Читать книгу Privatdetektiv Joe Barry - Mord im Bunny-Club - Joe Barry - Страница 4

1. Kapitel

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Vor der letzten Zelle blieb Dodson stehen. Er zog seinen Knüppel mit einem kräftigen Ruck über die Stäbe und nickte zufrieden, als er einen vollkommenen Akkord hörte. Dann ließ er seine Scheinwerfer in das Zelleninnere fallen.

„Nummer 1018“, grunzte er. „Es ist soweit!“

Von seiner Pritsche erhob sich ein kräftig gebauter, dunkelhaariger Mann. Er hatte ein finsteres Gesicht mit einer kühn hervorspringenden Hakennase.

„Wie wäre es zur Abwechslung einmal mit Mr. Viktor Louis?“ knurrte er.

„Mister gibt’s bei uns nicht“, sagte Dodson. „Wir haben nur Nummern. Deine Haftzeit endet in einer halben Stunde. Danach kannst du losrennen und sehen, ob du jemanden findest, der dich Mister nennt, aber es muß schon einer sein, der dich nicht kennt, Nummer 1018.“

Er stieß den Schlüssel ins Schloß, wandte sich um und nickte dem Wachhabenden im Glaskasten zu. Der löste jetzt die elektronische Sperre, die alle Zellen zusätzlich sicherte. Die Gittertür schwang auf.

„Danke, Fettsau Dodson“, sagte der Gefangene ironisch.

Der Sergeant zog hörbar die Luft ein. Er packte den Holzknüppel fester.

„Du vergißt, daß du noch eine halbe Stunde hier bist“, sägte er böse. „In einer halben Stunde kann eine Menge geschehen. Würde mich verdammt nicht wundern, wenn du in letzter Sekunde die Treppe ’runterfällst – vor lauter Aufregung natürlich.“

Der Gefangene schüttelte den Kopf.

„No, Dodson, das werden Sie nicht riskieren. Draußen wartet mein Anwalt, um mich abzuholen. Von hier geht es sofort zum Arzt. Was meinen Sie, was für ein Zirkus los ist, wenn ich auch nur die geringste Schramme aufweise?“

Dodson grinste.

„Wer redet denn von Schramme, Nummer 1018. Hast du etwa Angst, daß ich dir etwas tue?“

„Das schätze ich so an Ihnen, Dodson – Ihre Fähigkeit, blitzschnell umzuschalten.“

„Der Gedanke, daß du etwas an mir schätzt, ist mir unsympathisch“, erklärte Dodson. „Es müßte sich schon um eine negative Eigenschaft handeln. Vorwärts jetzt, ich habe keine Lust, den ganzen Tag mit dir zu vertrödeln!“

Viktor Louis drehte den Kopf.

„Also, Boys“, sagte er, „macht’s gut!“

„Schreib uns mal ’ne Karte“, sagte einer der Männer in der Zelle.

„Ich komme bald nach“, versprach ein anderer.

„Dauert nur noch die Kleinigkeit von fünf Jahren“, brummte es aus der Ecke.

Ein kleiner, magerer Häftling richtete sich auf.

„Was? Nur noch fünf Jahre? Dann werde ich mal schon drangehen, meinen Kram zusammenzupacken.“

„Die fünf Jahre sitze ich mit einer Backe auf der Treppe ab“, sagte sein Kumpel. „Das Dumme ist nur, daß ich dann noch mal zwölf Jahre dranhängen muß!“

„Schluß jetzt“, entrüstete sich Dodson. „Was ist das hier, ein Schwatzverein oder ein Knast?“ Er knallte die Tür zu, stieß Viktor Louis seinen Knüppel aufmunternd in die Nierengegend, und sie marschierten los.

„Im Grunde kann ich Sie verstehen, Dodson“, sagte, der Gefangene, als sie im Lift in den Keler fuhren, wo die Kleiderkammer lag. „Wir sitzen meistens nur auf Zeit hier. Selbst die Lebenslänglichen können nach zwölf, fünfzehn Jahren bei guter Führung damit rechnen, wieder ’rauszukömmen. Bei Ihnen ist das anders, Dodson. Sie sind ein echter Lebenslänghcher. So etwas schlägt natürlich auf die Stimmung.“

„Schnauze!“ sagte der Sergeant nur.

Der grämliche Kalfaktor in der Kleiderkammer schob seine Nickelbrille auf die Stirn, beäugte die aufgenähte Nummer auf Louis’ Sträflingsanzug und schlurfte davon. Er kam mit einem großen Plastiksack wieder, dem beim Öffnen ein penetranter Geruch entströmte.

„Kampfer“, erklärte er.

„Riecht brutal“, knurrte Louis. „War das nötig?“

„Es ist unumgänglich, Sir“, erklärte der Mottenvertilger. „Wir planen, wie Sie wissen, langfristig. Dafür sind wir aber gebührenfrei.“

„Schluß mit dem Gequassel!“ knurrte Dodson.

Viktor Louis zwängte sich in einen blauen Anzug mit Nadelstreifen. Bei der Krawatte hatte er einige Schwierigkeiten. Kein Wunder, immerhin hatte er mehr als vier Jahre lange keine mehr in den Händen gehabt. Aber dann hatte er es geschafft, und plötzlich sah er ganz anders aus. Aus dem Häftling Nummer 1018 war plötzlich wieder der Viktor Louis geworden – jedenfalls optisch.

Die nächste Station war das Büro der Verwaltung. Der pfeifenrauchende Beamte, der die Kasse verwaltete, zahlte Louis den Betrag von 318 Dollar aus, seinen Arbeitslohn für vier Jahre Zwangsarbeit nach Abzug aller Unkosten.

„Viel ist es nicht“, sagte er. „Aber das kommt davon, wenn die Gewerkschaft nicht hinter einem steht.“

Viktor Louis schob die Scheine zurück.

„Behalten Sie’s. Sie können sich einen schönen Abend dafür machen.“

Der Beamte sah Dodson an.

„Sie haben alles gehört, Dodson“, sagte er. „Was glauben Sie, ob wir ihn wegen Bestechung drankriegen können?“

Der Sergeant schüttelte bedauernd den Kopf.

„Leider nicht. Es fehlt die Gegenleistung, wofür er Sie bestechen wollte. Großkotzigkeit allein ist leider nicht strafbar.“ Er sah Louis an. „Aber eines Tages sehen wir uns wieder, Nummer 1018. Kunden wie dich habe ich Dutzende gehabt, und alle sind sie eines Tages wiedergekommen.“

„Das liegt nur an Ihrer sympathischen Art“, meinte Viktor Louis und stopfte das Geld achtlos in die Tasche.

Letzte Station war der Abschiedsbesuch beim Direktor von Scranton. Man konnte nicht gut Direktor dieser Strafanstalt sein und sich zugleich noch Illusionen über die Besserungsmöglichkeiten von Häftlingen bewahren. Es gab natürlich Fälle, in denen der Direktor sich ernsthaft um die Resozialisierung eines Gefangenen bemühte, aber die Nummer 1018 gehörte ganz gewiß nicht dazu.

„Sie waren vier Jahre, zwei Monate und acht Tage bei uns“, sagte er. „Diese Zeit haben Sie voll abgesessen. Die routinemäßige Überprüfung Ihres Falles nach zwei Drittel der Strafzeit ergab, daß zu einer Begnadigung kein Anlaß bestand. Well, Mr. Louis, daß wir Sie gebessert haben, wage ich nicht zu hoffen. Aber diese vier Jahre sollten Sie gelehrt haben, daß Sie nicht unfehlbar sind. Auch Ihnen kann eine Panne passieren. Das ist die eine Lektion, und ich hoffe, daß Sie die gefressen haben.

Die andere Lektion läuft darauf hinaus, daß Sie jetzt in erheblichem Maße vorbestraft sind. Das wird sich in künftigen Fällen zu Ihrem Nachteil auswirken. Denken Sie dran, wenn Sie sich wieder in Ihrer alten Branche betätigen werden.“

„Danke, Sir“, sagte Viktor Louis ironisch. „Ich werde immer an Ihre gütige Fürsorge denken.“

„Welche Pläne haben Sie jetzt?“ fragte der Direktor.

Das Gesicht des Häftlings wurde hart.

„Zunächst werde ich eine alte, längst fällige Sache erledigen. Und dann, tja, dann werde ich lange, über Ihre Worte nachdenken, Sir. Und vielleicht – vielleicht werde ich mich wirklich bessern.“

Der Direktor, drückte auf den Summer.

„Bitte, keine Witze so früh am Morgen“, sagte er. „Davon bekomme ich immer Sodbrennen.“

*

Der Paternoster im Gebäude der City Police in der Centre Street von Manhattan beförderte einen hochgewachsenen Mann in die vierte Etage. Der Mann ging den Flur entlang, stieß eine Tür auf, fand, daß das Vorzimmer dahinter leer war, öffnete die nächste Tür und stand vor dem Schreibtisch von Lieutenant Antony Starr, dem Chef der Mordkommission C/II.

Der Captain grunzte unwillig. Es war spät am Abend, und seine kräftigen Finger umklammerten einen Stift, mit dem er an dem fälligen Jahresbericht seiner Abteilung herumbosselte.

„Der Tag geht“, sagte der0020Captain. „Der Tag geht, Joe Barry kommt!“

„Smooth“, sagte Joe. „Still going strong! Ich störe doch nicht?“

„Schon die Art der Fragestellung sollte dir bestätigen, daß du’s tust. Aber da du schon einmal da bist – wie formuliert man die Tatsache, daß es im abgelaufenen Jahr mehr Morde gab als je zuvor, während gleichzeitig unsere Aufklärungsquote zurückging. Ich meine, wie formuliert man es so, daß es umgekehrt klingt.“

„Mal nachdenken“, sagte Joe. „Wie wär’s mit folgendem: ,Auch in diesem Jahr setzte sich die ansteigende Te ndenz auf dem Sektor der Kapitalverbrechen fort. Die Aufklärungsquote ist nach wie vor gut, wenngleich auf dem polizeilichen Sektor Engpässe zu überwinden waren, was bei erhöhtem persönlichen Einsatz in der Zukunft jedoch gelingen sollte.‘“

„Hervorragend!“ sagte Antony und schrieb eifrig. Dann warf er den Stift weg. „Es ist bald Mitternacht. Wo brennt’s bei dir?“

Joe nahm eine Packung Chesterfield aus der Tasche. Er riß sie mit dem Daumennagel auf, klopfte sich eine Zigarette heraus, stekte sie an und blies den Rauch in die Luft. Er sah Antony an.

„Viktor Louis wurde heute, früh aus Scranton entlassen“, sagte er.

„Teufel, Teufel!“ schnaufte Tom. „Sind die vier Jahre schon vorbei?“

„Yeah“, sagte Joe gedehnt. „Vier Jahre, zwei Monate und acht Tage. Ich hatte mir den Tag im Kalender angestrichen, aber natürlich hatte ich ihn längst vergessen. Dodson hat mich vorhin angerufen, du weißt doch, der dicke Sergeant von Scranton.“

„In Scranton entlassen sie um acht Uhr früh“, sagte Tom. „Demnach ist Viktor Louis schon seit sechzehn Stunden auf freiem Fuß. Bei Gott, der Gedanke gefällt mir nicht. Der Bursche kann längst hier in New York sein,“

„Er ist bereits in der Stadt“, sagte Joe.

„Woher weißt du das?“

„Meine Spitzel haben lange Ohren. Viktor Louis wurde in Scranton von Dolly Sternberger, dem Strafverteidiger, abgeholt, der ihn damals vor Gericht verteidigte. Sie fuhren sofort nach New York, wo sie kurz vor zwölf Uhr mittags eintrafen. Hier aßen sie zusammen im Bnnny-Club in der Lexington Avenue. Anschließend fuhr Sternberger in seine Kanzlei in der Madison Avenue.“

„Und Viktor Louis?“

„Verschwand spurlos.“

„Was soll das heißen?“

„Die Lifeboard Insurance hatte einen Detektiv engagiert, der ihm nicht von den Fersen weichen sollte. Offenbar hat man geglaubt, Viktor Louis werde schnurstracks in den Wald rennen, ein Loch in den Boden buddeln und die Kiste mit den achthunderttausend Dollars herausholen, die damals die Versicherung bezahlt hat.“

„Und du sagst, der – hm – Kollege hat ihn verloren?“

„Nach vier Stunden“, sagte Joe düster. „Eine Affenschaude, welche Stümper sich heutzutage in unserer Branche versuchen.-Daß der Bunny-Club einen zweiten Ausgang hat, sollte sich allmählich herumgesprochen haben.

Wahrscheinlich hat Viktor Louis sich kaputtgelacht, als er ihn benutzte, während sein Schatten vor dem Haupteingang stand und dabei vermutlich mit Schlapphut. Trenchcoat und umgedrehter Zeitung bewaffnet war.“

„Mir gefällt die Sache nicht“, knurrte der Captain. „Überhaupt nicht. Du warst es, der Viktor damals hinter Gitter gebracht hat. Und weißt du noch, was er dir geschworen hat?“

Joe nickte.

„Daß er mich dafür eines Tages umbringen werde.“

„Und Viktor Louis ist der Mann, der versuchen wird, einen solchen Schwur zu halten“, fuhr Antony fort „Diese vier Jahre in Scranton waren der einzige Schönheitsfehler in Viktors Karriere. Nie zuvor war es möglich gewesen, ihm auch nur das geringste nachzuweisen. Er wird diese Scharte auswetzen wollen, und das kann er nur, indem er sich an dich hält.“

„So ungefähr denke ich mir das auch“, nickte Joe. „Hinzu kommt, daß er ein handfestes Motiv hat, gegen mich vorzugehen. Die Lifeboard Insurance ist wild entschlossen, sich ihr Geld von ihm wiederzuholen. Du weißt, daß die geraubten Bilder damals verschwunden blieben und nie wieder aufgetaucht sind. Man vermutet, daß Viktor sie verkauft und das Geld irgendwo versteckt hat. Lifeboard hat das ABC-Detektivbüro engagiert.“

„Diesen Pfuschladen, dessen Spezialität Scheidungssachen sind?“

„Ganz recht“, nickte Joe. „Ich bin überzeugt davon, daß die Brüder eine Menge Porzellan zerschlagen, aber gegen Viktor nichts ausrichten werden. Die logische Folge wird sein, daß Lifeboard tiefer in die Tasche greift und versucht, mich zu engagieren. Ich bin zwar dreimal so teuer wie die Schlüssellochgucker von ABC, aber das wird man in Kauf nehmen.“

„Yeah“, sagte Antony ohne jede Ironie. „Schließlich hist du der einzige, der Viktor jemals geschafft hat.“

„Es kommt hinzu, daß mein Sieg über ihn vor vier Jahren nur ein Teilsieg war. Man konnte Viktor vor Gericht nur nachweisen, daß er von dem Raubüberfall Kenntnis hatte, nicht, daß er daran beteiligt war. So wurde er nur verurteilt, weil er von einem drohenden Verbrechen Kenntnis gehabt und es unterlassen hatte, den Bedrohten zu warnen. Er bekam zwar die Höchststrafe von vier Jahren, aber bei einein kriminellen Universalgenie wie Viktor ist das im Grunde genommen ein Witz.“

„Al Capone wurde auch nur wegen Steuerhinterziehung verurteilt“, brummte Tom. „Wir müssen die Burschen zu jedem Preis einkaufen, zu dem wir sie kriegen.“

„Mag sein. Aber für mich ist ein Fall erst dann ganz gelöst, wenn ein Mörder auch wegen Mordes verurteilt wird und nicht, weil er falsch geparkt hat. Mit anderen Worten, meine Neigung, den Auftrag zu übernehmen, wenn Lifeboard an mich herantritt, ist nicht gering.“

„Viktor weiß das natürlich.“

„Klar. Daraus ergibt sich für ihn ein zusätzliches Motiv. Viktor ist nicht dumm. Er wird mich nicht umbringen, weil er mich haßt und sich an mir rächen will. Wegen solcher Gefühlsduseleien geht er das damit verbundene Risiko nicht ein. Aber wenn noch ein gutes Motiv dazukommt, sieht die Sache anders aus. Wenn Viktor damit rechnen muß, daß ich im Auftrag von Lifeboard mit dicken Spesen ausgestattet hinter ihm herziehe, um ihm die Freiheit zu vermiesen, wird er mit Freuden auf mich losgehen.“

„Well“, sagte der Captain, „es dürfte einer der seltenen Fälle sein, wo ein Mordopfer so vernünftig ist, sich an uns zu wenden, ehe der Mord passiert ist. Hast du eine Ahnung, wie Viktor es anstellen wird?“

Joe schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nur, daß er vier Jahre Zeit hatte, darüber nachzudenken.“

„Und der Bursche hat Köpfchen“, murrte der Captain. „Er stammt aus New York, war hier ein großes As in der Unterwelt. Irgendwo hat er ein dickes Vermögen versteckt. Und seit diese Flasche von der ABC ihn heute mittag aus den Augen verloren hat, weiß kein Mensch, wo er steckt und welche finsteren Pläne er ausbrütet. Schlechte Aussichten sind das.“

„Sich irgendeine Abwehrstrategie auszudenken, ist völlig sinnlos“, faßte Joe zusammen. „Das einzige, was ich tun kann, ist, meine Kenntnisse über ihn aufzufrischen. Deshalb bin ich hergekommen. Ich möchte gern in eurem Archiv herumstöbern. Ihr habt doch einen dicken Akt über Viktor Louis.“

„Klar“, sagte Tom. „Ich werde Archie Bescheid sagen. Und komm noch mal zu mir herein, wenn du fertig bist. An diesem verdammten Bericht sitze ich noch mindestens eine Stunde, und danach können wir zusammen rasch noch einen zwitschern, ehe du mit dem bösen Viktor in den Clinch gehst.“

Archie war der Leiter des Archivs, eine graue, eingeschrumpfte Gestalt, die sich von Neonlicht und Aktenstaub ernährte und das Gedächtnis eines Elefanten besaß.

„Viktor Louis gibt es zwei“, erklärte er. „Einer gehörte zu der Bande, die an den großen Überfällen auf die Postkutschen der Wells-Fargo-Gesellschaft beteiligt war. 1864 war das.“

„Wenn Wells Fargo mir den Fall zur Aufklärung überträgt, komme ich darauf zurück“, sagte Joe grinsend. „Im Augenblick interessiert mich der andere Viktor.“

„Der sitzt in Scranton. Das heißt, er müßte gerade entlassen sein.“ Archies Gedächtnis war wirklich phänomenal.

„Stimmt genau“, sagte Joe. „Was weißt du noch über ihn?“

„Zunächst das übliche Zeug. Viktor kontrollierte eine Kette von Nachtlokalen in der oberen Bowery. Nebenbei machte er natürlich in Rauschgift. Aber seine eigentliche Spezialität war etwas anderes: Erpressung. Er verschaffte sich Kenntnis von Dingen, die seine Kunden geheimhalten wollten, und ließ sich sein Schweigen bezahlen. Beliebtester Dreh: der Chef mit der Sekretärin im Hotelzimmer und das heimlich davon angefertigte Foto, das die Ehefrau des Chefs natürlich nicht sehen sollte.“

„Nachgewissen wurde ihm aber nie etwas!“

„Nie.“ Archie spuckte seinen Priem zielsicher in den Blechhapf mit der Aufschrift „Denke“. Der Napf stand vor dem RCA Computer, der seit einiger Zeit im Archiv stand, und mit dem Archie in einer geradezu persönlichen Feindschaft lebte.

„Deshalb steht davon auch nichts Offizielles in den Akten“, fuhr der Archivar fort. „Aber du kannst dich darauf verlassen, daß es so war. Ich habe meine Spezialmethode, solche Dinge herauszubekommen. Vorläufig geht es eben nicht ohne den guten alten Archie.“

Er warf dem Computer einen vernichtenden Blick zu.

„Deshalb bin ich ja auch zu dir gekommen“, träufelte Joe öl in seine Wunde. „Vor vier Jahren wurde Viktor Louis der Prozeß gemacht. Ich möchte gern von dir hören, wie es damals war. Ich meine, wie es wirklich war.“

Archie holte ein Stüde Kautabak aus der Tasche und biß ein neues Stück ab. Vier Generationen von Polizeichefs hatten vergeblich versucht, ihn davon abzubringen.

„Die Sache war damals die: Viktor hatte gerade Daniel Boynbaum am Wickel.“

„Den Börsenjobber?“

„Ganz recht, den Wunderknaben von der Wall Street. Ich nehme an, es war die übliche Sache. Boynbaum ist mit Sarah Miles verheiratet, der Tochter von Hugh Miles, dem seriösesten Mann der ganzen Ostküste, seines Zeichens Börsenpräsident. Sarah ist eine üble Schreckschraube, aber für einen Mann wie Boynbaum, der mit geliehenden Geldern an der Börse spekulierte, war sie geradezu ein Geschenk des Himmels.

Die Heirat kam zustande. Boynbaum mußte sich verpflichten, nur noch ehrliche Geschäfte zu tätigen, und möglicherweise tat er das. Als Belohnung winkte schließlich das umfangreiche Erbe von Hugh Miles und das Recht, sich eines Tages Daniel Miles Boynbaum zu nennen.“

„Aber der liebe Daniel ging fremd, wie?“

Archie kicherte. „Er hatte eine Schwäche für kurvige Blondinen. Und Sarah hatte nichts zu bieten, um ihn von dieser Schwäche zu kurieren,“

„Er geriet also in die Fänge unseres Freundes Viktor?“

„Der liebe Viktor besorgte ihm haufenweise die begehrten Blondinen. Er holte sie einfach aus seinen Nachtklubs. Und völlig gratis schickte er einen Fotografen mit.

Der Rest war die übliche Geschichte. Daniel Boynbaum zahlte anstandslos, denn wenn sein Schwiegervater etwas von seinen Eskapaden erfahren hätte, wäre die Scheidung fällig gewesen. Es gibt nur eine Sache auf der Welt, an die Hugh Miles wirklich glaubt, und das ist die Qualität des Namens Miles.“

„Weißt du, wieviel Daniel zahlte?“

„Keine Ahnung, aber es muß eine ganze Menge gewesen sein. Vor allem war es für Viktor wohl eine nie versiegende Einnahmequelle. Er schröpfte alle seine Kunden am laufenden Band. Er hatte das Problem aller Erpresser gelöst, mit seinen Forderungen bis dicht an den kritischen Punkt zu gehen, aber nicht darüber hinaus. Er schaffte es, daß keines seiner Opfer einen Killer engagierte, der ihm den Erpresser vom Hals schaffen sollte, weil seine Forderungen sich immer im Rahmen der Möglichkeiten seiner Opfer bewegten.“

„Wie ging es weiter?“

„Dann passierte diese Sache mit dem Bilderdiebstahl. Daniel Boynbaum hatte auf einer Versteigerung in Chicago mehrere Bilder französischer Impressionisten erworben. Er versicherte sie auf achthunderttausend Dollar bei der Lifeboard Insurance. Die Gesellschaft stellte auch die Police aus. Dann schienen ihr aber Zweifel an der Echtheit der Bilder zu kommen, und sie bat Daniel um sein Einverständnis für eine weitere Expertise.“

„Daniel war einverstanden?“

„Ja. Die Bilder sollten von Dr. John Winton untersucht werden, einem Experten der New Art Gallery. Winton wollte die Bilder eines Abends in seinem Waged abholen und in sein Labor fahren. Dabei passierte es. Winton wurde überfallen und ermordet. Die Bilder wurden geraubt und blieben seitdem spurlos verschwunden.“

„Und die Gesellschaft mußte achthunderttausend Dollar bezahlen“, sagte Joe nachdenklich. „Der Versicherungsvertrag war ja ohne Vorbehalt zustandegekommen. Erst ein ungünstiges Gutachten von John Winton hätte die Gesellschaft zu einem Rücktritt vom Vertrag berechtigt, aber dazu kam es ja nicht.“

„Du hattest doch domals den Fall übernommen“, erinnerte sich Archin. „Über das, was dann geschah, müßtest du doch selbst informiert sein.“

Joe nickte.

„Lifeboard beauftragte mich, die Bilder wieder herbeizuschaffen. Ich zog los und geriet auf eine Fährte, so groß wie eine Elefantenspur. Sie führte unmittelbar zu Viktor Louis. Offensichtlich hatte Viktor Louis sich entschlossen, aus der Geschichte Kapital zu schlagen. Er ging davon aus, daß die Bilder Fälschungen waren und Daniel Boynbaum alles inszeniert hatte, um Versicherungsbetrug zu begehen. Und davon wollte Viktor seinen Anteil haben.“

„Das war deine Deutung des Falles.“

Joe nickte.

„Als Erpresser war Viktor mit den Gewohnheiten seiner Opfer genau vertraut. Er hatte offensichtlich guten Grund, Daniel eine solche Tat zuzutrauen. Die Staatsanwaltschaft verfocht dagegen die These, Viktor selbst habe den Bilderdiebstahl inszeniert. Das wurde dann auch die offizielle Lesart. Nachweisen konnte man nur eins: daß Viktor von dem Verbrechen Kenntnis gehabt hatte, bevor es geschah. Nicht ermitteln konnte man, woher er diese Kenntnisse hatte. Also hatte man ihn nur verurteilen können, weil er einen geplanten Mord nicht angezeigt hatte und verpaßte ihm die Höchststrafe: vier Jahre Scranton.“

„Und auch du konntest die näheren Umstände nicht erhellen?“ wunderte sich Archie.

Joe schüttelte den Kopf.

„Ich wurde von der Lifeboard gefeuert. Offizielle Begründung: ich sei zu teuer. Da habe ich den Fall einem billigeren Kollegen überlassen. Was dabei herauskam, ist sattsam bekannt.“

„Du hast auch nicht privat weitergemacht?“

„Natürlich nicht. Die ganze Sache war ein großer Sumpf mit ein paar schillernden Blüten, von denen keine ganz ungiftig war. Warum sollte ich privat darin herumwaten? Ob Daniel oder Viktor der Bösewicht war, was spielte es letztlich für eine Rolle? Ich zog mich also zurück und übernahm die Rolle des Zuschauers.“

„Eine Frage“, warf Archie ein. „Wie hatte man herausgefunden, daß Viktor von dem; geplanten Mord Kenntnis hatte?“

„Durch einen Brief, den er an Daniel Boynbaum geschrieben hatte“, klärte Joe ihn auf. „Einen Tag vor dem Mord. Darin schrieb er, daß Winton nicht dazu kommen werde, eine Expertise zu machen oder gar seine Kenntnisse zu verwerten. Daniel wüßte schon, was das bedeute. Und sie müßten sich Wegen der Folgen unterhalten.“

„Aber wenn Daniel diesen Brief vor dem Mord erhielt, war er doch genauso dran wie Viktor.“

„Er erhielt den Brief nicht“, sagte Joe. „Sarah bekam ihn in die Finger. Sie öffnete ihn und war zunächst ziemlich erstaunt über seinen Inhalt. Sie steckte ihn einund beschloß, ihrem Vater den Schrieb zu zeigen. Aber ehe es dazu kam, wurde Winton ermordet. Daraufhin händigte sie mir den Brief aus.“

„Der Text läßt natürlich verschiedene Deutungen zu“, überlegte Archie. „Er kann eine Drohung darstellen oder die Einleitung eines schlichten Erpressungsmanövers. Wer Viktor kennt, wird natürlich auf letzteres tippen. Was sagte Daniel Boynbaum zu dem Brief?“

„Er verweigerte die Aussage.“

„Auch vor Gericht?“

Joe nickte.

„Das Recht dazu hatte er. Er war der Geschädigte.“

„Das spricht wiederum gegen Erpressung.“

„Wie gesagt, ein großer Sumpf.“ Joe erhob sich. „Ich habe keine Lust, mich mit der sache zu befassen. Aber Viktor wird sich mit mir befassen, und da muß ich mich entsprechend vorsehen. Was glaubst du, wird Viktor als erstes tun?“

„Er wird seine alten Lokale wieder übernehmen“, sagte Archie überzeugt. „Sie waren alle auf Strohmänner eingetragen. Die Leute wußten, daß Viktor nur für ein paar Jahre aus dem Verkehr gezogen war. Niemand wird sich da eingemischt haben. Ich vermute, daß er auch die Abgaben an die Syndikate pünktlich weiterbezahlt hat. Er kann heute da weitermachen, wo er vor vier Jahren aufgehört hat.“

„Wer war sein Stellvertreter?“ fragte Joe. „Ich meine, wer hat das alles für ihn besorgt, während er in Scranton war?“

Archie zuckte die Achseln.

„Nach offiziellem Hausglauben besorgte das Dolly Sternberger, sein Anwalt. Du weißt, daß er einen ziemlich filisteren Ruf hat. Aber ich glaube nicht daran. Auch der skrupelloseste Anwalt geht nicht das Risiko ein, die Geschäfte eines Gangsters zu führen, während dieser sitzt.“

„Wer war es also deiner Meinung nach?“

„Ich tippe auf Buddy Simmers.“

„Buddy Simmers, der ehemalige Killer vom Riverside Drive?“ fragte Joe überrascht.

„Buddy hat sich in den letzten Jahren mächtig herausgemacht“, wußte Archie zu berichten, „Er bewohnt das Penthouse auf dem Dach des Claridge Building, bewacht von mindestens einem Dutzend Gorillas, trägt Anzüge von Petrucci in Rom, läßt sich täglich maniküren, hat immer zwei, drei Bienen bei sich, denen er Nerze, Schmuck und ähnlichen Krimskrams kauft. Ich frage dich, wo brennt das Feuet, das diesen Ofen heizt, he?“

„Wenn du sagst, daß er Viktors Laden übernommen hat, glaube ich dir aufs Wort“, sagte Joe.

„Vermutlich wird er jetzt die Leitung wieder Vikot überlassen und selbst dessen Stellvertreter mimen“,; meinte Archie. „Für diese Vermutung habe ich natürlich keine Beweise. Ich habe nichts als meine Intuition und meine vierzig Dienstjahre als Leiter des Archivs.“ Er gab dem Computer einen Fußtritt. „Und das istmehr als dieser ganze elektronische Rummel. Versuch mal, einen solchen Tip aus dem Computer herauszukitzeln.“

„Nicht nötig“, sagte Joe lächelnd. „Ich verlasse mich lieber auf dich.“ Das Lächeln verschwand. Sein Gesicht wurde hart. „Ich werde Buddy Simmers einen kleinen Besuch abstatten. Es kann nie schaden, den Stier bei den Hörnern zu packen.“

Privatdetektiv Joe Barry - Mord im Bunny-Club

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