Читать книгу Lysias - Jochen Fornasier - Страница 14
Das erste Aufeinandertreffen, Pantikapaion, April 439 v. Chr.
ОглавлениеAls Lysias den Andron betrat, war er von der dargebotenen Extravaganz dieses Salons, der durch unzählige Leuchter zwar sehr hell, aber doch äußerst angenehm erleuchtet wurde, überwältigt. Hatte er den Andron im Haus des Perikles bereits als prunkvoll bezeichnet, so musste er nun zugeben, dass es durchaus noch eine Steigerung gab. Und was für eine! Zunächst war der Raum so groß, dass mindestens zwanzig Personen bequem darin Platz finden konnten. Das obligatorische Fußbodenmosaik im Zentrum zeigte eine Amazonenschlacht mit einer Detailverliebtheit, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er schwor sich, dass er sich diese prachtvolle Darstellung am nächsten Tag auf jeden Fall nochmals anschauen würde, wenn er allein war, und nicht alle naselang jemand achtlos darüber hinwegschritt. Furchtlose Kämpferinnen drangen auf ihre griechischen Gegner ein, und es war für Lysias zumindest unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht auf Anhieb erkennbar, wer in dieser gewaltigen Auseinandersetzung eigentlich die Oberhand gewinnen sollte.
An den Wänden hingen große Wandteppiche mit weiteren griechischen Sagenthemen, vereinzelt aber auch mit äußerst seltsamen Tierdarstellungen, die ihm in dieser Form völlig unbekannt waren. Da gab es löwenähnliche Kreaturen, deren Körper in sich verdreht waren und die ein hohes Maß an Abstraktionsfähigkeit des Betrachters voraussetzten. Schlangen, Fische, Fabelwesen und halbmenschliche Ungeheuer waren vereint in einer Szenerie, deren Sinn Lysias vollständig verschlossen blieb. Im Andron selbst standen rund an den Wänden Klinen, auf denen sich die zahlreich anwesenden Gäste räkelten und lautstark miteinander unterhielten. Auf manch einer Kline saßen oder lagen weitere Hetären gemeinsam mit den Männern, die sie mit all ihren Reizen verwöhnten.
Und da erblickte Lysias endlich auch Mike, auf einem der Klinen im Zentrum der hinteren Wand sitzend und sich lachend mit dem neben ihr liegenden Mann unterhaltend. Wieder schlug sein Herz für einen Moment lang schneller, als er sie mit starren Blick betrachtete, und er verspürte merkwürdigerweise zugleich einen leichten Stich, den man durchaus als kleinen Anflug von Eifersucht hätte interpretieren können. Was natürlich vollkommener Unsinn war und nur an dem ungewohnt starken Wein liegen musste.
„Sieh, Spartokos, da ist ja Lysias, der Gastfreund aus dem fernen Athen, von dem ich gerade erzählt habe“, rief Mike auf einmal unvermittelt und mit einem herzlichen Lachen in der Stimme. „Er ist kaum in unserer schönen Stadt angekommen, da wäre er auch schon beinahe unter den Hufen dieser skythischen Barbaren zertrampelt worden. Ein Glück, dass ich ihn noch retten konnte!“
Mit der Geschwindigkeit einer Flutwelle nach einem Seebeben stieg Lysias die Schamesröte ins Gesicht, und er wurde sich der unangenehmen Tatsache bewusst, dass er mit einem Mal im Zentrum der gesamten Aufmerksamkeit stand. Was sollte er denn nur jetzt machen? Völlig unbeholfen griff er zu einer neuen Weinschale, die ihm ein Diener zusammen mit einer kleinen Schale voller Oliven reichte, und dachte angestrengt über eine sinnvolle Erwiderung nach.
„Was kann einem Mann denn Besseres passieren, als von einer Tochter der Göttin Aphrodite selbst gerettet zu werden?“, brachte er mit einem gezwungenen Lächeln hervor. Es war vielleicht nicht die intelligenteste Antwort, die man in so einer Situation hätte geben können, doch sie erfüllte zumindest ihren Zweck. Überall war Gelächter zu hören, man schalt ihn freundschaftlich einen unverbesserlichen Charmeur, klopfte ihm auf die Schulter oder schüttelte weise den Kopf und beschäftigte sich dann wieder mit seinen eigenen Dingen. So schnell der Ausruf Mikes auch die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf ihn gelenkt hatte, jemand Neues in der Runde war ja sowieso einen Blick wert, so schnell verflog das allgemeine Interesse an seiner Person wieder.
Nur zwei Personen fokussierten ihn weiterhin sehr eindringlich: die eine leicht ungläubig, die andere demgegenüber feindselig. Mike versuchte in seinem Gesicht zu lesen, ob das, was er da gerade über sie gesagt hatte, dem entsprach, was er wirklich dachte. Lysias bemerkte sogar aus dem Augenwinkel, dass sie ihn plötzlich und mit unverhohlenem Interesse intensiv musterte. Dies beschäftigte ihn so sehr, dass ihm der Blick der anderen Person direkt neben ihr entging, ein Umstand, der sich im weiteren Verlauf des Abends noch als Fehler herausstellen sollte. Spartokos’ Augen blitzten wie eine polierte Speerspitze in der Mittagssonne, und trotz aller Zurückhaltung, die der junge Pantikapäer an den Tag zu legen versuchte, entglitten ihm für einen kurzen Moment die Gesichtszüge. Doch niemand bemerkte es.
„So so, aus dem fernen Athen kommst du zu uns hier an den Rand der griechischen Welt! Das ist eine große Ehre, über die wir uns natürlich sehr freuen.“
Spartokos nickte nahezu unmerklich seinem Nebenmann zu, der daraufhin sofort und kommentarlos von seiner Kline aufstand und an der rückwärtigen Wand Position bezog.
„Setz dich, athenischer Gastfreund. Hier ist zufällig gerade eine Liege frei geworden. Erzähl uns von deinen Abenteuern auf deiner großen Fahrt! Berichte uns von deiner Heimatstadt, die für uns aus der Provinz das große Vorbild ist.“
Lysias traute seinen Ohren nicht: zufällig eine Kline frei geworden, Vorbild für uns Provinzler? Was glaubte dieser Wichtigtuer denn, mit was für einem Trottel er es hier zu tun hatte? Glaubte dieser Spartokos ernsthaft, dass ihm der stumme Befehl an seinen Gefährten, die Kline zu räumen, entgangen war? War dieser Satyr wirklich der Meinung, dass er, Lysias, den beißenden Spott in seinen Worten nicht bemerkt hatte? In punkto Rhetorik musste Spartokos nochmals in die Lehre gehen, da war sich Lysias sicher, und er freute sich diebisch darauf, diesem Spartokos auf einem vermeintlich ungefährlichen Themengebiet ein wenig Paroli bieten zu können. Doch der schwere Wein machte in unvorsichtig, lähmte seine ansonsten schnelle Auffassungsgabe beträchtlich. Wenn er doch nur wüsste, wo er diesen Namen schon einmal gehört hatte. Es wollte ihm einfach nicht mehr einfallen.
Lysias nickte Spartokos dankend zu, ging zu der freien Kline, setzte sich hin und nahm einen großen Schluck Wein, bevor er das Wort an seinen Gesprächspartner richtete: „Ich danke dir herzlich für die Einladung, mein Freund. Da du ja bereits weißt, wer ich bin, gestatte mir doch nun zunächst die Frage, mit wem ich die Ehre habe, das Symposion zu begehen. Ich kenne ja bislang nur deinen Namen, Spartokos, da ihn diese zauberhafte Nymphe in deiner Begleitung vor wenigen Minuten über ihre Lippen hauchte.“
Ein weiteres Mal bedachte Mike ihn mit einem durchdringenden Blick, leicht irritiert, leicht amüsiert, doch sie kam zu keiner Erwiderung, da Spartokos sich in diesem Moment ebenfalls aufrichtete und nun seinerseits das Wort ergriff.
„Selbstverständlich verrate ich dir, wer ich bin, Lysias. Verzeih meine Unaufmerksamkeit“, sagte er mit messerscharfer Stimme, „Ich heiße tatsächlich Spartokos, ein Name, den du dir unbedingt merken solltest, sofern du tatsächlich an Handelsabkommen mit unserer schönen Stadt interessiert bist.“
Spartokos wechselte einen kurzen Blick mit einigen der sie umgebenden Gäste, und Lysias bemerkte, dass mindestens drei der Anwesenden zu seinen engsten Vertrauten gehören mussten, da sie wohlwollend nickten. Die übrigen Personen schienen demgegenüber eher distanziert auf diese vor Selbstüberzeugung nur so strotzende Bemerkung zu reagieren, was Lysias dazu animierte, den Finger genau auf diese vermeintliche Wunde zu legen. Imponiergehabe, übersteigerter Weinkonsum oder was auch immer ihn dazu trieb, das Fest mit einem schönen Wortstreit ausklingen zu lassen – aber wenn ein Gesprächspartner ihm schon so eine Steilvorlage offenbarte, dann musste er seine Chance doch einfach nutzen.
„Gern werde ich mir deinen Namen merken, lieber Spartokos. Doch sag mir bitte, welche Funktion du in der hiesigen Verwaltung ausübst“, erwiderte Lysias und bemerkte voller Freude, dass er Spartokos mit dieser Frage offenbar brüskiert hatte. Nun galt es, das gerade erst entfachte Feuer zu schüren, damit es nicht sofort wieder ausging.
„Ich hatte vorhin das große Vergnügen, mit Sanon zu sprechen, der mir seinerseits deutlich zu verstehen gab, dass er der erste Ansprechpartner für ein derartiges Anliegen sei. Gehörst du etwa zu seinen engeren Mitarbeitern?“ Entspannt lehnte sich Lysias auf seiner Kline zurück und lächelte Spartokos und Mike gleichermaßen an.
Diese Provokation war eine maßgeschneiderte Kriegserklärung in dem nun beginnenden Wortgefecht, und Lysias sah zufrieden dabei zu, wie sein Gegenüber sich zum Wettkampf rüstete, indem er sich nun kerzengrade aufsetzte und ihn mit den Augen durchbohrte. Auch die übrigen Anwesenden im Andron spürten förmlich, dass sich zum Ende dieses grandiosen Festes offenbar noch ein kleiner Höhepunkt anbahnen sollte. Sie senkten ihre Stimmen und versuchten, einerseits die eigene Konversation höflich weiterzuführen, und andererseits bloß nichts von dem Gespräch zwischen Lysias und Spartokos zu verpassen. Da aber alle Anwesenden so reagierten, gelang ihnen dieses schwierige Kunststück ausgesprochen gut.