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1. WIE AUS UNTERSTÜTZERN GENOSSEN WERDEN
ОглавлениеIn seiner letzten Rede beim alljährlichen Galadinner der Hauptstadt-Korrespondenten in Washington, D.C. nahm Präsident Barack Obama den Senator Bernie Sanders mehrfach scherzhaft aufs Korn. Sanders führte im Frühsommer 2016 einen überraschend starken Vorwahlkampf gegen die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei, die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton. Nach einigen Freundlichkeiten für Prominente und Politiker kam Obama auf Sanders zu sprechen:
Das »Phänomen Bernie«, und vor allem seine Anziehungskraft auf junge Leute, hat viele überrascht. Mich nicht, ich verstehe das. Erst kürzlich sprach mich eine junge Frau an und sagte, sie habe es satt, dass die Politiker ihren Träumen ständig im Weg stünden. Als hätten wir unsere 17-jährige Malia dieses Jahr vielleicht zum Burning Man-Festival fahren lassen. (Gelächter.) Undenkbar. (Gelächter.) Bernie hätte sie womöglich fahren lassen. (Gelächter.) Wir aber nicht. (Gelächter.)
Es schmerzt mich dennoch, Bernie, dass du dich ein bisschen von mir distanzierst. (Gelächter.) Ich meine, das tut man einem Genossen doch nicht an. (Gelächter und Applaus.)1
Die letzte Pointe zielte auf die sozialistische Bresche, die Sanders’ Vorwahlkampf in der US-Politik öffnete. Auf den ersten Blick klingt die Spitze einfach wie eine antikommunistische Denunziation: wie Obamas recht unverhohlener Wink, Sanders sei als erklärter Sozialist für die politische Klasse der USA gänzlich inakzeptabel. Vielleicht. Womöglich war sie aber auch ein Wink für das Publikum, Sanders gehöre nicht zur Demokratischen Partei und sei also gar nicht Obamas Parteigenosse: Sanders wolle Präsidentschaftskandidat der Demokraten werden, sei aber eigentlich gar kein Demokrat. Obamas Scherz ist noch für eine dritte Lesart offen: Erinnern wir uns, wie beharrlich die US-amerikanische Rechte Obama selbst denunziert und ihm vorgeworfen hatte, Kommunist oder Sozialist zu sein. Acht Jahre lang betitelte die Rechte den ersten schwarzen Präsidenten des Landes als den größten Linksradikalen, der jemals im Weißen Haus amtiert habe. Die Rechte verspottete ihn als »Genosse Obama« und stellte ihn in eine Reihe mit Lenin, Stalin, Che und Mao. So besehen ginge es bei der Pointe nicht um Sanders als Genossen, sondern um Obama als Genossen: Eventuell hat Obama sich als Sanders’ Genosse bezeichnet, weil sie ein gemeinsamer politischer Horizont vereine – der emanzipatorisch-egalitäre Horizont, der mit dem Wort »Genosse« bezeichnet wird. Würden sie auf derselben Seite stehen und wäre Obama tatsächlich Sanders’ Genosse, dann hätte Obama etwas Solidarität erwarten dürfen. Der Witz funktionierte, weil alle im Saal – die Prominenten, die Washington-Insider und die Medienmogule – sehr wohl wussten: Obama ist kein Genosse. Von gemeinsamen Politikzielen sind Sanders und Obama meilenweit entfernt, auch wenn die Rechte beide nicht auseinanderhalten kann.
Das Wort »Genosse« verweist auf ein politisches Verhältnis, eine Reihe von Handlungserwartungen und auf ein gemeinsames Ziel. Es unterstreicht die Gleichheit (sameness) der Menschen auf derselben Seite – so unterschiedlich sie auch sind, Genossen halten zusammen. Obamas Witz sagt es selbst: Wer für eine bestimmte Politik einsteht, distanziert sich in aller Regel nicht von den eigenen Genossen. Dieses Verhältnis bestimmt solidarisches Handeln, es kollektiviert und lenkt das Handeln im Lichte einer gemeinsamen Vision von der Zukunft. Für Kommunisten ist dies die egalitäre Zukunft einer Gesellschaft, die von der Bestimmung durch Privateigentum und Kapitalismus befreit ist und reorganisiert wird auf Grundlage der freien Assoziation, des Gemeinwohls und der kollektiven Entscheidung der Produzenten.
Doch Worte wie »comrade«, »Genosse« oder auch »Kamerad« sind älter als deren Verwendung durch Kommunisten und Sozialisten.2 In romanischen Sprachen bezeichnet das Wort schon seit dem 16. Jahrhundert Menschen, die sich ein Zimmer teilen. Juan A. Herrero Brasas zitiert eine Paraphrase der Definition aus einem spanischen etymologischen Wörterbuch von 1936: »›camarada‹ ist jemand, der einem anderen so nahe steht, dass er mit diesem im selben Hause isst und schläft.«3 Auf Französisch war das Wort ursprünglich weiblich, »camarade«, und bezeichnete eine Kaserne oder Unterkunft für Soldaten; das deutsche »Kamerad«, so ließe sich ergänzen, ist ein Lehnwort aus dem Französischen.4 Wortgeschichtlich leitet sich das englische »comrade« von »camera« ab, dem lateinischen Wort für Kammer, Zimmer oder Gewölbe. Die technische Nebenbedeutung »Gewölbe« verweist auf eine generische Dimension der Wortbedeutung: als Struktur, die einen besonderen Raum schafft und offenhält.5 Ein Zimmer ist eine reproduzierbare Struktur, die Gestalt annimmt, indem sie ein vom Außen abgetrenntes Innen herstellt und den Menschen darin stabilen, dauerhaften Schutz bietet. Ein Zimmer oder einen Raum zu teilen erzeugt eine Nähe, eine Emotionsintensität und Solidaritätserwartung, welche die Menschen auf der einen Seite von denen auf der anderen Seite unterscheidet. Genossenschaftlichkeit (comradeship) ist ein politisches Verhältnis stabilen, dauerhaften Schutzes.
Das Konzept »Genosse« interessiert mich als Modus der Ansprache, als Träger von Erwartungen und als Symbol der Zugehörigkeit in den kommunistischen und sozialistischen Traditionen; ich begreife den Genossen als allgemeine Chiffre für das politische Verhältnis von Menschen auf derselben Seite einer politischen Barrikade. Genossen sind Menschen, die sich zweckgerichtet zusammenschließen, für eine gemeinsame Sache: Wenn wir siegen wollen, und wir müssen siegen, müssen wir zusammen handeln. In diesem Sinne beschreibt Angela Davis ihren Entschluss, der Kommunistischen Partei beizutreten:
Ich wollte einen Anker, eine Basis, eine Vertäuung. Ich brauchte Genossen, mit denen mich eine gemeinsame Ideologie verband. Ich hatte die kurzlebigen Ad-hoc-Gruppen satt, die auseinanderfielen, wenn die geringste Schwierigkeit auftrat; die Männer satt, die ihre sexuelle Höhe danach bemaßen, wie die Frauen vor ihnen geistig in die Knie gingen. Nicht daß ich furchtlos gewesen wäre, aber ich wußte, daß wir kämpfen mußten, um zu siegen, und daß der siegreiche Kampf von den Massen unseres Volkes und von der arbeitenden Bevölkerung insgesamt kollektiv geführt werden mußte. Ich wußte, daß dieser Kampf von einer Gruppe geleitet werden mußte, einer Partei mit einer dauerhafteren Mitgliedschaft und Struktur und einer substantielleren Ideologie.6
Auf Genossen kann man sich verlassen. Man teilt zumindest so viel Ideologie, so viel Verbundenheit mit den gemeinsamen Prinzipien und Zielen, um es nicht bei einmaligen Aktionen zu belassen. Zusammen kann man den langwierigen Kampf aufnehmen.
Unser Handeln als Genossen ist Ausdruck des freien Willens, aber nicht immer einer freien Wahl. Auf Genossen muss man sich verlassen können – auch wenn wir uns nicht mögen, und auch wenn wir verschiedener Meinung sind. Wir tun, was zu tun ist, weil wir es unseren Genossen schuldig sind. Vivian Gornick überliefert in Der Zauber des amerikanischen Kommunismus die Worte eines ehemaligen Mitglieds der Kommunistischen Partei der USA, kurz CPUSA, dem der alltägliche Trott aus Zeitungsverkauf und Agitation – wie man sie vom Parteikader erwartete – zwar zuwider war, der aber dennoch erzählte: »Ich hab’s gemacht. Ich hab’s gemacht, denn wenn ich es nicht gemacht hätte, hätte ich meinen Genossen am nächsten Tag nicht unter die Augen treten können. Wir alle haben es aus ein und demselben Grund gemacht: Wir waren voreinander verantwortlich.«7 Psychoanalytisch gesprochen fungiert der Genosse als Ich-Ideal:8 Mit diesem Bezugspunkt können Parteimitglieder ihre Arbeit als wichtig und sinnvoll begreifen.9 Voreinander verantwortlich zu sein bedeutet, das eigene Handeln mit den Augen der Anderen zu sehen. Lässt du sie hängen oder leistest du eine Arbeit, die sie achten und bewundern?
In meinem Buch Die Massen und die Partei bezeichne ich den guten Genossen als ein Ideal-Ich, sprich: als das Selbstbild der Parteimitglieder.10 Sie imaginieren sich als mitreißende Redner, brillante Polemiker, versierte Organisatoren oder mutige Kader. Im Unterschied zu diesen Ausführungen geht es mir im vorliegenden Buch darum, dass der Genosse auch als ein Ich-Ideal fungiert: als Blickwinkel, den Parteimitglieder – und oft auch Sympathisanten – sich selbst gegenüber einnehmen. Dieser Blickwinkel ist ein Effekt der Zugehörigkeit zu derselben Seite, die auf jene Menschen zurückwirkt, die sich einem gemeinsamen Kampf verschrieben haben. Der Genosse ist eine symbolische und eine imaginäre Figur, wobei ich mich im Folgenden auf die symbolische Dimension des Ich-Ideals konzentriere.
Mein Nachdenken über den Genossen als allgemeine Chiffre für Menschen, die auf derselben Seite stehen, speist sich aus meinen Arbeiten über den Kommunismus als Horizont linker Politik und über die Partei als dafür notwendige politische Form.11 Wer in unserem politischen Horizont einen kommunistischen Horizont erkennt, betont den emanzipatorisch-egalitären Kampf der Proletarisierten gegen die kapitalistische Ausbeutung – sprich: gegen die Bestimmung des Lebens durch die Kräfte des Marktes, den Wert, die Arbeitsteilung (nach Geschlecht und Hautfarbe), den Imperialismus (den Lenin theoretisch als die Vorherrschaft des Monopol- und Finanzkapitals beschrieb) und den Neokolonialismus (den Nkrumah theoretisch als die letzte Stufe des Imperialismus fasste). Heute erkennen wir diesen Horizont in den Protesten schwarzer Frauen gegen Polizeigewalt, weißen Suprematismus sowie die Tötung und Inhaftierung von Schwarzen, Farbigen und Arbeitern. Wir erkennen ihn in den Infrastrukturkonflikten um Pipelines, Klimagerechtigkeit und nahezu unbewohnbare Städte mit ungenießbarem Trinkwasser und vergifteten Böden. Wir erkennen ihn in den vielfältigen Protesten im Bereich der sozialen Reproduktion gegen Überschuldung und Räumung von Privathaushalten sowie Privatisierung öffentlicher Dienste und für hochwertige, frei zugängliche Angebote im sozialen Wohnungsbau, in Kinderbetreuung und Bildungswesen, im öffentlichen Nahverkehr und Gesundheitswesen sowie in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge. Wir erkennen ihn in dem beharrlichen Kampf der LGBTQ-Gemeinschaft gegen Belästigung, Diskriminierung und Benachteiligung.
Es liegt heute klar auf der Hand, dass der kommunistische Horizont als Horizont politischer Auseinandersetzungen nicht auf nationaler, sondern auf globaler Ebene angesiedelt ist: Er ist ein internationaler Horizont. Das zeigt sich im Antagonismus zwischen den Rechten von Einwanderern oder Geflüchteten und dem verstärkten Nationalismus weltweit, in der Notwendigkeit eines globalen Umgangs mit der Erderwärmung und in den Bewegungen für Antiimperialismus, Entkolonialisierung und Frieden. Diese Beispiele zeigen den Kommunismus als negative Kraft, als Negation der globalen kapitalistischen Gegenwart.
Kommunismus ist aber auch die Bezeichnung für die positive Alternative zur permanenten und raumgreifenden Ausbeutung, Krisenhaftigkeit und Verelendung im Kapitalismus, und für ein Wirtschaftssystem, das auf der Befriedigung sozialer Bedürfnisse fußt – nach Marx’ berühmter Formel: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!12 – und in dem der Weg zu diesem Ziel kollektiv durch die Produzenten bestimmt und beschritten wird. Diese positive Dimension des Kommunismus erstreckt sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf den Umgang der Menschen miteinander, mit Tieren, mit Sachen und mit ihrer Umwelt. Widerstand und Unruhen genügen für den Aufbau des Kommunismus nicht; dieser erfordert die emanzipiert-egalitäre Organisation des menschlichen Lebens.
Was die Partei anbelangt, so sind die zeitgenössischen linken Intellektuellen darum bemüht, die Partei von den Bestrebungen und Errungenschaften zu isolieren, die sie überhaupt erst ermöglicht hat. Kommunistische Philosophen wie etwa Antonio Negri und Alain Badiou, die sich in einer Menge theoretischer Fragen nicht einig sind, kommen in der Organisationsfrage auf einen Nenner: keine Partei! Abgelehnt wird die Partei, weil sie autoritär und altmodisch sei und nicht zur Netzwerkgesellschaft passe. Jede Art der politischen Vereinigung könne überholt, erneuert oder anders konzipiert werden, außer der Partei der Kommunisten.
Die Ablehnung der Partei als Form linker Politik ist ein Fehler. Sie ignoriert die Assoziationseffekte auf die Menschen, die einen gemeinsamen Kampf führen. Sie missachtet die Lehren aus der Alltagserfahrung ganzer Generationen von Aktivisten, Organisatoren und Revolutionären. Sie fußt auf einem verengten, eingebildeten Begriff der Partei als totalitärer Maschine. Sie übergeht den Mut und Enthusiasmus, die Errungenschaften von Millionen Parteimitgliedern im Verlauf von mehr als hundert Jahren. Die Ablehnung der Parteiform zählte die letzten dreißig Jahre lang zur linken Dogmatik und hat uns kein Stück weitergebracht.
Zum Glück haben die Platzbesetzungen in Griechenland und Spanien wie auch die Lehren aus den Erfolgen und Grenzen der Occupy-Bewegung diese linke Dogmatik erschüttert. Sie haben das Interesse an der Partei als wandelbare politische Form neu belebt, die flexibel, anpassungsfähig und raumgreifend genug ist, um über die fröhlichen und aufrüttelnden Massenmomente auf den Straßen hinaus Bestand zu haben. Eine Theorie der Genossen kann zu dieser erneuerten Sichtweise beitragen, indem sie umreißt, wie die über-individuelle Verpflichtung auf einen gemeinsamen Kampf neue Stärken und neue Fähigkeiten hervorbringt. Im Gegensatz zur Reduktion innerparteilicher Beziehungen auf ein Verhältnis zwischen Führung und Geführten erfasst das Konzept »Genosse« die Effekte politischer Zugehörigkeit auf Menschen, die in einem politischen Kampf auf derselben Seite stehen. Wenn wir gemeinsam für eine von Ausbeutung, Unterdrückung und Vorurteilen freie Welt kämpfen, müssen wir uns vertrauen und aufeinander verlassen können. Das Prinzip Genosse benennt dieses Verhältnis.13
Die Beziehung zwischen Genossen bildet einen neuen Bezugspunkt für die Erkenntnis des Erkennbaren und für das Erahnen neuer Möglichkeiten. Sie bietet Gelegenheit für eine Neubewertung der Energie und Zeit, die man aufbringt – und für wen man sie aufbringt: Dient die eigene Arbeit den Menschen oder den Bossen? Basiert sie auf Freiwilligkeit oder auf einem Zwang zur Arbeit? Zielt man auf persönlichen Vorteil oder auf gesellschaftlichen Nutzen? Erinnern wir uns Marxens poetischer Beschreibung des Kommunismus, wo Arbeit »das erste Lebensbedürfnis« wird.14 Das Konzept der Genossen bietet uns eine Ahnung davon: Man will politische Arbeit machen. Man will seine Genossen nicht hängenlassen, man sieht den Wert der eigenen Arbeit durch ihre Augen, durch neue kollektive Augen. Diejenige Arbeit ist Erfüllung, die nicht durch Märkte, sondern durch ein gemeinsames Versprechen bedingt ist. Der französische kommunistische Philosoph und Aktivist Bernard Aspe begreift das Problem des zeitgenössischen Kapitalismus als Verlust »gemeinsamer Zeit« (temps commun), also einer Zeiterfahrung, die durch unser kollektives Zusammensein erzeugt und erlebt wird.15 Vom Urlaub über die Mahlzeiten bis hin zu den Pausen, unsere gesamte gemeinsame Zeit ist eingehegt in Formen kapitalistischer Aneignung. Die Apps und Tracker des kommunikativen Kapitalismus verstärken diesen Prozess derart, dass die Konsumptionszeit heute beinahe ebenso umfassend gemessen werden kann wie die Produktionszeit im Taylorismus: Wie lang verbleibt ein Besucher auf der Website? Hat eine Person den gesamten Werbespot gesehen oder ihn nach fünf Sekunden weggeklickt? Dagegen mündet kollektives Handeln, sprich die Wirklichkeit und Aktualität kommunistischer Bewegung, in ein kollektives Empowerment. Die Disziplin des gemeinsamen Kampfes – also nichts weniger als der Bruch mit dem kapitalistischen Leitbild, rund um die Uhr für die Bosse und Eigentümer zu produzieren und zu konsumieren – erweitert den Aktionsrahmen und verstärkt das Bewusstsein für ihre Notwendigkeit. Der Genosse ist eine Chiffre für das Verhältnis, in dem diese Transformation von Zeit und Arbeit vor sich geht.
Welche Vorstellung machen wir uns von politischer Arbeit? Unter Bedingungen, in denen politischer Wandel als völlig unrealistisch erscheint, stellen wir uns politische Arbeit mitunter als Selbsttransformation vor: Zumindest an uns selbst können wir arbeiten. Innerhalb der stark vermittelten Netzwerke des kommunikativen Kapitalismus betrachten wir beispielsweise unsere Aktivitäten in den sozialen Medien als eine Art Aktivismus, wobei Twitter und Facebook als zentrale Schauplätze der Auseinandersetzung fungieren. Oder wir verstehen das Schreiben als wichtige politische Arbeit und hauen Kolumnen, Leserbriefe und Manifeste raus. Denken wir an politische Arbeit, dient uns oftmals die parlamentarische Politik als Koordinatensystem, in dem es um Abstimmungen, Gesetzesentwürfe, Heckaufkleber und Wahlkampf-Buttons geht. Oder wir stellen uns Aktivisten als Leute vor, die Telefonkampagnen organisieren, Klinken putzen und Kundgebungen auf die Beine stellen. In einer anderen Gedankenwelt begreifen wir politische Arbeit vielleicht als individuelles oder gemeinsames Lernen. Wir stellen uns politische Arbeit eventuell als Kulturproduktion vor, als Aufbau neuer Gemeinschaften, Räume und Sichtweisen. Vielleicht hat unsere Gedankenwelt auch einen militanten, ja gar militaristischen Einschlag: politische Arbeit in Form von Demonstrationen, Besetzungen, Streiks und Blockaden, durch zivilen Ungehorsam, direkte Aktionen und klandestine Strukturen. Selbst wenn uns die Bandbreite politischer Aktivitäten bewusst ist, derer sich die Menschen im Umgang mit spezifischen Situationen und Fähigkeiten bedienen, um durch einen Zusammenschluss noch handlungsfähiger zu werden, stellen wir uns radikale politische Arbeit womöglich doch so vor, dass man einem Nazi aufs Maul gibt.
Welche Vorstellungen gibt es, angesichts der Vielfalt von Aktionsformen und Aktivitäten, von den Verhältnissen unter den Menschen, die auf derselben Seite kämpfen? In welcher Beziehung stehen die Aktivisten und Organisatoren, die Militanten und Revolutionäre zueinander? Auf dem Höhepunkt der Occupy-Bewegung waren die Beziehungen zu Anderen wochen- und monatelang vielfach durchdrungen von einem gemeinsamen Hochgefühl und Enthusiasmus für die kollektive Mitschöpfung neuer Aktionsformen und Lebensweisen.16 Aber diese Stimmung war nicht von Dauer. Die Aufgabe, ganz verschiedene Menschen und Politikbegriffe unter dem Druck polizeilicher Repression und materiellen Mangels zu organisieren, überstieg die Kräfte auch der engagiertesten Aktivisten. In den sozialen Medien und in der gesamten Linken sind die Beziehungen zwischen den politisch Engagierten heute wieder angespannt und konfliktbehaftet – oftmals entlang von Merkmalen wie Hautfarbe und Geschlecht.17 In der Vereinzelung und Desorganisation sind wir uns nicht sicher, wem man vertrauen und was man erwarten kann: Wir stoßen auf widersprüchliche Vorgaben wie Selbstsorge und Empörung. Unterstellungen untergraben Unterstützung. Erschöpfung ersetzt Enthusiasmus.
Wenn wir das Augenmerk auf die Genossenschaftlichkeit richten – auf die Art und Weise, in der gemeinsame Erwartungen politische Arbeit nicht nur ermöglichen, sondern auch befriedigend gestalten –, können wir unsere Energien vielleicht wieder auf den gemeinsamen Kampf fokussieren. Als ehemaliges Mitglied der CPUSA erklärte David Ross gegenüber Vivian Gornick:
Ich wusste, ich würde die neuen Bewegungen niemals so leidenschaftlich betrachten können wie die alte. Mir wurde klar, dass die KP mir einen Sinn für Kameradschaft vermittelt hatte, den ich niemals wieder haben werde. Und dass ich ohne diese Kameradschaft gar nicht politisch sein kann.18
Der Marxismus war, für Ross, die Kommunistische Partei. Die Partei verlieh dem Marxismus Leben, einen politischen Zweck. Dieses belebende Potenzial resultierte aus der »Kameradschaft«. Ross fährt fort: »Die Vorstellung von Politik als bloß diffuses Bewusstsein in Verbindung mit persönlicher Integrität war und ist für mich ein Unding«. Auf die Linke von heute trifft dieses Politikverständnis zu, »als bloß diffuses Bewusstsein in Verbindung mit persönlicher Integrität«. Vielleicht wirkt dann auch sein Gegenmittel: die »Kameradschaft« oder Genossenschaftlichkeit.
Mehrere Leute erzählten mir von der Herzenswärme, die sie durchfuhr, als sie in ihrer Partei zum ersten Mal als Genosse willkommen geheißen wurden. Mir ging es selbst so. In seinen Memoiren mit dem Titel Incognegro. Erinnerungen an Exil und Apartheid beschreibt der Theoretiker Frank Wilderson – der früher Mitglied des Umkhonto we Sizwe (MK), also des bewaffneten Arms des ANC gewesen war – sein erstes Treffen mit Chris Hani, dem Generalsekretär der Südafrikanischen Kommunistischen Partei (SACP) und Stabschef des MK. Wilderson schreibt: »Ich strahlte wie ein Schuljunge, als er mich ›Genosse‹ nannte.«19 Wilderson schilt sich für sein »kindisches Bedürfnis nach Anerkennung«, wie er es nennt.20 Weil er Hani noch immer auf ein Podest erhebt, fühlt er sich wohl angreifbar durch seine Freude21 am egalitären Impuls der Genossenschaftlichkeit: Wilderson hat den Gedanken noch nicht verinnerlicht, dass Hani und er politisch gleichgestellt sind. »Genosse« steht für ein Gleichheitsversprechen, und wo sich diese Verheißung erfüllt, müssen wir feststellen, wie sehr wir immer noch den Ideen von Hierarchie, Prestige und eigener Unzulänglichkeit verhaftet sind, die wir eigentlich ablehnen. Gleichheit anzuerkennen erfordert Mut.
Wildersons Freude darüber, von Hani als Genosse bezeichnet zu werden, steht in scharfem Kontrast zu einer anderen Begebenheit, bei der »Genosse« die Form der Anrede war: Kurz bevor Wilderson Südafrika gezwungenermaßen verließ, traf er Nelson Mandela 1994 bei einer Veranstaltung der Zeitschrift Tribute. Nach Mandelas Rede stellte Wilderson eine Frage und sprach Mandela als »Genossen« an: »Nicht als Herr Mandela. Auch nicht als ›Sir‹, wie der kriecherische PR-Mogul, der die erste Frage gestellt hatte. Genosse Mandela. Das kleidete ihn wieder in das militante Gewand, das er abgelegt hat, seit er das Gefängnis verlassen hatte.«22 Wie Wildersons Schilderung zeigt, kann der Gleichstellung gebietende Nachdruck von »Genosse« aggressiv wirken und ein Mittel der Disziplinierung sein – das ist Teil seiner Macht. Jemanden als »Genosse« oder »Genossin« anzusprechen erinnert das Gegenüber daran, dass man etwas von ihm erwartet.
Disziplin und Freude sind zwei Seiten derselben Medaille, zwei Aspekte der Genossenschaftlichkeit als Modus politischer Zugehörigkeit. Als Form der Ansprache, als Figur des politischen Verhältnisses und als Träger von Erwartungen stört »Genosse« die hierarchische Festlegung nach Geschlecht, Herkunft und Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft. »Genosse« beharrt auf der Gleichstellung gebietenden Gleichheit der Menschen, die in einem politischen Kampf auf derselben Seite stehen, und macht diese nutzbar für neue Arten der Zusammenarbeit und Zugehörigkeit. In dieser Hinsicht ist der »Genosse« ein Träger utopischer Sehnsucht im Sinne von Kathi Weeks. Die utopische Form hat, laut Weeks, zwei Funktionen: »Eine Funktion besteht darin, unsere Verbindung zur Gegenwart zu verändern, und die andere darin, unsere Beziehung zur Zukunft zu verlagern; die eine erzeugt Entfremdung, die andere Hoffnung.«23 Die erste Funktion mobilisiert die Negativität der Disidentifikation und Loslösung: Die aktuellen Verhältnisse erscheinen zunehmend seltsam und verlieren ihre Macht über unseren Möglichkeitssinn. Die zweite Funktion lenkt »unsere Aufmerksamkeit und Energie auf die offene Zukunft« und »vermittelt die Vision oder Ahnung von einer besseren Welt«.24 Die Macht des Worts »Genosse« ergibt sich daraus, dass es alte Beziehungen negiert und neue verheißt – das Versprechen selbst bringt sie hervor und heißt den neuen Genossen in Verhältnissen willkommen, die sich aus dem gesellschaftlichen Umfeld nicht ableiten lassen.