Читать книгу Jochen Kleppers Roman "Der Vater" über den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I - Teil 2 - Jochen Klepper - Страница 6
Teil zwei beginnt hier: Die aufgehende Sonne
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Denn wer weiß,
was der für ein Mensch werden wird nach dem König,
den sie schon bereitgemacht haben?
Denn wer weiß, ob er weise oder toll sein wird?
Und soll doch herrschen in aller meiner Arbeit,
die ich weislich getan habe unter der Sonne.
Die Bibel
Der König hielt den kleinen Sohn auf den Knien. Das Mahl war beendet. Er hatte das Prinzlein einfach von dem Nachbarstuhl zu sich herübergehoben. Sein Hulla pflegte nämlich bei jeder Mahlzeit zur Linken des Vaters zu sitzen. Dieser Platz kam zwar dem Kronprinzen zu, und es gab viel Gerede über solch willkürliche Abänderung des Zeremoniells – aber Majestät ließ sich nun einmal nicht irremachen. Das Bürschlein August Wilhelm schwatzte gar zu süß. König Friedrich Wilhelm wollte sich in keinem Falle darum bringen lassen, ihm zu lauschen. Unterhaltungen mit dem großen Sohn waren während der Tafel nicht das Rechte.
Links Fritz, rechts die ältere Schwester Wilhelmine
Fritz war auch hier unablässig von der Vorbereitung auf das Amt des Königs von Preußen in Anspruch genommen. Hofmeister und Gouverneur saßen dem Thronfolger zur Seite. Der Hofmeister und der militärische Erzieher bewachten jedes Wort und die geringste Geste mit Güte, Strenge und Gerechtigkeit; denn solche Erzieher hatte der König seinem Nachfolger gegeben. Der blutjunge Major Friedrich von Hohenzollern war blass und schien ein wenig überanstrengt. Ernst und freundlich sah der Vater zu dem großen Sohn hinüber, während er, ein wenig gedankenlos, mit Friedrichs Brüderchen spielte.
„Kleiner Wicht, ich soll dir schon wieder erzählen? Ich muss doch aufs Pferd, muss nach den Bauten sehen! Ach, was nicht gar, schon wieder die dumme Geschichte, wie du in Berlin ankamst? Die ist doch schon abscheulich langweilig, närrischer Tropf! Hundert Kanonenschüsse haben den Papa zu Tode erschreckt, gerade als er in Potsdam zum ersten Mal in seinen neuen Garten ging. Was sollte der Papa da anders denken, als dass die Türken ihm Berlin zerschießen?! Aber wie er nun hinüberreitet mit dem großen Säbel –“, und nun fasste er das Bratenmesser, wischte es ungeniert an der Serviette ab und tat, als stäche er das Bürschlein in den Bauch – „da ist nur ein kleines, rosiges Ferkelchen da. Und gleich machte der Papa sich ans Schlachten!“
So, nun wussten sie es beide: Jetzt ging die Geschichte nicht weiter; hier war sie unwiderruflich zu Ende, und Papa brach zu den Bauten auf. Und die ganze Tafelrunde wusste es auch; und die Königin erhob sich nahezu befreit.
Sophie Dorothea
Sie liebte diese derbe kleine Komödie zum Dessert nicht sonderlich. Mitunter kam dann das Gespräch auf die Tage der Geburt ihrer Kinder überhaupt, und die entfernteste Anspielung auf die Geburt Anna Amaliens bereitete der Königin unsagbare Pein, obwohl nun schon an drei Jahre darüber hingegangen waren.
Die Königin hatte sich die fünfte Tochter nicht gewünscht. Damals, als sie nach der schweren Krankheit des Königs, die ihr die Einsetzung zur Regentin verhieß, nicht den ersehnten zweiten Sohn, sondern Luise Ulrike geboren hatte, war sie angesichts des bitteren Sohnessterbens ihrer vielen Töchter müde geworden. Den Sohn, den zweiten Sohn, begehrte sie, ihre machtvolle Stellung zu erhalten, zu befestigen.
Zwei Jahre später kündeten die hundert Böller dem Gatten in den Gärten Potsdams diesen zweiten Sohn. Von nun an verlangte Sophie Dorotheens Herz nach keinem Kinde mehr. Die hohe Pflicht am Hause Brandenburg war ganz erfüllt. Der toten Söhne ward nicht mehr gedacht. Die Königin wollte reisen, viel in England weilen, Band und Bote zwischen den Thronen ihrer Häuser zu sein.
Noch ehe sie die ungeduldig herbeigewünschte Fahrt übers Meer nach Britannien antrat, ein halbes Jahr nach ihrer Niederkunft mit August Wilhelm, fühlte sich die Königin von neuem schwanger; aber sie hielt es geheim. Sie wollte den Glanz ihres Vaters und Bruders zu London erleben; endlich, endlich!
Königin Sophie Dorothea schwieg von ihrem Zustand wie aus Trotz. Die Englandreise kam zwar nicht mehr zustande. Aber die Königin bewahrte auch weiterhin ihr Geheimnis. So geschah das Unerklärliche, dass die zu frühe Stunde der Geburt kam, ohne dass auch nur die geringste Vorbereitung getroffen war. Der König war an diesem Abend, da er am nächsten Tage eine Reise vorhatte, zeitiger als sonst zu Bette gegangen. Die Kabinette des Königspaares lagen Tür an Tür. Der erste Schrei der Wehen rief den König an das Bett der Gattin; geängstet und fassungslos hatte er nur den Schlafrock übergeworfen. Wenigstens kam nun die Ramen, die allzeit wachsame Kammerfrau; wenigstens hatte er diese als Botin zur Hand.
„Eine furchtbare Kolik“, rief er ihr zu, „schnell zu meinem Leibarzt! Er soll Ihr, noch ehe er kommt, schon ein Mittel mitgeben! Holt die anderen Frauen her! Macht Servietten heiß für den Leib! Macht Feuer!“
Er war allein mit der Stöhnenden; sie vermochte nicht zu sprechen, und noch immer kam niemand zu Hilfe. Der König umfasste die Königin eng; er wollte sie ganz an sich reißen, als vermöchte er ihr dadurch ihre Schmerzen abzunehmen oder ihr einen Halt zu geben. Es waren nur wenige Schläge des Herzens, in denen er alles begriff. Er war allein mit seiner Frau, das neue Leben zu erringen. Seine reinen, starken schönen Hände hielten seiner Frau die neue Menschenmutter entgegen, und er spürte es in der Verwirrung dieser Stunde dennoch in feierlicher Klarheit, was es hieß, das neue Leben, von dem Blute aller Menschenqual befleckt, mit eigener Hand aus der Quelle des Lebens zu empfangen, die Leiden der Geburt sich türmen und still werden zu sehen, in den gewaltigsten Ausbruch des Lebens einsam einbezogen zu sein. Nicht, dass er die Gedanken einzeln dachte. Aber ihn ergriff die Tiefe und Gewalt des Bildes, welches Gott ihm wies. König und Königin in ihrem Schloss waren in der nächtlichen Stunde der Niederkunft allein, wie Maria und Joseph im Stalle zu Bethlehem es waren. Die Hände des Königs waren noch von ferne überschattet von dem Wunder, das an Joseph geschah. Sie trugen in der Einsamkeit der Nacht das Leben ans Licht.
Dann freilich schwieg die Stille, das Wunder, die Andacht. Die Kammerfrauen in den langen, derben Hemden, Tücher und Röcke lose umgebunden, lärmten ins Zimmer. Der König schrie es ihnen gleich entgegen: „Einen Zuber zum Bade für das Kind! Leinentücher für die Königin! Die Schmerzen brauchen kein Mittel mehr, Herr Leibarzt!“
Der Ramen drückte er das Kind in die Arme: „Nicht wahr, das Gewicht ist doch gut? Ihr Frauen, glotzt doch nicht so dumm! Ein Kind ist da! Macht doch ein Körbchen mit Kissen zurecht!“
Schließlich musste der Vater in der Kammer der Wöchnerin noch ganz unbändig lachen, wie sie alle – er, des Landes Preußen Majestät, und die Kammerfrauen – im Hemd wie aufgescheucht ums Wochenbett tobten. Was anders auch als Lachen hätte die Wucht solcher Erschütterung überwunden –. Aber das vergaß er nicht: „Schickt zur Wache, dass sie den Prinzessinnensalut abfeuern!“
Es waren jene ärmlichen drei Salven, mit denen Königstöchter sich begnügen mussten. Dem König wären hundert Böller nicht genug gewesen. Die Königin stand nach wenigen Tagen wieder auf, blühender und schlanker denn je. Ihr zwölftes Kind schien sie mit neuer Schönheit zu beschenken, ihre Kraft und Gesundheit ans Rätselhafte zu grenzen. Sie verlangte zu reisen. Der König hat es ihr als Dank gewährt. Die Gründe verstand er noch nicht.
Die Gattin schämte sich der gar so absonderlichen Niederkunft. Sie vermied es, den Gemahl zu sehen. Sie begehrte, das durch ihre Schwangerschaften immer wieder aufgehaltene Werk, die Throne ihrer Häuser zu verbinden, endlich entscheidend durchzuführen. Sie wollte mit eigenen Ohren das Ja ihres Vaters zu ihrem ureigensten Plane vernehmen, dass ihre und ihres Bruders Kinder die Kronenträger dieses Erdteils werden sollten – die ältesten Söhne durch das gewaltige Gesetz des Erbes, die Töchter durch königliche Ehen, die weiteren Söhne, durch die verbündete Macht der beiden Häuser und ihrer Länder, auf den fremden Thronen Europas. Denn an umstrittenen Rechten war kein Mangel... Der Gatte ließ nur den einen, den ältesten Sohn zum König erziehen. Den anderen Kindern war er Vater, wie ein reicher Bürger Vaterpflichten erfüllt. Voller Ehrgeiz, Scham und Ungeduld reiste die Königin von Preußen zum König von England, der um diese Zeit auf seinem Jagdschloss Göhrde bei Hannover eintraf.
Die Art, in der sie reisen musste, erfüllte sie mit Bitterkeit; denn nur eine kleine Suite war ihr bewilligt: zur Oberhofmeisterin noch eine Gesellschaftsdame, zwei Kammerfräulein und zwei Kammerfrauen, zwei Kammerdiener, drei Pagen, sechs Lakaien. Wie sollte sie damit vor dem britischen Gefolge ihres Vaters bestehen!
Dem König lag in den ersten Tagen der Abwesenheit Ihrer Majestät der Minister Grumbkow damit in den Ohren, es sei unbedingt erforderlich, dass Seine Majestät der allerhöchsten Gemahlin bald nachfolgten.
Er gab dem König vieles zu bedenken: die geheimgehaltene Schwangerschaft; den im vergangenen Jahre unablässig geäußerten Wunsch der Gattin, nach England gehen zu dürfen; ihre ständige Versunkenheit in Gedanken, die ihm verborgen blieben. Auch das fand unter Grumbkows Einflüsterungen nun Eingang in das Grübeln des Königs: dass Sophie Dorothea schöner und belebter schien, wie beschwingt von neuer Liebe.
Der Hofrat und Vorleser Professor Gundling konnte wieder einmal seine ganze Fertigkeit erweisen, den gedankenvollen Potentaten zu zerstreuen. Sie waren als die ersten in der Tabagie erschienen, und Gundling zählte dem Herrn die Fülle all der Werke auf, die der König seit seiner Genesung vollbrachte. Aber mit unwirscher Gebärde wehrte der König solche Schmeicheleien ab. Nur als Gundling diese Taten herrliche Zeichen eines neuen Lebens nannte, da horchte König Friedrich Wilhelm für einen Augenblick auf; denn genau so hatte kurz zuvor Madame Montbail von den drei jüngsten Kindern gesagt, mit denen ihn die Königin seit den Tagen von Havelberg beschenkte; und die alte Montbail sprach so mahnend, so betont, als ahne sie den Verdacht, mit dem der König sich quälte.
Gundling kam sich überaus wichtig vor, allein mit dem Gebieter in dem seltsam stillen Saal der Tabagie zu weilen. Es belebte ihn ganz ungeheuer, genau wie die Menge des Trankes, der heute für ihn als einzigen Gast in steinernen, gekühlten Krügen bereitstand; es war eine Stunde, von neuem in seinen historischen Parallelen zu glänzen.
Von Frauen zu sprechen, ah, das schien vor ergrimmten Herren immer gut, und wäre es auch nur von hohen Frauen der Vergangenheit. Von Königinnen begann er zu berichten, die zu Zeiten schwerer Krankheit ihres Gatten in die Regentschaft vom Gemahl selbst eingesetzt wurden, als der die letzte Stunde gekommen glaubte. Von solchen Frauen weitvergangener Zeiten sprach der Historikus Gundling, und er erzählte König Friedrich Wilhelm, wie jene Herrscher, dem Tode schon nahe, von den Göttern ins Leben zurückgesandt wurden, um nun – nachdem sie die Gottheit fast von Angesicht zu Angesicht geschaut – noch Größeres denn zuvor zu vollbringen. Aber in den hohen Frauen, so sehr sie die Genesung des Gatten auch priesen, blieb eine allergeheimste Bitterkeit und Enttäuschung zurück. Sie, die in aller ihrer Glorie und Majestät doch immer nur im Schatten ihres mächtigen Gemahls verharren mussten, hatten sich für einen Augenblick dem Thron und der Krone endlich in Wahrheit nahe gedünkt. Alle Gewalt und Pracht sollte ihrer sein. Aber nun lebte der Gemahl, schuf in Kindern und in Taten herrliche Zeichen seines neuen Lebens – und der Traum der Königinnen versank und entschwand immer mehr. Den Verlust der Hoffnung auf die Macht aber vermochte manche von ihnen nicht mehr zu vergessen und begann am Hofe und im Reiche des Gemahls ihr eigenes Spiel mit dem zerflossenen und verwehten Traum.
Als Gundlings Phrasen und all sein Bramarbasieren zu diesem Punkt der Betrachtung gediehen waren, erhob sich König Friedrich Wilhelm und schenkte, wie es sonst die jüngeren Offiziere taten, dem schon halb Betrunkenen den größten Humpen mit dem schwersten Biere ein.
„Trinkt, dass es die Kehle ölt zum Plaudern!“ Das sagte der König. Doch wollte er nur den Narren, den Schwätzer, den unerbittlichen Weisen so umnebelt machen, dass am Morgen alles von ihm selbst vergessen wäre, was er vor seinem Herrn zu dieser Stunde ausgesprochen hatte.
Danach war König Friedrich Wilhelms Zorn verflogen. Er war durchaus wieder still. Sogar der Groll gegen Grumbkow verebbte. Es sollte an nichts mehr gerührt sein.
Und dennoch wollte das Gefühl der wachsendem Entfremdung nicht weichen.
Sophie Dorothea war ihm untreu geworden auf jene Weise, wie die Frauen weit vergangener Zeiten einen geheimen Verrat am genesenden Gatten und Herrscher begingen. Nicht eine neue Liebe hatte die kinderreiche Königin von Preußen schöner, jünger und beschwingter werden lassen. Die Kühnheit ihrer Entwürfe gab ihr neues Feuer.
Um diese Pläne der Gattin musste Friedrich Wilhelm wissen, als der Herr des Landes und ihr Mann. Er kam in der Nacht nach ihrer Rückkehr in ihr Zimmer und schlug den Vorhang ihres Bettes zurück. Er weckte sie und fragte. Da gab ihm die Gattin noch einmal die Möglichkeit beseligender, gütiger Täuschung. Sie sprach, ohne erschreckt und verwirrt zu sein, in der Stille der Nacht von ihrer heißen Sehnsucht, Band und Bote zwischen den Thronen der Hohenzollern und Welfen zu werden, Mutter gekrönter Söhne und Töchter, Ahnfrau ungezählter künftiger Könige und Königinnen.
Friedrich Wilhelm lächelte und lauschte. Ein weites Gefühl durchzog ihm das Herz. Er ahnte die Fruchtbarkeit der Kronen und glaubte das Wunder der Fügung zu erkennen. Seine Frau begehrte, ihrer beider Kinder zusammenzugeben mit den Kindern der einzigen, die er vor ihr liebte. Aus Abschied wurde Wiederkehr, aus Ende Anfang, das Leben wirkte ohne Ende immer wieder Leben. Es gab kein Nein, und alles wurde Ja und Amen –; Ja und Amen, das bedachte er sehr ernst. Denn immer wieder überfielen ihn die Gebete.
Die Wucht des Gedankens riss ihn nicht minder mit als die Weite des Gefühls: Mächte des Nordens, die Hüter evangelischen Glaubens verbanden sich in der Liebe der Kinder! Eine neue Zeit brach in dem neuen Geschlechte an! Die zwölfte Verbindung der Hohenzollern und Welfen sollte wahrlich dem Glockenschlage einer vollen Stunde gleichen, mit der ein denkwürdiges Zeitalter anhob der Gemeinsamkeit des Blutes, der Macht, der Würde und des Glaubens! Der König träumte mit der Königin den gleichen Traum und glaubte an die Fruchtbarkeit der Kronen ihrer Geschlechter.
* * *
König Georg I. von Hannover – 1660 – 1727
Der König von England weilte wieder in seinen deutschem Landen. Seit er gemeldet war, hatte es der Königin von Preußen keine Ruhe gelassen, sich auch diesmal in die hannoverische Heimat aufzumachen; denn in den drei Jahren seit Anna Amaliens Geburt waren ihre Pläne der Verwirklichung nicht um einen Schritt nähergekommen. Der König wendete nichts dagegen ein, dass die Gattin ihre Abwesenheit von vornherein auf einen Monat auszudehnen gedachte. Sie wollte mit ihrem Vater für die Zukunft ihrer Kinder wirken. Wie hätte er sie daran hindern mögen! Er wisse wohl, so sagte er der Gattin freundlich, dass die Hannoveraner jetzt eine so schöne Figur in der Welt spielten.
Herrenhausen – Hannover
Solange nun die Königin von Preußen bei dem König von England auf Herrenhausen zu Gaste war, stand Prinzessin Wilhelmine bei ihrem Vater in besonderer Gunst. Er empfand mit einer gewissen Behaglichkeit den großen Reiz, eine Tochter zu besitzen, die bereits sehr annehmbar zu repräsentieren verstand. Wilhelmine gab sich auch die größte Mühe, getreu dem Gebot der Mama, den Vater von ihrer außerordentlichen Eignung, Königin von England zu werden, zu überzeugen. Der König ahnte nichts davon, dass seine beiden ältesten Kinder durch ihre Mutter längst in alle Geheimnisse eingeweiht waren, die er für seine und seiner Frau ureigenste Angelegenheit hielt. Wo Wilhelmine ihm die künftige Herzogin von Gloucester, Prinzessin von Wales und Königin von England demonstrierte, vermerkte er es dankbar und erfreut als liebevolle Aufmerksamkeit, die lediglich ihm selbst galt. Er fand seine älteste Tochter in jeder Weise reizend. Dabei war sie, namentlich der etwas spitzen Nase wegen, nicht eigentlich hübsch. Obwohl ihre Haare allmählich von Blond zu braun gedunkelt waren und das Blau der Augensterne sich von Jahr zu Jahr vertiefte, war sie der Mutter nicht ähnlich geworden und nach des Vaters Meinung keinesfalls eine zweite Sophie Dorothea.
Aber klug, verteufelt klug sah seine Tochter aus; König Friedrich Wilhelm stellte es mit Achtung fest. Während der Nachmittagsstunden plauderte er trotz aller seiner Arbeit immer wieder mit ihr, und am Abend speiste er regelmäßig auf ihrem Zimmer; er bezeigte ihr wiederholt ganz außerordentliches Vertrauen und unterhielt sich mit ihr sogar von Geschäften, denn Friedrich war unentwegt durch die Gouverneure beschäftigt, und jede Stunde seines Tages war fest eingeteilt. Um sechs Uhr wurde er geweckt. „Der Prinz“, so hieß es in der väterlichen Instruktion, „darf sich im Bett nicht nochmals umwenden. Er muss hurtig und sogleich aufstehen, alsdann niederknien, sein Morgengebet sprechen, sich dann geschwinde ankleiden, Gesicht und Hände waschen, aber nicht mit Seife, seinen Frisiermantel anlegen und sich frisieren lassen, aber ohne Puder. Während des Frisierens soll er Tee und Frühstück einnehmen. Um halb sieben Uhr tritt der Lehrer und die Dienerschaft ein zur Verlesung des großen Gebetes und eines Kapitels aus der Bibel, Gesang eines Kirchenliedes. Von sieben bis dreiviertel elf Uhr folgt der Unterricht. Darauf wäscht der Prinz sich geschwinde Gesicht und Hände, nur diese mit Seife, lässt sich pudern, zieht seinen Rock an und geht zum König, bei dem er von elf bis zwei Uhr bleibt. Dann nehmen die Stunden ihren Fortgang bis fünf Uhr –.“
Da fand der König es schön, eine erwachsene Tochter im Hause zu haben, und konnte es vor lauter Stolz und Freude mit einem Male gar nicht mehr erwarten, sie schon als große Dame zu behandeln. Wilhelmine sollte Appartement halten; er verlangte vom Hof, dass man der Prinzessin nahezu allen sonst der Königin schuldigen Respekt erwies. Die Hofmeisterinnen der kleinen Schwestern wurden angewiesen, ihr täglich Bericht abzustatten und keine Entscheidung ohne ihren Willen zu treffen. Der König gab seiner Tochter zum ersten Mal in seinem Hause Pflichten und Rechte. Der Vater entdeckte sein ältestes Kind. Die Prinzessin aber strebte in aller Aufmerksamkeit für ihn gerade von ihm weg. Herrlich schienen sich die Weissagungen zu erfüllen, die einst bei ihrer Taufe von bestellten Dichtern des Hofes aller Welt verkündet worden waren, damals, als drei Könige, der heiligen Geschichte vergleichbar, ihre Gaben an der Wiege der Prinzessin niederlegten.
Keine Mutter hat wohl ihren Kindern schönere Märchen erzählt als Königin Sophie Dorothea von Preußen. Denn auch Friedrich beschrieb sie die Wallfahrt der Königstöchter Europas zu seinem Throne des langen und breiten, und alle Welt war überstrahlt vom welfischen Glanz. Es war erstaunlich, wie die Königin an Märchen glaubte, seit ihr der Traum von der eigenen Regentschaft zerrann, der Traum, dessen Beglückungen sie sich niemals eingestanden hatte –; denn sie war um die Gesundheit ihres Gatten pflichtgemäß besorgt.
Manchmal, wenn Wilhelmine jetzt den Vater aufs gewandteste unterhielt, malte sie sich heimlich dabei aus, wie sie ihm dereinst als eine große Königin gegenübersitzen würde. Dummerweise fragte Papa sie gerade in solch glücklichem Augenblick einmal nach einem ganz abscheulichen blauen Fleck, den die Spitzen ihrer Ärmel und die sorgsam hochgeschobenen Armreifen doch nur höchst unzulänglich verdeckten. Dadurch stellte sich heraus, dass die künftige Königin von England von ihrer reizenden Erzieherin Léti mit Genehmigung der Mutter geknufft, gezwickt, geschlagen werden durfte, sobald sie etwas tat, das dem dereinstigen britischen Ruhm im Voraus auch nur im geringsten schaden konnte.
Prinzessin Wilhelmine
Siehe auch ihre Memoiren in Band 140e in dieser gelben Buchreihe!
Der König saß wie versteinert. Gerade weil er sah, dass Wilhelmine nicht übertrieb, sondern sich ängstlich bemühte, ihre Tränen zu unterdrücken, wurden ihm die Umstände doppelt verdächtig. Über das Verhalten der Gattin verlor er vor der Tochter kein Wort. Als er sich von Tische erhob, umarmte er sie, nannte sie ein armes, dummes Ding und redete ihr gut zu, die Mama werde schon wissen –.
Die Léti nahm er sich allein vor. Ein förmliches Zeugenverhör schloss sich an. Die Montbail beteuerte, unmöglich könne Ihre Majestät eine Ahnung gehabt haben. Dem König genügte die Feststellung, dass seine älteste Tochter in seinem Hause ohne sein Wissen ein jahrelanges Martyrium erduldet hatte. Die Léti ging. Die Tochter wurde krank. Etwas in den Phantasien der Mama musste doch ein böser Traum gewesen sein. Die Léti schrieb nach Hannover.
* * *
Die hübschen Abende, an denen der König sich bei seiner Tochter zu Gaste lud, waren nun sehr rasch vorüber, und sie fehlten ihm. Da fügte es sich gut, dass Minister von Grumbkow einen Plan verwirklichte, den er schon lange mit sich herumtrug. Er lud den König in sein Haus ein, mit dem Sohn, zu einem kleinen Herrenabend. Er fand den größten Beifall seines Herrn. Ja, der König schien dem Ereignis des ersten gemeinsamen Ausganges mit seinem Sohne eine gewisse Feierlichkeit beizumessen.
In der Runde seiner Generale und Minister richtete der Herr den Blick fest auf den Sohn und meinte ziemlich unvermittelt und vor allem unverständlich bedeutungsvoll: „Ich möchte wohl wissen, was in diesem kleinen Kopf vorgeht. Ich weiß, dass er nicht so denkt wie ich. Es gibt Leute, die ihm andere Gesinnungen beibringen und ihn veranlassen, alles zu tadeln. Das sind Schufte.“
Er wiederholte das Wort.
„Fritz“, fuhr er dann fort, „denke an das, was ich dir sage. Halte immer eine gute und große Armee; du kannst keinen besseren Freund finden und dich ohne sie nicht behaupten. Unsere Nachbarn wünschen nichts mehr, als uns über den Haufen zu werfen; ich kenne ihre Absichten. Du wirst sie auch noch kennenlernen. Glaube mir. Folge dem Beispiel deines Vaters bei den Finanzen und der Armee. Tu noch mehr, wenn du König bist. Aber hüte dich, mich in allem nachzuahmen, was Diplomatie heißt, denn davon hab' ich nie etwas verstanden.“
Diese Worte begleitete der König mit leichten Schlägen auf die Wange des Prinzen, zärtlichen, kleinen Klapsen, die aber immer stärker wurden, bis sie zuletzt richtigen Ohrfeigen glichen. Herr von Grumbkow war völlig betroffen. Man hatte geglaubt, der König würde sich an diesem Abend bei dem ersten gemeinsamen Ausgang mit seinem Ältesten in einem so intimen Kreise sehr vertraulich geben, und nun arteten die ersten Worte, die er hier an seinen Jungen richtete, zu einer offiziellen Erklärung und Mahnung von höchster Eigentümlichkeit aus. Und nun gar die wunderlichen kleinen, erst zärtlichen, dann immer heftigeren Schläge für den Prinzen –? Die Schläge, die mehr Warnung und Abwehr als Zurechtweisung bedeuteten –? Der Vorgang war umso merkwürdiger, als der König noch niemals eines seiner Kinder auch nur angerührt hatte. Ja, wenn Fritz und August Wilhelm einmal ungebührlich Unfug trieben – seit geraumer Zeit war Friedrich allerdings schon viel zu überanstrengt für Allotria –, so führte der König selbst den Missetäter zu Mama hin, damit sie dem Delinquenten einen kleinen Klaps erteilte. Auch hatte er ausdrücklich befohlen, dass seinen Kindern niemals Furcht vor ihm eingeflößt werden dürfe, da die zwiefache Autorität eines Königs und gestrengen Vaters zu bedrückend auf so junge Herzen wirken könnte.
In König Friedrich Wilhelm musste Seltsames vorgegangen sein.
Die Situation war überaus peinlich. Und nicht genug mit jenen rätselhaften Backenstreichen; der Herr vermehrte die Peinlichkeiten noch, denn plötzlich griff er nach den nächsten Tellern auf der Tafel und zerschlug sie, einen nach dem anderen. Auch ein Grumbkow mit all seiner Gewandtheit zeigte sich solcher Lage nicht gewachsen; er suchte sie durch einen Scherz zu retten, so kostspielig er auch war, stellte sich angeheitert und zerschmetterte munter sein ganzes Tafelservice, kostbare Höchster Fayencen, als hielten Väter und Söhne ein gewaltiges Zechgelage. Die Söhne freilich waren dafür etwas jung. Die übrigen Minister und Generale benahmen sich meist sehr ungeschickt.
„Nehmen Sie nur solche wahrhaft väterlichen und königlichen Worte recht zu Herzen, Königliche Hoheit.“ Worte dieser Art, verlegen und salbungsvoll, fielen. Der König überhörte sie. Er achtete der Sprecher nicht und kümmerte sich auch nicht um Fritz. Der stand leichenblass. Dann zog Grumbkow sich mit ihm in einen Nebenraum zurück. Der König und die ganze Schar von Grumbkows Gästen suchten die Spielzimmer auf. Auf der Schwelle blieb der König stehen. Es war, als hielte er die Herren alle an. Aus einem Gedankengang heraus, in den sich niemand finden konnte, sprach er zu den Generalen und Ministern: „Ihr kennt noch nicht, was in Fritzchen steckt. Ihr werdet es sehen, wenn er zur Regierung kommen wird.“
Seltsames musste in dem König vorgegangen sein.
* * *
Niemand konnte ahnen, was geschehen war.
Der König, nachdem er den Einblick in die geheimen Leiden seiner ältesten Tochter gewann, hatte sich auf eine völlig neue Weise um die Erziehung des Thronfolgers bekümmert. Einst hatte er ihr die Instruktion, nach der er selbst erzogen worden war, zugrunde gelegt, denn die stammte aus des großen Leibnitz Feder. Auch hatte er dem Sohn den Gouverneur aus seiner eigenen Kinderzeit, Graf Finckenstein, gegeben; denn der Plan und der Mann waren von dem König gut befunden. Nur dass er einige Abänderungen vornahm, wie die Erfahrungen seiner Königszeit sie ihm diktierten, und dass er dem „alten Heiligen“, Dohnas Nachfolger, noch Kalkstein und Duhan, einen preußischen Offizier und einen französischen Refugié, zur Seite gab; Duhan aber hatte er für dieses Amt vorgesehen, seit er ihm in den Laufgräben von Stralsund begegnet war, ihn kämpfen sah und nach dem Ringen eines Kriegstages mit ihm sprach.
Mit dem Knaben Friedrich Wilhelm waren – gegen den Willen der Erzieher Dohna und Finckenstein – Gala- und Parade-Examina vor König Friedrich veranstaltet und dem Prüfling Erfolge verschafft worden, die er nicht verdiente. Wählte man doch, die Lücken und Mängel zu verbergen, Formulierungen von solcher Vorsicht wie: „Seine Königliche Hoheit lernt schwer wie alle Geister, die viel Urteilskraft und Gründlichkeit zeigen!“
König Friedrich aber hatte, auf dem Throne sitzend, hochentzückt gelauscht und hielt die Prämien zur feierlichen Verteilung bereit.
Friedrich nun wurde an jedem Sonnabendmorgen über alles ausgefragt, was er in der Woche gelernt hatte. Wenn er „profitiert“ hatte, bekam er den Nachmittag frei; wenn nicht, so musste er von zwei bis sechs Uhr alles repetieren, was er vergessen hatte.
Jene Instruktion König Friedrichs I. für Friedrich Wilhelm dankte für den „Erben so vieler und großer herrlicher Lande“, den Erben, „mit dem Heil und Wohlfahrt so vieler Millionen Menschen verknüpft sind“. Sich selbst nannte er „Wir“, seinen Sohn und seine Gattin „Unseres vielgeliebten Sohnes und Unserer herzgeliebten Gemahlin Liebden“. Solchen Wortflitter entfernte König Friedrich Wilhelm. Da seine „Millionen Untertanen“ sich kaum auf zwei beliefen, nannte er sie nicht. Und weil seine Lande durchaus nicht so herrlich waren, strich er das Beiwort aus. Er schrieb „Ich“, „Meine Frau“, „Mein Sohn“. Lateinische Sentenzen sollte Friedrich nicht lernen. Gründe gab König Friedrich Wilhelm nicht an; und es hieß in seinen Randbemerkungen darüber: „Ich will auch nicht, dass mir einer davon sprechen soll.“ Er wollte, dass der Sohn in den Archiven arbeite, an den exakten Zeugnissen der wirklich erlebten Geschichte. Den Gouverneuren war aufgetragen, dem Sohn „die wahre Liebe zum Soldatenstand einzuprägen und ihm zu imprimieren, dass gleich wie nichts in der Welt, was einem jungen Prinzen Ruhm und Ehre zu geben vermag als der Degen, er vor der Welt ein verachteter Mensch sein würde, wenn er solchen nicht gleichfalls liebte und die einzige Glorie in demselben suchte“. Daneben sollte man aber auch „dahin sehen, dass er sowohl im Französischen als Teutschen eine elegante und kurze Schreibart sich angewöhne“. Vom Deutschen hatte König Friedrich I. überhaupt nicht gesprochen. König Friedrich Wilhelm aber setzte es nun an Stelle des ausgemerzten Lateins. Das Wort Eloquenz unterdrückte er. Es genügte ihm, wenn sein Sohn „alles deutlich und rein aussprechen“ lernte. Er strich eine feierliche Erörterung über das Dekorum aus, „welches ein Regierender Herr mehr als Einiger andere Mensch zu beobachten hat“, eben jenes „Mittel zwischen Majestät und Humanität“. Er sagte bloß: „Mein Sohn soll anständige Sitten und Gebärden wie auch einen guten und manierlichen, aber nicht pedantischen Umgang haben; er soll nicht menschenscheu sein, sondern die Leute, groß und klein, fein fragen; dadurch erfährt man alles und wird klug.“ Die Liebe aber, die er sich von seinem Sohne wünschte, hatte der König als brüderliche Liebe bezeichnet.
Plötzlich genügte dem König, wie in einer großen Sorge, das Bewusstsein nicht mehr, den Sohn dem verehrten eigenen Gouverneur und dem Gouverneur und seinen Helfern jene Instruktion, für die seine „Experienz“ sprach, übergeben zu haben.
Beinahe ängstlich, zum mindesten unruhig, begann er bei allen, die Prinz Friedrich näherstanden, Umfrage zu halten, als gelte es den eigenen Sohn zu entdecken; und als erwarte er davon ein gültiges Urteil, spürte König Friedrich Wilhelm selbst den privatesten Gesprächen, den zufälligen Bemerkungen nach. Friedrich lerne schwer und langsam, hieß es hier; Friedrich denke lange nach, bevor er eine Antwort gebe. Friedrich hänge eigenen Gedanken nach, wurde dort gesagt. Friedrich neige zur Abzehrung. Friedrich zeige Hang zur Schwermut. Der König erfuhr sogar von dem Schreiben eines fremden Diplomaten über seinen Jungen. Nun hatte er es schwarz auf weiß. „Ich meine“, stand in diesem Brief, „dass der Kronprinz überanstrengt wird. Ob ihn schon der König herzlich liebt, so fatiguiert er ihn mit Frühaufstehen und Strapazen den ganzen Tag dennoch dergestalt, dass der Prinz bei seinen jungen Jahren so ältlich und steif aussiehet, als ob er schon viele Kampagnen getan hätte.“
Gewiss, er hatte ihm nicht wenig zugemutet. Das wusste der König genau. Aber der wohlerwogene Lehrplan umschloss doch nur das Mindeste, Notwendigste, worin ein künftiger König von Preußen firm zu sein hatte?! Der König beriet sich mit Friedrichs Erziehern, den beiden brandenburgischen Offizieren und dem frommen Hugenotten. Klare Antwort wurde ihm auch von diesen Treuen nicht zuteil. Allmählich reimte sich der Herr zusammen, dass man die Gattin schonen wollte. Allmählich erkannte er, dass neben dem von ihm entworfenen Lehr- und Lebensplan ein völlig eigenes System einer anderen Erziehung bestand, ein heimliches System, das sich bewusst in Gegensatz zu allem stellte, was er für Friedrich erstrebte.
„Der Nachmittag soll für Fritzen sein“, hatte der Vater bestimmt. Den Nachmittag nahm sich Mama, um Friedrich zu einem würdigen Schwiegersohn des welfischen Hauses heranzubilden. Sie war entzückt, an ihren beiden ältesten Kindern eine wahre Leidenschaft für Musik zu entdecken. Der Kronprinz erhielt Sonderstunden in Klavier-, Violin- und Flötenspiel. Mama ließ ihren Ältesten in Latein unterrichten. Wie anders sollte er die Antike verstehen, die das Denken und Sinnen und jegliche Feinheit des Umgangs an den Höfen zu Paris und London bestimmte?! In ihr fand alle Große Welt die Vollendung des Gedankens und der Form, die Urbilder der Tugenden und Laster, den Ausdruck der Freuden und Schmerzen. Die Lebensregeln waren klassische Zitate. Der Neidische hieß Zoilos, der hässliche Thersites, der sieghafte Held Achill, der unglückliche Hektor.
Welche Verheißungen machte die Gattin dem Sohne, dass er ihr die Nachmittage gab, die nach des Königs Plan „für Fritzen“ sein sollten? Der König rief es, von all den Entdeckungen maßlos erregt, den Erziehern Friedrichs zu, als danke er ihnen die Schonung der Gattin nur wenig. „Sagen Sie ihm lieber“, sprach er, „dass er, gemessen an den Söhnen anderer Herrscher, den Dauphins, Infanten und Prinzen von Wales, der Thronfolger eines Bettelkönigs ist! Ich will nicht, dass mein Sohn behandelt wird wie der junge Ludwig XV., dessen geringste Taten und Gebärden die Zeitungen der Welt verkünden und den man gar „Das Kind Europas“ nennt. Ich will nicht solch schwächlichen Knaben, der durchaus nicht angestrengt werden soll und mag! Wir Brandenburger sind nicht Potentaten wie die Könige von England, Frankreich oder Spanien! Und wir gehören nicht der klassischen Geschichte an und haben mit den Kaisern oder Königen von Assyrien, Ägypten oder Rom nichts zu schaffen! Herodot und Tacitus kennen nicht die Namen von Pommern, Cleve, Magdeburg und Litauen!“
So ereiferte sich Herr Friedrich Wilhelm noch, als sein Wort vom Bettelkönig schon im Umlauf war. Die Königin aber reiste gerade heran, dem Bettellande neues Heil zu verkünden: Der Londoner Hof wollte die preußischen Königskinder zum mindesten besehen lassen! Der König von England gedachte Berlin zu besuchen!
Die Königin traf ein – Schicksalswalterin über den Thronen des nördlichen Europa, Kronenspenderin, Urmutter künftiger Dynastien – und fragte: „Wo sind meine Kinder?“
Der König hörte es, und zum ersten Male erlag er dem seligen gefahrenreichen Irrtum nicht. Auch wusste er wohl, dass Sophie Dorothea mit ihrer Frage nur die beiden Ältesten meinte.
Friedrich hatte er auf die Jagd geschickt; und Wilhelmine hatte Unterricht bei einer neuen Erzieherin, welche der König bestellte.
Die Königin wurde rücksichtslos. Der englischen Visite wegen sollte alles von unten nach oben gekehrt werden. Unausgesetzt mussten in ihren freien Stunden die beiden ältesten Kinder sich zu ihrer Verfügung halten. Völlig übersah die Königin jenes sanfte Fräulein von Sonsfeld, das der König ihr zur neuen Erzieherin der ältesten Prinzessin vorschlug. Die Léti hatte die Königin selbst in englische Dienste gebracht; denn sie fürchtete sehr, die Entlassene könne aus eigenen Stücken nach London gehen und über ihren einstigen Zögling Wilhelmine Übles aussagen. So begann es, dass die Königin sich für die verwendete, die der König zu entfernen genötigt war, und dass sie die vom König Gemaßregelten beschützte. Darüber hinaus war die Königin ganz ungemein belebt von dem Gedanken, eine eigene Beauftragte in London zu haben; ja es dünkte ihr geradezu unerlässlich, solange es verwehrt war, dass auch Königsfrauen eigene Gesandtschaften an fremden Höfen unterhielten.
Die Sonsfeld erschien ihr als eine steife Person mit einer schiefen Nase und einem schielenden Auge, die nicht bis drei zählen konnte. Die Königin brachte nicht die Geduld zu der Feststellung auf, dass das Fräulein von Sonsfeld die sanftesten braunen Augen besaß, deren Reiz durch einen leichten „Silberblick“ eher erhöht als gestört wurde. Die Königin wollte ebenso wenig die Anmut und Sicherheit in dem bescheidenen Auftreten des ländlichen Edelfräuleins anerkennen. Sie tat die Sonsfeld mit wenigen Worten ab. Es lohnte ihr nicht einmal, mit dem König über sie zu debattieren. Die Königin gedachte auch über eine Sonsfeld hinweg noch Möglichkeiten zu finden, ihre Älteste für England zu erziehen. Viel schwieriger war es, ihren Einfluss auf Friedrich zu behaupten. Sie befasste sich beharrlicher denn je mit ihm. Waren die Konzertpiecen geübt? Wusste er die klassischen Zitate, die sie ihm für die Unterhaltung mit dem Großvater auswählen ließ? Hatte er die neuen Moderomane gelesen, um gewandt darüber plaudern zu können? Waren die Schneider pünktlich mit der Lieferung von Friedrichs gestickten Röcken und Westen? Wie wirkten die drei großen Schleifen in der Taille? Waren endlich die grässlichen Stiefeletten verschwunden und trug er weiße Strümpfe und Schuhe? Hatte der Perückenmacher nun besseres Material beschafft? Kam der Tanzmeister jeden Nachmittag? Friedrichs Verbeugungen waren fürchterlich! Die Gouverneure des Kronprinzen ließen Ihrer Majestät würdig, höflich und fest zurückbestellen, was in ihrer Instruktion stand, auf die der König sie mit Ernst und Strenge aufs neue verwiesen hatte, seitdem Missdeutungen über ihre Auslegungsmöglichkeiten aufgetaucht waren: „Der Nachmittag soll für Fritzen sein.“
Die Königin durchschritt aufgeregt ihre Räume. Es rauschte um sie von knisternder Seide; die Schleppe fegte nur so. Mit all dem kleinen Silber- und Schildpattzeug und all den Chinoiserien auf ihren Spiegelkonsolen und achatenen Tischen hantierte sie derartig heftig und sinnlos, dass die Ramen ob all dieser Launenhaftigkeit ihrer Herrin diese schon wieder in anderen Umständen glaubte. Plötzlich rief es auch die Königin klagend und empört vor ihrer Kammerfrau aus: „Welch maßlose Rücksichtslosigkeit gegen meinen Zustand! Man entfremdet mir meine Kinder. Man lässt mich Kinder gebären, nur um mich den Schmerz erleben zu lassen, mich ihrer beraubt zu sehen!“
Die Ramen heftete ihre schwarzen Augen entsetzt auf die hohe Frau. Sie bewunderte die unnachahmliche Ausdrucksweise; aber sie beschloss dennoch, den erneuten, gewaltigen Ausbruch mütterlicher Liebe diesmal nicht durch Ewersmann dem König schildern zu lassen. Es hatte der Ramen zu denken gegeben, dass die Königin vor Anna Amaliens Geburt sich vor dem König ganz verbergen konnte; es hatte ihr Kopfzerbrechen gemacht, dass seit drei Jahren kein Prinzen- oder Prinzessinnensalut mehr abgefeuert worden war; es legte ihr allerlei Vermutungen nahe, dass der König neuerdings die Erziehung der beiden ältesten Kinder so sichtbar an sich riss. Die Ehe des Herrscherpaares schien nicht mehr glücklich zu sein. Und nun doch ein neues Kind?
Die Königin wollte auf der Stelle ihren Sohn bei sich sehen. Er erschien auch sofort; aber ihren Fragen wich er aus, und ihre Vorwürfe hörte er an, ohne sich zu verteidigen. Warum beschimpfte ihn Mama? Litt er nicht selbst am meisten darunter, dass man seinen Musikunterricht einschränkte und die geliebten französischen Romane wegschloss?
Die Königin sprach kalt und zornig auf ihn ein. Ob er denn seine Zukunft aufs Spiel zu setzen gedenke? Ob er den Ehrgeiz habe, ein preußischer Major zu werden oder ein König mit einer Gemahlin aus großem Geschlechte?
Der blasse Junge stand ganz erstaunt. Was sollte er denn mit einer Gemahlin? Warum wurde der Vater plötzlich so streng gegen ihn? Warum klagte die Mutter ihn an und behandelte ihn spöttisch und kühl? Er drückte sich mit vielen Verneigungen aus der Tür, rannte leise und eilig die Treppe zu den Appartements der Schwestern hinauf und klopfte vorsichtig an Wilhelmines Zimmer. Die Sonsfeld öffnete dem Prinzen sogleich.
Der Nachmittag war für Fritz. –
Er war bei der Schwester.
Die Sonsfeld ließ die Königskinder allein. Sie wusste es längst: sie hatten Heimlichkeiten miteinander zu besprechen, die mit Kindergeheimnissen keine Berührung mehr besaßen.
„Was ist mit den Eltern?“ fragten der Knabe und das Mädchen einander sofort. Und das Grübeln, das immer wieder von neuem in der Welt das Leben junger Menschenkinder so beschwert, begann auch auf ihrer Jugend zu lasten: Was ist mit den Eltern?
* * *
Es schien Europa anzugehen, was um den König und die Königin von Preußen war. Der Plan der englischen Heiraten begann die Aufmerksamkeit der Kabinette auf sich zu ziehen. Dass es geschah, war Grumbkow zuzuschreiben, um den die kühne Königin sich nicht mehr bemühen zu müssen glaubte. Seine Stärke war, Verknüpfungen und Folgerungen zu durchschauen; und seine Klugheit, solche Erkenntnis stets für sich selbst zu nützen. So zum Beispiel schrieb er, der die Hof- und Diplomatenkreise des kaiserlichen Wien vorzüglich kannte, jetzt an General Graf Seckendorff, er möchte sich doch noch möglichst diesen Herbst nach Berlin begeben und in aller Heimlichkeit und Selbstaufopferung den Gesandten Österreichs in Preußen angesichts gewisser bevorstehender Ereignisse ein wenig unterstützen.
General Graf Friedrich Heinrich von Seckendorff – 1673 – 1763
Er, Grumbkow, gewinne den Eindruck, als habe der kaiserliche Geschäftsträger in Berlin bei seiner starken Inanspruchnahme unmöglich mehr freien Blick und übrige Zeit, um sich auch noch mit einigen neu aufgetauchten Problemen zu befassen, für deren Lösung gerade nun sein lieber Graf als der Rechte erscheine.
Zunächst traf Seckendorff, lärmend und aufgeräumt, als Grumbkows Privatgast in Berlin ein. Der Gastgeber hielt ihm bereits am ersten Abend seines Aufenthaltes ein politisches Kolleg, das namentlich für die Königin von Preußen überaus lehrreich und anfangs sogar angenehm zu hören gewesen wäre. Der lauschende Seckendorff wurde ganz erheblich stiller. Grumbkow sprach stehend, das Weinglas in Händen, ohne zu trinken, auf ihn ein. Der General aus Wien, schweigend und nickend, gab ihm immer nur recht.
Seit dem Tode des gewaltigen Sonnenkönigs und nach Zar Peters frühem und enttäuschtem Ende, seit Karls XII. verzweifeltem Untergang – denn solcher Könige Tod bedeutet die Tragödie ihres Landes – waren nur noch zwei große Mächte in Europa: England, das Ludwig XIV. niedergeworfen und Frankreich in vasallenhafte Abhängigkeit gebracht hatte, und Österreich. Zwei große Dynastien teilten das Erbe der Macht: die Welfen und Habsburg. Beide Länder und Geschlechter aber brauchten zu jeder Behauptung und jeder künftigen Wendung ihrer Politik das Reich. Der Habsburger stand über dem Reich als der Kaiser, im Reiche als der Erzherzog von Österreich und Kurfürst von Böhmen. Der König von England gehörte dem Reiche an als der Kurfürst von Hannover. Im Reiche mussten die Zwecke Österreichs und Englands sich überschneiden, sichtbar werden, mussten die Spannungen sich verdichten, die Machtproben ausgetragen sein.
Mitten im zerfallenden Reiche, in der Mark Brandenburg, aber erstand ein neuer Schatz und eine neue Armee.
Der Gedankensprung Grumbkows hinüber zu dem welfischen Familiensinn der Königin von Preußen war gar nicht so kühn.
Für den kaiserlichen Geheimdiplomaten bedurfte es keiner Erklärungen mehr. Dass er in Preußen blieb, war selbstverständlich. Die Kaisertreue Herrn von Grumbkows pries er laut. Er wusste auch genau, dass etwas an ihr nur zu echt war. Grumbkow, einem armen Geschlecht von hoffärtigen Höflingen entsprossen, würde immer geblendet sein vom Glanz des kaiserlichen Hofes; er würde kein anderes Ziel des eigenen Aufstiegs lohnend finden, als die Anerkennung in Wien, die Zugehörigkeit zu den Vertrauten des Kaisers.
Nur zu bald waren die Herren dabei, ihren Plan zu entwerfen. Niemals durfte Seckendorff beim König als Diplomat eingeführt werden. Der König galt in aller Welt als diplomatenfeindlich. Es wurde anders versucht. Die Aussichten waren nicht schlecht. Graf Seckendorff war ein begeisterter Soldat. Man musste es ihm glauben, dass er aus eigenem Antrieb das Wunder des neuen preußischen Exerzitiums selbst in Augenschein nehmen wollte. Und was noch wichtiger war: Die Seckendorff waren Protestanten, und jener General hieß der einzige Anwalt der evangelischen Stände des Reiches am Hofe des Kaisers. Ein Kaiserlicher, der ein Protestant war, wurde aber in Berlin noch nicht gesehen. Zudem war Seckendorff ein passionierter Jäger, heiter, derb und groß. Welcher Diplomat von angeborenem Talent erhielt von der Natur solch herrliche Maske, einem König Friedrich Wilhelm zu begegnen?! Ein Seckendorff verzichtete mit Freuden auf die offizielle Anerkennung und den öffentlichen Empfang bei Hofe. Er gedachte sich mit Leichtigkeit – lachend, lärmend, trinkend und, wenn es sein musste, über Religion diskutierend – in der Tabagie zurechtzufinden. Die war das Einfallstor. Und weil die beiden Herren glaubten, dass man in nächster Zeit des Abends nur kalten Braten und Butterbrot bei gewöhnlichem Bier würde zu sich nehmen müssen, wie es Brauch in der Tabagie war, ließ Minister Grumbkow noch bis spät in die Nacht alle Künste seiner vielgerühmten Küche spielen. Als Vorgericht gab er den Schinken, in Champagner „gewässert“, der dem König von Preußen für seine Tafel zu kostspielig war, obgleich er in der Verbindung mit Grünkohl als sein Leibgericht galt.
* * *
Kurz vor dem Aufbruch des Königs von England nach Berlin hatte sich noch die entlassene Léti in die Korrespondenz der britischen Majestät mit der Königin von Preußen gemischt. Sie hatte die Höfe von London und Hannover sehr freundlich gewarnt, Wilhelmine habe einen Buckel und leide an Krämpfen. Die gegenwärtig im Vorrang stehende englische Königsmätresse, die Herzogin von Kendal, geborene Gräfin Schulenburg, beschäftigte das sehr. Aber es mochte auch sein, dass sie eine schöne Gelegenheit nicht ungenützt lassen wollte, um manche Unbill zu rächen, die ihren Freunden und Verwandten von König Friedrieh Wilhelm in Entrechtung oder steuerlicher Belastung widerfahren war. Jedenfalls konnte sie sich des Eingreifens in den Fall Wilhelmines von Preußen nicht enthalten. Königin Sophie Dorothea war verzweifelt. Sie hatte mehr geheime Leiden, als einer nur ahnen konnte, hinter sich; und diesmal, ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen raschen Art, hatte sie wirklich geschwiegen. Es ging ja um England.
Ihre Reisen waren so vergeblich wie nur möglich gewesen. Der königliche Vater verwies sie an seine Minister, unter den Ministern aber erklärten sich die Hannoveraner unzuständig ohne die Zustimmung der Londoner und umgekehrt, obwohl sie doch völlig uneins waren. Und entgegen allem Fürstenbrauch war das Gefolge der Königin von Preußen auf Schloss Herrenhausen unbeschenkt geblieben; auch Frau Sophie Dorothea selbst hatte nichts als müßige, billige Tändeleien vom Herrn Vater erhalten, wertlose Dinge, die das Ansehen der Königin von Preußen herabsetzen mussten; doch ihr bedeuteten sie Kleinodien und Reliquien. Jedenfalls gab sie sich so vor dem Gatten. Ihm hatte sie bisher auch immer nur die freundschaftlichen Briefe gezeigt, die sie mit der Frau Prinzessin von Wales über ihrer beider Kinder Zukunft wechselte. So vermutete der König nicht, welche Niederlagen die Gattin schon erlitt.
Leider hatte sie aber dem Gatten schon zu viel verheißen und die Eheprojekte als einen sehnlichen Wunsch der englischen Verwandten hingestellt; alles aber schien aus purer Liebe zu ihr selbst zu geschehen, wenn auch einige wunderschöne Gedanken vorn Zusammenhalt der protestantischen Mächte mit eingeflochten wurden.
König Friedrich Wilhelm war bewegt, wie rasch das Leben voranschritt.
Das Leben schien leicht und glücklich zu werden. Die Liebe der Welfen- und Hohenzollernkinder sollte in dem einen Jawort der zwiefachen Hochzeit mehr erreichen, als die Plagen eines ganzen Manneslebens je erstreben durften! Eine herrliche Verheißung war inmitten aller Mühsal aufgetaucht! Ein kampfloser Aufstieg tat sich auf. Die Liebe trug die Macht; der Glaube schien das Werk zu segnen.
* * *
Georg I. kam an einem Oktoberabend in Charlottenburg an. Der König, die Königin und alle Prinzen und Prinzessinnen empfingen ihn am Wagen. Der König von England reichte der Königintochter den Arm und führte sie in ihre Empfangszimmer. Darauf begaben sie sich in ein Kabinett, wo sie sich eine Zeitlang im geheimen unterhielten. Beim Hinausgehen stellte König Friedrich Wilhelm die Prinzen, die Königin die Prinzessinnen vor. Der Königin klopfte im Gedanken an Wilhelmine das Herz. Die Kleinen wurden vom Großvater übersehen. Friedrich musterte er schweigend; dann nahm er eine Kerze vom Kamin und hielt sie Wilhelmine unter die Nase. Groß, etwas gebeugt, etwas müde im Ausdruck und durchaus nicht sonderlich aufmerksam, stand er vor der ältesten preußischen Prinzessin, die allein etwas wie Anteilnahme von ihm erwarten durfte.
„Sie ist sehr groß. Wie alt ist sie?“ Das war alles, was er sagte; und noch dies: „Man kann sie meinen Herren zeigen.“
Man ließ die Prinzessin eine Stunde ganz allein mit all den englischen und hannövrischen Kavalieren. Man dachte wohl an eine Art von Examen, aber es war nicht anders, als hielte eine Frau von Welt und Fürstin von Rang gewohnten Cercle. Sie parlierte französisch und englisch. Sie verwechselte keinen der vielen fremden Namen und behielt jede Anrede und Titulatur. Dem jungen Mädchen war ein Traum erfüllt. Es spielte eine längst studierte Rolle; und zwar viel besser, als sie ihm von Mama beigebracht worden war. Die eindrucksvolle Auftrittsszene des hinreißenden Schauspiels war da. Die Prinzessin agierte sie kühl und sicher und leichthin. Niemand nahm wahr, wie ihre Pupillen sich geweitet hatten.
Um den Anbruch der neunten Stunde wurde an einer sehr langen Tafel gespeist. Außer den Prinzessinnen und Prinzen waren an ihr auch die vornehmsten Personen der beiden Höfe zugegen. Prinzessin Philippine Charlotte, die dritte Tochter, nach dem Nordischen Winterfeldzug geboren, hantierte mit all den Gläsern und Bestecken wie zehn Oberhofmeisterinnen zusammen, derart kundig und elegant; alles Neue, Ungewohnte bereitete ihr unsägliches Vergnügen. Sie hätte die älteste Schwester am liebsten mit „Mylady“ angeredet, so völlig ging sie in der großen Stunde auf. Aber die Blicke des Großvaters suchte sie vergeblich auf sich zu ziehen, während wiederum die raue Friederike Luise, die nur sehr äußerlich der Mutter so ähnelte, von der Gegenwart des hohen Verwandten völlig unberührt blieb; fast war es, als wolle sie die Mutter damit treffen.
Die Tafel war mit langen Reihen hoher Leuchter bestellt. König Friedrich Wilhelm waren sie wie eine goldene Bahn zu seinem Herzen und wie ein Strom des Glanzes von seinem Herzen her. Ihm war feierlich zumute. Er hatte noch kaum einmal höfische Feste gegeben. Nun war ein Anlass, war ein Grund gegeben und ein Sinn gefunden, und das Fest geschah von selbst. Den anderen war es nur eine Abendtafel. Vergessen war aller frühere Hochmut des Oheims. Der Vater seiner Frau, der mächtigste König Europas, war an Friedrich Wilhelms Tisch erschienen, einen Bund zu schließen, der tiefer, enger und weiser war, als Herrscher und Räte und Heerführer in grüblerischen Abmachungen und wägenden Berechnungen ihn erdenken konnten. Er war den geheimen Traktaten enthoben! Die Liebe der Frauen, der Mütter schuf herrliche Zukunft! Noch einmal war dem Herrn die Frau wie in der früheren Zeit. Der König sah sehr oft zur Königin hinüber. Er dachte auch an die Fürstin über dem Meer. Es war gut um ihn und die Frauen bestellt! Er hob sein Glas; er blickte auf den Vater der Gemahlin, auf sie selbst, die Kinder, die Gäste, die Diener. Schweigend trank er ihnen allen sein Glas. Seinen Kindern winkte König Friedrich Wilhelm lächelnd zu.
Das war der erste Verstoß, den er sich noch am Abend der Ankunft vor dem hohen Gast zuschulden kommen ließ.
Gegen das Ende der Mahlzeit befand sich der König von England nicht recht wohl. Der Staatssekretär Mylord Thunsen bemerkte es zuerst. Er teilte es der Königin mit, die ihrem Vater nun sogleich den Vorschlag machte, aufzustehen. Allein er wollte es durchaus nicht tun und blieb noch einige Zeit sitzen. Als er sich endlich erhob, fiel er in Ohnmacht. Trotz der Bemühungen der Ärzte blieb er eine gute Stunde ohne Besinnung. Die Königin von Preußen war sehr blass. So rasch also konnte es geschehen, dass ihr Bruder König von Britannien wurde und ihr Neffe, Wilhelmines künftiger Gatte, Prinz von Wales! So rasch also schritt das Leben voran! Wahrhaftig, es war nicht zu früh, dass sie die Ehen der Kinder bedachte.
Das Wort Schlaganfall wurde nicht ausgesprochen. Aber deswegen war die Königin nicht erblasst.
* * *
Am nächsten Tage schon erklärte der König von England seinen Schwächezustand für völlig überwunden. Ja, er nahm seinen Anfall nicht einmal zum höflichen Vorwand, um seine völlige Gleichgültigkeit bei der Besichtigung Berlins und gegenüber den Artigkeiten seiner Enkelkinder dahinter zu verbergen. Er hatte in diesen Tagen große Verluste bei seinen privaten Spekulationen erlitten; die beschäftigten ihn sehr. Der üble Ruf der „bubbles“ verfolgte ihn ins alte Vaterland.
Von der Königin von Preußen gedrängt, ließ er die englischen und hannövrischen Herren, unter sich und mit ihm selber uneins, ein wenig mit den Preußen verhandeln. König Georg, der weder fertig Englisch noch Französisch sprach und gegenüber seinen Londoner Ministern sich mit schlechtem Latein behelfen musste, ließ übermitteln, er gebe sein Versprechen für die Doppelheirat. Er setzte aber noch hinzu, dass er vor Abschließung der frühzeitigen Verlobung die Meinung seines Parlamentes darüber vernehmen müsse; er wolle es sogleich nach seiner Rückkehr zusammenberufen. Die Zustimmung des Parlamentes noch leichter zu gewinnen, möchte man wohl vorerst alle zwischen England und Preußen geschlossenen Verträge erneuern und verschiedene Maßregeln ergreifen, um den ehrgeizigen Plänen der Beherrscher der Zarinwitwe Katharina Alexejewna Grenzen zu setzen.
Heute ließ Georg I. vorerst nur von Russland sprechen. Das Wort Österreich, für die Kurfürsten von Hannover und Brandenburg ein ungleich schwierigerer Fall, mochte besser erst nach diesen Vorverhandlungen erwähnt sein. Der Kurfürst von Brandenburg hatte sich da in eine für die anderen lästige Deutschtümelei hineingeredet, die reichlich erschwerend und ziemlich altmodisch wirkte. Schon von seinen alten Russenpakten war er nicht abzubringen gewesen, als wäre ein toter Freund noch ein politischer Faktor. Er zeigte einen leidigen Hang, die politischen Fragen ins Menschliche zu verkehren. Über diese Neigung Friedrich Wilhelms zum Privaten sprach der König von England zur Königin von Preußen voller Sorge. Angesichts solcher Unberechenbarkeit des Gatten – denn dieses Signum erhielt die Zuverlässigkeit des Preußenkönigs in der diplomatischen Sprache – laste schwere Verantwortung auf ihr selbst.
Sophie Dorothea war daran, dem vergötterten Vater in die Arme zu sinken, vor allem, als er auch noch hinzufügte, dass seine Mätressen mit ihm ganz einer Meinung wären, namentlich die entzückende Herzogin von Kendal. Die preußische Königin, eine harte Richterin über Liebe, Schuld und Schmerz im Leben ihrer verstoßenen Mutter, kannte wohl keine schönere Kunde! Und es wären für die Welfentochter selige Augenblicke gewesen, hätte sich die Angst abwehren lassen, dass der unberechenbare und politisch wenig fähige Gatte etwas verderben könne. Vater und Tochter aus dem Welfenhause hatten sich eine etwas hochfahrende Art zurechtgelegt, von dem Brandenburger zu reden.
König Friedrich Wilhelm aber verzieh seinem Oheim und Schwiegervater viel von seinem Hochmut und seiner überdeutlich zur Schau getragenen Gleichgültigkeit. Denn wenn er auch Fritzens Knabenregiment unter seinem jugendlichen Major übersah – an der großen Parade dieses Morgens hatte Georg I. eine Anteilnahme bewiesen, die Friedrich Wilhelm geradezu überwältigte. Der König von England hatte keinen Blick von den strahlenden Reihen der Sechzigtausend gewendet.
Dies Heer war Rückhalt gegen Thronprätendenten und Kaiser! Mit diesem Heere war der Kampf mit Österreich um die Silberflotten auf den Weltmeeren – an Brandenburgs Grenzen auszutragen! Mit diesem Heere konnte man sich wohl über das ganze alte Europa erheben!
Im geheimen, ganz für sich, nannte der Welfe den Hohenzollern nicht mehr Bettelkönig.
Soldatenkönig – dieses Wort erschien ihm als der richtige Ausdruck und als geistvolle Wendung. In England konnte man ja dann „roi sergeant“ oder gut preußisch „Korporal“ dafür sagen. Manchmal sprühte er vor Geist, der alte Herr; und dabei war er doch eigentlich immer ein wenig rau und träge gewesen.
* * *
Der König von Preußen hatte es in den Tagen des hohen Besuches nicht ungern gesehen, wie gewandt seine beiden ältesten Kinder schon aufzutreten verstanden, wie sie in allen Dingen des modernen Geschmacks Bescheid wussten und auf jede Frage aus der Suite König Georgs I. nach Oper und Komödie und Literatur Antwort zu geben vermochten. Der Preußenkönig fand es aller Ehren wert. Er selbst konnte damit nicht aufwarten. Auf den hohen Gast machte es aber leider, ganz im Gegensatz zu den Voraussagen der Königin, nur sehr geringen Eindruck. Er erschien stumpfer denn je.
Die Kleinen waren auf das Ende des Besuches zu beständig von dem Großvater ferngehalten worden. Sie schienen ihn zu stören. Er konnte sich ihre Namen nicht merken. Er vermochte nicht, sie auseinanderzuhalten. Sie waren bereits heute für ihn die späteren belanglosen apanagierten Prinzen und Prinzessinnen eines kinderreichen Fürstenhauses. König Friedrich Wilhelm wollte den Oheim und Schwiegervater darauf aufmerksam machen, wie ähnlich doch Ulrike seiner Mutter, des Oheims schöner, früh verstorbener Schwester Sophie Charlotte, sei; und der Großvater sollte es lustig finden, dass die fünfjährige Enkelin Bilderbücher und Puppen verachtete und kaum zu halten war, wenn sie hörte, Bruder August Wilhelm ziehe mit den Kadetten auf die Knabenschanze im Tiergarten, Kanonen an der Kette und Feuerwerk im Korb.
Um nicht gar zu unhöflich zu sein, hatte König Georg nur flüchtig gefragt: „Sie ist Ihr Liebling?“ Dieses Wort ging König Friedrich Wilhelm ein wenig im Kopfe herum. Hatte er Lieblinge unter seinen Kindern? Wie stand es um August Wilhelm, den zweiten Sohn, um seinen Hulla, den er besitzen durfte, wie auch andere Väter ihre Söhne besaßen? Denn der Älteste gehörte ‚Dem König von Preußen‘, jenem Herrn, den auch Friedrich Wilhelm von Hohenzollern als stetig streng Fordernden zu fürchten begann.
Wenn er Lieblinge hatte, so waren sie mit ihm um nichts besser daran als die übrigen Geschwister. Er unterschied keines von den anderen durch Wohltaten oder Überraschungen. Er lohnte und strafte sie nicht, um ihnen nicht zu früh als der König zu begegnen.
Freilich kam es vor, dass er sich mit seinem Hulla manchmal eine Viertelstunde lang, die kostbare Viertelstunde eines Königslebens, bespasste und ihn nach Herzenslust abküsste. Was war Hulla für ein munterer kleiner Kerl; wie war er stets für ihn bereit! Was fuhr er gern mit dem Vater aus; wie stand das winzige Mundwerk dann unterwegs nicht einen Augenblick still! Aber der Vater verschloss sich doch den Fehlern seines Kleinen nicht. Beim Exerziermeister ging er nicht auswärts genug, genau wie der Fritz. Ach, die Jungen waren beide nicht sehr kräftig, bei weitem nicht so stark und groß, wie er sich die beiden einzigen „Kerls“ ersehnte, die er nicht erst anzuwerben brauchte – die ihm gehörten! Benehmen und Haltung August Wilhelms schienen im Vergleich zu Fritz nicht so gewandt und sicher. Der Kleine war etwas ängstlich und vor Fremden leicht befangen. Selbst ihm gegenüber traute er sich mit Bitten manchmal nur schriftlich hervor. Da wurde dem König rasch so ein Kinderbriefchen zugesteckt: „Darf ich wohl wieder bisweilen mit Farben malen?“ Das Prinzlein steckte viel bei Pesne im Atelier. Die Hintergründe und Landschaften, die des großen Porträtisten schwache Seite waren, die gerade interessierten Hulla am meisten; an ihnen sah er sich gar nicht satt. Mag er, mag er, dachte der König, Bilder sehen hält die Augen offen! Bücher lesen macht zu leicht in sich gekehrt –. Soll er die geliebten, großen, sanften Augen offenhalten!
Nein, Lieblinge hatte König Friedrich Wilhelm nicht, nur acht geliebte Kinder; von denen war eines ein Sohn, den er wie andere Väter ihre Knaben zum Sohne haben durfte... Eines seiner Kinder gehörte ihm nicht, wie er sich selbst nicht gehörte. Friedrich und er, sie dienten ‚Dem König von Preußen‘.
* * *
Als alle Welt sich noch lebhaft mit dem Besuch des Königs von England am Berliner Hof befasste, als man namentlich im engen Kreis der Tabagie dies und jenes über die Hintergründe der Visite zu erfahren suchte, wusste Gundling seinen Herrn von gar nichts Besserem zu unterhalten als ausgerechnet von altrömischen Gebräuchen. Schlossen in Rom zwei Parteien einen Pakt, so wurde er durch eine Kinderverlobung im Hause der Führer bekräftigt; schlossen sie gar einen üblen Traktat, so musste möglichst eine Doppelheirat das schlechte Machwerk verbrämen. Wer den Antrag auf die festliche Vereinigung der Häuser am ehesten stellte, der hatte den anderen am meisten übervorteilt.
Und plötzlich sprach Gundling nun doch vom König von England, dem einzigen Thema, das die anderen interessierte.
„Der hohe Herr ist nur so sehr rasch abgereist, weil ich ihn nicht gebührlich empfing. Ich hatte keinen französischen Rock und keine Pariser Perücke, wie sie jetzt in Preußen wieder Mode sind. Ich hatte keinen Rang und Titel, wie sie heute in Preußen wieder Geltung haben. Ich hatte die feinen Manieren verlernt, mit denen man neuerdings in Preußens britischer Ära allein noch reüssieren kann! Ich will zum alten Adel! Ich will einen Titel! Ich will einen Tanzmeister, die alten Komplimente noch einmal zu lernen!“
Der Betrunkene weinte wirklich wie ein ungezogenes Kind. Der König, der schon im Aufbruch gewesen war, stand bereits eine ganze Weile an den Türpfosten gelehnt. Das waren Wahrheiten, die er da zu hören bekam! – Er hatte etwas übersehen. Er hatte sich etwas nicht eingestanden: Es hatte seine alten Widersacher berauscht, dass der König von England nach Preußen kam und dass die Königin von Preußen so in den Mittelpunkt rückte. Er, der Herr, schien plötzlich nicht mehr gar so wichtig. Alle kamen sie wieder hervor, die Unzufriedenen aus alten, anspruchsvollen Geschlechtern; sie kamen mit Versailler Prunk in seine Residenz, hielten in seinem Hause Hof im Stil des alten Königs, trieben Kult mit sich und der Königin, mit Wilhelmine und Friedrich, Er, der Herr, stand außerhalb. Die Gattin hatte es besser begriffen als er, was geschah. Sie führte die Zeiten des ersten Königs herauf, lud alle vom Gemahl Verschmähten an den Hof, holte die beiseite gestellten dünkelhaften Gelehrten hervor, nur damit Athen und Rom, die heiligen sieben Hügel, die Akropolis und der Olymp, zwischen der Spree und den rauen Bergen erstünden! Hätte ich nur, dachte der König, die Augen offengehalten die ganzen festlichen Tage hindurch, statt dass ich in den Stunden, die ich nicht dem Gaste widmen musste, weiter über meiner Arbeit saß! Solches erwog nun der Herr. Gundling ließ er weiter um Adel und Rang, Perücke und Pariser Roben winseln. Noch immer lehnte er in der Tür und blickte auf den Professor.
Mit einem Male versprach er ihm alles: den Adel, das erhabene Amt, die französischen Friseure und Schneider; denn der Herr gedachte sie alle zu treffen, die sich einer trägen, alten, lügnerischen Zeit verschrieben.
Als der König sich das nächste Mal wieder in Potsdam zur Tabaksgesellschaft einfand, hatte der Kreis der Tabaksrunde viel zu staunen. Teppiche waren an den weißgetünchten Wänden aufgehängt, die Zahl der Leuchter war verdoppelt, Pagen umdrängten die Flügeltür. Der König bat die Generale, Räte und Minister, sich zu erheben. Gundling trat ein. Die Pagen, einer nach dem andern sich verneigend, riefen meldend seine neuen Würden aus, dass keiner von den Gästen des Königs sich in Titel und Anrede irre oder vergesse. Jakob Paul Freiherr von Gundling erschien, Hof-, Kammer-, Kriegs-, Geheim-, Oberappellations- und Kammergerichtsrat! Mitglied des Landeskollegiums! Oberzeremonienmeister! Präsident der Akademie der Wissenschaften! Kammerherr Seiner Majestät! Kanzler der Halberstädtischen Regierung! Erbe und Eigentümer aller neuen Maulbeerplantagen für die künftigen königlich preußischen Seidenspinnereien!
Hoch erhobenen Hauptes schritt der Gewaltige in den Saal, klein und aufgedunsen, die Augen verglast, Antlitz und Hände gepudert und duftend. Der König selber hatte sein Amtskleid entworfen: einen roten, mit schwarzem Samt ausgeschlagenen, mit goldenen Knopflöchern gezierten und nach der neuesten Mode mit großen Aufschlägen besetzten Samtrock zu einer überreich gestickten Weste. Auf dem Kopf prangte eine auf beiden Seiten lang herabhängende Staatsperücke von weißem Ziegenhaar; ein großer Hut mit einem roten Federbusch bedeckte ihren Scheitel. Der Kammerherrenschlüssel hing ihm zur Seite. Die roten, seidenen Strümpfe waren mit goldenen Zwickeln, die Schuhe mit roten Absätzen geschmückt.
So rauschte er daher, der Freiherr, Oberzeremonienmeister, Präsident und vielfache Rat. Aber es war ersichtlich, dass er kein Wohlgefallen an der Staatstracht empfand. Er meinte wohl, dass sie ihm wieder Schleifchen in die Locken binden, ihm den Rücken mit allegorischen abscheulichen Tieren aus Papierschnitzeln bestecken würden. Er misstraute den Verneigungen der Herren; er wagte nicht, die Bestallungsurkunde entgegenzunehmen, die der König ihm hinhielt. Aber er musste auf Geheiß des Herrn einen Blick darauf werfen. Sie war in vollster Ordnung. Alles war wahr; auch dies, dass ihm der König die für Rang und Geltung vorgeschriebenen sechzehn Ahnen aus eigener Vollmacht verlieh! Der Pompöse mit den Ziegenhaarlocken schluchzte auf. Die erträumten Ziele des verkommenen, armen Pastorensohns waren erreicht. Einmal nur hatte er aufgeschluchzt; niemand konnte es wohl hören. Nur der König, der ihm gegenüberstand, nahm es wahr.
„Es ist gut, dass Sie kommen, mein Lustiger Rat“, sagte der König, und dieses war das wahre Amt und der wirkliche Titel, denn all die anderen Titulaturen und Auszeichnungen gab es ja im Lande Preußen ernstlich nicht mehr. „Ich muss einen vernünftigen Menschen sprechen. Heuer gibt es zu viel Narren.“
Der Freiherr nahm dem König gegenüber Platz. „Ich werde die Narren aus allen Ämtern, die mir unterstehen, entfernen“, sprach der Mächtige gelassen zu dem König.
„Dann wären wir aller Wahrscheinlichkeit nach allein, Euer Gnaden“, bemerkte der König. Gundling hob die Locken mit gespreizten Fingern von den Ohren weg.
„Ein Weiser und ein König, Majestät“, gab er zur Antwort. Es war ein hübscher Dialog, nur dass die Herren rings ihm nicht zu folgen wussten. Zwischendurch versank der König einmal ganz in die Betrachtung des Gefeierten und schwieg. Dieser Mensch war wahrhaftig vollkommenes Gleichnis und Bild. Alle waren sie in ihm getroffen. Dieser Mensch war Bild von seiner Hand. Der König handelte und dachte in Bildern. Niemand um ihn wusste davon. Als sei er unter die Müßiggänger gegangen, sah der König Gundling zu; es waren Augenblicke tiefsten Sinnens, Augenblicke seltsamsten Grübelns über vertane Gaben, verlorene Zeit, vernichtete Würde; über alle Narrheit der Erde.
Rätselhafterweise hatte der König gerade an diesem Tage von Gundlings Apotheose den Narrenprofessor gemalt, wie er ein überaus hohes Vorlesepult erkletterte, emsig und leidenschaftlich drei Stufen für eine nehmend. Drunten sah die Menge der Großen ihm höhnisch und sogar mit derber Drohung nach. Er aber „blickte“, eine Brille auf dem Hosenboden, nur mit seinem Hinterteil auf sie herab.
Und dieses Bild war die wahre große Ehrung, die König Friedrich Wilhelm einem Jakob von Gundling widerfahren ließ. Aber sie blieb vor ihm selbst und vor der Welt des Hofes ein Geheimnis.
Die Tabaksrunde war ratlos; man wusste nicht, wie sich verhalten. Wozu war dieser ganze Auftritt ersonnen? Der König sprach so ernst und leise mit Gundling. Neckereien mit dem frischgebackenen Freiherrn schienen nicht geduldet; Ruß und Kreide lagen vergeblich bereit. Das Gerücht kam auf, Gundling habe wirklich Einfluss auf den Herrn erlangt. Es überdauerte die Stunde und sprengte nur zu rasch den engen Kreis der Tabagie. Hohe Herren sollten ihm nur zu bald ihre Visite machen, um durch ihn etwas Schwieriges zu erreichen.
Zu der ungewöhnlichen Zurückhaltung, die man sich heute hier auferlegte, trug allerdings noch ein besonderer Umstand bei. Ein fremder Gast tauchte auf. Der König ließ ihn vom Paradeplatz hereinrufen, genau wie Grumbkow es berechnet hatte; denn der wusste, dass der König immer möglichst nahe am Fenster saß, wenn er seine Pfeife rauchte.
Draußen brannten die neuen Laternen. Meist lag der Platz zu der Stunde, in der sie angesteckt wurden, schon sehr still. Jetzt aber promenierte ein nobel gekleideter Fremder äußerst interessiert zwischen den Laternen umher und suchte von Schloss und Exerzierfeld zu erspähen, was um den Anbruch der Dunkelheit noch sichtbar war. Der König, wie es seine Art war, erkundigte sich, ob einer am Biertisch wohl wisse, wer der Fremde sei. Herr von Grumbkow bekannte sich eiligst zu seinem Gast Graf Seckendorff.
Warum er ihn nicht mitgebracht habe, fragte der König, warum es versäumt worden sei, ihn bei Hofe einzuführen. Und er erhielt zur Antwort, Graf Seckendorff halte sich gar zu kurz in Berlin auf; er sei nur während des englischen Königsbesuches von Wien nach Berlin herübergekommen, um endlich einmal einer der berühmten neuen preußischen Paraden beizuwohnen, von denen er am kaiserlichen Hofe gar so viel hörte; nun wolle er morgen noch rasch das Potsdamer Exerzitium besichtigen, um dann schleunigst wieder zu dringenden Geschäften nach Wien zurückzugehen. Er bedauere es ganz außerordentlich, dass sein Aufenthalt so kurz sein müsse; denn als erfahrener Militär und Taktiker habe er in den wenigen Tagen das neue Preußen als Fundgrube für einen alten Soldaten schätzen gelernt.
Graf Seckendorff wurde schleunigst geholt. Der König begegnete ihm ganz außerordentlich freundlich und achtungsvoll. Der Graf solle unbedingt noch bei ihm bleiben, als sein Gast; Grumbkow dürfe es nicht übelnehmen. Dass aus Wien einmal einer nur als Offizier kam! Und wollte sich mit dem Potsdamer Obristen nicht einmal bekannt machen! Der König hatte allerlei Grund, sich zu wundern und zu freuen und zu schelten.
Der Graf verstand zu antworten. Er wisse, die preußischen Herren Offiziere hätten keine Zeit für müßige Visiten.
Der König schenkte ihm Bier ein. Er nahm selbst den neuen Humpen vom Bord. Grumbkow verbarg sein inneres Lächeln vollkommen. Der Graf, so sagte er dem König, wisse sich noch gar keinen Rat, wie er einen längeren Aufenthalt in Potsdam bewerkstelligen solle. Man ersuchte Majestät um einen Kurier nach Wien, und Seckendorff bat, diesem ein paar Zeilen über seine Berliner Eindrücke mitgeben zu dürfen. Der König war selig.
* * *
An dem Tage, an dem ein Vierteljahrhundert über der Gründung des Königreiches Preußen hingegangen war, am 18. Januar 1726, spät am Nachmittag, gebar die Welfin Sophie Dorothea dem Hause Brandenburg den sechsten Sohn. Drei tote Söhne waren vergessen angesichts der drei lebenden. Monate hindurch hatte der Gedanke, dass ihr neues Kind, vielleicht ein Sohn, um den 18. Januar geboren werden würde, im Zusammenhang mit ihren britischen Träumen die Königin mit eigentümlicher Erregung erfüllt. Unter solch erhebenden Auspizien musste auch diesem Kinde aus welfischem Mutterblut mit aller Gewissheit eine Krone bestimmt sein! Die Tochter des Königs von England gebar keine apanagierten Prinzen!
So wurde nun der Jubiläumstag des jungen Königreiches doch noch mit Prinzensalut und Glockengeläut gar feierlich begangen, obwohl der König für das Fest seiner Dynastie und seines Staates keinerlei Anordnungen getroffen hatte.
Der Gatte und die acht Kinder erschienen bald am Bett der Wöchnerin. Ernst sah der König auf den neuen Sohn; er betrachtete, den Kopf tief über die Wiege geneigt, lange das überzarte, welke Kleine. Nun erst winkte er Ewersmann, dem Diener, er möge näher treten. Der trug ein großes Tablett an das Lager Ihrer Majestät; neun goldene Kästchen standen darauf, geschmückt mit Wappen, Initialen und reichen Emblemen; nur auf dem neunten war ein Schild für das Monogramm des Neugeborenen noch frei. Der König erklärte der Gattin die Gabe; jede der Dosen trage den Namenszug von einem ihrer Kinder. Auf einem Pergamente sollten die Umstände von eines jeden Geburt verzeichnet und in den goldenen Kästchen aufbewahrt werden.
Wie er da stand, ernst und blank im langen, blauen Uniformrock, ohne Orden, goldene Schnüre und Perücke, hätte kein Fremder den Herrn für einen König zu halten vermocht, der einen großen Tag seines Reiches und Hauses beging. Aber er schien unermesslich stolz, als er nun verfügte, der Kronprinz solle das Brüderchen über die Taufe halten. Da Friedrich aber noch so jung war, bedurfte es eines theologischen Gutachtens. Es musste auf der Stelle eingeholt werden. Die Königin ließ die Königinnen des Erdteils zu Patinnen bitten. Nun fühlte sie sich hoch erhaben über sie.
* * *
Noch auf diesen Abend hatte König Friedrich Wilhelm den Präsidenten von Creutz zu sich bestellt, wie stets in die Räume des Generaldirektoriums. Keine Unterredung zwischen dem König und seinem einstigen Geheimsekretär und Wusterhausener Regimentsschreiber hatte mehr anders stattgefunden als im Anblick all der Kassenschränke und Regale mit den Rechnungsfolianten des Königreichs Preußen.
Präsident von Creutz, der sonst nur noch im eigenen fürstlichen Empfangssaal zu verhandeln gewohnt war, erschien zu der Audienz in ungleich prächtigerer Aufmachung als der König selbst. Das flatterte von Spitzen um die Handgelenke und den Westenausschnitt seines goldverbrämten Staatsrockes! Das schimmerte von überreich gestickten Ornamenten! Die langen, harten Hände des einstigen Schreibers dufteten von teurem, modischem Balsam. Früher war seine Rechte an Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger von nächtelangem Umklammern des Federkieles manchmal wund und entzündet und verschwollen gewesen.
Aber die Rede vom Sparen, Erwerben und Vermehren blieb seine größte Leidenschaft. Noch immer erschienen die dichten und klaren Gefüge der Zahlen dem harten Kontrolleur als das schönste Poem; und ihre langen, dunklen Reihen in schmalen, scharfbegrenzten Kolumnen aufs glatte, weiße Papier zu setzen, war ihm vom bitteren Anfang bis zur gegenwärtigen Höhe der Inbegriff beschwingten Malens, der Klang des Goldes aber, das auf harte Bretter aufgezählt wurde, die süßeste Musik. Er hatte es zuvor gewusst, dass sein Gespräch mit dem König an diesem Freudentage des Hauses nichts anderes bringen würde als eine Bilanz. Noch immer ging es zwischen ihnen beiden allein um das Plus, und den Namen Der Plusmacher trugen sie beide noch immer gemeinsam.
In dieser abendlichen Unterhaltung enthüllte sich aber über die Erkenntnisse der bloßen Bilanz hinaus dem Generalkontrolleur der preußischen Kassen etwas von dem Sinn des Wortes Rechenschaft.
„Über unseren Kassenbüchern“, so begann der König, „scheint mir Ihr Gesicht ein wenig verkniffen geworden zu sein.“
Creutz, wie der glattesten Hofleute einer, entgegnete: „Dann kann es nur die Spur der Anfangszeiten sein. Zum mindesten neuerdings hätte ich keinen Anlass zur Düsterkeit, Majestät.“
Für einen Augenblick sah König Friedrich Wilhelm heiter auf. „Dass nun mein deutsches Geld das beste im Lande ist, das freut mich“, gestand er. „Diese Reform hat mir der liebe Gott eingegeben im Herumfahren, denn ich kann versichern, dass mir kein Mensch davon gesprochen hat.“
Bilanzen enthielten das einzige Lob, das der König ertrug; doch schloss er nach der nüchternen Erörterung der Fakten und Summen: „Im Anfang war immer der Widerstand. Aber von all den Neuerungen des Kommerzes ist Gott bekannt, dass ich sie anordne, damit das platte Land floriere.“
Der Präsident hörte es nicht gern, dass der König immer noch und immer wieder Gott in Rechnung stellte; selbst die Pläne zur Währungsreform sollte Gott ihm eingegeben haben! Aber um dieses seines Gottes willen hatte der König schon manches Creutzsche Projekt in dem Augenblick durchquert, da es den größten Erfolg verhieß. In einem strengen Winter gab er die reichen Vorräte des Tuchmagazins an die Armen ab. Und als die Überschwemmungen der Oder arge Not über die schlesischen Lande des Kaisers brachten, verkaufte der Herr sein aufgespeichertes Getreide, statt mit dem Schatz zu spekulieren, zu Schleuderpreisen an die Untertanen des Kaisers, der selber nicht imstande war, zu helfen! Vor derlei unberechenbaren Zwischenfällen war der Generalkontrolleur bei dem Generaldirektor von Preußen nie sicher. Und nur die ungeheure Unternehmungslust und der unversiegliche Erfindungsgeist des Königs boten Creutz dann Ausgleichsmöglichkeiten, wenn der Chef wieder einmal mit allerlei leichtsinnigen und verschwenderischen Auflockerungsabsichten hervortrat, damit nur ja „keine Anlagen gemacht werden sollten, bei denen die Untertanen nicht bestehen könnten“, oder dass nur ja „der Untertanen Aussaugung durch Plackereien, Sudeleien, Sportulieren unbedingt verhütet werde“.
Manchmal war der König fassungslos, dass solche Verfügungen überhaupt zu Auseinandersetzungen mit dem Präsidenten der Generalrechenkammer führen konnten. Warum in aller Welt hatte er ihn denn damals trotz des Geschreies all seiner hohen Beamten geholt? Doch wohl, weil Creutz das Volk, aus dem er stammte, kannte!
„Ich habe es erst kennengelernt, als ich aus ihm herausgehoben war“, pflegte der große Rechner zu sagen. „Ich habe den Daumen auf den Beuteln. Ich stehe nach allen Schichten des Volkes hin gesondert da. Das schafft Abstand zu denen, die ewig begehren; es macht sie alle nichtig und gleich; der Unterschied liegt nur im Hundert und Tausend der Forderung. Ich öffne die Kassen. Ich sehe, wie die Menschen nehmen. Ich habe neue Augen bekommen.“
Creutz hasste es, dass der König im Statistischen Büro eines Generaldirektoriums – die statistische Abteilung war eine der Lieblingsschöpfungen des Königs und nach großen systematischen Gesichtspunkten angelegt – besondere „Historische Tabellen vom platten Lande“ führte, die nur die Menschen betrafen. Die Menschen! Hundertmal, wenn Creutz seine kühnen Zusammenziehungen der Unterstützungsetats in Vorschlag brachte, hatte der Herr „vom Menschlichen her“ ihm den Einwand entgegengehalten: „Wo die Räson?“ Und diese seine Räson war leider nie in Summen auszudrücken und in Multiplikationen zu erfassen.
Und wieder sprach der Herr solch verruchtes Wort: „Das Ersparte geht nach dem Osten. Ich darf es nicht behalten. Es gehört auch nicht der Mark oder Cleve oder Pommern oder Magdeburg. Im Osten ist Mangel. Hier ist die Anweisung auf vorerst dreiundfünfzigtausend Taler. Ich zweifle nicht, dass dies einen guten Effekt tun wird.“ So machte er sich arm am Abend des Festes. Er hatte schon zu oft so gesprochen.
Der Präsident der Rechenkammer zuckte nur die Achseln. Was sollte man von einem Herrscher denken, der in dieser verrotteten Welt in dem patriarchalischen Bestreben lebte, in seinem Lande keine Armen zu haben, und selbst der einzige Arme werden wollte! Die Schrullen eines Reichen waren ja aber von je die furchtbarste Gefahr für die Kassen! Die Kassen waren einem Creutz der Himmel.
Leider war über den Himmeln der Herr.
Der Herr war aber voller Hoffnung wie noch nie. Wenn nun noch dieses Opfer für Preußisch-Litauen gebracht war; vielleicht war dann ein erstes Ziel erreicht.
Er sagte es dem Plusmacher nicht. Er schrieb es dem Dessauer Freund, als er ihm für dessen Jubiläumsglückwunsch dankte; diesmal ging der Brief nach Bubainen. Seit Neujahr weilte der Fürst von Anhalt im Schnee und Eis der Wüste von Bubainen und Norkütten. Er hatte die Wildnis, die er zum Geschenk erhielt, mit seinem ganzen Herzen festgehalten. Er ging den Weg des Königs nach, und manchmal, weil Bezirk und Aufgabe um so vieles begrenzter war, schritt der Fürst sogar den Weg voran. Aufmerksam, neidlos, lernbegierig verfolgte der Herr all sein Tun. Der Dessauer sollte ihm seine Dörfer visitieren.
„Ich weiß nicht, ob ich recht habe“, sandte er Botschaft nach Bubainen, „aber ich habe itzo das feste Vertrauen, dass es in Preußen in kurzem wird besser werden. Die neuen deutschen und allmählich auch die alten litauischen Bauern bezäunen die Dörfer und Gärten. Alle haben sie nun Gärten. Es sieht nicht mehr wüst aus. Das Vieh läuft auch nicht mehr hirtenlos im Feld umher. Die Litauer beginnen überall gut zu stehen. Sie haben nun solch Brot, das mir gut schmeckt, und in ihren Baracken sieht es jetzt gut und wirtlich aus, da man Schüsseln, Speck und Fleisch findet, und die Leute sehen neuerdings auch dick und fett aus. Viele Bauern fangen an, in breiten Beeten dreimal zu pflügen und Misthügel zu machen. Und ist gar kein Zweifel, dass durch Gottes Hilfe sich alles soutenieren wird und ich itzo reich werde und in allen meinen Kassen es sehr spüre, dass das alles gut geht.“
Er, der am Festtag keine Tafel hielt, freute sich über Speck und Fleisch in den Schüsseln seiner Untertanen und spürte daran, dass er reich wurde. –
* * *
Der letzte, der an diesem Abend zu König Friedrich Wilhelm befohlen wurde, war Roloff.
„Ich habe keine Dankgottesdienste halten lassen und sie bis zum Sonntag verschoben“, begrüßte ihn der König.
Der Prediger entgegnete kurz: „Gott wird sich nie von Eurer Majestät betrogen fühlen.“
Von dem, was beide am drängendsten bewegte, redeten der König und der Prediger heute nicht; nur dass König Friedrich Wilhelm den Pastor Roloff noch fragte, ob denn noch immer nicht auch nur der leiseste Schatten eines Anzeichens zu erblicken sei, dass die Pastoren auf den Kanzeln und die Theologieprofessoren auf den Kathedern sich endlich besönnen, was Lehrgezänk und was Verkündigung der Gnade Gottes über dem armen, schuldigen Lande Preußen sei.
Kämpfende Lager von Frommen und Unfrommen, Rechtgläubigen und Irrgläubigen, das sei ihm kein Zweifel, ließen sich nicht vereinigen, wie man verfeindete und zersplitterte Kammern der Provinzregierungen in einem neuen zentralen Generaldirektorium zusammenfasse. Dass aber Gottes Geist in seinem Königreich und seiner Königszeit die Eitelkeit, die Selbstsucht, den Zwiespalt, die Sinnlosigkeit einer dreifach zerfallenen Evangeliumsverkündigung furchtbar hinwegfegen möge, darum bete er; er bete so, dass es manchmal schon wie ein Abtrotzen sei; Gott möge es ihm vergeben, wenn die Angst um den Verlust des reinen Gotteswortes ihn so unruhig mache.
„Eins ist dem Menschen aber wohl erlaubt“, begann der König vor dem großen Prediger zaghaft zu behaupten, „eins bleibt dem König wohl noch zu tun: Er kann die Kinder, auf denen doch die höchsten Verheißungen ruhen und die der Welt als einziges Beispiel gesetzt sind, zu Gliedern einer künftigen Kirche erziehen, die nicht mehr bloßes Kampffeld der Pastoren, Professoren und Konsistorialräte, des Klerus und der Orden ist: Ein König kann die Kinder lehren, von früh auf selbst die Bibel zu lesen –.“
Der König, wie er es oft tat – ganz gleich, ob draußen Dunkelheit oder Helligkeit herrschte – redete, am Fenster stehend und dem Partner des Gespräches den Rücken kehrend. Freilich, dann musste er solchen Partner gut kennen. Fremderen sah er, was wenig beliebt war, unentwegt in die Augen.
König Friedrich Wilhelms Worte klangen fast nach Schwärmertum.
„Dann könnten sie Kinder der Seligkeit werden.“
Das hatte der Pastor ganz deutlich gehört.
Aber schon wurde aus der leisen, schwärmerischen Rede der klare Plan, das durchdachte Gebot, das formulierte Edikt.
Das Schulproblem, das sei es, was dränge. Er habe vernommen, dass die Eltern, namentlich auf dem Lande, ihre Kinder nur sehr säumig zur Schule schickten. Die arme Jugend bleibe in großer Unwissenheit, unwissend im Rechnen, im Schreiben, im Lesen. Im Lesen – das heiße aber nun: in allem, was zu Heil und Seligkeit höchst notwendig ist. Denn Predigten – ah, die vermöchten heute das Heil nicht mehr zu wirken; in denen sei die Heilige Schrift verschüttet, wenn nicht gar entstellt und verraten. Wie wüchsen die preußischen Kinder auf; es mache ihn bitter.
Aber nun wollte er es ganz bestimmt und überaus rasch verordnen, dass künftig die Eltern an allen Orten, wo Schulen wären und Schulen neu geschaffen werden sollten, bei nachdrücklicher Strafe angehalten würden, ihre Kinder im Winter täglich und im Sommer, wenn man sie auf dem Lande in der Wirtschaft brauchte, zum mindesten ein- oder zweimal in der Woche zum Schulmeister zu schicken.
Der König zergliederte bereits die Einzelheiten des Lehrplans; er setzte bereits die bestimmtesten Posten im neuen Schuletat ein. Zwei Dreier die Woche, das mussten die Eltern wohl noch zahlen können. Wenn sie es ganz und gar nicht erübrigen konnten, dann schien es nun nicht zu viel verlangt, wenn man ein Ortsalmosen für die Armenkinder forderte.
Der König überschaute auch schon alle Schwierigkeiten, die aus dem Mangel an Lehrern und Gebäuden erwachsen sollten. Die Theologiestudenten sollten als erste einspringen und erst nach ein paar Jahren Schuldienst ins Pfarramt gelangen. Von den alten Schulmeistern mochten die kärglich besoldeten, bis eine Aufbesserung ihrer Bezüge möglich wurde, getrost ein Handwerk üben, das auf ihrem Dorfe gerade dringend fehlte. Grund und Boden für die neuen Schulen, ja, die Küchengärten für die Schulmeister, gedachte der König selbst zu schenken; die Baumaterialien auch; die Fuhren stellte er ebenfalls. Rasch sollte alles geschehen. Und umfassend sollte es sein. „Der Adel“, schloss der Herr, „wird sich hiernach zu richten haben und zur gemeinschaftlichen Einrichtung der Schulen die Hand bieten.“
Dass nun eine allgemeine Schul-Pflicht ausgesprochen war, genügte dem Herrscher noch nicht. Die größeren Kinder sollten, ehe sie zur Firmung und Konfirmation gingen, noch einmal einen besonderen geistlichen Unterricht erhalten.
Fünfzigtausend Taler, die wollte er als ersten Fonds für die Schulen zur Verfügung stellen. Die gedachte er gleich flüssig zu machen und aufs Neue zu sparen. Dann mochten sich die neuen Schulen mit den Kindern seines Landes füllen. Morgen wollte er die Anweisung auf fünfzigtausend Taler unterschreiben.
Er hatte für den Fonds einen Namen bereit, noch von den armen, trügerischen Zeiten seines Vaters her. Diesem Namen – Mons pietatis, Berg der Frömmigkeit – gab er nun Inhalt, Sinn und Wert und verschwieg gerade durch ihn seine fromme Scheu.
Was galt es ihm, dass schon sechs Millionen Taler droben im Ostland angelegt waren; dass elf Städte, feste Sitze des Handels und Handwerks, und dreihundertzweiunddreißig Dörfer wieder aufgebaut, verwahrloste Domänenämter in staatliche Bewirtschaftung genommen waren? Was machte er groß damit her, dass die Widerstände, die Ausflüchte, die Vorspiegelungen seiner Junker und Beamten sich von Jahr zu Jahr verringerten, wenn auch oft aus Resignation gegenüber seinem Machtanspruch?
„Dieses ist nichts“, sprach der Stifter der Schulen, „denn die Regierung will das arme Land in der Barbarei behalten. Doch wenn ich baue und verbessere das Land und mache keine Christen, so hilft mir alles nichts.“
Er kam ins Ostland als der letzte Ordensritter. Er wollte den Gottesstaat in der Öde, die ihm als Reich des Bettelkönigs übergeben war. Nun sollten in dem dunklen Land besonnte Berge mit blühenden Hängen aufstehen –.
„Was seht ihr scheel, ihr großen Gebirge, auf den Berg, da Gott Lust hat zu wohnen? Der Herr bleibt immer daselbst.“
Der Prediger sagte es dem Herrn zum Abschied.
Über den Worten des Psalms kam dem König die Nacht.
Er wusste nicht, als er an diesem Tag die Augen schloss, dass er nun für jegliches Kind seines Landes einen Erziehungsplan entworfen hatte, der jener hundertfach durchdachten Instruktion für seinen Ältesten nicht nachstand und im Letzten und Entscheidenden kein geringeres Ziel hatte, als einen frommen König und fromme Untertanen füreinander zu schaffen. Er sorgte nicht mehr nur für seine Erde. Der Mons pietatis erhob sich im Land.
* * *
Seit Wochen und Monden predigte die Königin: England.
Es war nicht die Geschwätzigkeit einer lebhaften Frau. Es war mehr, war leidenschaftlicher und tiefer. Vielleicht war es die dauernde Überwältigung durch allen Glanz dieser Welt, die zu jedem Augenblick bei ihr den schillerndsten Ausdruck fand. Vielleicht war es auch eine ständige Beschwingtheit, mit der sie kaum wahrnehmbare Anfänge sofort zu märchenhafter Vollendung auszuspinnen vermochte. Und das erfolgte nun in der Sprache kühner, kühler Politik. Es geschah mit dem Schein des Kalküls. Das ließ die Königin so glaubhaft erscheinen. Logische Beweisführungen, taktische Winkelzüge mussten ihr dazu dienen, die Maßlosigkeit und Unerfüllbarkeit ihrer Wünsche zu verhüllen. Sie beherrschte das gesamte Vokabularium der Kabinette; sie dichtete in der Geheimsprache der Diplomatie. Dies war ihr Lebensinhalt; dies verlieh ihr das Gefühl der Größe; dies schuf ihr damals gerade auch den Ruf einer zu Höchstem befähigten und berufenen Fürstin.
Sie prüfte sich nie. Sie lernte und sie überlegte und sie wägte nicht. Ihr flog alles zu, um, von dem Überschwang ihrer Lebensbegeisterung gewaltig entfacht, zu irdischer Prophetie in ihrem Munde zu werden. Freilich, das Leben begann ihr erst von den Stufen der Throne an lebenswert oder auch nur beachtungswürdig zu werden. Nie hätte sie nach der Erde gefragt, die, nur durch eine dünne Schicht aus edlem Holz und teurem Stein vom Sockel der Throne getrennt, allein und endlich auch die Throne selber trug.
Rieb sie, wie es ihre Gewohnheit war, im Gespräch mit sehr Vertrauten ganz unbewusst die Handflächen rasch und leicht aneinander, so war es wie die Geste eines frohen, ungeduldigen und erwartungsvollen Kindes, das einer überwältigenden Überraschung schon völlig gewiss ist. Einen Augenblick danach aber saß sie dem gleichen Partner ihrer Unterhaltung – hoheitsvoll in ihren Sessel gelehnt, die Arme majestätisch auf die goldenen Lehnen aufgelegt – wie der Premierminister aller Premierminister gegenüber; und was sie redete, schien Weltgeschichte.
Nicht selten kam es nun vor, dass dann der König vor ihr stand, den Kopf ein wenig gesenkt: und recht still. Manchmal zog er sich auch eines ihrer Taburetts heran und saß schweigend vor ihr, den Blick zu ihr erhoben: ein Abgehetzter, Erschöpfter, Staunender. Was war, so fragte er sich dann, sein zäher Fleiß vor solcher Spannkraft; was war sein mühsames Zusammentragen angesichts solchen Weitblickes? Vielleicht waren die Welfen die größeren Herrscher –.
Auch diesen Irrtum hat die Königin ihm gegeben. Wie sollten nicht auch ihre Kinder sich in ihr täuschen.
Sahen sie, was nur in Potsdam geschah, ihren Vater schon am Morgen, so kam er eilig in der düsteren Uniform aus seinen Zimmern gestürzt, schien übernächtig, hatte schon wieder einen Riesenberg verdrießlichster, kleinlichster Arbeit hinter sich, jagte auf den Exerzierplatz hinaus, entschuldigte sich auf dem langen Gang vor seinen Zimmern bei dem wartenden Kabinettsrat: was war er, als ein armer, abgearbeiteter Beamter, als ein kleiner, dienstbeflissener Offizier, dem sein harter, hoher Chef nicht eine Atempause gönnte und dem er obendrein noch schlechten Sold gab?
So erschien den Kindern der Papa; denn die Türen, die er in der Eile offenstehen ließ, gaben dem Blick die Kahlheit und die Kärglichkeit getünchter Kammern mit gestrichenen Kiefern- und Fichtenholzmöbeln in dem harten Lichte unverhüllter, aufgerissener Fenster frei.
Aber die Morgen der Mutter, namentlich wenn man in Monbijou wohnte, waren voller Feier und Verklärung, gelassen und königlich, milde und stolz. Umblüht und vogelumsungen, von Wasserspielen umsprüht, lag Monbijou in langer Morgenstille. Die Sonne stand schon hoch am Himmel über dem Fluss, doch in den Sälen, Galerien und Nischen der Königin blieben noch immer all die gemalten, reich gestickten, golddurchwirkten, üppig sich bauschenden Vorhänge zugezogen, und der neue Tag wehte nur wie ein Golddunst durch die bunten Räume. Ein Engel, glänzenden, tief dunklen Haares und ganz in weißem Batist – mit ein wenig billiger Spitze –, schwebte die Ramen durch die ganze Flucht, silberne Kannen mit Rosenwasser und Gurkenmilch für das Lever und mit Schokolade für das Dejeuner der Herrin hoch über sich haltend. Dann erst, nachdem sie noch lange im Boudoir der Königin weilte, tat die Kammerfrau die Flügeltür auf, und lächelnd, von Spitzen, Locken, Perlenketten umflossen, trat die Mama von den Stufen des straußenfederngekrönten Prunkbettes. Die Vorsäle hatten sich mit ihren Damen gefüllt; in einem Rauschen von Brokat sanken sie alle in tiefe Verneigung; und über das Raunen und Neigen und Grüßen hinweg rief, ihre Hand der Welt entgegenstreckend, die Welfin: „Sind Briefe aus England?“
Selbst die kleinsten Prinzessinnen erschauerten selig, sie wussten: Dies war das Glück, der Glanz, das Fest ohne Ende, wenn Post aus England eingetroffen war. Wie anders konnten die Briefe in dieses sommerliche Schloss am Fluss gelangen, als auf möwenflinken Seglern übers Meer, auf weißen, jagenden Seglern und den geschwindesten, feurigsten Schimmeln der Welt!
Durch den Tross der Damen bahnte sich der junge Prinz den Weg, schnell einmal dem öden Unterricht drüben im großen Schlosse entwischt. Er eilte auf die Mutter zu und umarmte sie; aber sie empfand es anders als die formlose Art des Gemahls; am Sohne war es graziös und bestrickend, war Einfall und heitere Laune. Die Königin zog den Kronprinzen an sich; ihre Ringe leuchteten aus seinem Haar. Er war ihr die aufgehende Sonne, der Anbruch strahlenderen Lebens, der Träger ihrer Träume. Post aus England war nun zwar nicht eingetroffen, aber in dem ganzen Morgen war ein Überschwang so ohnegleichen. Das Pensum, das der König dem Thronfolger verordnet hatte, blieb unerledigt.
Ihre Majestät bestellte die Kronprinzenerzieher zu sich. Sie handelten, so sagte sie, im höchsten Interesse des Königs, wenn sie den Prinzen etwas mehr den von ihr selbst vorgeschlagenen Beschäftigungen und Betätigungen überließen. England verspreche sich von ihrem Sohn –.
Ach, England versprach sich von dem Kronprinzen von Preußen nur das Schönste: Flötenmusik, Cembalospiel, Violinkadenzen, Gartenkomödien, hymnische Poeme, erhabene Zitate... Die Welt war dem Prinzen von Klängen und Versen durchrauscht.
Fragt einen jungen Prinzen mit übergroßen, schwärmerischen blauen Augen, wo er wohl das Königliche dieser Erde zu erblicken vermag – bei dem gehetzten Mann im simplen blauen Rock oder bei der lächelnden, ruhenden, feiernden, ewig die Glorie verheißenden, in Juwelen strahlenden, Weltgeschichte kündenden, von machtvollen Hoffnungen hingerissenen Frau, die den Knaben in den Mittelpunkt des Erdballs stellt!
Der König spürte, dass er seinen Sohn an die Sallets à la grecque der Gemahlin verlor.
* * *
Die Furcht vor ‚Dem König von Preußen‘, der die Generationen des Geschlechtes überdauerte und dessen Knecht er lediglich war, teilte Friedrich Wilhelm I. auch seinem ältesten Sohn mit, der dem gleichen Schicksal, wie er selbst es trug, entgegenwuchs. Die Furcht vor jenem unbekannten Herrn verband ihn mit dem Sohn wohl am tiefsten; er wollte Friedrich wappnen gegen solche Forderung und Härte. Aber die eigene Strenge gegen den Sohn, die daraus folgte, stieß seinen Ältesten von ihm. Der Vater war der ewig Warnende, der unablässig Fordernde, Gebietende; die Mutter begegnete ihm als die tagtäglich Schenkende, Lockende, Verheißende. Der Vater vereidigte seinen Ältesten auf die Instruktion eines preußischen Militärs und Beamten; die Mutter steckte ihm den schönen Roman zu, der von der Großen Welt der Könige erzählte.
Sie ahnte nicht, dass diese ihre Große Welt dem lesenden Knaben gar bald sehr eng werden würde und dass neue Gefilde sich vor ihm eröffneten, von deren Weite sie nicht eine ferne Ahnung hatte. Die Mutter gelobte ihm ein glanzvolles Königreich, wo der Vater ihm nur sandverwehte Äcker zu hinterlassen versprach. Der Sohn aber begründete sich selbst eine Welt. Er hatte vor dem stetig Fordernden die Flucht in die Bücher gelernt.
Vom Vater kamen nur Verbote, die schlechthin alles betrafen, was nicht unmittelbar der Vorbereitung auf das Amt des Königs von Preußen zu dienen imstande war.
Jacques Égide Duhan de Jandun – 1685 – 1746
Die drei Erzieher, die beiden Preußenoffiziere und Duhan, der Refugie, Männer von reicher Bildung und ungewöhnlicher Redlichkeit, Kriegsveteranen und Glaubensmärtyrer, konnten die Pläne des Vaters nicht völlig billigem und die Absichten der Mutter nicht gänzlich verurteilen. Sie wollten ihr Amt nach dem Geist und nicht nach dem Buchstaben erfüllen. Wo nun die beiden Offiziere solchen Konflikt mit der wörtlichen Instruktion des Königs spürten, schreckten sie freilich immer wieder vor der freien Auslegung des Textes zurück. Duhan, der Emigrant, den der König schon in den Laufgräben von Stralsund zum Lehrer des Sohnes erkor, wurde eigentlich aus Zutrauen zur oft erfahrenen Güte des Königs allmählich der heimliche Verbündete des Kronprinzen gegen den Vater. Er hoffte auf wachsende Einsicht sowohl beim Herrscher wie beim Thronfolger. Wozu gab der König schließlich seinem Sohn so gebildete Männer zur Seite? Schon existierte als ihrer beider verborgen gehaltenes Werk eine regelrechte Bibliothek, in fremdem Hause, dreitausend Bände des Englischen, Französischen, Spanischen, Italienischen umfassend. Lehrer und Schüler arbeiteten mit Hingabe an dem Katalog. Kein Buch, das nicht von Friedrichs eigener Hand verzeichnet worden wäre, mit gleicher Inbrunst, wie ein Creutz die Zahlen eintrug. Das Verzeichnis umschloss die Literatur der alten und der neuen Welt, des Himmels, der Erde und der Hölle, aber nur einen einzigen kurzen Abriss der brandenburgischen Geschichte in französischer Sprache.
In einem abgelegenen Hause zwischen der Königswohnung und den Räumen des Generaldirektoriums und Schloss Monbijou war ein neuer Kosmos erstanden. Vater und Mutter, beide lenkten sie den Sohn auf das Große; und in beider Munde war das Große zweierlei und sehr verschieden. Der Prinz, sehr schmal, sehr klug, sehr erregbar, glaubte sich dem wahrhaft Großen, das jenseits aller Deutungsmöglichkeiten und Unterschiede ist, auf beglückend naher Spur.
Vor Friedrichs jungem Geist entrollte sich ein ungeheurer Horizont, an dem Deutschland nur einen kleinen Platz einnahm und Brandenburg fast ganz verschwand. Sein Sinnen und Trachten war nur noch darauf gerichtet, die Vorbildung zu erlangen, um alle seine Bücher wirklich verstehen zu können. Der vom Vater eingeteilte Tag reichte nicht aus. Aber auch Friedrichs Nächte waren auf königliches Geheiß streng bewacht. Schliefen die Hüter, dann schlich sich der Prinz aus dem Bett; er warf sich einen der seidenen Schlafröcke über, wie die Mutter sie ihm schickte. Den Schein der Kerze suchte er ängstlich zu verbergen. Nirgends war Schutz als in der tiefen Wölbung des Kamins. Dort hockte dann der Knabe stundenlang mit seinem Buche.
In den flüchtigen Gesprächen des Tages meinte mitunter die älteste Schwester, das Wissen müsse ihm wohl über Nacht zugeflogen sein, von so viel Neuem war der Bruder jedes Mal erfüllt. Das also war aus dem geworden, der als kleiner Knabe, statt zu spielen, zu den Füßen ihres eigenen Lehrers hockte, wenn der unendlich dicke und weise La Croze ihr Unterricht gab –; La Croze, jene wandelnde Bibliothek, jenes Magazin der wissenschaftlichen Kuriositäten; La Croze, der aus dem Stegreif zwölf Verse Leibnizens in zwölf verschiedenen Sprachen zitierte, nachdem er sie ein einziges Mal hörte. Das waren die Zauberkunststücke gewesen, mit denen man Wilhelminens Brüderchen begeisterte –. Nun waren Himmel, Erde und Hölle von ihm durchstreift. Das ganze All lag vor den Königskindern offen, und der begeisterte Blick konnte ungehemmt schweifen. Die Wissbegier war weltumspannend, und eine ungeheure Belesenheit – denn Bände aus Friedrichs heimlicher Bibliothek fanden gar nicht so selten den Weg in Wilhelminens Appartement – gab den Geschwistern gar die Illusion, dass sie bald alles Wissenswerte wüssten. Sie lebten in einem geistigen Festrausch, wie er über die ganze gebildete Welt hereinzubrechen schien und wie die Erde ihn vielleicht auch nie mehr sehen sollte.
Ungeklärt blieb nur die nächstliegende Frage, wie das Loch im Kronprinzlichen Etat, verschuldet durch die Bücherkäufe, zugestopft oder auch nur verschleiert werden könne.
So ganz allgemein, wohl im Hinblick auf ihre Revenuen, hatte man zwar vor Mama ein ganz klein wenig von den finanziellen Sorgen angedeutet. Aber die Königin, so glänzend ihr Vermögen auch vom Gatten angelegt war, erklärte sich ganz außerstande, einzuspringen. Sie müsse doch Monbijou noch viel prächtiger ausgestalten. Es gebe ja sonst am Hofe keine einzige Stätte würdiger Repräsentation, wenn nun vielleicht viel häufiger als bisher Besuch aus England kommen würde. –
Durch die Kreise ihrer Damen machte Königin Sophie Dorothea bekannt, dass man in London den preußischen Thronfolger als eine aufgehende Sonne, das war das Modewort an den Höfen, betrachte. Niemand, der am Aufstieg ihres Sohnes tätigen Anteil nehme, werde je von England sein Lohn vorenthalten werden. „Je vous en ferai la cascade“, schloss die Königin mit dem zweiten Modewort und glaubte mit dieser allgemeinen Redensart, die lediglich Erörterungen verhieß, hinlängliche Garantien gegeben zu haben. Daraufhin begann man wirklich da und dort auf jene größere Zukunft Preußens zu spekulieren und bot dem Kronprinzen Geld an.
Noch ehe er sechzehn Jahre alt wurde und konfirmiert war, galt Kronprinz Friedrich als tief verschuldet, und Mama schien ganz entzückt davon, dass er sich nun einmal genau wie sie und ihr Vater und ihr Bruder durchaus nicht an beschränkte Verhältnisse gewöhnen konnte. Es war so nebensächlich, ob er Schulden hatte. Die englische Mitgift würde in diesem Falle einmal eine ganze Sturmflut für ein kleines, heißes Steinchen sein.
Der Prinz verzehrte sich im Lesen. Das nächste Buch und nicht die nächste Rechnung bedrängte ihn. Die Nächte in dem riesigen, zugigen Kamin taten das Ihre. Der Prinz war sehr krank.
Der König, der ihn um des unbewältigten Pensums willen von sich fernhielt, erkundigte sich erregt nach dem Gewichtsverlust. Er sandte ihm seinen englischen Koch und gab auch diesem noch genaueste Anweisungen. Mittags riet er eine Suppe von zwei Pfund Fleisch an, ein Frikassee oder Fisch und Braten. So auch abends. Er wartete gespannt auf die Wirkung seiner kräftigen Brühe.
Inzwischen, bis Meldung kam, bereitete er in einem Brief den Dessauer, den söhnereichen Vater, auf das vor, was er entsetzlich drohend nach dem Knabensterben seines Hauses vor sich sah: „Mein ältester Sohn ist sehr krank und wie eine Abzehrung, isset nits ich halte Ihn kaput wo es sich in kurtzen nit enderdt den ich so viell exempels habe. Sie können sich einbilden, wie mir zumute dazu ist. Ich will bis Montag abwarten; wo es dann nit besser wird, ein Konsilium aller Doctor halten; denn sie nit sagen könen, wo es ihm sitzet, und er so mager als ein Schatten wird, doch nit hustet. Also Gott sei anbefohlen, dem müssen wir uns alle unterwerfen. Aber indessen gehet es sehr hart, da ich soll itzo von die Früchte genießen, da er anfenget, raisonnabel zu werden, und müsste ihn in seiner Blüte einbüßen. Enfin, ist es Gottes Wille, der machet Alles recht; er hat es gegeben, er kann es nehmen, auch wiedergeben. Sein Will gescheh im Himmel als auf Erden. Ich wünsche Eurer Liebden von Herzen, dass Sie der liebe Gott möge vor alle Unglücke und solche Chagrin bewahren. Wenn die Kinder gesund sein, dann weiß man nit, dass man sie lieb hat ...“
Friedrichs Konfirmation konnte jedoch zum vorgesehenen Zeitpunkt stattfinden. Allerdings musste in letzter Zeit noch ein besonderer geistlicher Lehrer den Erziehern beigegeben werden. Die Glaubenslehre saß gar nicht recht fest. Vom Religionsunterricht hatte er laut Gouverneursgutachten seit acht Monaten nicht viel profitiert. Der Vater schrieb es der Krankheit zu. Er wusste nicht, dass sein Sohn die Nächte, die dem tiefen Knabenschlaf gehören sollten, zu vielen, vielen Stunden unter den Weisen der Antike und unter den Fackelträgern einer neuen Epoche der Vernunft verbrachte.
Die Mutter nahm von dem ganzen Ereignis nur wenig Notiz. Sie sah in ihrem großen Sohn nicht einen Konfirmanden. Das war ihr schlechterdings unmöglich. Sie vermochte in dem Kronprinzen von Preußen einzig und allein den aussichtsreichsten Bräutigam Europas zu erblicken. Um der englischen Besuche willen begann sie sich allmählich sogar auch für die Bauten des Gatten zu interessieren. Sie hoffte, einigen Einfluss nehmen zu können, damit ihre beiden ältesten Kinder und sie vielleicht in der neuen Residenz doch einen nicht gar zu unwürdigen Rahmen erhielten.
In allem war Potsdam das Bild: für Kampf und Wachstum des Landes, für Hoffnung und Verzicht, für Wille und Gebet des Königs.
Den ersten Ring von Mauern, den er um seine neue Stadt gezogen hatte – weit und fern, um ihm das Maß seines Glaubens zu geben –, hatte König Friedrich Wilhelm wieder niederlegen lassen. Die Menschen fragten sich, was es bedeute; wo wollte der König denn hin?! Im Süden, im Osten ragte die Stadt schon bis dicht an die Ufer der Havel; im Westen geboten die Wälder, für die Jagd und das Bauholz der Zukunft bestimmt, solchem Vordringen ein Halt; im Norden lag dicht vor der Mauer der träge Sumpf des Faulen Sees.
Sie bestürmten den König, die Wälder vorerst nicht weiter schlagen zu lassen. Der Herr sprach auch vernünftig und einsichtsvoll: „Diese Wälder müssen noch bleiben.“
Dann ritt er durch die Trümmer der zerschlagenen Mauer dicht an den Rand des Faulen Sees.
„Ich brauche undurchbrochenes Bauland“, sagte der Herr und deutete weit über den Sumpf hin. „Das ist tot, das ist faul, eine abgestorbene Bucht der großen Seen, die man zuschütten müsste. Dann könnte man bauen!“
Proteste und Eingaben häuften sich; wer sollte denn im Sumpfe wohnen?! Warnungen und Ratschläge gingen ein. In einer nahezu schon kühnen Weise wurde der Plan des Königs abgetan. Er aber wollte das Faule, das Träge, das Tote vernichten, und aus dem drohenden Sumpf sollte ihm der blühendste und schönste Teil der neuen Stadt erstehen: lichte, große, ja festliche Häuser denn zuvor in einer lieblichen Plantage. Nun durften wieder Gärten sein in Brandenburg. Nun forderte die Vollkommenheit des Bildes das erste, starke Blühen von dem todesschwangeren Grunde. Und solche Forderung stellte er, der die unzähligen Statuen von Sandstein in den Gärten seines Vaters verwittern und zerbröckeln und die Zierteiche verschilfen ließ; er, der für die Erhaltung der aus den Wipfeln geschnittenen Tore und Ehrenpforten nicht sorgte und nicht danach fragte, dass die prächtigen, für die Gartenwagen hoch aufgeschütteten Dammwege vergingen.
Aber nun erweckte es sogar den Anschein, als wolle der Herr sich endlich doch ein eigenes Lustschloss bauen. Den Bauplatz suchend, ritt er durch den Wald. Er ritt im Kreise quer über die vierzehn Alleen alten kurfürstlichen Jagdgrundes. Weit ging sein Blick in die Tiefe der Waldwege, haftete auf einer Eiche inmitten der Kiefern, suchte die leichtfüßige Flucht eines Rehes zu verfolgen und betrachtete den rauschenden Lauf eines Hirsches in Ästen und Laub mit wachsender Jagdlust. Der Herr zog den Kreis von Allee zu Allee immer enger und enger. Hier, wo sie alle sich kreuzten als ein Stern im tiefen Walde; hier, wo die Sonne aus den schwarzen Kiefernwipfeln brach, sollte das einzige Schlösschen stehen, das er sich als Heger und Weidmann zu gönnen gedachte.
Als es dastand, ein holländisches Häuschen mit einer Muschel im Giebel als einzigem Schmuck, meinten die, welche es besichtigen kamen, es sei die Bauhütte, und nun beginne der Schlossbau.
Aber nun bebaute der Herr schon den Sumpf. Er ließ den Saum der Wälder schlagen, die er durchritten hatte; und die Kiefern, eben erst zum Schlage reif geworden, wurden Pfahl um Pfahl in das Sumpfland gerammt, kaum dass in den tiefgezogenen Gräben das träge, stinkende Gewässer versickert war. Bis zum Dunkelwerden hatte der König dabeigestanden, wie sie die letzten Pfähle noch mit Weidenseilen aneinanderkoppelten, kreuz und quer und längs und breit. Schon fand der Blick eine ebene Fläche. Schon war ein sichtbarer Anfang.
Um die Morgendämmerung brachen in dem aufgewühlten Grunde unterirdische Strömungen hervor, hoben das Pfahlwerk brodelnd empor, zerweichten das Weidengeflecht und quollen in Blasen und kleinen Sturzbächen zur Oberfläche.
Früh, als die ersten Arbeiter kamen, sahen sie, wie sich die untersten Spitzen der Pfähle in langsamer und unaufhaltsam starker Drehung nach oben kehrten. Schreiend liefen sie vor die Fenster des Königs. Der sprang aus dem Bett und aufs Pferd, nicht einmal vollständig angekleidet. Er hielt nicht an, als er die wogenden und treibenden Pfähle erblickte; er stieg nicht ab, als er das dumpfe Poltern und unablässige Rauschen und Glucksen hörte; bis hinunter ans überschwemmte Ufer trabte er und ließ sich nicht rufen und halten, als gelte es einer verlorenen Schlacht im äußersten Wagnis die Wendung zu geben. Sein Reitknecht folgte ihm ängstlich. Plötzlich war es, als wollte der König ihn in jäher, harter Kehrtwendung zurückstoßen, als müsse er ihn vor einem Unheil bewahren. Da versanken sie beide. „Mein Pferd ist stark“, schrie der König, „rettet den Jungen!“ Mächtig arbeiteten die Pferde. Das des Reitknechts schluckte schwer am Schlamm und hielt nur noch den hoch emporgerissenen Kopf aus dem Sumpf. Der König hörte dicht an seiner Seite das Gurgeln, als das Lehmwasser über dem Reitknechtspferd zusammenschlug. Den Jungen zogen sie mühsam an Stangen heraus; den Schimmel des Königs, der sich schon zu festerem Grunde durchgestapft hatte, zerrten sie, zu vielen in den Sattel und die Riemen greifend, vorwärts. Den König hoben sie durchnässt und schlammbedeckt herab. Sie schickten Boten nach Wagen, Tüchern und Mantel. Der König war nur mit dem jungen Reitknecht befasst; er blickte gar niemand an, wich den besorgten Fragen aus und überhörte all das laute Preisen seiner Rettung. Sichtlich war etwas von Befangenheit in seinem ganzen Verhalten, spürbar selbst dann, als er sich abtrocknen ließ, den Mantel umnahm und den Wagen bestieg.
Zum Exerzieren erschien er wie immer. Bei Tische wurde übermäßig viel von dem Unglück und dem Unfall des Königs geredet; er selber war schweigsam. Den ganzen Tag über pilgerte man zu der Stätte des großen Begebnisses hinaus. Die Gegner des Königs oder zum mindesten seines Faulen-See-Projektes triumphierten. Creutz sah endlich wieder solchem Verschwenden ein Ende gesetzt. Beinahe fragte man den König gar nicht erst, wie er nun von der ganzen Sache denke. So sicher war man sich seines Verzichtes.
Die Woche ging mit den Aufräumungsarbeiten hin. Am nächsten Montag waren alle Bauarbeiter zur gewohnten Stunde wieder an den Faulen See bestellt. Auch der König erschien.
„Das Ganze von neuem beginnen“, sagte der Herr, und abermals verschwanden große Kiefernwaldungen als Pfahlroste für die neuen Häuser im Sumpf.
Gleichzeitig gab der König den Befehl, zur Rechten und Linken des Schlosses, an der Havel und an seinem neuen Kanal, eine Kirche zu errichten, als seien die Kirchen als die Grenzpfähle gedacht, mit denen er die Stadt abstach, und als wollte er dadurch die Menschen lehren, dass das, was er am Sumpf begann und auf sich nahm, nicht Trotz war, sondern Glaube.
* * *
Bald wurde das trübe Ereignis vom größeren Vorgang überschattet. Auf einer neuen Reise nach Hannover, in Osnabrück, war der König von England gestorben, im gleichen Zimmer, in dem er auch geboren worden war.
Es schien, als hätte sich nicht der Tod des englischen Herrschers ereignet, sondern als wäre der Preußenkönig selbst gestorben, derartige Veränderungen gingen um die Zeit des Todesfalls auf den Berliner Gesandtschaften vor sich. So ziemlich alle Gesandten außer dem kaiserlichen wurden abberufen; neue trafen ein und baten, baldmöglichst ihr Bestätigungsschreiben überreichen zu dürfen.
Die Königin in ihrer tiefen Trauer um den Vater hatte aufmerksam auf alles acht und fand es nun – gleichsam als einzigen Trost, den es zur Zeit für sie geben könne – ihrerseits für angebracht, wenn auch der König von Preußen zum mindesten sofort einen besonderen Beauftragten an ihren Bruder nach London entsendete.
König Georg II – Hannover – Großbritannien
Der König gedachte in diesen Tagen der Trauer seiner Gattin keinen Wunsch zu versagen und schrieb sehr höflich und sehr herzlich an den Vetter und Schwager, vergaß vor der Gemeinsamkeit des königlichen Amtes all ihres jugendlichen Zwistes und Knabenhasses von einst, bat um die Freundschaft des neuen Königs von England und erklärte sich an alle zwischen dem Verstorbenen und ihm getroffenen Abmachungen gebunden. Die Antwort traf sehr rasch ein, fiel hochfahrend und kühl aus und enthielt, wenn man sie in dürre Worte übersetzte, die Versicherung, dass der neue König von Britannien die alten Verträge gar nicht so ohne weiteres zu übernehmen gedenke. Dann in den obligaten, unverbindlichen Schlussformeln eines Fürstenbriefes lenkte er natürlich wieder ein.
Denn Brandenburg-Preußen begann ja nun ohne Frage eine Rolle zu spielen. Es war nicht mehr so, dass Preußen unter den alten Nationen noch das bunte Gemisch verstreuter Gebiete gewesen wäre, die sich vom Rhein bis zur Weichsel, von der Ostsee bis zu den böhmischen Bergen wirr und verzettelt hingezogen hatten. Es war nicht mehr so, dass man die kleine Truppe Brandenburgs für Sold zu eigenen Zwecken nach Bedarf pachten, hinhalten und entlassen konnte. Von eigenem, gutem Gelde hatte der König von Preußen sein Dreißigtausend-Mann-Heer schon verdoppelt. Und mit den Maßnahmen und Handlungen jedes seiner Tage strebte er aus dem furchtbaren Zwiespalt, Reichsstand und König eines freien Landes zu sein, suchte er mit aller Inbrunst und Gewalt sein Land im Reich und sein Land da draußen im Osten zur Einheit zu machen, ohne fremdes Recht auch nur von ferne anzutasten. Er war daran, ein Land der Stärke, des Wohlstands, der Ordnung mitten im Reich und im Herzen Europas zu begründen, indes das Reich zerfiel und das von Kriegen und Schwindelgeschäften erschöpfte Europa sich selber zu zerreißen drohte.
Man sah Preußens Tätigkeit, Beharrlichkeit und Mut an jedem Tage von neuem bewiesen und überschätzte darum dauernd seine Mittel. Wen nahm der große Diplomatenwechsel da wunder?
Von all den neuen Ragomontaden, Turlipinaden und Windbeuteleien, wie der König es nannte, erholte er sich hernach in rechter Männerunterhaltung mit dem neuen Freunde Seckendorff. Der kaiserliche General hielt sich vom Odium der Diplomatie unverändert frei. Kein Aufenthalt in Potsdam, der dem Wiener Grafen nicht rasch eine Einladung am Hofe brachte. Keine Übersiedlung Seiner Majestät nach Berlin, die nicht Seckendorff beinahe als dem ersten mitgeteilt wurde. So große Hochschätzung, so lebhafte Sympathien hegte der König für ihn. Es schien ihm noch unfasslich, dass abseits von aller Politik einer aus Wien kam, um von seinem Regiment zu lernen. Der kaiserliche General weilte geradezu als der Gast des königlichen Leibregimentes am preußischen Hofe und trug sogar schon dessen Uniform. Tapfer wie ein Degen sprach der gewiegteste aller kaiserlichen Geheimdiplomaten, der mit Bibel und Gesangbuch seinen Einzug in den Königsstädten Preußens gehalten hatte: ein General mit bürgerlicher Biedermannsmiene und dem Stiernacken und der Redeweise eines braven Pächters. Aber der Biedere war gerieben wie ein Pferdehändler und wusste, wie es anzufangen sei, die Weisung auszuführen, die vom Prinzen Eugen, Habsburgs großem Wächter, an ihn ergangen war, „den Unwillen des Königs gegen den englischen Hof auf eine geschickte Weise immer zu vergrößern“.
Die Königin, soweit der Schmerz über den Verlust des vergötterten Vaters es gestattete, war empört, dass der Gatte den bäurischen General all den neu erschienenen Gesandten so offensichtlich vorzog. Ihr Ältester sah sie in den Gewändern ihrer tiefen Trauer nur lächelnd, nur kühn, nur beschwingt; und unendlich liebevoll und zärtlich. Hundertmal schon hatte sie ihm gesagt: „Nun bist du die aufgehende Sonne. Um deinetwillen geschieht der Wechsel auf allen an deiner Heirat interessierten Gesandtschaften. Spürst du, dass eine neue Zeit der Geltung unseres Landes sich ankündigt? Und dein Vater nimmt es nicht wahr, geht stumpf daran vorbei. Du aber und ich –.“
* * *
Der König ritt durch seine Stadt, hundert Rufe und Fragen im Blick. Es war in der Stunde nach Tisch, in der er beim Ausreiten Bittschriften entgegennahm, welche dann abends in der Tabagie besprochen wurden.
So unablässig Sand- und Ziegelkarren durch die Straßen rollten, so unaufhörlich auch Gerüste abgebrochen und errichtet wurden, lag dennoch ein Schimmer von Festlichkeit über der Königsstadt! Denn immer wieder trug ein Dachfirst von weißem, jedoch manchmal gar zu jungem Holz den Laub- und Bänderschmuck der Richtfestkrone.
Ein neuer Stadtteil war um des Königs erst kürzlich eingeweihte Garnison-Kirche entstanden. Wieder war er selbst der erste Bauherr am Platze, auf Nacheiferung hoffend. Die Hiller und Brand waren fähige Männer; denen konnte man schon einmal ein etwas prächtigeres Haus zum Präsent machen und zugleich damit der Gattin eine kleine Freude im ihr gar so fremden Potsdam bereiten. Nun stand der reiche Bau vollendet, getreu dem Königsschloss Whitehall in England nachgebildet, neben dem vornehmen Gasthof zum „König von England“, dessen Name ebenfalls eine Huldigung an Frau Sophie Dorothea darstellte. Der Daum mit seiner Lütticher Gewehrfabrik, der war ein Unternehmer ganz nach König Friedrich Wilhelms Sinn. Für ein Bataillon Flinten die Woche, das brachten die Lütticher Büchsenmacher zu Potsdam nun schon zustande; und daher hatten auch sie allein die Genehmigung, noch Branntwein zu trinken.
Garnisonskirche in Potsdam
Die Bauten Potsdams waren schon zum Vorbild für die ganze Monarchie geworden. Häuser für Brauer, Bäcker, Handwerker jeglicher Innung wurden nach besonderem Muster gebaut, als solle jeder von ihnen die vollkommenste Werkstatt seines Gewerbes erhalten. Die Stadt war von sauberen Wassern durchströmt. Der König hatte nach Kanälen und Bassins Durchstiche für das Havelwasser machen lassen. Er führte die große sächsische Poststraße durch Potsdam. Er dotierte die Stadtkämmerei mit Rittergütern. Von Kirchen und von Regimentern zog er Baukollekten ein; aber größer waren immer noch die Bauzuschüsse, die er selber gab.
Der Herr, vorüberreitend, schaute in die Armenhäuser, Hospitäler, Arbeitshäuser, ob alles fest und hell und nützlich sei und selbst die Strafe noch der Besserung und der allgemeinen Wohlfahrt diene. Keinesfalls sollten die rechtschaffenen Untertanen zur Erhaltung der Verbrecher Steuerbeträge zahlen, daher mussten die Gefangenen arbeiten und mit ihrer Arbeit so viel verdienen, dass die Zucht- und Arbeitshäuser keinerlei Staatszuschuss erforderten, ja, der Staat durch sie noch Gewinn für allerlei Wohltätigkeit erzielte. Der Schuldige sollte als Helfer des Unglücklichen büßen.
Potsdam war Manufakturstadt geworden, die Manufakturstadt aber Soldatenquartier. Am mächtigsten waren die Soldatenhäuser emporgeschossen, erst neuerdings hundert und abermals hundert. Denn seinen verheirateten Grenadieren gab der König, kündeten sie ihm den ersten Sprössling an, ein eigenes Haus. So wohnten sie behütet und geordnet, indes in den Garnisonen der anderen Fürsten des Reiches und Europas Soldatenfrauen und Soldatenkinder verfemt, verspottet und gemieden, ja gefürchtet waren. Der Leib des Mannes war an den Landesherrn verkauft; sonst war und blieb der Soldat „gottlos, frech, faul und unbändig“ gescholten und war nicht wert, dass einer Mühe an ihn wandte. So dachten sie alle; so hielt es jeglicher Fürst, nur nicht der Oberst von Potsdam. Die Zeiten für den Tod gekaufter Söldner, die Zeiten der vertriebenen Soldatenweiber und des verwahrlosten Kindertrosses – in Preußen waren sie, allein auf dieser weiten, argen Welt, vergessen; und die Huren gingen scharenweise außer Landes. Andere Regenten hatten verkommene Feldlager, wo der Herr in Preußen eine Stadt der ewigen Hochzeit unablässig wachsen ließ.
Vorüber war, dass, wer die neuen Straßen seiner Stadt durchstreifte, wohl meinen musste, Potsdam sei ein kriegerischer Staat der Männer, ein heldischer Orden, ein Kloster in Waffen. Nun machten die größten, die stärksten, die schönsten Männer Europas Potsdam zur Fülle der Völker, zur Stadt der neuen Geschlechter, zum fruchtbaren Reich, das immer weitere Grenzen verlangte. Die Mädchen aus den Dörfern rings wurden als Bräute umworben. Und der König lächelte, wenn Gundling ihn an den Doppelsinn des Wortes Werbung gemahnte. Helden warb er für sein menschenarmes Land. Frauen warb der König für die Helden. Das Leben, nicht der Tod, ward hier zwischen Waffenarsenalen bereitet; und immer wieder waren Bauholzwagen, Pflüge und Kanonen hochzeitlich umkränzt. Mitten in Exerzitium und Arbeit brach immer wieder die Feier an. Was er den Soldaten gewährte, verweigerte der Herr auch den jungen Handwerksgesellen nicht, die er werben musste wie jene. Er versprach ihnen ihr Handwerksgerät, Vorschuss an Material und ein „hiesiges Mädchen zur Frau: Dadurch kommt der Geselle sofort zu Brot, etablieret eine Familie und wird sein eigener Herr. Da denn nicht zu glauben, dass es große Mühe kosten werde, dergleichen Leute nach Unseren Landen zu ziehen“.
Er warb noch um die Waisen der Grenadiere, obwohl noch keiner gefallen war für den König von Preußen. Er forschte unablässig nach Soldatenwaisen, die den fremden Potentaten von allem das lästigste Gesindel bedeuteten. Tausend Kinder barg er schon im großen neuen Haus; und überreich hatte er es mit Ländereien, Steuereinkünften und Leihhauserträgen beschenkt.
Mit losem Zügel, langsam, ritt der Herr am Waisenhaus vorbei. Er wollte unbemerkt die Kinder belauschen. Brav, brav: Da saßen auf Bänken rings im Hof die Knaben und strickten Strümpfe für die Regimenter; die Soldatenfrauen aber mussten ihnen monatlich jede vier Pfund Wolle dafür spinnen.
Im Nachbarhofe waren mit sauberen Schürzen und frischgewaschenen Händen die Mädchen um den großen Rahmen der Handarbeitslehrerin geschart, die er sich eigens aus Brüssel verschrieb, damit sie die Soldatentöchter die hohe, reichbezahlte Kunst des Spitzenknüpfens lehre, wie allenthalben in seinem Reiche „gute Spinnerinnen auf dem flachen Land umherreisen mussten“, die Frauen zu Hilfs- und Heimarbeiterinnen für die königlichen Manufakturen auszubilden.
Wen in der Welt, der ein Handwerk besonders gut verstand, hätte König Friedrich Wilhelm nicht in Potsdam anzusiedeln gesucht?! Er hatte solchen Meistern, sie mit ihrem tiefsten Herzen hier zu halten, ihre alte Heimat auf der neuen Erde neu gegründet. Und es war ein Ritt durch ganze Länder, wenn der Bettelkönig seine Stadt durchstreifte. Da war ein Obersachsen und ein Niedersachsen, ein Schwaben und Franken, ein Rheinland und Holland, Schweden und Polen und die Schweiz; da waren friedlich alle Feindesvölker der vergangenen, schweren Kriege beieinander: Russen, Franzosen, Österreicher, Spanier, Italiener, Engländer, Dänen und Böhmen – Krieger, Bauern, Schmiede, Gerber jeglicher mit seiner besten Kunst. Ein unablässig geschäftiges und friedlich wetteiferndes Völkergemisch, eine blühende und eine bunte Welt in der Öde, Kargheit und Strenge der Mark Brandenburg war in ihrer Hundertfältigkeit von der Hand des Königs, der sie erschuf, zum Ebenmaß geordnet und zum Gleichnis gesetzt.
Aus den Russenhäusern von dunklem Holze mit ihrer versonnenen Schnitzerei tönten die Lieder der Steppe; in den Meiereien sangen die Schweizer Soldaten mit den Melkern ihrer Heimat den Kuhreigen; vor den blanken, fensterreichen, roten Backsteinhäusern am Kanal mit seinen reinen Wassern und jungen Bäumen rauchten Bas und Glas ihre tönerne Pfeife. Und durch die Straßen der Völker und Stämme schritten dröhnend, Bilder der Einheit, Schönheit, Stärke und Ordnung, die Grenadiere Seiner Majestät im Rocke des König-Obristen: einander und ihm selber völlig gleich, als trügen sie ein Ordenskleid, indes da draußen in der Welt die Uniformen all der Regimenter die wildeste und bunteste Sache waren, wie sie die Laune eines großen Herrn erdachte, der sich eine Truppe für ein Abenteuer werben durfte. Der Preußenkönig hatte jenem Worte „Uniform“ den tiefen Sinn des einen Kleides gegeben. Sie alle trugen seinen Rock. Sie alle leisteten den einen Dienst mit ihm und taten ihn schweigend, nur von dem Wirbel der Trommeln gelenkt.
Der Oberst Friedrich Wilhelm von Hohenzollern ritt durch die Völker des Erdballs zu seinen Feldern hinaus, eine Pause seines Dienstes recht zu nützen.
Der Tag aber war glühend, König Friedrich Wilhelm kehrte noch nicht bald an seinen Schreibtisch heim. Er ritt noch lange am Rande der Felder entlang, weithin zu den Ufern des Heiligen Sees. Über dem See, den Kiefern und Birken seiner Buchten, standen steile, weiße Wolkenwände; vielleicht, dass ein Gewitter aufzog und starker Regen für die Ackerleute und Gärtner herabkam, ihr Werk zu erleichtern. Könige und Bauern lernen nach den Wolken blicken. Noch war kein Wind. Die tiefen Äste einer Birke hingen unbewegt über dem See, die Binsen und die Schilfe waren ohne Zittern, und über dem Wasser ruhte ein Dunst, in dem Libellen schwirrend stillestanden.
In einer Lichtung des Schilfes, ganz dicht vor König Friedrich Wilhelms Pferd, blitzte ein hoher Silberhelm seines Leibregimentes, auf die Erde geworfen, leuchtete eine der neuen roten Westen, wie sie nun erstmalig mit der Montur dieses Jahres ausgeteilt worden waren. Die Flinte stand an einen Baum gelehnt, und über dem kräftigsten der unteren Zweige hing die gelbe Hose und der blaue Rode. Sehr fern, erst jenseits des Gebüsches, ragte das kleine Dächlein des ersten Schilderhauses vor der Stadt empor.
Am Ufer rauschte es auf; in riesigen Stößen kam es zum Ufer – beinahe verfing sich der Grenadier in den Wurzeln; in höchster Eile griff er die Flinte auf. Nun stand der Schwimmer dicht am Weg, ein Riese, schön und gebräunt. Das blonde Haar, von Wasserbächen rinnend, lag in breiten Strähnen auf der kühnen Stirn. Über die mächtigen Schultern, den gewaltigen Leib strömten die Tropfen des sommerlichen Waldsees. Die Augen, tiefer als der Himmel dieses lichten Tages, waren groß zu dem König auf seinem Schimmel erhoben; und, noch so fliegenden Atems, dass die Brust sich hob und senkte, als sauge sie zum ersten Mal die Luft der Erde ein, erstarrte der Leib schon in der feierlichen Geste der Ehrenbezeigung. Ein junger Titan, dem Göttergeschlecht eines neuen Äons entsprossen, war den Fluten entstiegen; und kaum dass er die Erde betrat, noch ganz umrauscht von Klarheit und Kühle, war er bereit zu Wehr und Dienst. Der König hielt an. Er fragte sehr streng:
„Was hat der Soldat auf Wache zu tun, wenn der König vorüberkommt?“
„Das Gewehr zu präsentieren, Eure Majestät.“
Und das tat der Grenadier am See.
König Friedrich Wilhelm lächelte und verzieh.
Aber im Weiterreiten war das Lächeln längst dem Augenblick enthoben; und aus der Begegnung, durch die es erweckt war, erwuchs dem König die Fülle der Bilder.
Alle dunklen Sümpfe der Mark spiegelten und schimmerten ihm in der Sonne des hohen Sommers als klare, kühne, weite Seen. Und aus den Seen seines Landes stieg ihm das neue Geschlecht empor, machtvollen Leibes und fruchtbar, nahm vom Waldgrund helle Waffen auf und hielt sie, in dem heißen Lichte einem feurigen Schwerte gleichend, dem Herrn des Landes dienstbar und wehrhaft entgegen: lächelnde, junge Krieger und Zeuger, Erhalter des Lebens, herrliche Söhne, Brüder und Väter in einem.
Aus dem Lächeln und dem Bilde wuchs der neue Entschluss: die Söhne seines Landes schon als Knaben für sein Heer zu erwählen. Die Stunde der Söldnermilizen hatte geschlagen.
In unermesslicher Fülle stiegen die Söhne dem Vater aus den Seen seiner Wälder entgegen, griffen die Waffe und grüßten ihn und waren von den Sommerfluten überströmt, als sei eine Taufe geschehen.
* * *
An diesem Abend war Johannisnacht, und es war ein Abend von ungewöhnlicher Helligkeit, grünlichblau war der Himmel, zart und ohne Gewölk, obwohl in den späten Stunden des Tages ein heißer, heftiger Sturm dahingefegt war. Noch nach der Abendtafel schien die Sonne auf den Schreibtisch des Königs. Die Wipfel jenseits der Havel vor seinen Fenstern lagen noch völlig im Licht.
König Friedrich Wilhelm war diesmal nicht zur Tabagie gegangen. Von seinem Ausritt heimgekehrt, ging er sogleich an die Arbeit. Der neue Plan für die Armee war schon zu lebendig in ihm. Er entwarf, berechnete und schrieb nieder:
„Wer von Gott einen gesunden und starken Körper empfangen hat, der ist ohne alle Frage nach seiner natürlichen Geburt und des Höchsten Gottes eigener Ordnung und Befehl mit Gut und Blut schuldig und verpflichtet, zum Schutz des Vaterlandes einzutreten, sobald der Kriegsherr es befiehlt.“
Den Regimentern wurden Kantone für die Rekrutierung zugeteilt, möglichst jedem Junkeroffizier sein eigener Gutsbezirk, dessen Leute er kannte.
„Durch das Kantonsystem“, verhieß der Landesvater und Kriegsherr, „wird die Armee unsterblich gemacht, indem sie eine stets fließende Quelle erhält, aus der sie sich immer wieder zu erneuern vermag.“
Vom neunzehnten bis zum einundvierzigsten Jahr war die Mannschaft seines Landes nun der Aushebung unterworfen; er hob sie als Soldaten aus, aber er war zugleich gewillt, sie gerade dadurch zu echten Bürgern seines Reiches zu erziehen, indem sie nun alle zum ersten Male Landesdienst leisten lernten.
Aus den Bürgerhäusern, die er begründete, von den Bauernhöfen, die er anlegte, sollten ihm Preußens Krieger kommen; und von den Adelsschlössern, die er entschuldete, seine Offiziere.
Und nun wendete er sich in seiner Schrift an seinen Sohn: „Dann wird er den Vorteil haben, dass der ganze Adel von Jugend auf in seinem Dienst erzogen wird und keinen Herrn kennt als Gott und den König von Preußen. Wenn Ihr lauter Offiziere habt aus Euren Landes Kindern, so seid versichert, dass das eine beständige Armee ist und dass Ihr beständige, brave Offiziere an ihnen haben werdet. Heute hat das noch kein Potentat.“
Die Knaben seines Landes wollte er von frühe an als seine Rekruten, als seine tapferen kleinen Söhne bezeichnen. Ein rotes Tüchlein sollten sie, sobald sie nur in seine neuen Schulen kamen, um den Hals geschlungen tragen; und das würde heißen: Dazu kommt einmal der blaue Rock.
Wenn sie die achtzehn Jahre hatten, wollte er sie rufen zur Wehr-Pflicht, alle, die „von Gott einen gesunden und starken Körper empfingen“. Er würde sie bei seiner alten Mustertruppe durch seine besten Offiziere exerzieren, drei Monate im Jahr: April, Mai und Juni; der Junker als Offizier würde die Burschen seines Dorfes kommandieren. Als Soldaten ohne Fehl und Tadel wollte der König sie dann wieder heimsenden, ein Büschel am Hut, das als ein Nachweis galt: In den Garnisonen Seiner Majestät trägt jeder der Unsren den Helm.
Wo aber nur ein Sohn in Hof und Haus war, gehörte er dem leiblichen Vater mehr als ihm; und der Landesvater gab ihn von vornherein frei; frei auch alle Kolonistensöhne, bis ein neues preußisches Geschlecht aus ihren Kindern geworden war; frei endlich auch die Söhne des Pfarrerstandes. Um die Diener Gottes war ihm immer ein Geheimnis trotz all ihrer Menschlichkeit – trotz all ihrer Feindseligkeit gegen ihn selbst.
Der Manufakturist Friedrich Wilhelm von Hohenzollern würde wieder eifrig exportieren müssen, um Kost und Löhnung für das Heer der Landessöhne des Königs von Preußen aufzubringen.
Der Pächter Friedrich Wilhelm von Hohenzollern würde wieder eine gewaltige Leistungssteigerung aller seiner Ländereien durchsetzen müssen. Schon gab er den Auftrag, Vorwerke für die Anlage von Mustergütern aufzukaufen.
Durch Umlagen und Steuern das neue Beginnen zu finanzieren, davor hatte der Generaldirektor Preußens einen heftigen Abscheu. Denn Steuern empfand er als trügerische Einnahmen, weil das Land nicht dabei „florierte“. Wo aber Steuer unumgänglich war, Verbrauchsakzise auf alle Luxusartikel zum Beispiel, belegte er in allererster Linie den Hof des Königs von Preußen mit hohen Abgaben. Kein königlicher Wirtschaftswagen, der nicht am Tore halten musste, um sich durchsuchen zu lassen.
Wieder setzte der Herr im Anfang seines neuen Werkes alle Schwierigkeiten, die entstehen konnten, groß und deutlich in die kühnen Pläne ein. Aber gelangen sie, so würde er als erster Landesherr eine allgemeine Wehr-Pflicht seines Volkes haben. „Heute hat das noch kein Potentat“, vermerkte er für den Sohn.
Mit einem hatte König Friedrich Wilhelm nicht gerechnet: mit einer Erleichterung und Bestätigung, die er niemals zu erhoffen wagte. Er war allein auf Widerstand gefasst, denn er wusste: Seine Korporale hatten keinen guten Ruf, und der Garnisonsdienst war hart.
Aber nun war es anders gekommen, und das Unerwartete geschah durch die Bauern. Seit er Frondienst, Leibeigenschaft und Prügelstrafe von ihnen zu nehmen und sie zu Herren und Erben ihrer Höfe zu machen suchte, war es, als könnten sie sich trotz aller strengen Kontrolle doch nur Gutes vom Bauernkönig versprechen, auch wenn er ihnen jetzt zum ersten Male nur als der Soldatenkönig entgegentrat. Es hob wohl ihren Stolz vor all den hohen Herren, dass sie, ihrer Knechtschaft entronnen, nun auch noch statt der armen Bauernzipfelmütze den hohen, blanken Helm der Grenadiere tragen sollten und dass sie statt zerrissener Kittel des Königs Rock anlegen durften wie die Junkersöhne. Und ihre Welt war nicht mehr nur das Dorf, in dem man vor dem nächsten Lehnsdienst gezittert hatte, sondern sie zogen in die neuen Städte des Königs hinaus und dienten ihm, dem Obersten, selber mit Junkern und einstigen Lehnsherren.
Der König war glücklich. Schon kehrten die ersten mit dem Büschel am Hut vom Wehrdienst in ihr altes Dorf zurück. Schon war die zweite Gruppe in Montur. Schon weigerten sich die Jungen mit dem roten Tüchlein um den Hals, sich von den Schulmeistern schlagen zu lassen; sie unterstünden allein ihrem König. So weit war der Stolz schon gediehen, und tatsächlich musste der König mit einer öffentlichen Erklärung hervortreten, die gewisse Gepflogenheiten in den Schulen vorerst doch noch sanktionierte; denn ein sechsundsechzigjähriger Lehrer hatte sich von einem Offizier erbitten müssen, Soldat werden zu können, um wenigstens als Soldat die „Soldaten“ verprügeln zu dürfen.
Sehr glücklich war der Herr; am glücklichsten in jener Stunde tiefer Ruhe, wenn er am Sonntagmorgen mit seiner Familie, dem Hofe und der Garnison in seiner neuen, lichten Kirche der Kanzel gegenübersaß und droben auf dem Chor die „Kinder der Seligkeit“, die Waisenknaben in den kleinen Soldatenröcken sangen, die Grenadiere ihre Hände über ihrem abgenommenen Helm gefaltet hatten und auf den Kirchenbänken überall die Burschen Hüte mit dem bunten Büschel auf den Knien hielten. In solchen Stunden wollte er am liebsten alle um sich sehen, die mit seinem Lande gediehen. Wenn er aus der Kirche trat, so sollten alle da sein, denen es gut erging im Umkreis seiner neuen Stadt. Mit Pferd und Wagen sollten sie kommen, ihren Herrn zu grüßen und Umfahrt vor ihm zu halten: Umfahrt auf dem einstigen Sumpf, der nun zur schönen Königsstadt geworden war. Denn der Text der heutigen Predigt war gewesen: „Siehe, ich habe auch in diesem Stück dich angesehen, dass ich die Stadt nicht umkehre, von der du geredet hast.“
Die ersten Häuser auf dem zugeschütteten und pfahldurchrammten Grund des Faulen Sees hatte der König noch abreißen lassen müssen; und wie in einem schweren Gerichte, das über ihn verhängt war, blieb ihm auch nicht erspart, den Abbruch der fast vollendeten Soldatenkirche anzuordnen! Dreimal ganz von neuem hatte der Herr das Werk in Angriff genommen; die Kirche hielt vom zweiten Mal an stand.
Aber nun gaben die jungen Bäume zweier breiter Alleen schon sanften Schatten. Reinlich, freundlich, festlich umrahmte ein Viereck von wohlhabenden Häusern mit edlen Giebeln und vornehmen Treppen und blanken Laternen die blühende Plantage; Obelisken mit den Emblemen und Insignien des Königs schmückten den Platz.
In den Kreisen von Monbijou und auch im Landadel, der des Lebens einer Residenz so lange entbehrte, nicht minder im so rasch emporgekommenen Bürgertum der Manufakturisten und Beamten, löste die Aufforderung des Königs zu sonntäglicher Auffahrt vor der Kirche und im neuen Stadtteil die höchsten Hoffnungen, Genugtuung und Beifall aus. Ah, endlich entsannen sich nun Majestät der Verpflichtungen eines Hofes; endlich sollte es in der neuen Residenz ein wenig gesellschaftliches Leben geben. So hatte es also seine Bedeutung, dass der Herr, nachdem er streng verbot, adlige Wappen an den Gutsgrenzen wie obrigkeitliche Insignien anzubringen, ausdrücklich wünschte, dass diese Wappen nun an Häusern, Brücken und Patronatskutschen zu finden wären. Dem Herrn war es das Zeichen eines Friedensschlusses gewesen.
Man war nun geradezu darauf bedacht, dem einsichtig gewordenen Herrn etwas wie eine Freude zu bereiten, und die Stoffe für die neuen Toiletten zu dem Korso – so nannte man die Auffahrt von vornherein – wurden überwiegend in den Königlichen Manufakturen bestellt. Der Adel hatte sich auch durchaus abgefunden, dass er die Anwesenheit der neuen bürgerlichen Stände würde dulden müssen. Gewiss, es war ein Schatten; aber Glanz blieb Glanz; zum ersten Male unter der Herrschaft dieses Königs brach er in Preußen ein.
Die Auffahrt selbst überstieg dann alle Erwartungen. Der König hatte die kostbarsten Pferde des Marstalls und die besten Wagen seiner Remisen für Familie und Gefolge herausgegeben; die Grenadiere bildeten ein schimmerndes und blitzendes Spalier; die Völker Potsdams, jauchzend und in allen Sprachen rufend, drängten heran; Kinder liefen vor dem Korso her, grüne Zweige schwenkend und Lieder anstimmend, als sei er ein Festzug. Die Karosse der Königin gab die Richtung an. Es schien tatsächlich etwas wie ein Zeremoniell entworfen zu sein.
König Friedrich Wilhelm hatte vor dem Kirchportal seinen Schimmel bestiegen. Am Turme nahm die Fahrt ihren Anfang. Langsam rückten die offenen Kaleschen und die reichgezierten geschlossenen Kutschen um den Kirchplatz an, dann rollten sie die breite, neue Straße am schattigen Kanal entlang. Aus Hollands Backsteinhäusern winkten alle die, denen Pferd und Kutsche noch nicht zu Gebote standen. Auf den Treppen zu den Kähnen, selbst in den Wipfeln einiger alter Linden am Ufer, hockten kleine Jungen und große Burschen und hielten das dichte Laub mit allen Kräften auseinander. Vom Kanal her führte die Umfahrt um den neuen Wilhelmsplatz, über den vergessenen Grund des Faulen Sees, und wieder die Allee an dem Kanal zurück noch einmal am König vorüber. Der saß noch immer am Kirchtor zu Pferde und winkte und grüßte jeder Karosse und jeder Equipage, Kalesche und Kutsche zu. Der König hatte auch eine Feldmusik bestellt und nahm sich gar das Recht des Kaisers, zu den Trommeln und Pfeifen noch mit Trompeten blasen zu lassen. Man fand ganz allgemein, dass Rex auch liebenswürdig sein könne.
Dann freilich schlug die gute Meinung unverhältnismäßig rasch um; denn bei der zweiten Runde schloss sich in straußenfederbedeckter Equipage, in überladener Kammerherrnrobe der Freiherr Präsident von Gundling an, schon am Morgen trunken – vom König geduldet, damit er aller Hoffart eine Warnung sei.
Und das Allerunbegreiflichste stellte sich jetzt erst heraus: Bäuerliche Kastenwagen, Gemüsekarren und Leiterwagen mit schweren Ackergäulen davor, alle, denen es im Umkreis seiner neuen Stadt nur irgend gut ging, hatte der König zur Sonntagsauffahrt gerufen. Da ließ sich nun der Bauer und Gärtner und Kärrner nicht mehr vertreiben; da polterten nun die Karren der Landleute hinter den Staatskarossen all der Herren und Damen von Stand hinterdrein, und der Korso war diesen zum Fastnachtszug entwürdigt. Ein großes Glück, dass Ihre Majestät an der Spitze des Zuges noch nichts davon erfuhr und begriff!
Kein Bauer, kein Fischer, kein Müller, der nicht vom König am Kirchtor gegrüßt worden wäre und das Lächeln des Königs sich nicht zugewandt wusste.
Nun kamen sie auch von den anderen Kirchen her, denn es war der Wunsch und das Gebet des Königs, dass Gott in Potsdam in allen Zungen und jedem Glauben der Erde zu der gleichen Stunde angebetet werde. Auch in den anderen Kirchen war die Feier des Sonntagsgottesdienstes vorüber. Der Dominikanerpater, welcher für die katholischen Grenadiere des Königs Italienisch und Madjarisch, Französisch und Spanisch, Portugiesisch und Polnisch hatte lernen müssen, führte aus der neuen Kirche Marienkinder und Musketiere heran, die ihre Rosenkränze in den Händen hielten. Die französisch-reformierte Gemeinde der Refugies und Hugenotten, würdig in ihren langen, dunklen Röcken, den schönen Pelzmützen und Hauben und reichen Spitzenkragen, schritt gemessen einher; und jeder hatte noch die frommen und fleißigen Hände gefaltet. Der Pope, dem für die Moskowiter, dem Geschenk der Zarin Katharina an den Preußenkönig, eine griechisch-orthodoxe Kapelle am Langen Stall erbaut worden war, wies mit Stolz auf seinen frommen Chor. Den hatte ihm der König erst ganz kürzlich aus Moskau bestellt. Die zwanzig türkischen Riesen des Herzogs von Kurland beteten und sangen indes noch in einem Saal, der nahe bei dem Gotteshause der Soldaten lag und dessen Fenster nach Osten hin offenstanden, ihr Allah il Allah! Denn der König hatte sie freundlich gefragt, ob ihnen nicht der preußische Sonntagmorgen für ihren osmanischen Freitag gelten könne; es liege ihm sehr viel daran.
Das Geläut der Türme – an zwei Kirchen hingen die Glocken noch in einem überkupferten Holzgerüst, weil die frisch aufgeschüttete Erde die steinernen Türme noch nicht zu tragen vermochte – wollte nicht enden; und nun sang auch das neue Glockenspiel der Soldatenkirche den Choral der vollen Mittagsstunde. Der König hatte es getreu den geliebten Erinnerungen seiner holländischen Jugendreisen gießen lassen, als sei der dunkle, ernste Ruf der schweren Glocken nicht genug zu Gottes Lob in der Mark Brandenburg, als müsse auch ein lichter, himmlischer Glockengesang über seine Völkerstadt hinschweben.
Aller Augen waren auf das Glockenwerk im Turm gerichtet, bis der übermäßige Widerschein der Sonne in der goldenen Wetterfahne sie blendete. Ein Geflirr von Gold war um den bronzenen Adler des Königs, der zu einer strahlenreichen Sonne strebte, als frommes Hoheitsabzeichen des Königs von Preußen auf dem Turme des Soldatengotteshauses. Bald sollten es auch seine Regimenter, seine Ämter alle führen. Das Wort der Heiligen Schrift, das zu dem Hoheitszeichen gehörte, wusste nur König Friedrich Wilhelm selbst; darüber hat er sich mit keinem beredet: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.“ Denn der stolze Sinnspruch, den er vor der Welt ausgab, genügte ihm nicht. „Non soli cedit – Er weicht der Sonne nicht.“ Immer brauchte er das Wort des Glaubens.
Auch war kein Städtegründer vor Gottes dunklen, alten Domen zu hellen, neuen Kirchen geflüchtet, so wie der Preußenkönig einst aus Brandenburg gewichen war. Und keiner wartete wie er „auf eine Stadt, die einen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“.
Alles war ihm Gleichnis und Verkündigung; auch die Umfahrt, die sie Korso nannten, war nur Zeugnis: „Es stehet herrlich und prächtig vor Ihm und gehet gewaltig und fröhlich zu an Seinem Ort. Bringet her dem Herrn, ihr Völker, bringet her dem Herrn Ehre und Macht!“
Zum letzten Mal für diesen Sonntagmorgen hatten die Karren und Karossen den König umkreist. Nun hielt die Kalesche Ihrer Majestät dicht vor ihm. Er trat an den Schlag und sprach einige Worte mit ihr, er tat viel freundliche Fragen. Die Königin fand es sehr heiß.
Der Herr ging auch zum Wagen der Kinder, hob seinen Hulla heraus, küsste und streichelte ihn und setzte ihn als Reiter aufs vorderste Kutschpferd, was den zarten Kleinen etwas ängstlich machte.
Inzwischen war man allenthalben ausgestiegen. Kronprinz Friedrich, von der Mutter lächelnd beachtet, hielt im Schatten drüben Cercle mit den neuen Gesandten. Der Freiherr Präsident von Gundling, als prüfe er nochmals das Glockenspiel, sah blinzelnd zu der Kirchenwetterfahne auf, zu dem Adler, der sich in die Sonne aufschwang.
Einer der Fremden, wie sie zahlreich von Berlin herübergekommen waren, wies unauffällig auf den Kronprinzen, den er nicht kannte, und fragte den Freiherrn von Gundling, weil er ihm am nächsten stand, sehr leise, wer dies wohl sei.
„Die aufgehende Sonne des Brandenburgischen Hauses“, sagte Gundling, denn er blinzelte noch immer in all das glockenumsungene, goldene Flirren über dem Turm, auf den Adler und das reiche Strahlenbündel der Sonne. Und erst als der Fragende ihn höflich an seinen Irrtum gemahnte und bemerkte, er habe den jungen Herrn dort gemeint, den ernsten, schmalen, vornehmen Knaben, erklärte Gundling verbindlich, indem er seinen Staubmantel um Brust und Schultern drapierte wie für ein Pesnesches Gemälde:
„Ah, wer dies ist, mein Herr? Der Neffe des Königs von England!“
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