofa. Er mochte es, wenn Kromnagel auf und ab ging. Das tat Kromnagel meistens, wenn er ein Problem hatte, das sich nicht mal eben so lösen ließ. Es konnte ein Gedicht sein, bei dem ihm noch ein passender Reim fehlte, aber auch die unbezahlte Stromrechnung. In diesem Fall war es die Sorge um Anabell, die augenblicklich die Sorge um ihn selbst abgelöst hatte. Zuerst war er bei dem Anruf des Mörders in Todesangst geraten, jetzt fürchtete er nur um Anabell.

Er machte nachdenkliche Schritte Richtung Schlafzimmer, kam aber immer wieder unverrichteter Dinge zurück. Denn er traute sich einfach nicht. Er traute sich nicht, Mehring anzurufen und von dem unheimlichen Anruf zu berichten. „Womöglich“, sagte Kromnagel zu sich selbst, „womöglich schicken die dann einen Streifenwagen, der das Haus bewacht. Was sollen die Nachbarn da denken? Wie sollst du ihnen erklären, dass du den Mörder gesehen hast, ohne ihn zu sehen, und deshalb in Gefahr bist? Und was wird dann der Mörder tun?“ Er stellte sich die Frage, wie er eigentlich zu der merkwürdigen Meinung kam, dass er den Nachbarn überhaupt irgendetwas erklären musste. Es ging ja wohl keinen von ihnen etwas an. So verwirrt war er schon, dass er innerlich begann, sich für sein eigenes Leben vor anderen zu rechtfertigen. Als wenn er sich selbst in diese unangenehme Situation gebracht hätte!

Er biss sich auf die Lippen und grübelte. Sprach leise mit sich selbst, ohne seine Worte richtig nachvollziehen zu können. Tristan schnurrte, die Zeit flog ihm weg. Bald musste Anabell kommen. Es war unmöglich, sie noch aufzuhalten.

Schon klingelte es an Kromnagels Tür. Er hastete in den kleinen Flur und bemerkte, dass die Gegensprechanlage nicht leuchtete, so wie sie es tat, wenn unten vor dem Haus jemand bei ihm geklingelt hatte. Somit öffnete er irritiert die Tür und blickte in das freundliche Gesicht des Hausmeisters Igor.

„Entschuldige die Störung“, sagte dieser in ein wenig Berlinerisch, weil er ursprünglich aus Berlin kam. „Ich müsste da mal eben an deinen Wasserzähler.“ Russisch sprach Igor fast gar nicht, obwohl er in Russland geboren worden war. Er meinte nämlich, die Sprache sei zu schnell und zu verwaschen, um sie sich auf Dauer merken zu können. Allerdings hatte Igor auch nach eigener Aussage keinen Kontakt zu seinen Landsleuten. Igor hatte eine Deutsche geheiratet und sein Sohn Alexander sprach selbst kein Wort Russisch. Trotzdem sah man Igor seine russischen Wurzeln deutlich an.

Kromnagel fragte ungläubig: „Wasserzähler?“

Igor trat von einem Bein auf das andere, bevor er etwas umständlich erklärte: „Die Leute haben sich beschwert. Einige meinen, dass der Wasserzähler bei ihnen letztes Jahr falsch abgelesen wurde.“ Sein dunkelgrauer Schnurrbart wackelte lustig hin und her, wenn er sprach.

Kromnagel: „Und? Was hat das mit mir zu tun?“

„Ich habe versprochen, bei allen heute den Wasserstand aufzuschreiben. Morgen Vormittag kommt ja der Typ, der ihn abliest. Ich hatte extra einen Zettel unten hingehängt, schon vor ein paar Tagen.“

Kromnagel kratzte sich am Kopf und trat zur Seite: „Ja, dann bitte. Komm rein und tu, was du tun musst. Der Zettel muss mir irgendwie entgangen sein.“ Kromnagel beachtete niemals die Aushänge am Schwarzen Brett im Eingangsbereich des Hauses. Ob da was hing oder nicht – er sah es nicht. Solche Dinge schossen in der Regel durch Kromnagels Augen in den Kopf und unverarbeitet zu den Ohren wieder hinaus. Zumindest behauptete das Sixtus.

Der dickliche Igor huschte an Kromnagel vorbei, zog einen zusammengeknickten Zettel und einen Kugelschreiber aus der Tasche der verwaschenen Jeans, ging schnurstraks ins Bad und schrieb konzentriert die richtige Zahlenreihenfolge auf den Zettel. Danach sagte er zu Kromnagel, der in der Badezimmertür lehnte und ihm zusah: „Wir wollen ja nicht, dass jemand übers Ohr gehauen wird, nicht? Ich werde morgen, wenn der Typ alles abgelesen hat, die Werte vergleichen. Die sollten sich dann ja nicht zu sehr von meinen unterscheiden. Mehr kann ich nicht machen. Morgen werde ich kaum Zeit haben, mit dem Typ mitzugehen und ihm ständig über die Schulter zu gucken. Außerdem wäre ihm das sicher nicht recht.“

Kromnagel nickte und meinte: „Ja, das ist wirklich nett von dir Igor, vielen Dank.“

Igor betrachtete Kromnagel nun etwas genauer, wie er da lehnte, und erkundigte sich: „Ist bei dir alles ok? Du siehst geschafft aus. Du solltest mehr schlafen. Arbeitest du immer noch nachts?“

Kromnagel zuckte hilflos mit den Schultern: „Manchmal, wenn es sich nicht anders machen lässt. Nachts habe ich die besten Ideen. Tagsüber sieht es eher mau aus.“

Igor bewegte den Kopf voll Zustimmung, als ob er genau wüsste, wovon Kromnagel sprach. Er kannte den kauzigen Dichter schon so lange, wie er hier als Hausmeister tätig war. Über zwanzig Jahre. Zwar sprachen sie nicht viel miteinander, aber sie wechselten hier und da ein paar Worte auf der Treppe oder im Garten, wenn sie sich begegneten. Kromnagel fragte deshalb der Form halber: „Und, was macht dein Sohn?“

Igor knirschte mit den Zähnen, steckte Zettel und Kugelschreiber weg und meinte: „Ach, der. Alex. Er war so ein liebes Kind. Alle haben gesagt, dass mal was aus ihm wird. Nun macht er mir nur Sorgen. Hat schon wieder abgebrochen, dieser Spinner. Dabei lief alles so gut. Jetzt zieht er zurück zu mir. Hat gestern schon sein ganzes Zeug gebracht. Will jetzt eine neue Lehre machen, in der Apotheke oder so. Oder Arzthelfer. Der mit seinen zwei linken Händen. Und dann Blut abnehmen wollen. Der Junge hat sie echt nicht alle. Aber was soll ich machen? Er lässt sich von mir ja nichts sagen. Er ist fast fünfundzwanzig und hat immer noch nichts. Keine Ausbildung.“

Kromnagel nickte mitfühlend: „Aber immerhin hat er sein Abitur. Damit stehen ihm ja alle Türen offen.“

Igor lachte finster und zog die buschigen Augenbrauen hoch: „Ich sag dir, aus dem wird nichts mehr. Den hab ich jetzt bis zum meinem Tod an der Backe kleben. Jetzt macht der sich erstmal schön in seinem alten Zimmer breit. Schleppt Mädchen an. Und arbeitet nichts. Sei froh, dass du von sowas verschont bleibst.“

Kromnagel gab ehrlich zu: „Ja, Igor. Du kannst mir glauben, das bin ich auch. Mein Bruder hat ja auch nur Schwierigkeiten mit dem Benni.“

Igor nickte und zischte: „Dieser Bengel. Der hat mir schon vor Jahren den ganzen Garten in Unordnung gebracht. Jetzt schleppt er ständig sein dreckiges Rad ins Treppenhaus, lässt es mitten im Weg stehen und rempelt alle Leute an, die ihm auf der Treppe entgegen kommen. Dein Bruder hat mein Mitgefühl. Und ich weiß, wovon ich rede.“

Igor machte sich nun nach diesen Herzensergießungen wieder auf. Kromnagel verabschiedete ihn an der Tür, warf einen Blick auf die Uhr und versuchte es noch einmal bei Anabells Handy. Er hasste die Mailbox. Immer, wenn es wichtig war, war es die Mailbox.

Und kaum hatte Kromnagel sein nervöses Gehen im Wohnzimmer wieder aufgenommen, kaum hatte er wieder an Mehrings Karte gedacht und an die Telefonnummer: „Ich könnte sie wenigstens neben das Telefon legen, für den Notfall...“ – da klingelte es wieder an der Tür.

Dieses Mal war es Anabell. Kromnagel fühlte sich regelrecht belagert von Menschen, die heute permanent etwas von ihm wollten. Außerdem war Anabell deutlich zu früh dran. Auch typisch für sie.

Anabells Stimme in der Gegensprechanlage war die erste an diesem Tag, über die er sich freute. Er wollte sie zuerst schnell wegschicken, damit sie nicht die Aufmerksamkeit des Mörders auf sich zog. Aber als Kromnagel ihre liebe, fröhliche Stimme in der Gegensprechanlage hörte, konnte er es nicht. Er brauchte sie. Und sie freute sich so, ihn zu sehen. „Winni, mach die Tür auf, das Essen wird ganz kalt, hier in dem blöden Regen!“

Kromnagel drückte auf den Knopf, es surrte und Anabell betrat das Haus. Ein schlechtes Gewissen breitete sich in Kromnagel aus. „Wenn ihr etwas passiert“, dachte er und sein Magen krampfte sich zusammen, „dann bist du schuld.“

Ungeduldig wartete er, bis er ihre Schritte im Treppenhaus hörte. Dann riss er die Tür auf, fiel dabei fast über Tristan, der Anabell ebenfalls liebte und sofort zur Tür gestürmt war, als er sie hörte. So tief konnte Tristan gar nicht schlafen, dass ihm Anabells Schritte entgangen wären.

„Na, da seid ihr zwei ja!“ Anabell umarmte Kromnagel, riss den Kater an sich und kraulte ihm heftig das Brustfell. Der Kater hing selig in ihren Armen und schnurrte. Kromnagel hatte Anabell die Tüte abgenommen, in der sie das Essen transportierte, und den klatschnassen Regenschirm in seinem kleinen Flur ausgebreitet. Mit diesem Schirm war der Flur gut gefüllt. Es war fast unmöglich, an ihm vorbeizugehen.

Geschwind warf Anabell ihren Mantel über den Küchentisch, quetschte sich am Schirm vorbei und setzte sich mit dem Kater auf dem Schoß in einen Sessel im Wohnzimmer. Kromnagel holte zwei große und einen kleinen Teller, Besteck und Gläser sowie eine Flasche angebrochenen Weißwein.

Anabell sagte zu ihm: „Du solltest nicht so viel Wein trinken, ehrlich. Das ist nicht gut für den Blutdruck.“

Kromnagel entgegnete: „Erstens hatte ich nie Probleme mit dem Blutdruck, zweitens brauche ich den Wein zur Steigerung der kreativen Energie. Davon lebe ich. Zumindest fast.“

Er fiel schwer in den Sessel, schenkte Anabell und sich ein Glas ein und leerte das seine in einem Zug. Anabell starrte ihn an. Sie hatte schöne blaue Augen und dunkle, kurze Haare. Die standen in alle Richtungen ab und umrahmten ein hübsches, niedliches Gesicht, dessen Wangen rot leuchteten. Der Kopf war insgesamt ein wenig zu klein geraten und die Ohren standen leicht ab. Manchmal hatte sie dadurch etwas Zwergenähnliches an sich. Das konnte man mögen oder nicht. Ihr Kleid lag eng an und präsentierte ihren schmalen, nicht sonderlich weiblich anmutenden Körper. Kromnagel bemerkte ihren verwunderten Blick nicht. Sie erkundigte sich: „Sag mal, Winni. Ist dir heute nicht gut? War was?“

Kromnagel blickte tief in sein leeres Glas und antwortete: „Man hat heute auf dem Westfriedhof eine Leiche gefunden.“

Anabell nippte an ihrem Glas und meinte: „Ja, das habe ich auch gehört. Der Friedhof ist seitdem sogar gesperrt. Gehst du da nicht immer spazieren?“

Kromnagel sah schnell auf und brummte leise: „Ich habe sie gefunden.“

„Was?“, rief Anabell. „Was hast du gefunden?“

„Sie.“ Kromnagel griff nun doch zur Weinflasche, während Tristan die Tüte mit dem chinesischen Essen umstrich. Es würde nicht lange dauern, bis er anfangen musste, sie zu zerpflücken. Denn Tristan liebte chinesisches Essen fast so sehr wie er Anabell liebte.

Anabell verzog das Gesicht, Kromnagel goss sein Glas voll und erklärte etwas ausführlicher: „Ich habe sie gefunden. Die Leiche. Eine junge Frau. Sie lag da einfach so im Regen. Erst das Kaninchen und dann sie. Ich bin quasi über sie gestolpert. Den halben Tag saß ich in dem Café und musste mit der Polizei sprechen. Ein Polizist hat mich anschließend sogar hergefahren. Mehring heißt er, ein netter Bursche. Hat vor zwei Jahren seinen Hund verloren. Eine tragische Sache. Sonst hat er keine Familie.“

Anabell stellte ihr Weinglas auf dem Tisch ab und hakte nach: „Du hast also wirklich diese Leiche gefunden? Winni, das, das ist ja furchtbar! Wie geht es dir? Du, du wirkst etwas durch den Wind.“

„Durch den Wind?“ Kromnagel hatte sein Glas schon zur Hälfte ausgetrunken. „Ich stehe völlig neben mir! Ich weiß nicht mehr, was ich gesehen habe und was nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob...“

Das Schrillen des Telefons unterbrach ihn. Vor Schreck fiel ihm das Glas aus der Hand. Es landete auf dem Teppich, der Wein verteilte sich. Das Glas blieb heil. Kromnagel stierte verständnislos auf das Glas.

„Schon gut, ich mach das. Geh ran, vielleicht ist es wichtig.“ Anabell verschwand in der Küche, um einen Schwamm und Reinigungsmittel zu holen. Kromnagel kämpfte sich aus dem Sessel hoch, erreichte das Telefon und nahm ab. Er schloss die Augen vor Grauen, als er die gefürchtete Stimme vernahm.

„Ein nettes Mädchen. Ich wusste nicht, dass du eine Tochter hast. Sie sieht dir gar nicht ähnlich.“

Kromnagel presste zwischen den Zähnen hervor: „Sie ist nicht meine Tochter. Lass sie aus dem Spiel!“ Kromnagel wusste nicht genau, warum sie sich auf einmal mit Du ansprachen. Diese neue Stufe der Vertrautheit erweckte in ihm das unangenehme Gefühl, zu einem Komplizen des abscheulichen Verbrechens gemacht worden zu sein. Eine solche Vertrautheit war ihm nicht geheuer. Glatt erschien ihm der andere als alter Bekannter.

Der Anrufer sagte: „Ich entscheide, wen ich aus dem Spiel lasse. Du sagst ihr nichts. Rein gar nichts, wenn du willst, dass ihr nichts passiert. Kapierst du? Ihr nicht und der Polizei nicht. Niemandem. Alles bleibt schön unter uns.“

Kromnagel beteuerte: „Ich habe nichts gesehen. Wirklich nicht. Meine Brille...“

„Spar dir das! Du sprichst mit ihr nicht darüber und nicht mit der Polizei. Erzähl denen sonstwas. Denk dir was aus. Meinetwegen. Wenn dir dein Leben und das von der Kleinen lieb ist.“

Er legte auf, Kromnagel stand wieder fassungslos mit dem Hörer am Ohr, hörte auf das Tuten und bemerkte nicht Anabell, die mit dem Schwamm und dem Reinigungsmittel zurückkehrte und ihn musterte. Als sie ihn ansprach, zuckte er mächtig zusammen. „Alles klar?“

„Sicher, sicher.“ Er legte den Hörer auf, nahm ihr alles aus den Händen und brummte: „Gib her, das brauchst du nicht machen. Nur weil ich ein Greis bin, der sein Glas nicht mehr eigenständig halten kann.“ Er schrubbte eine Weile ordentlich den Teppich, wollte gar nicht damit aufhören. Denn das Schrubben verschaffte ihm Bedenkzeit. Anabell breitete derweil sorgfältig das Essen auf dem Tisch aus, schöpfte eine Kleinigkeit von allem für den Kater ab, der ungeduldig auf dem Sofa sitzend wartete. Seine grünen Augen flackerten freudig, sie waren über der Tischkante sehr gut zu sehen.

Als Anabell den kleinen Teller auf den Fußboden gestellt hatte und der Kater hinterhergesprungen war, musste Kromnagel sein Schrubben aber beenden. Der Schwamm war ohnehin drauf und dran, den Geist aufzugeben. Außerdem stank das Wohnzimmer nun penetrant nach Putzmittel. Selbst der Duft des ehemals warmen chinesischen Essens war kaum noch wahrzunehmen.

Anabell ließ sich in den Sessel zurückfallen, seufzte und sagte: „Nun ist aber mal gut. Der Teppich hat so viele Flecken, das sagst du doch immer. Da kommt es auf diesen auch nicht mehr an. Außerdem ist es nur Weißwein.“ Kromnagel erwiderte: „Da siehst du mal, warum ich niemals Roten trinke!“

Er verschaffte sich noch mehr Zeit, indem er langsam den Schwamm und die Flasche mit dem Reinigungsmittel in die Küche brachte, den Schwamm auswusch und alles ordentlich verstaute. Dabei überlegte er sich, was er Anabell jetzt erzählen durfte und was nicht. Denn dass er eine Leiche gefunden hatte, das konnte für den Mörder kein Problem darstellen. Das einzige, was ihn zu dieser Kontaktaufnahme veranlassen konnte, war die Sorge darum, dass Kromnagel ihn gesehen hatte. Womöglich sogar erkannt. Bei diesem Gedanken wurde Kromnagel für eine Sekunde von einem mächtigen Schwall Übelkeit überwältigt, der sich allerdings genauso schnell wieder verflüchtigte, wie er gekommen war. Denn alles in Kromnagel sträubte sich gegen die Idee, mit einem Mörder tatsächlich bekannt zu sein.

Die Tatsache, dass Kromnagel den Täter, bekannt oder nicht, gesehen hatte, ohne ihn zu sehen, ließ sich diesem offenkundig nicht vermitteln. Er wollte Kromnagel schließlich gar nicht zu Wort kommen lassen. Deshalb gab es, so schloss Kromnagel, keine Möglichkeit, den Mörder zu besänftigen oder die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

Und Mehring? War Mehring die Rettung? Doch mit der Polizei, so hatte der Anrufer gedroht, sollte Kromnagel auch nicht sprechen. Er sollte mit niemandem sprechen. Das war, fand Kromnagel, schwer haltbar. Zumal er der Polizei ja bereits von der unheimlichen Begegnung erzählt hatte. Immer mehr fühlte sich Kromnagel mächtig auf den Arm genommen. Aber die Sache war ja wohl kein blöder Scherz?

„Winni!“ Anabell wurde langsam ungeduldig im Wohnzimmer. Tristan hatte mittlerweile schon seine zweite Portion eingefordert. Dabei war die Ente längst kalt und der Reis etwas pappig. Der Kater verschlang trotzdem alles restlos, das man für ihn bereitgestellt hatte, solange nur ausreichend süß-saure Soße darauf war.

„Jaja.“ Kromnagel kam zurück ins Wohnzimmer geschlurft. Der alte Sessel knarrte, als er darin niedersank. Appetit wollte sich nicht wirklich einstellen, auch nicht bei dem Anblick des Essens. Anabell hatte die Teller schon befüllt und griff nun zum Besteck. Sie sagte: „Also, wenn du nichts essen willst, dann versteh ich das ja. Aber ich muss jetzt was essen, mir ist schon ganz schlecht vor Hunger.“

Als Kromnagel ihr einen schnellen Blick zuwarf, erschien sie ihm plötzlich ungewöhnlich blass. Ihre Augen hatten nicht die übliche Leuchtkraft, sie wirkte irgendwie krank auf ihn. Die Wangen, welche bei ihrer Ankunft in gesunder Röte gestrahlt hatten, schimmerten mit einem Mal eher gräulich. Allerdings vertraute er darauf, dass sie ihm mitteilen würde, wenn es ihr nicht gut ging. Vielleicht hatte sie nur einfach schlecht geschlafen in letzter Zeit. Es gab ja solche Phasen.

Kromnagel brummte: „Nur zu.“ Er selbst bohrte unsinnig seine Gabel in den Reis und stierte nachdenklich auf die Tischplatte. Anabell wollte wissen: „Wer hat denn gerade angerufen? Du warst ja ziemlich schockiert. So hat es zumindest ausgesehen.“

Erschrocken blickte Kromnagel auf, wog mögliche Antworten und deren Glaubwürdigkeit ab, dann behauptete er rasch: „Es, es war nochmal die Polizei. Ich soll morgen auf das Präsidium kommen, für das Protokoll. Dabei weiß ich jetzt schon gar nicht mehr, was genau passiert ist. Wie auch immer ich das morgen noch geordnet erzählen soll. Keine Ahnung, warum sie das heute nicht abgehakt haben. Ich, ich sehe nur immer, wenn mich jemand darauf anspricht, diese tote junge Frau. Es ist schrecklich. Mehr ist nicht hängen geblieben.“

„Hast du denn mit einem Psychologen gesprochen?“, erkundigte sich Anabell und erntete von Kromnagel ein wüstes: „Unsinn! Was soll das schon bringen? Ich muss schließlich allein damit fertig werden. Jemandem zu erzählen, wie ich mich gefühlt habe, als ich die Leiche sah, ist doch Quatsch. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich etwas gesehen, das so schrecklich war. Ich weiß, dass mir übel wurde. Ich weiß, dass ich mich übergeben musste. Und dass ich fürchterlich erschrocken war, als sie einfach so dalag. Plötzlich, als ich den Schirm hochhob. Und das war alles nicht so bei dem...“

Er stockte und riss die Augen auf. Das Kaninchen war ihm wieder eingefallen. Dieses kleine tote Tier. „Das kann kein Zufall sein“, murmelte Kromnagel und Anabell fragte: „Was? Was hast du gesagt?“

„Nichts.“ Kromnagel nahm nun doch einen Bissen, dann zwei. Beim langsamen, gründlichen Kauen dachte er angestrengt an das Kaninchen und die tote Frau. „Sie beide“, dachte er, „sie beide findest du an einem Tag. Kurz hintereinander. Aber was soll so ein toter Hase mit einem toten Menschen zu tun haben? Kann ein Mensch einen Grund haben, ein Kaninchen zu töten? Erst das Tier, dann den Menschen? Ein herrenloses Wildkaninchen, das friedlich auf dem Friedhof unter seinen Artgenossen lebt?“

Nun bemerkte Kromnagel Anabells Blick, mit dem sie ihn beobachtete. „Woran denkst du?“, fragte sie. Dem Lyriker fehlten die Ideen. Er hätte etwas erfinden müssen, aber er wusste nichts. Er dachte nur an das Kaninchen. Somit musste er das einzige sagen, das sein Kopf enthielt: „Ich, ich denke an Kaninchen.“

Anaball gluckste vor Freude und rief: „An Kaninchen? Wie kommst du denn nun plötzlich darauf? Du hast dich doch nie für andere Tiere als für deine Katzen interessiert?“ Tristan hob den Kopf, als das Wort Katze fiel. Er hatte sich wieder auf dem Sofa eingerollt und war hochzufrieden weggedöst. Trotzdem bekam er immer mit, wenn von ihm die Rede war.

Kromnagel bemühte sich nun um einen unbeschwerten Ton, um von dem risikoreichen Thema des frühmorgendlichen Leichenfunds abzulenken: „Es ist so, dass ich überlege, ob Tristan und ich uns auf unsere alten Tage ein Kaninchen anschaffen sollten. Ich mag sie jetzt recht gern, diese kleinen Tierchen mit den lustigen Ohren. Irgendwie sind die immer gut drauf.“

Anabell staunte. Sie hakte nach: „Aber wie kommst du denn dazu? Hast du irgendwo eins gesehen, das dir gefiel? Im Zoogeschäft?“

Kromnagel schüttelte den Kopf und stellte klar: „Ich sehe nur die ganzen Häschen im Park. Weißt du, natürlich besonders im Sommer. Aber im Winter kriegt man auch welche zu Gesicht. Und wenn dann die ganzen Kleinen rauskommen, ist das schon toll. Auf dem Friedhof gibt es ja auch Massen. Jedes Mal, wenn man um eine Ecke biegt, sieht man eins. Oder gleich mehrere.“

Kromnagel glaubte sich damit gut aus der Affäre gezogen zu haben und erzählte Anabell so viel über die Kaninchen, die er ständig sah, kam dann zu den Eichhörnchen und schließlich zu Hunden, dass Anabell sich zu langweilen begann. Ihr ging wohl auf, dass Kromnagel, der ansonsten Katzen über alles stellte, in diesem Moment ablenken wollte. Er wollte von etwas ablenken, über das er auf keinen Fall reden wollte. Und Anabell akzeptierte das. Sie vermutete, dass er erst selbst mit sich die Sache mit der Leiche ausführlich bereden musste, bevor er sie, Anabell, in seine Gedanken und Gefühle einweihen konnte. Denn Kromnagel war ein Mensch, der viel mit sich selbst und wenig mit anderen sprach. Zumindest behauptete das Anabells Mutter, die sich unter anderem aus diesem Grund von dem merkwürdigen Dichter getrennt hatte. Sie meinte, dass sie an ihn nie hätte herankommen können. Nicht einmal über seine Lyrik.

Bei Kromnagel musste man immer das Gefühl haben, dass dieser Mann etwas verbarg. Anabell selbst störte sich nicht daran, denn sie wusste, dass es sich bei Kromnagel um nichts Schlimmes handeln konnte. Er verbarg lediglich sich selbst vor den Blicken der anderen. Sein gutes Recht, fand sie. Auch in seinen Gedichten entblößte er sich niemals vollständig. Und Anabell glaubte, dass zu einem guten Dichter, für den sie Kromnagel hielt, auch ein bisschen Geheimnis gehörte.

Als Anabell ging, atmete Kromnagel hörbar auf. Er lud sie ein, in ein paar Tagen noch einmal zu kommen, wenn er sich etwas beruhigt hatte. „Es ist alles noch so frisch. Tut mir leid, wenn ich heute Abend nicht so lustig war.“

Anabell umarmte ihn fest. „Es macht nichts, Winni. Wirklich nicht. Mach dir keine Gedanken darüber. Ich ruf an, wenn ich zwischendurch Zeit habe, damit ich hören kann, wie es dir geht. Und du kannst dich natürlich auch melden, wenn was sein sollte. Wenn du einen zum Reden brauchst oder so.“

Kromnagel schloss die Tür hinter ihr, lehnte sich dagegen, sackte langsam an dem dunklen Holz herunter, bis er auf dem Boden saß.

Vor ihm zeigten sich kleine Pfützen, die Anabells nasser Regenschirm hinterlassen hatte. Kromnagel dachte an seinen Regenschirm, der noch irgendwo auf dem Friedhof liegen musste. Wenn die Spurensicherung ihn nicht einkassiert hatte. Er nahm sich vor, Mehring zu fragen, ob er ihn zurückkriegen könnte. Es war immerhin sein einziger Regenschirm. Ohne ihn konnte er im Grunde gar nicht nach draußen bei dem schrecklichen Wetter. Ein Blick aus dem Fenster, wo die Sonne untergegangen war, bestätigte seine Vermutung, dass es noch immer in Strömen goss. „Was für ein Wahnsinn“, dachte Kromnagel. Er meinte damit sowohl das Wetter als auch den Fall, in den er ohne sein Zutun verstrickt worden war.

Der Dichter und der Tod

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