Читать книгу Für immer mein - Joe Schlosser - Страница 4

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Es zeichnete sich schon am gestrigen Freitagnachmittag ab, dass das Wochenende besonders schön werden könnte. Alle Menschen in Bremen warteten nach diesem unangenehmen Winter auf Frühling und hofften schon lange, dass er sich, wie in manch anderem Jahr, auch in diesem März von seiner besten Seite zeigen würde.

Das norddeutsche Schmuddelwetter brachte meistens keinen richtigen Winter mit viel Schnee und Eis und strahlendblauem Himmel zustande. Auch in diesem Jahr hatte es viel Regen gegeben, graue Wolken und höchstens mal überfrierende Nässe, die Fußgänger und Autofahrer nervte. Nur an einem oder zwei Tagen war so viel Schnee gefallen, dass die Kinder an den Hängen des Osterdeichs rodeln konnten.

Sehnsüchtig hatten alle dieses Wochenende erwartet und hofften inständig, dass der Wetterbericht sich nicht täuschen würde. Und er behielt recht. Das Ende der Winterdepression schien erreicht zu sein. Ein hellblauer Himmel und eine zwar noch tiefstehende, aber im Verhältnis zu den zurückliegenden tristen Tagen dennoch deutlich wärmende Sonne beglückte die Menschen und holte sie aus ihren Löchern.

Das Café Sand an der Weser hatte am Vorabend im Regionalfernsehen bekanntmachen lassen, dass es die Pforten am anderen Flussufer öffnen würde und den dazugehörigen Fährbetrieb wieder aufnahm. Die Aufnahme des Fährbetriebs wirkte wie ein geheimes Signal. Die zahlreichen Kneipen und Restaurants der Stadt erneuerten ihre Konzessionen für die Außengastronomie. Die Leute aus den angrenzenden Stadtteilen Ostertor und Steintor kramten nach ihren Sonnenbrillen, unter den dicken Jacken wurden T-Shirts angezogen, und die ersten türkischen Jugendlichen brausten mit ihren BMW-Cabrios den Ostertorsteinweg, Bremens heimliche Vergnügungsmeile, entlang und ließen ihre Motoren vor den Terrassen der Kneipen und Cafés aufheulen.

Die Menschen waren wie ausgewechselt. Überall sah man fröhliche Gesichter, übertrieben freudige Gesten bei sich begrüßenden Menschen, und Nachbarn, die, auf den Eingangsstufen ihrer Häuser sitzend, entspannte Unterhaltungen im Sonnenschein führten oder dort Zeitung lasen, allerdings noch mit einem vor den kalten Steinen schützenden Kissen unter dem Hintern.

Die Bremer brauchten nicht viel Sonne, um sich sommerlich zu geben. Als echte Norddeutsche waren sie Kälte und viel Niederschlag gewohnt. Wenn hier das Thermometer einmal die 16-Grad-Marke überstieg und die Sonne herauskam, glaubte man sich schon in einer mediterranen Umgebung zu befinden. Alle bewegten sich langsamer als sonst, Jacken wurden aus- und wieder angezogen, um die ersten Sonnenstrahlen auf die winterlich weiße Haut zu lassen, bis es einem wieder zu kühl wurde. Bei Pepe im Eiscafé herrschte Hochbetrieb, und sein Oberkellner Bruno tänzelte gekonnt wie eh und je mit einem vollen Tablett zwischen den fahrenden Autos auf dem Ostertorsteinweg hindurch, um die auf der anderen Straßenseite liegende Terrasse zu bedienen. Die wenigen Tische, die direkt auf dem Gehsteig vor dem Café standen und meistens im Schatten lagen, waren wie immer von Künstlern, Freaks und solchen, die es werden wollten oder sich dafür hielten, besetzt. Der alte Marco philosophierte laut mit seiner verlebten Stimme cora publico, und sein befreundeter Bildhauer sah den jungen Mädchen nach. Neben der Litfass-Kneipe hatte sich der Bio-Markt aufgebaut, und die Kunden nahmen sich wieder Zeit, um sich über die verschiedensten angebotenen Produkte auszutauschen. Olivenöl und Käse waren wie jedes Jahr Hauptgesprächsthema.

Auch Mechthild Kayser konnte diesem schönen Sonnabendvormittag nicht widerstehen und stand nun auf der Treppe vor ihrem Haus in der Humboldtstraße. Die ungewohnte Sonne blendete sie derartig stark, dass sie ihre Augen zusammenkneifen musste, bis sie endlich ihre Sonnenbrille in der Umhängetasche gefunden hatte. Das herrliche Wetter weckte in ihr die Lebensfreude, und so verharrte sie noch einige Zeit auf den Stufen, bis sie sie endlich mit einem Lächeln im Gesicht herunterschritt und sich auf den Weg zum Ziegenmarkt im Steintor machte. Einen besonderen Grund hatte sie eigentlich nicht, das Haus zu verlassen. Aber wenn bei den ersten warmen Sonnenstrahlen das ganze Viertel auf den Beinen war, durfte man einfach nicht fehlen. An einem Tag wie diesem brachte man seine Freude über das Ende der Depression damit zum Ausdruck, dass man herumschlenderte und sehen und gesehen werden wollte. Auch Mechthild blickte entspannt und gut gelaunt in die sonnige Welt. An einem solchen Tag war es schön zu leben. Sie schlenderte durch die Wielandstraße und erreichte den Markt. Überall standen von winterlichen Qualen befreite Menschen und plauschten miteinander. Beinahe sah es aus wie eine friedliche, dörfliche Idylle. Nur eine Handvoll abgemagerter und ungepflegter Junkies an der Gedenktafel für die Drogentoten des Viertels holte einen in die Realität dieses schwierigen Stadtteils zurück.

Früher war dies ein gut- bis spießbürgerliches Bremer Quartier gewesen. In den fünfziger und sechziger Jahren wohnten hier noch alteingesessene Ostertorianer, die ihr kleinbürgerliches Leben in aller Beschaulichkeit führten. Damals gab es noch keine Kneipen, nur sogenannte Gaststätten. Und deren Zahl war begrenzt. Am Sielwall, eine der Stichstraßen zu den größeren, ehemaligen Torwegen der Stadt, waren es nur zwei. Die eine am oberen Ende, die von dem blinden Eickmeyer geführt wurde und aus der Kinder für ihre Väter noch Bier in der Kanne holen konnten. Die andere am unteren Ende, hinter deren verbleiten Buntglasfenstern sich damals die Taxifahrer verköstigen ließen.

Als erstes störte die Lila Eule die vermeintliche Ruhe. Als Treffpunkt der Linken und progressiven Kräfte wurden hier wunderbare Jazzkonzerte und musikalische Experimente aufgeführt. Ende der sechziger Jahre kamen hier neben dem Revolutionär Rudi Dutschke auch viele, später populärere Künstler auf die Bühne. Der Komiker Otto Waalkes und die damals noch kaum bekannte Rockgruppe Scorpions gaben hier ihre Debüts.

Die alten Ostertorianer konnte man auf den Märkten im Viertel treffen, und ihre offene, herzliche Art führte oft zu einem ausgedehnten Plausch über die vergangenen Zeiten im Viertel. Schöne Geschichten aus dem ehemals ruhigen Stadtteil konnte man sich von ihnen erzählen lassen. Wie von der Krankenschwester Liesel, die die Huren in Bremens einziger, legalen Bordellstraße, der Helene, betreute. Liesel wohnte in einer der bürgerlichen Straßen. Und als sie ihr erstes Kind bekam, besuchten sie die Damen der Helenenstraße, um ihr Geschenke zur Geburt zu bringen. Im Gänsemarsch kamen die aufgetakelten Huren in ihren teuren Mänteln die Blücherstraße hereinspaziert und überbrachten ihre Glückwünsche. Oder von Paul, dem Seemann, der auch nach seinem Ruhestand seiner Gewerkschaft treu geblieben war und für sie als Kassierer die Monatsbeiträge persönlich abholte. So auch von einer Seemannswitwe, die ihm oben auf der Treppe stehend die Tür öffnete und dabei ihr Holzbein verlor, das Paul direkt vor die Füße purzelte. Wie selbstverständlich hob er es auf und befestigte es wieder an den Lederriemen, wobei er der Witwe unstrittig unter den Rock musste. Wie immer erweckten die alten Geschichten den Eindruck, als wenn früher alles ruhiger und einfacher war.

Das Ende der Beschaulichkeit wurde mit einer stadtplanerischen Fehlentscheidung eingeläutet. Quer durch das Viertel sollte eine Hochstraße, die sogenannte Mozarttrasse, gebaut werden, und um die dazu erforderlichen Aufkäufe von Häusern durch die Stadt nicht zusätzlich zu verteuern, wurde ein Sanierungsstop verhängt. Erforderliche Modernisierungen blieben somit aus, und der vorhandene Wohnraum verkam zusehends und wurde immer preiswerter. Anfang der siebziger Jahre wurde die Universität gegründet, und Tausende von Studenten suchten neben eingewanderten Ausländern, vornehmlich Türken, günstigen Wohnraum in der Stadt. Zeitgleich zu den großen gesellschaftlichen Umwälzungen etablierte sich in diesem Stadtteil neben dem hohen Anteil von Ausländern die intellektuelle Elite der sogenannten Roten Kaderschmiede Uni Bremen und bildete die Basis für die subkulturelle Entwicklung eines ganzen Stadtteils. Die kritischen Schülerbewegungen der voruniversitären Zeit trafen für sie gewinnbringend auf das große studentische Potential, das ihren Forderungen Nachdruck verlieh. Und umgekehrt. Demonstrationen und zunehmend gewalttätig verlaufende Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit waren die Folge. Die von der Stadt ignorierte Forderung der Jugend nach einem Freizeitheim in ihrem Stadtteil führte zur Besetzung eines leerstehenden Gebäudes im Viertel. Obwohl die Stadt nachgab und eine erhebliche Summe für den Aufbau eines Jugendzentrums den Besetzern zur Verfügung stellte, scheiterte das Projekt. Statt das Geld für die Renovierung des Gebäudes zu nutzen, versoffen und verkifften einige der älteren Besetzer die Kohle. Anschließend, nachdem sich die für das Zentrum kämpfenden Jugendlichen enttäuscht zurückgezogen hatten, kam zwangsläufig die Räumung durch die Polizei.

Aus der Erfahrung mit dieser Entwicklung wurden klügere Versuche unternommen, kulturelle und politische Zentren zu entwickeln. Spätere Besetzungen führten nach harten Auseinandersetzungen mit Politik und Polizei zu der Etablierung heute nicht mehr wegzudenkender kultureller Einrichtungen, die mittlerweile zum guten Ruf Bremens beitragen und feste Bestandteile des überregionalen Stadtmarketings geworden sind. Die Stadt hatte beizeiten ihre Pläne für die Mozarttrasse aufgegeben und überließ den Stadtteil wieder sich selbst. Die Auseinandersetzungen nahmen ab. Erkämpftes konnte sich etablieren. Die von der Stadt eingangs aufgekauften und mittlerweile maroden Häuser wurden vergleichsweise zu Spottpreisen an die Menschen zurückgegeben. Günstige Modernisierungskredite halfen, sie wiederherzustellen und zu erhalten. Aus so manchem ehemaligen Hausbesetzer wurde ein frischgebackener Hausbesitzer.

Alternative Lebensformen wurden ausprobiert und wieder verworfen. Einige erinnerten sich noch an die Kommune am Osterdeich und die anlässlich einer Party in einer Badewanne voll Götterspeise sitzende, nackte Schöne. Kunst- und Kulturschaffende fanden in diesem Viertel nicht nur die geistige Freiheit, die sie zum Arbeiten benötigten, sie fanden auch die Räume, die sie brauchten. Mit dem Beginn des Sanierungsstopps war auch das Ende einer Vielzahl kleingewerblicher Betriebe im Stadtteil eingeleitet worden, und leerstehende Werkstätten und kleine Fabrikationshallen wurden einer neuen Nutzung durch Künstler und nach neuen Lebensformen Suchenden zugeführt. Politische Alternativen aus dem Spektrum der Linken und der Ökologiebewegung fanden hier ihr neues, akzeptiertes Zuhause und entwickelten sich zu wahrnehmbaren Instrumenten. Gepaart mit einem großen Maß an Toleranz und dem starken Willen, in einem aktiven Miteinander einen Stadtteil zu gestalten, wurde dieser Teil Bremens zusehends zu einem der politischen und kulturellen Herzen der Stadt. Vorbehalte gegenüber dem Staat und Feindschaft gegenüber den Vertretern der Obrigkeit gehörten hier ebenso zum guten Ton wie die Entwicklung von Hilfsprojekten für die Abhängigen der harten Drogenszene, die hier ebenfalls eine Heimat gefunden hatte.

In den heißen siebziger und achtziger Jahren eskalierte das Verhältnis zwischen Staat und politisch fortschrittlich Denkenden, und das Viertel wurde zum Unruheherd und Ausgangspunkt vieler immer wieder gewalttätig verlaufender Auseinandersetzungen mit dem Staat und dessen Polizei. Zeitweise war es Streifenwagen der Polizei untersagt, bestimmte Straßen zu durchfahren, in denen in besetzten Häusern schon die Pflastersteine gestapelt auf ihre „Empfänger“ warteten.

Die vermeidbar größte Provokation erfuhr die linke Szene durch eine Rekrutenvereidigung der Bundeswehr im angrenzenden Fußballstadion an der Weser. Zwei Tage dauerten die Kämpfe zwischen Polizei und den aus der ganzen Republik angereisten Demonstranten. Die Verluste waren auf beiden Seiten hoch. Hunderte von Verletzten waren das Ergebnis. Jahrelang wurde dieser Auseinandersetzung vom 6. Mai 1980 noch durch die Linke mit einer Besetzung der mitten im Viertel gelegenen Sielwallkreuzung gedacht. Jedesmal eskalierte die Situation, und alter Hass wurde neu ausgetragen.

Mittlerweile hatte sich das Viertel beruhigt. Die Bevölkerungsstruktur hatte sich enorm gewandelt. Aber ein Teil des unruhigen Geistes, der hier einmal herrschte, konnte sich halten. Immer noch gab man sich progressiv, fortschrittlich. Fast die Hälfte der Bevölkerung wählte hier Grün. Linke Gruppen waren hauptsächlich hier präsent. Alternatives fand noch immer ein akzeptierendes Umfeld. Vieles, was einmal am Rande der Gesellschaft entstanden war, hatte sich in den gesellschaftlichen Alltag integriert. Aus ehemaligen Krawallbrüdern waren etablierte Viertelbewohner geworden. Einige prahlten noch damit, wie sie in den wilden Zeiten in den vordersten Reihen der Kämpfer für Freiheit und soziale Gerechtigkeit gestanden hatten. Bei näherer Betrachtung war dem natürlich nicht immer so. Wer dabei war, weiß, wie viel davon wirklich wahr und was der Legendenbildung zuzuschreiben ist. Aber dabei gewesen zu sein, gehörte für viele zum guten Ton. Eine Romantisierung der wilden Zeit hatte sich breitgemacht. Jeder wollte ein bisschen mitgemischt haben, aber niemand würde heute so weit gehen und eingestehen, dass er Steine auf Polizisten geworfen oder Schaufenster demoliert und Auslagen geplündert hatte.

Diese Quartiersromantik hat in den zurückliegenden Jahren nicht nur mittlerweile finanzstark gewordene Vertreter der ehemaligen Studentenschaft im Viertel belassen, sondern auch viele Pseudo-Linke und angeblich Progressive angelockt, die ein bisschen vom Flair der vergangenen Zeiten an ihre Brust heften und sich mit der Aura des Revolutionären umgeben wollten. In vielen Fällen waren sie spießiger als die eingesessenen Bürgerlichen. Heute gilt es in manchen Kreisen eben als schick, in diesem lebhaften Viertel zu wohnen. Die Preise sind mit die höchsten in der Stadt. Die Nachfrage nach Häusern und Mietwohnungen ist ungebrochen hoch. Die zugezogene Schickeria hat gleich ihre teuren Boutiquen und nobel eingerichteten Bistros mitgebracht. Preiswerte Wohnungen sind so gut wie verschwunden, und ein Investment in Immobilien lohnt sich hier immer noch. Manch einer der klugen Revoluzzer hat rechtzeitig investiert, und Spekulationen dieser Art sind alle aufgegangen. In enger Zusammenarbeit zwischen Stadtteilpolitik und Bevölkerung ist es gelungen, die heruntergekommenen, dunklen Ecken aufzuhellen, Bars, Bordelle und illegales Glücksspiel in Hinterzimmern verrauchter Ganovenkneipen zu verdrängen und die Zahl der Spielhallen und gastronomischen Betriebe zu beschränken.

Mechthild Kayser ließ sich am Blumenstand gerade einen bunten Strauß mit gefüllten Rosen, ihren Lieblingsblumen, binden, als sie von der Seite angesprochen wurde. „Haste mal nen Euro für’n armen Säufer?“

Leicht erschrocken über die unerwartete Ansprache, drehte sie sich um und trat dabei einen halben Schritt zur Seite. Mit freundlich lächelndem Gesicht und die geäußerte Bitte mit geöffneten Händen unterstreichend, stand vor ihr ein viertelbekannter Penner, den alle nur den Ein-Euro-Mann nannten. Man sah ihm an, dass er ein weicher Mensch war. Er muss einmal ein wirklich gutaussehender Mann gewesen sein, dachte Mechthild Kayser beim Betrachten seiner Gesichtszüge und kramte in ihrem Portemonnaie nach der erbetenen Münze. Der Ein-Euro-Mann wohnte in einem Verschlag in einer billigen Absteige, in der hauptsächlich Drogenabhängige residierten. Niemand wusste, was ihn einst aus der Bahn geworfen und in den Alkoholismus getrieben hatte. Aber alle wussten, dass er gutmütig und zurückhaltend war. Trotz seines heruntergekommenen Aussehens schien er darauf zu achten, eine bestimmte Stufe des sozialen Abstiegs nicht zu unterschreiten. Nie sah man ihn völlig betrunken und besudelt irgendwo herumliegen. Nie fiel er durch Aggressivität auf. Der Ein-Euro-Mann bedankte sich höflich und schlenderte mit seinem Spruch auf den Lippen zum nächsten Passanten.

Mechthild Kayser bezahlte und verstaute ihre Rosen in ihrer Umhängetasche. Wohlwissend, dass sie damit die Lebenszeit ihrer Blumen erheblich verkürzen würde, ließ sie die Blüten vorne aus der Tasche in die Welt des Viertels blicken und wünschte, dass sich auch andere an ihrer Farbenpracht erfreuen würden. Das wohlige Gefühl und die fröhlichen Menschen um sie herum ließ in ihr den Wunsch wachsen, sich ebenfalls auf einer der Kneipenterrassen niederzulassen und einen leckeren Cappuccino zu schlürfen. Sie schlenderte weiter die Steintorstraße entlang, kam an einem Café vorbei, das zwar noch Plätze frei hatte, aber für sie nicht in Betracht kam. Es gehörte einer ehemaligen Bremer Unterweltgröße. Als diese Anfang der achtziger Jahre das Haus erwarb, kursierten in der Polizei die verrücktesten Annahmen, was hinter diesem Kauf wohl stecken könnte. Einige gingen sogar davon aus, dass von diesem Haus aus ein unterirdischer Tunnel bis zur nahegelegenen Sparkasse gegraben werden könnte, um sie auszurauben. In Wirklichkeit ging es dem älter werdenden Gauner aber nur darum, Investments zur Sicherung eines ruhigen Lebensabends zu tätigen.

Mechthild Kayser entschied sich für einen sonnigen Platz vor dem Piano, neben dem Litfass einer der ältesten Szenekneipen des Viertels. Die freundliche Bedienung brachte ihr den Cappuccino, und nun sah sie zwischen kleinen Schlucken auf das gegenüberliegende Italo-Eiscafé, an dessen Fenster für den Außerhausverkauf sich schon eine kleine Schlange gebildet hatte. Sie streckte ihre Arme nach oben und reckte sich. Als sie sich wieder nach vorne beugte, musste sie sich eingestehen, dass der Winter ihr ein paar Pfunde zuviel am Bauch beschert hatte. Obwohl ihr ein über die Terrasse schweifender Blick verriet, dass es anderen nicht besser ergangen war, beschloss sie dennoch, wieder häufiger für Bewegung zu sorgen und ihre Figur wieder auf Vorderfrau zu bringen.

Ein wenig hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihr Mobiltelephon zu Hause gelassen hatte, denn als Leiterin der Bremer Mordkommission sollte sie eigentlich immer erreichbar sein. Sie dachte an ihre Kollegen des Kriminaldauerdienstes, die bei diesem Wetter in ihrer stickigen Einsatzzentrale hockten und nach Mitteln und Wegen suchten, wegen irgendeines Falles das Büro verlassen zu können. Aber dieser Gedanke verflog schnell wieder. Sie hatte dieses Wochenende frei und wollte es genießen. Bloß nicht an den Job denken. Sie wollte ein paar Pläne schmieden und sich überlegen, was sie unternehmen könnte. Ein Kinobesuch schien eine gute Möglichkeit zu sein, einem langweiligen Fernsehabend zu entkommen. Cinema und Schauburg lagen beide im Viertel und hatten als alternative Kinostätten immer etwas Interessantes zu bieten. Und bis zum Abend könnte sie ihre Balkonterrasse aufräumen und für den bevorstehenden Sommer herrichten. Das waren gute Ideen. Sie legte Geld auf den Tisch und machte sich auf den Weg nach Hause.

„Guten Morgen, mein Geburtstagskind!“

Eine gekünstelt erhobene Stimme drang in den Raum. Er war zwar schon einige Zeit wach, erwartete aber heute an seinem Geburtstag eine besonders hingebungsvolle Weise des Aufweckens. Doch sie blieb aus. Mit einem „Beeil dich!“ war seine Mutter schon wieder aus seinem Zimmer verschwunden. Sie war immer so hektisch, immer in Eile und hatte immer etwas vor. Allerdings nie mit ihm, ihrem Sohn. Er wusste schon, was ihn erwartete, wenn er von der Galerie im ersten Stock der Villa die breite Treppe in die Halle hinunterstieg und dann ins Esszimmer kam.

An einem Ende des massiven Esstisches für zwölf Personen stand sein Frühstücksgedeck. Wie immer der blaue Becher mit Kakao und eine Brötchenhälfte mit bitterer Orangenmarmelade, eine andere mit einer großen Scheibe Mettwurst. Oder genauer gesagt mit „Salami“, wie seine Mutter ihn bei jeder Gelegenheit verbesserte. Auf der anderen ihm abgewandten Seite des Tisches stapelten sich Geschenke.

Er fragte sich, warum die Geschenke nicht auf der vorderen, zuerst sichtbaren Seite des Tisches präsentiert wurden. Das ist doch an einem Geburtstag das Wichtigste − und nicht das Frühstück. Aber er erwartete sowieso keine Überraschungen. Seine Mutter vertrat die Ansicht, dass zum Geburtstag Wünsche genau erfüllt werden sollten, und Überraschungen, die am Ende nicht gewollt waren, nur unnütze Geldausgaben seien. So war sie mit ihm vor einer Woche in die Innenstadt von Essen gefahren und hatte alles gekauft, was er sich wünschte und von dem sie meinte, dass es an der Zeit sei, dass er es sich wünschte.

Langsam und freudige Erwartung vortäuschend, ging er ans andere Ende des Tisches. Seine Mutter stand etwas abseits des Geschehens und lächelte ihm ermunternd zu. Sie war schon jetzt zufrieden mit ihren Geschenken, die sie ausgesucht hatte. Jedem konnte sie bei nächster Gelegenheit voller Stolz aufzählen, was er dieses Jahr alles Wichtiges erhalten hatte.

Vor seinem Stapel Geschenke brannten auf einem hölzernen Ring zwölf Kerzen, die jeweils eines seiner erreichten Lebensjahre darstellen sollten. Am Rand des Ringes stand in Hellblau „Alles Gute zum Geburtstag“ geschrieben. Wahrscheinlich damit seine Mutter es nicht selber sagen musste. In der Mitte des Kerzenkreises stand eine dickere Kerze, das sogenannte Lebenslicht, wie seine Mutter ihm erklärt hatte. Und wie immer musste er, bevor er seine Geschenke in Augenschein nahm, alle Kerzen ausblasen und sich im Geheimen etwas wünschen. Ihm fiel nichts ein, aber er blies trotzdem. Die Erfahrungen mit den letzten Geburtstagen hatten ihm das Vertrauen in dieses Ritual genommen. Warum er beim Ausblasen auch immer sein Lebenslicht mit auslöschen musste, leuchtete ihm nicht ein. Aber er fragte nicht noch einmal. Im vergangenen Jahr hatte er auch keine Antwort erhalten und musste sich stattdessen von seiner Mutter als dummen Jungen bezeichnen lassen.

Als der wächserne Duft der erloschenen Kerzen verflogen war, wandte er sich seinen Präsenten zu. Eine Carrera Autorennbahn: die hatte er sich ausgesucht und galt unter seinen Mitschülern als unbedingt erforderlich. Ein echtes Statussymbol. Der Rest der Geschenke stellte die Entscheidungen seiner Mutter dar. Ein neuer Schultornister – den alten hatte er schon versteckt, weil er nicht wollte, dass er weggeworfen wurde –, eine kleine Dampfmaschine mit Geräten, die man an sie anschließen konnte – seine Mutter fand, dass es dafür an der Zeit war, weil sein Vater schließlich eine Fabrik hatte – und dann noch ein einreihiger Kinderanzug aus braunem Stoff mit kurzen Hosen. Dazu zwei Niltestoberhemden und eine schon fertiggebundene, schrecklich gemusterte Krawatte an einem Gummibandverschluss.

„Wer am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will, hat bestimmte Formen einzuhalten!“ hatte seine Mutter ihn mit schriller Stimme ungeduldig angekeift, als er sein Unbehagen über diese Idee äußerte. Und der Verkäufer eines der bekanntesten Herrenausstatter der Stadt konnte das Ansinnen seiner Mutter ungehindert vollenden. Weiterer Widerstand war sinnlos. Er ließ diese Prozedur von Anprobieren, Verwerfen, wieder Anprobieren über sich ergehen und wartete auf das erlösende Signal seiner Mutter, in diesem Fall ein jubelndes „Das ist es!“

Keines der Geschenke war eingepackt. Wozu auch. Geldverschwendung, meinte seine Mutter. Er wüsste ja sowieso, was er bekommen würde. Trotzdem hätte er gern voll Wonne Geschenkpapier zerrissen und zerknüllt. Benommen stand er nun vor den Geschenken und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Er drehte sich langsam um und ging auf seine Mutter zu, drückte sich an sie und bedankte sich. Immer, wenn er die seltene Gelegenheit bekam, mit seiner Mutter körperlich in Kontakt zu treten, hoffte er auf das Wunder, dass ihn endlich das Gefühl ihrer Liebe erreichte. Aber auch diesmal kam bei ihm nichts an.

„Alles Liebe und Gute zum Geburtstag“, sagte sie schnell und mit dem Tonfall eines Bilanzbuchhalters, der der Gesellschafterversammlung gerade die Notwendigkeit einer Konkursanmeldung mitteilt, und schob ihn schon wieder von sich. Der enge Kontakt mit ihm schien ihr unangenehm zu sein.

„Bevor du mit Spielen anfängst, wirst du aber erst mal frühstücken!“ Dann eilte sie schon zur Tür. Und mit den Worten „Ich muss zum Frisör. Ich weiß schon gar nicht mehr, wo mir der Sinn steht!“ dabei nervös mit den Armen wedelnd, war sie schon verschwunden.

Er setzte sich ans andere Ende des Tisches und blickte beim Verzehren des Marmeladenbrötchens auf seine Geschenke.

Eine Hand streichelte sein Haar, und er hörte hinter sich die Stimme von Berta, der Haushälterin. „Hier, mein Junge. Das ist für dich. Alles Gute zum Geburtstag“, sagte sie mit warmer Stimme. Sie beugte sich zu ihm herunter, küsste ihn zärtlich auf die Wange und reichte ihm ein kleines Paket. Es war in buntes Geschenkpapier mit Mickey-Maus-Figuren eingeschlagen und mit einer dicken, roten Schleife verziert.

Sein Herz begann zu rasen, und voller Aufregung schob er den Frühstücksteller beiseite, um Platz zu schaffen für das Paket. Langsam und genussvoll entfernte er die angeklebte Schleife und legte sie langsam und kontrolliert, wie ein Oberkellner Bestecke auf dem Tisch platziert, beiseite. Dann löste er vorsichtig die Klebefilmstreifen ab, bemüht, das schöne Papier nicht zu beschädigen, und zog dann einen kleinen Karton aus der halbgeöffneten Verpackung heraus.

Er konnte seine langsamen Bewegungen beim Öffnen des Kartons kaum aushalten, wollte aber unbedingt den Moment des Erkennens hinauszögern, um weiterfühlen zu können. Der Deckel war nun offen. Vor ihm lag eine kleine Taschenlampe, wie sie Höhlenforscher auf dem Kopf trugen. Sie war aus verchromten Metall und mit einem roten Plastikrand eingefasst. Am Gehäuse waren breite Gummiriemen angebracht, die dazu dienten, die Lampe wie eine Mütze auf dem Kopf zu tragen.

„Oh danke, Berta!“ rief er aus, sprang von seinem Stuhl hoch und drückte sich an ihren dicken Bauch. Seine in ihre Schürze vertiefte Nase nahm den Geruch von gekochtem Hühnerfleisch wahr, und ein Strahlen huschte über sein Gesicht.

Berta hielt, was sie versprach. Er hatte sich für heute sein Lieblingsessen, Hühnerfrikassee, gewünscht. Sie hielt den Jungen so lange im Arm, bis sie merkte, dass er dringend seine aufgestaute Energie in Bewegung umsetzen musste. Dann rannte er hinaus, und sie hörte, wie er die Tür zum Keller öffnete. Im dunklen Keller ließ sich die Lampe natürlich am besten ausprobieren. Berta räumte das Frühstücksgeschirr zusammen, wusste, dass der Junge die Salami nicht mehr aß, seit er sie nicht mehr Mettwurst nennen durfte, und brachte alles in die Küche. Dann ging sie zurück und lud sich die Geburtstagsgeschenke auf, um sie in sein Kinderzimmer zu bringen. Die gnädige Frau mochte es nicht, wenn das Esszimmer nicht einwandfrei aufgeräumt war, bis sie zurückkehrte. Sie legte die Autorennbahn und die Dampfmaschine auf das für den Jungen viel zu große Bett und hängte die neue Kleidung in seinen Schrank. Dann machte sie sich auf in die Küche, um ihm sein Lieblingsessen zu bereiten.

Berta war Putzfrau, Köchin, Kindermädchen und Haushälterin in einem. Sie war fest im Hause der Industriellenfamilie angestellt und bewohnte am Ende der Galerie in der ersten Etage eine kleine Zweizimmerwohnung. Kurz nach der Geburt des Jungen kam sie ins Haus. Sie war jetzt Ende vierzig und hatte in ihrem Leben bisher nichts anderes getan, als für Herrschaften den Haushalt zu führen. Und es ging ihr gut dabei. Sie verfügte über ausgezeichnete Referenzen, und die ließ sie sich anständig bezahlen. Dafür war sie rund um die Uhr verfügbar, verzichtete auf Urlaub und nahm den Herrschaften auf Reisen den Filius ab. Sie hatte kaum Ausgaben, und so verfügte sie mittlerweile über ein kleines, aber ansehnliches Vermögen, das ihr eines Tages den Lebensabend versüßen sollte. Sie war nicht verheiratet. Der richtige Mann tauchte in ihrem Leben nie auf. Freundschaften hatte sie keine. Sie bewegte sich seit ihrer Ausbildung ausschließlich im Kreis von Dienerschaften. Das war ein sehr eingeschränktes soziales Gefüge. Aber sie vermisste nichts. Auch keine Kinder. In allen Haushalten, in denen sie diente, waren Kinder. Das wollte sie so, und das reichte ihr. Mittlerweile liebte sie den kleinen Benjamin, den sie fast von Geburt an kannte, und kümmerte sich sorgsam um ihn. Und sie bekam von ihm das an Zuneigung und Nähe zurück, was ihr sonst im Leben fehlte.

Sie hatte früh festgestelltt, dass ihre Herrschaften als Mutter und Vater nicht viel hergaben. Ein alleinunternehmerischer Fabrikbesitzer, dessen Stahlhandel sein Leben war und der von seiner Frau nur erwartete, dass sie ihm erstens einen Sohn bescherte und zweitens ihren Verpflichtungen in der Gesellschaft zur Genüge nachkam. Hierfür war sie in seiner Welt, und sie entsprach seinen Ansprüchen nur zu gerne. Den Sohn hatte sie ihm geboren, ihn an Berta abgegeben und konnte sich nun um ihr Aussehen, die neueste Mode und den jüngsten Tratsch kümmern. Eine gelungene und angenehme Situation für Berta, die wie alle Hausangestellten am besten zurechtkam, wenn die Herrschaften nicht zu Hause waren.

Sie hätte auf dem Markt noch ein paar Balkonpflanzen kaufen sollen. Mechthild Kayser hatte die hölzerne Terrasse hinter ihrer Küche im Hochparterre gefegt und geschrubbt und auch die losen Gummikanten an den Stufen der in den Garten hinunterführenden Treppe festgeklebt. Die Kunststoffmöbel, die sie vergessen hatte über Winter in den Keller zu bringen, waren nun auch wieder ansehnlich. Doch in den Kästen an der Umrandung fehlte eindeutig etwas, das Farbe in das Bild brachte. Nächste Woche kaufe ich neue Erde und bepflanze alles mit Fuchsien, beschloss sie. Nur einen Kasten wollte sie mit Kräutern versehen, die sie bei Gelegenheit frisch in die Küche holen könnte.

Das Telephon klingelte. Mechthild Kayser erschrak. Obwohl sie sich angewöhnt hatte, eine furchtlose Frau zu sein, zuckte sie zu Hause beim Klingeln ihres Telephons jedes Mal zusammen. Zu oft hatte sie erlebt, dass das Klingeln nichts Gutes verhieß.

Sie wartete zu lange, und der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Sie hörte ihre eigene, fremd anmutende Stimme mit der Ansage und wartete den Pieps ab.

„Hallo Mechthild, ich bin’s, Ayse.“

Mechthild Kayser lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ayse Günher war eine der Ermittlerinnen aus ihrem Team. Adrenalin schoss sofort in ihren Kreislauf, öffnete alle ihre Sinne und aktivierte die Schutzmechanismen.

„Erschrick nicht. Es ist nichts passiert. Ich wollte nur fragen, ob wir heute etwas gemeinsam machen können.“

Mechthild griff erleichtert zum Hörer und betätigte die Ruftaste. Der Anrufbeantworter schaltete sich aus, und sie meldete sich. Nach einem kurzen Gespräch vereinbarten die beiden Frauen, den Samstagabend gemeinsam zu verbringen. Vielleicht mit einem Kinobesuch. Ihre Mitarbeiterin würde sie zu Hause abholen.

Im Café Sand tobte mittlerweile der Bär. Der Nachmittag bescherte dem Weserstrand so viele Besucher, dass der Fährbetrieb schon mit zwei Schiffen im Pendelverkehr auf der Weser agierte. Im Wechsel spuckten die Ostertor und die Punke Menschenmassen aus ihren aufgeklappten Mäulern, die nun alle für die wenigen angekündigten Sonnenstunden einen Platz im Café Sand suchten. Trotz zusätzlich vor dem Café aufgebauter Verkaufsstände gab es an jedem Tresen endlose Schlangen, und die Bedienungen standen wie so oft mit grimmigen Mienen an den Ausschankstellen. Manchmal hatte man geradezu den Eindruck, die Beschäftigten des Cafés wären zwangsweise aus einem Resozialisierungsprojekt für ehemalige Knackis rekrutiert worden. Aber wahrscheinlich war es eher so, dass sie viel lieber selber in der Sonne sitzen wollten, als durstige Väter mit quengelnden Kleinkindern auf den Armen zu bedienen, während die dazugehörigen Muttis von Zeit zu Zeit ihre genießerisch der Sonne entgegengestreckten Gesichter in ihre Richtung lenkten und mit vorwurfsvollen Blicken das Eintreffen der Getränke anmahnten. Was die Väter noch gereizter und die Kinder noch unruhiger machte.

Doch nach wenigen Stunden war der Spuk vorüber. Je näher der Zeitpunkt der Dämmerung kam, desto mehr Strandgäste verließen ihre Plätze und machten sich auf den Heimweg. Abends war es den meisten doch noch zu kühl, um draußen zu sitzen. Der Cafébesitzer rannte schon umher und schickte seine Aushilfen nach Hause, um bloß nicht eine Stunde zuviel bezahlen zu müssen, und die Außenstände wurden schon wieder geschlossen. Aber der Saisonauftakt war gelungen.

Mechthild Kayser sah gerade die Nachrichten im ZDF, als ihr erwarteter Besuch klingelte. Sie schaltete den Fernseher stumm und ging zur Tür. Sie freute sich auf einen Abend mit viel Gequatsche. Ayse Günher war die einzige Beziehung, die es aus ihrem beruflichen Umfeld bis in ihr Privatleben geschafft hatte. Mit Polizisten, egal welchen Geschlechts, konnte sie persönlich nichts anfangen. Es war nicht nur die Hierarchie, die zwischen ihnen bestand. Die meisten Kollegen wollten immer nur über den Dienst reden, sich über die Belastungen der Arbeit beklagen oder ihr gegenüber geistreiche Bemerkungen machen. Das ging ihr ziemlich auf den Senkel.

Mit Ayse war das glücklicherweise anders. Die Kriminalkommissarin, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert waren, wollte nach Abschluss der Polizeihochschule eigentlich im Bereich der Umweltkriminalität arbeiten, musste aber in einem ermittlungsaufwendigen Mordfall zum Nachteil eines vierjährigen Kindes in der Mordkommission aushelfen, da Mechthild Kayser einen ihrer Mitarbeiter zum Bundeskriminalamt hatte gehen lassen. Bei den mit der Ermittlung verbundenen unendlichen Hausbefragungen zeigte Ayse Günher neben einer unerschütterlichen Ausdauer ein enormes Talent, Hinweise aus den Menschen herauszukitzeln und trug maßgeblich zur Ermittlung des Täters bei, so dass Mechthild sie nach Rücksprache mit dem Polizeipräsidenten bat, in ihr Team zu kommen. Sie willigte ein. Sicher nicht nur, weil sie selbst spürte, dass ihr die Arbeit in der Mordkommission zusagte, sondern auch, weil sich dort durch den Weggang eines Hauptkommissars klare Entwicklungsperspektiven für sie ergaben.

Die Freundschaft mit Ayse machte es Mechthild in ihrem Berufsleben nicht leicht, sie für eine Beförderung vorzuschlagen. Komischerweise dachten alle Männer ernsthaft, dass vor den Frauen erst mal sie befördert werden müssten. Anschließend sollten die Frauen sich mal um den Rest streiten. Vielen Polizisten fiel es immer noch sehr schwer, zu akzeptieren, dass manche Kolleginnen weitaus besser und qualifizierter als die Männer waren. Hundert Jahre Machogesellschaft in der Polizei ließen sich per Dekret nicht mal eben ausradieren. Alle, die sich übergangen und benachteiligt fühlten, würden eine Beförderung von Ayse auf die Freundschaft mit ihrer Chefin zurückführen. Ganz egal, welche Erfolge sie vorzuweisen hätte. Sie würde als Leiterin der Mordkommission damit angreifbar werden und Führungspotential einbüßen. Aber Ayse hatte eine Beförderung verdient.

Mechthild Kayser entschied sich, dieses Problem in Kürze mit dem Polizeipräsidenten Ernst Logemann zu besprechen. Der PP war ein echter Verwaltungsmann und Schreibtischakteur. Er hatte sie schon damals als Erste Kriminalpolizistin an die Führungsakademie nach Hiltrup geschickt und sie dann äußerst versiert als Leiterin der Mordkommission berufen.

Die beiden Frauen schlenderten eingehakt und leichtfüßig den Dobben hinunter und standen nun vor dem Cinema. In einer halben Stunde lief ein Film über ein klarinettespielendes Mädchen, das taubstumme Eltern hatte. Die Problematik des Films gefiel den beiden, und sie kauften Eintrittskarten. Die Zeit bis zum Beginn des Films verbrachten sie im zum Kino gehörenden Café und plauschten mit Carola, der Besitzerin.

Benjamin lag auf seinem Bett und starrte an die Decke.

Das Hühnerfrikassee lag ihm schwer im Magen. Aber das hatte er auch so gewollt, und er fühlte sich wohl damit. Nach der dritten Portion hielt ihn seine Mutter zur Mäßigung an, doch zu diesem Zeitpunkt hatte er sowieso schon genug.

Jetzt auf dem Bett zu liegen und der Verdauung Zeit zu verschaffen, war schon die richtige Entscheidung gewesen. Allerdings war diese Ruhezeit nicht auf seine Völlerei zurückzuführen, sondern auf die unsägliche Anordnung seiner Mutter, dass von Mittag bis drei Uhr nachmittags Ruhe im Hause zu herrschen habe. Er wusste, dass Kleinkinder mittags ihren Schlaf brauchten. Aber er war zwölf Jahre alt, und ihm war klar, so wie es ihm sein Innerstes sagte, dass er jetzt eigentlich draußen toben wollte und müsste. Gleichermaßen war ihm dadurch klargeworden, dass seine Mutter diese Regel aufrechterhielt, um sich nicht mit ihm beschäftigen zu müssen. Er hatte mehrfach Versuche unternommen, sie dafür zu begeistern, mit ihm etwas zu unternehmen. Aber alle Versuche scheiterten. Irgendwann hatte sich ihm erschlossen, dass sie nichts mit ihm anzufangen wusste. Ja sogar, dass er ihr im Wege stand.

Es war ihm leichter gefallen zu akzeptieren, dass sein Vater nicht erreichbar war, da ihn seine Fabrik so beschäftigte, dass er für nichts anderes Zeit hatte. Aber im Urlaub, wenn sich die Fabrik nur beizeiten einmal per Fax oder mit einem Anruf meldete, nahm er sich die Zeit, mit ihm auf Nachtwanderungen zu gehen, Hirsche im Morgengrauen zu beobachten oder einfach nur mit ihm zu schwimmen oder Tennis zu spielen. Dann fühlte er, dass sein Vater ihm verbunden war. Sie kamen sich zwar nicht wirklich nahe, aber er spürte, dass sich sein Vater dies sehr wohl wünschte und wollte − wenn er es aus welchen Gründen auch immer, nicht wirklich zustande brachte. So konzentrierten sich seine Bedürfnisse nach Liebe und körperlichen Kontakt anfangs auf seine Mutter, die ja nicht arbeiten musste und eigentlich immer zu Hause war. Aber sie konnte oder wollte einfach nichts mit ihm anfangen. Wenn er sie berührte, wurde sie steif. Nichts Weiches oder Gemütliches war an ihr.

Je größer er wurde, desto offensichtlicher wehrte sie ihn ab. Sie vermittelte ihm das Gefühl, dass es unanständig war, sich körperlich nahe zu kommen. Aber er ließ nicht locker. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine eigene Mutter ihn nicht wollen würde. Je häufiger sie ihn zurückstieß, desto größer wurden seine Anstrengungen, ihr seine Liebe zu zeigen und ihr zu gefallen. Aber alles blieb ohne Erfolg. Es musste irgendwie auch an ihm liegen.

Also änderte er sein Verhalten und hielt sich von ihr fern. In der Hoffnung, dass dies der Weg zur Liebe seiner Mutter sein könnte, begann er sich schweren Herzens nicht mehr um sie zu kümmern. Es bereitete ihm große Qualen, obwohl es genau das zu sein schien, was sie von ihm erwartete. Aber sie beantwortete sein Verhalten nicht mit der von ihm erwarteten plötzlich aufflammenden Zuneigung, dem Bewusstsein, dass sie Versäumnisse zugelassen hatte, sondern sie genoss die Entfernung.

Irgendwann war sie ihm fremd geworden. Zeitweise empfand er sie wie Besuch im Haus. Das Einzige, was er sicher wusste, war, dass er sie wollte. Er liebte sie, und in seinen Träumen wollte er sie immer um sich haben. Sie sollte ständig für ihn erreichbar sein und nur darauf warten, dass er zu ihr kam, um ihn dann erleichtert in die Arme zu nehmen, weil sie schon dachte, er würde sie verschmähen. Aber sie beschäftigte sich nur mit sich selbst. Das war die schreckliche Wahrheit. Der Erhalt ihrer Schönheit war ihr wichtig. Dafür tat sie alles. Fitness-Studio, Kosmetikerin, Frisör. Immer die elegantesten Klamotten. Sie hatte eine schlanke, tolle Figur, schöne, blonde Haare. Ihre Zähne blitzten, wenn sie ihr hollywoodreifes Lachen in die Welt jagte. Andere Männer beneideten seinen Vater um sie.

Vielleicht steckte ja er hinter all dieser Qual. Vielleicht war er es, der wollte, das alles so ist, wie es war. Dass sie nur schön für ihn, ihn allein sein sollte. Dass sogar sein kleiner Sohn nicht daran teilhaben durfte. Dass sein Vater in seinem eigenen Sohn einen Nebenbuhler ausmachte, den es auszustechen galt. Aber Benjamin wusste, dass er zwar nicht mehr ganz klein, aber doch sicher nie und nimmer ein Mann war. Und er wollte seinem Vater nicht die Frau nehmen, er wollte nur eine richtige Mutter haben.

Sein Glück war Berta. Sie liebte ihn, das wusste er. Und sie kümmerte sich um ihn. Sprach mit ihm, sorgte sich und achtete auf ihn. Manchmal mehr als ihm lieb war. Alles wollte sie wissen. Manchmal quetschte sie ihn geradezu aus, um zu erfahren, mit wem er Umgang hatte, wer seine Freunde in der Schule waren, worüber sie sprachen und welche Pläne er für die Zukunft schmiedete. Manches war aber auch befremdend an ihr. Wenn er zum Vorlesen auf ihrem Schoß saß und sich gemütlich an ihren dicken Busen anlehnte, hielt sie das Märchenbuch nur mit einer Hand. Mit der anderen streichelte sie seinen Oberschenkel. Das war schön. Und aufregend. Sie war so warm. Und sie roch so gut. Aber ihr Streicheln war ihm auch nicht geheuer. Dennoch ließ er es über sich ergehen. Er war sich nicht ganz sicher, ob er sich falsch erinnerte, aber einmal, als er eine kurze Hose trug, dachte er, sie hätte seinen kleinen Schniedel berührt. Aber er wusste es nicht mehr so genau. Er war froh, dass er sich, wenn er es nötig hatte, in ihre Leibesfülle verkriechen konnte. Ohne sie konnte er in diesem Haus nicht überleben.

Der Abend war gekommen, und nachdem er den Nachmittag mit seiner neuen Carrera Autorennbahn verspielt hatte, war es Zeit für das Abendbrot. Im Esszimmer standen ein paar fertig geschmierte Brote für ihn bereit und wie immer ein Glas Milch.

Seine Mutter rannte seit geraumer Zeit aufgeregt durchs Haus. Während er noch vor dem Abendbrot spielte, sah er sie durch die geöffnete Kinderzimmertür zwischen Bade- und Ankleidezimmer in immer anderen Abendkleidern hin- und herrennen. Ab und zu hörte er die Stimme seines Vaters hinter ihr herrufen: „Nimm das blaue, das blaue sieht phantastisch aus!“ Oder kurze Zeit später: „Ja, das rote. Das rote ist es!“ An Vaters Stimme war zu hören, dass ihn das alles mehr als nervte. Dafür liebte Benjamin ihn.

Aber das änderte nichts. Aufgeregt probierte sie immer wieder andere Outfits an. Benjamin kannte diese Ritual. Fast jedes Wochenende wiederholte es sich. Sein Vater hatte ständig gesellschaftliche Verpflichtungen, und seine Mutter liebte sie. Es war Aufschwung in Deutschland, und seine Eltern waren dabei. Man zeigte, was man hatte.

Endlich war der Affentanz vorbei, und er wusste, was jetzt kommen würde. Seine Mutter eilte gehetzt zu ihm an den Tisch im Esszimmer. „Hier nimm! Das wird dir gut tun!“ sagte sie und reichte ihm wie immer, wenn sie am Wochenende ausgingen, diese Tablette.

Sie sah hinreißend aus. Sie trug ein bodenlanges, rotes, mit Pailletten besetztes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt. Ihr Busen schien gewachsen zu sein, denn wie nie zuvor wölbte er sich oben über den Saum des Ausschnitts. Benjamin stellte fest, dass sie etwas Glitzerndes auf ihr Dekolleté gepudert hatte. Oh ja, sie war wunderschön.

Er sprang von seinem Stuhl auf und wollte sie in die Arme nehmen. Aber sie ergriff ihn bei den Schultern und hielt ihn sich vom Leib. „Nein, nein! Du machst alles nur kaputt!“ herrschte sie ihn an und drückte ihm die Tablette in den Mund. „Los jetzt. Wir haben keine Zeit mehr. Wir kommen sowieso schon zu spät!“

Widerwillig griff er zu seiner Milch und spülte die Tablette runter. Sie wartete, bis er die Schlaftablette hinuntergeschluckt hatte, und eilte dann aus dem Raum. Benjamin hörte noch seinen Vater etwas Unverständliches rufen, und dann schlug die Haustür zu. Vielleicht hatte er ihm jetzt doch noch zum Geburtstag gratuliert. Und er hatte es nur nicht richtig verstanden.

Abrupt war Stille im Haus.

Er stand regungslos neben dem Esstisch, und ein ungutes Gefühl überkam ihn. Er kannte nicht den Grund, aber immer, wenn seine Eltern auf ihre Partys gingen, war er irgendwie beunruhigt. So als stünde ihm etwas bevor, weil sie ihn im Stich gelassen hatten. Er wusste es nicht genau.

Berta kam ins Esszimmer und mahnte ihn, seine warme Milch auszutrinken. Obwohl sie ihm sonst sehr zugetan war und so manches Mal entgegen der Weisung seiner Eltern am Abend noch Fernsehen gestattete – sie hatten halt ihre kleinen Geheimnisse –, war sie an den Wochenenden, wenn die Eltern ausgingen, zu nichts zu bewegen. Nach dem Abendbrot musste er ins Bett; keine Widerreden, keine Kompromisse. Vielleicht war es so zwischen seinen Eltern und Berta eindeutig abgesprochen. Vielleicht hing es mit der Tablette zusammen.

Jedenfalls gab es in diesem Zusammenhang keine Alternativen. Ein paar Male hatte er versucht, Berta zu etwas zu überreden, aber nichts fruchtete. Es waren die einzigen Anlässe, wo er sah, wie Berta zunehmend wütender werden konnte. Und das konnte er nicht riskieren. Es sich mit Berta zu verderben. So war das eben.

Das Licht ging im Cinema wieder an, und Mechthild Kayser war noch immer beeindruckt von der Geschichte des kleinen Mädchens, dem es gelang, seinen gehörlosen Eltern sein Klarinettenspiel näherzubringen. Starke Bilder waren es gewesen. Erst jetzt nahm sie Ayse Günhar neben sich wieder wahr und bekam ein schlechtes Gewissen. Aber Ayse schien es nicht anders ergangen zu sein. Sie schauten sich an, und Ayse sagte: „Wow!“ Dann lachten beide, und Mechthild war froh, dass ihre Freundin nicht bemerkt hatte, dass sie sie während des ganzen Films ignoriert hatte.

Carola hatte recht behalten, als sie sie im Café in ihrem Entschluss stärkte, diesen Film unbedingt anzusehen. Er hatte nicht nur eine schöne Geschichte zu erzählen, sondern war auch beeindruckend inszeniert worden. Beiden gefiel, dass trotz der dargestellten Schwierigkeiten so viel Liebe zwischen den Menschen zum Ausdruck kam. Ayse und Mechthild stiegen die Treppe zum kleinen Café des Kinos hinauf und suchten sich einen Platz am Fenster. Leuchtreklamen und Laternen erhellten den Ostertorsteinweg. Viele Menschen waren auf der Straße unterwegs. Es war wieder kalt geworden. Auch im Café. Sie zogen sich ihre Mäntel wieder über und bestellten sich beide heißen Tee.

„Schön, dass du dich meldest. Ich heiße Elena!“ hörte er eine Frauenstimme sagen. Unverkennbar war ein osteuropäischer Akzent wahrzunehmen. „Ich bin etwas über vierzig Jahre alt und habe eine runde, weibliche Figur. Wenn du mich anrufst, dann können wir uns vielleicht treffen. Ich freue mich auf dich!“

Dann nannte die Stimme noch eine Telephonnummer, die er hastig auf einem Zettel mitschrieb. So war das am besten. Die Frau, die diese Kontaktanzeige in einem der vielen Blätter über eine Flirtline aufgegeben hatte, schien das Prinzip nicht ganz verstanden zu haben. Normalerweise musste der Anrufer eine Nachricht hinterlassen und etwas über sich sagen. Mit der dann zurückgelassenen Nachricht konnte die Anzeigenaufgeberin entscheiden, ob sie zurückrief oder ihr die Stimme des Anrufers schon so unsympathisch war, dass er für sie nicht infrage kam.

Sie hatte schon den ersten Fehler gemacht, und er würde eine Spur weniger hinterlassen. Nervosität breitete sich in ihm aus, und seine Knie wurden weich. Er war aufgeregt. Am besten gleich anrufen, dachte er sich. Dann hätte er es hinter sich. Er wählte zitternd die Nummer. Er hielt sich in der Telephonzelle noch einmal den DIN-A4-Bogen mit seinem Fragenkatalog vor Augen, und während er dem Tuten im Hörer seine Aufmerksamkeit widmete, verinnerlichte er erneut seine Gesprächstaktik, die er sich zurechtgelegt hatte.

Alles war darauf ausgelegt zu erfahren, ob sie alleine sei, Kinder habe, Freunde in der Stadt oder eine regelmäßige Arbeit. Sie fühlte sich einsam; das war klar. Er hatte sich freundliche, stimmungsschaffende Formulierungen zurechtgelegt, und sein Ziel war, wenn sie die für ihn erforderlichen Kriterien erfüllte, sich unbedingt mit ihr zu treffen.

„Ja, bitte?“ erreichte ihn die nun schon vertraute Stimme Elenas aus dem rosa Hörer.

Er holte hörbar tief Luft. „Hier ist Benjamin. Ich habe deine Anzeige gelesen, und als ich deine Stimme hörte, wusste ich sofort, dass ich dich anrufen muss. Ich mache das zum ersten Mal und bin ehrlich gesagt sehr aufgeregt.“

Diese Einleitung des Gesprächs hatte er sich ausgedacht, da er glaubte, damit bei den Frauen einen mütterlichen Instinkt auszulösen. Sie würden versuchen, ihn zu beruhigen und ihm die Angst zu nehmen. Und so geschah es auch. Elena ermutigte ihn gleich, von sich zu erzählen, und somit war die Verantwortung für das Gespräch emotional auf ihrer Seite.

Er erwähnte, dass er Mitte dreißig sei und wusste, dass sie es lieben würde, einen jüngeren Mann zu treffen. Beiläufig wies er darauf hin, dass er Ingenieur und Berater bei einem Landmaschinenhandel sei. Ebenfalls nicht unerwähnt ließ er, obwohl er so tat, als wenn es ihm peinlich wäre, dass er kürzlich eine ansehnliche Erbschaft gemacht und sich einen alten Bauernhof davon angeschafft hatte, den es jetzt zu einem gemütlichen Zuhause herzurichten galt.

Er wollte sie zum einen neugierig machen, zum anderen sollte sie auch schon die Möglichkeit spüren, mit ihm gemeinsam eine Aufgabe meistern zu können. Geschickt flocht er das ein, was er wirklich wissen wollte. Sie war eine sogenannte Wolgadeutsche, erst seit kurzem in der Stadt und wollte hier in Deutschland Fuß fassen. Sie lebte allein, war kinderlos und hatte hier keine Verwandtschaft. Es existierte eine befreundete Familie in Stuttgart, mit der sie allerdings noch keinen Kontakt herstellen konnte. Er bot ihr an, ihr dabei zu helfen. Vielleicht könnte man ja gemeinsam dort hinfahren.

Er vergaß auch nicht, darauf hinzuweisen, dass er sich lange damit auseinandergesetzt hatte, ob er Kinder haben wollte. Wohlwissend, dass sie mit über vierzig wahrscheinlich keine Kinder mehr bekommen konnte, dass sie dies eventuell als hinderlich für eine neue Partnerschaft ansah, verdeutlichte er ihr seinen Entschluss, kinderlos zu bleiben und erklärte ihr, dass er sicher sei, auch nur mit einer Partnerin an seiner Seite ein glückliches Leben führen zu können.

Elena war neugierig geworden. Sie wollte nicht nur ihn sehen, sondern auch sein neues Heim, das noch nach eigenen Wünschen gestaltet werden konnte. Sie war glücklich, einen jüngeren Mann kennenlernen zu können, der nicht nur so ähnlich dachte wie sie, sondern zudem noch finanziell gut gestellt war.

Sie stand in ihrem kleinen, teilmöblierten Appartement am Rembertiring, das so wenig aussagekräftig war und noch keine persönliche Note von ihr trug. Sie schämte sich für ihr kümmerliches Dasein und entschloss sich, das Treffen an einem anderen Ort stattfinden zu lassen. Sie druckste ein wenig herum, weshalb sie nicht wollte, dass er gleich erfuhr, wo sie wohnen würde, und wünschte, sich mit ihm an einem neutralen Ort zu treffen. Schließlich sei er ja trotz allem ein Fremder für sie. Und so weiter. Sie erklärte umständlich ihre Bedenken, warum es ihr lieber war, sich in der Öffentlichkeit zu treffen.

Benjamin lächelte. Er ahnte, warum sie log, und es war ihm recht so. Jemand, der nichts vorzuweisen hatte, suchte verzweifelt nach einer Chance, seiner Situation zu entrinnen. Er würde leichtes Spiel mit ihr haben. In ihre Wohnung wollte sie ihn nicht lassen, aber hatte keine Bedenken, mit ihm auf seinen fremden Bauernhof zu fahren. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, die Kontrolle zu verlieren. Mit einer Verständnis heuchelnden, verbalen Geste überließ er ihr die Bestimmung des Treffpunktes. An ihrer nun folgenden Unentschlossenheit und an ihrem Zögern erkannte er, dass sie sich in der Stadt noch gar nicht auskannte.

Elena blickte unruhig aus ihrem Fenster im sechsten Stock hinaus auf die Straße. Sie entschied sich für den Parkstreifen vor einer Diskothek, der dem Hochhaus gegenüberlag. Elf Uhr. Benjamin war einverstanden. Er würde mit einem grünen VW-Transporter kommen, da er vorher noch Baumaterialien holen müsse, ließ er sie wissen. Sie würde ihn also leicht erkennen.

Dann war das Gespräch zu Ende.

Elena freute sich auf einen ereignisreichen Tag, der alles entscheiden konnte. In ihrer Phantasie entstand schon ihr neues Leben. Wenn alles gut laufen würde, hätte sie es geschafft. Deutschland war das Wunder für sie.

Hoffentlich sah er gut aus. Seine schöne Stimme hatte ihr Vertrauen eingeflößt. Ein eigenes Haus, Geld genug für die schönen Dinge des Lebens. Alle würden sie beneiden. Nervös stand sie vor ihrem kleinen Kleiderschrank. Was sollte sie morgen anziehen? Sie wollte nichts falsch machen. Alles wollte sie unbedingt richtig machen. Schon jetzt erschöpft und überfordert, ließ sie sich erst einmal auf das Bett sinken und hing weiter ihren Träumen nach. Morgen war der große Tag.

Benjamin verließ die Telephonzelle am Europahafen. Er musste sich sputen, um alles für den morgigen Sonntagsausflug vorzubereiten. Er hatte schon Übung. Sie war nicht die Erste. Hoffentlich entsprach sie seinen Vorstellungen. Und wenn nicht? Auch nicht so schlimm. Dann würde er einfach an ihr vorbeifahren, und das wäre es dann gewesen. Es musste schon genau passen.

So wie bei Mathilde. Sie war mehr als mollig gewesen. Aber er hatte sie schlank bekommen. Und sie hatte von Natur aus blonde Haare in der richtigen Länge. Eine wunderbare Frisur hatte er ihr gemacht. Sie sah einfach phantastisch aus. Er durfte sie nicht so lange alleine lassen. Er versprach sich, sie demnächst zu besuchen. Aber erst wollte er Elena haben.

Auch sie schien die Richtige zu sein. Es fügte sich zusammen. Es war von einer höheren Macht so gewollt. Das Schicksal war endlich mal auf seiner Seite. Er versuchte sich ein Bild von ihr zu machen. Vor seinem inneren Auge entstand sie: mittelgroß, übergewichtig. Die Haarfarbe war egal, die ließ sich ändern. Ein Lächeln in ihrem fülligen Gesicht. Er musste unwillkürlich an Berta denken. Kurz flammte eine starke, unberechenbare Wut in ihm auf. Im Gehen ballte er die Fäuste, und er hätte sofort unkontrolliert zuschlagen können. Alles in ihm stand plötzlich und unvermittelt unter Druck. In seinem Kopf rauschte es, und sein Blick verfinsterte sich. Seine Gedanken entglitten ihm, und sein wildes, ungestümes Inneres nahm ihn gänzlich in Besitz und führte ihn in eine fast vollkommene Abwesenheit zur Außenwelt.

Ein Quietschen kam von weit her immer lauter werdend auf ihn zu und holte ihn in die Realität zurück. Er stand regungslos und völlig überrascht auf der Nordstraße. Ein Auto hatte nur durch eine Vollbremsung verhindern können, ihn zu überfahren. Erst jetzt begriff er die Situation. Er war völlig gedankenverloren auf die Fahrbahn der dicht befahrenen Hafenrandstraße gegangen. Total durcheinander und nun erschreckt nickte er mehrmals entschuldigend in Richtung des Fahrers, hob beschwörend die Hände und lief auf den Gehweg. Er musste sich konzentrieren. Er durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Alles konnte schiefgehen, wenn er sich jetzt nicht zusammenriss. Er brauchte dringend Entlastung. Entspannung.

Obwohl er es eigentlich nicht mehr machen wollte, ging er wie von einer fremden Macht geleitet in ein in der Nähe gelegenes Pornokino. Niemand sah, wie er durch den dunklen Samtvorhang in den Vorraum des Sexshops trat. Gelangweilt saß ein älterer Herr hinter einem Verkaufstresen und begrüßte ihn, ohne sich eine Regung im Gesicht anmerken zu lassen. Benjamin bezahlte den Eintritt und betrat den kleinen Kinosaal. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Das Kino war kaum besucht. Er machte vier oder fünf Männer aus, die auf die Leinwand starrten. Er bemerkte, wie jemand neben ihm diskret seinen Mantel über die Beine schlug. Er suchte sich einen Platz in einer freien Reihe und verfolgte eine Zeitlang das Geschehen auf der Leinwand. Irgendeine blonde Frau mit großen Busen wurde überaus stur und mechanisch von zwei Männern gevögelt. Er bereute schon seinen Entschluss, überhaupt hier zu sein, als einer der anderen Männer aufstand und sich neben ihn setzte. Diese plötzliche Nähe konnte er eigentlich nicht ertragen. Trotzdem war sie ein Teil der Gründe, warum er hier war. Verstohlen blickte er aus dem Augenwinkel seinen Nachbarn an und sah, wie dieser sein erigiertes Glied aus der Hose geholt hatte und jetzt daran rieb. Seine Seele erstarrte und schien ihre Lebendigkeit einzufrieren, und sein Körper tat es ihr gleich. Er traute sich kaum zu atmen und war unfähig sich zu bewegen. Er glaubte, dass jede Bewegung von ihm den anderen ermutigen könnte, irgendetwas zu tun. Etwas mit ihm zu tun. Stumm und mit Angst vor dem, was kommen könnte, blickte er nach vorn. Die Bilder auf der Leinwand kamen schon nicht mehr bei ihm an. Er war der Situation auf eine unbeschreibliche Art und Weise ausgeliefert.

Nun spürte er eine Hand auf seinem Bein. Durch den Stoff der Hose fühlte er, wie sie langsam nach oben strich und seinen Schritt erreichte. Die Hand drückte seine Hoden. Wie von fern hörte er das leise Ratschen, als sein Hosenstall geöffnet wurde und war sich sicher, nichts damit zu tun zu haben. Die Hand glitt gleich darauf hinein und verschaffte sich Zugang in seine Unterhose. In seinem Inneren war er völlig aufgewühlt, aber er verwandte seine ganze Kraft darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Es gelang ihm, sich von dem, was nun geschah, abzutrennen. Das war nicht mehr sein Körper. Das war nicht mehr er. Es war, als wenn er sich selbst mit seinem Paar Augen aus einigem Abstand beobachten würde. Wie einen Fremden. Er spürte Angst in sich, die seine Erstarrung vollendete.

Teilnahmslos ließ er alles über sich ergehen. Er war nicht in der Lage, den anderen abzuwehren. Grenzen zu setzen. Er wusste nicht, wie er sich anders verhalten sollte. Er sagte sich im Stillen immer wieder, dass er nichts damit zu tun habe. Das war nicht er.

Sein Penis erigierte nicht, aber dennoch schied er mehrmals in kurzen Abständen Sperma aus. Die Hand zog sich zurück.

Benjamin schämte sich nun. Er hatte keinen Steifen gekriegt. Er fühlte sich nicht als ganzer Mann. Eine Blamage. Nur weg hier, nur weg. Resolut zog er den Reißverschluss seiner Hose zu und sprang auf. Er drängte sich hastig an dem Mann neben ihm vorbei und meinte noch zu sehen, wie dieser ihn mit einem mitleidigen Blick bedachte. Oder war es Verachtung? Verwunderlich wäre das nicht gewesen.

Draußen auf der Straße kam er wieder zu sich. Natürlich wusste er, was gerade geschehen war. Aber so wie immer tat er es ab, als wenn es nicht passiert wäre. Er bereute sein Handeln, hasste sich dafür. Er wusste aus vorherigen Erfahrungen, dass er dort versagen würde. Dass er nicht stolz seinen steifen Schwanz vorführen konnte. Dass ihn nicht alle beneiden würden. Dass ihn niemand höflich gefragt hatte, ob er dieses tolle Teil einmal anfassen dürfte.

Er war wütend auf sich. Und er machte sich schwere Vorwürfe. Natürlich war er es gewesen, der das Kino aufgesucht hatte. Und sicher hatte er den anderen Mann provoziert und durch irgendetwas angemacht. Er hatte ja selber Schuld, immer wieder diese Schmach zu erfahren.

Das war das letzte Mal, entschied er selbstbewusst und hoffte zugleich, dass er diesen Entschluss auch wirklich durchhalten könne. Er verabscheute seine Schwäche. Das musste doch anders werden. Das war nicht er. Er konnte sich so nicht akzeptieren. Er hasste sich dafür.

Eiligen Schrittes ging er zu seinem Auto. Jetzt schnell hier weg. Die Stätte der Peinlichkeit verlassen. Er musste nach Hause. Aus diesen Niederungen musste er jetzt verschwinden. Großes stand bevor. Vor ihm lag die Möglichkeit, seiner Erbärmlichkeit ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.

Mechthild und Ayse entschlossen sich, noch ein paar dunkle Biere im Irish Pub zu sich zu nehmen. Der schöne Film hatte sie entspannt, und plötzlich waren sie in Partylaune. Und die laute Atmosphäre des Hegarty’s war jetzt genau das Richtige für sie. Der Laden war voll wie eh und je. Neben der großen Theke auf der kleinen Bühne setzte ein Gitarrist gerade zu Country Rose an, und der ganze Saal mit seiner angetrunkenen Meute brüllte bierselig den Refrain mit. Eine echte Saufatmosphäre, dachte Mechthild, aber heute gefiel sie ihr. Ayse hatte zwei große, dunkle Biere bestellt. Sie prosteten sich zu und schmeckten den wohltuenden bitteren Schaum des kühlen Bieres.

In der Ecke hinter einem Stützpfeiler entdeckte Mechthild Hanni, eigentlich Hans-Heinrich, einen kleinen Ganoven aus dem Zuhältermilieu vergangener Zeiten. Er hatte in einem Keller im Viertel eine Puffbar betrieben, konnte sich aber nicht lange über Wasser halten. Als die Bars vertrieben wurden, steuerte auch er um und machte aus ihr eine Livemusik-Kneipe. Aber der Erfolg blieb erwartungsgemäß aus. Als er eines Tages betrunken die Freundin eines alteingesessenen Viertelbewohners in einer Kneipe übel beleidigte, bekam er von diesem in Begleitung eines Freundes Besuch in seinem Laden und eine Abreibung. Voller Vergnügen warf einer der beiden Kumpel zum Abschluss der Aktion einen Barhocker in den hinter der Theke befindlichen großen Spiegel. Wie bei einer Saloon-Rauferei in einem traditionellen Western. Hanni lag niedergeschlagen hinter seiner Theke, und die anwesenden Gäste wurden eindringlich daran erinnert, besser nichts gesehen zu haben. Schließlich waren die unerwünschten Besucher nicht gerade unbekannt. Danach erzählte Hanni überall, dass er schon Särge für die beiden bestellt hatte. Aber passiert war bis heute nichts. Um seinem wirtschaftlichen und persönlichen Desaster endlich ein Ende zu bereiten, stieg Hanni dann in den Drogenhandel ein und wurde prompt an der französischen Grenze mit einem Kofferraum voll Drogen festgenommen. Während seiner sicher nicht angenehmen Haft in einem südfranzösischen Gefängnis versteifte er sich darauf, dass die beiden Racheengel von damals ihn beim Zoll verpfiffen hatten. In Wahrheit war er aber nur zu faul gewesen, das Kofferraumschloss seiner goldenen S-Klasse reparieren zu lassen. Als er an der Grenze stand, sprang der Deckel auf, und die Zöllner nahmen ihn fest. Nun war er also wieder da. Die Haft hatte ihm erkennbar zugesetzt. Er sah blass, alt und müde aus.

Mechthild kümmerte sich nicht weiter um ihn und bestellte die nächste Runde. Der alkoholisierte Zustand der zwei Frauen ließ keine ernsthaften Gespräche zu, und so vergnügten sie sich mit Bemerkungen über die anwesenden Vertreter des männlichen Geschlechts. Beide waren herzhaft am Lachen und hofften insgeheim, dass sie niemand belauschen würde. Aber bei dem Lärmpegel im Hegarty’s war das eher unwahrscheinlich. Nach dem dritten Bier waren Mechthild und Ayse ziemlich angetrunken und entschlossen sich, nach Hause zu gehen.

„Aber nicht ohne die Fahne!“ lallte Ayse ziemlich laut und bestellte an der Theke noch zwei Irish Flag, ein Teufelszeug aus verschiedenen Likören in den irischen Nationalfarben. Sie kippten den Schnaps hinunter, und Mechthild wusste, dass der morgige Sonntag mit Kopfschmerzen beginnen würde. Aber das war jetzt egal. Sie war schon lange nicht mehr so ausgelassen gewesen und war glücklich, mit Ayse auch eine Freundin für solche Gelegenheiten zu haben. Auch die Chefin der Mordkommission brauchte mal etwas Ablenkung. Vielleicht mehr als alle anderen.

Kichernd schlenderten sie den Ostertorsteinweg entlang und erreichten die Sielwallkreuzung, wo sie sich trennten.

Ayse wohnte in der Verlängerung des Ostertorsteinwegs im Steintor über einer Kneipe. Sie hatte es nicht weit, und Mechthild brauchte sich keine Sorgen um den sicheren Heimweg ihrer Freundin und Kollegin machen. Überfälle auf Frauen waren im Viertel die Ausnahme. Dazu war hier einfach zu viel los. Auch morgens um vier oder fünf Uhr waren hier am Wochenende noch wahre Menschenmassen unterwegs. Und Leute, die sich notfalls, vielleicht auch aus weniger edlen Motiven, hilfreich einmischten, gab es hier genug. Ayse lebte gerne hier. Sie war jung und brauchte ein lebhaftes Viertel mit Kneipen und Geschäften um sich herum. Trotzdem suchte sie eine neue Wohnung. Sie hatte nicht bedacht, dass in der Kneipe genau unter ihrem Schlafzimmer ein Flipper stand und seine Spielgeräusche ihr nachts den Schlaf rauben würden. Es war allerdings nicht so leicht, etwas Neues zu finden. Wohnungen im Viertel wurden selten inseriert. Hier bekam man eine neue Bude durch Verbindungen. Der sicherste Weg war, in bestimmten Kneipen von seinem Wohnungswunsch und seinem geregelten Einkommen zu tratschen, und das möglichst flächendeckend und immer darauf bedacht, dass man Anhaltspunkte hinterließ, wie man denn gefunden werden könnte. Gegenüber Bullen gab es traditionell immer noch Vorbehalte, falls man nicht einen passenden, politischen Hintergrund hatte. Aber welcher Bulle hatte den schon. Und sie war dafür sowieso zu jung. Trotzdem hatte sie keine Lust, irgendeinem Makler ihr Geld in den Rachen zu stopfen, um in einen der Neubauten zu ziehen, die ausschließlich für die neue Schickeria gebaut wurden.

Als Mechthild an ihrem Haus ankam, merkte sie, wie betrunken sie war. Die irische Flagge ließ grüßen. Der Schlüssel wollte einfach nicht so recht ins Schloss der Haustür, und sie fluchte leise vor sich hin. Aber dann klappte es doch. Im Gehen streifte sie auf dem Flur ihre Kleider ab und legte sich ins Bett. Zähneputzen fiel heute aus. Bevor sie das Licht löschte, warf sie schnell noch einen Blick auf das Photo ihrer Tochter auf dem Nachtschrank. Das Photo zeigte ihre Anna, als sie ein Jahr alt war. Vier Jahre hatte sie sie schon nicht mehr gesehen. Traurigkeit stieg in Mechthild auf, aber das wollte sie jetzt nicht. Bloß keinen Depri kriegen. Nicht, wenn sie etwas getrunken hatte. Sie kippte den Rahmen mit dem Bild nach unten auf den Nachtschrank, murmelte „scheiß Alkohol“ und schlief glücklicherweise gleich ein.

Benjamin wachte ziemlich benommen auf. Er kannte das schon. Die Schlaftabletten waren viel zu stark für ihn, und er hätte sicher auch ohne sie gut schlafen können.

Er hatte Kopfschmerzen, und ihm war schwindelig. Für einen kurzen Moment glaubte er sich daran zu erinnern, Berta in der Nacht aus seinem Bett schlüpfen gesehen zu haben. Aber dieser Gedanke verflüchtigte sich schnell. Ein Traum. Er war immer noch nicht richtig wach. Er drehte sich um und schüttelte die Bettdecke mit seinen Beinen auf. Kühlere Luft drang an seinen Körper, und er versuchte noch einmal einzuschlafen, in der Hoffnung, dass er später mit einem klareren Kopf aufwachen könnte. Aber es ging nicht. Er setzte sich auf die Bettkante und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er kam sich vor, als wenn er über Nacht Schwerstarbeit geleistet hätte. Er drückte sich von der Bettkante hoch und schlurfte in sein kleines Badezimmer. Als er zum Pinkeln auf dem Klo saß, stellte er fest, dass er seine Schlafanzughose falsch herum anhatte. „Scheiß Tabletten“, sagte er leise zu sich selbst.

Mechthild Kayser war es nicht gewohnt, lange zu schlafen. Genauso wenig war sie daran gewöhnt, zu viel Alkohol zu trinken. Trotzdem war es in den vergangenen Jahren immer mal wieder vorgekommen. Jetzt rächte es sich zum wiederholten Mal, dass sie zu wenig Rücksicht auf sich nahm.

„Wider des besseren Wissens“, stöhnte sie und hielt sich ihren Kopf. Einige Stunden mehr Schlaf hätten ihren Kater sicherlich erträglicher gemacht. Aber es war nun mal so, wie es war. Sie quälte sich aus dem Bett, mischte sich in der Küche einen Aspirincocktail und hoffte auf Besserung. Der Morgen war kühl. Es war eben doch noch nicht Sommer. Sie zog sich einen Bademantel über und setzte sich in einen Sessel auf ihrem Balkon. Für einen kurzen Moment konnte sie sich daran erfreuen, dass sie ihn gestern für den Frühling hergerichtet hatte. Aber dann drückten sie ihre Kopfschmerzen in eine dumpfe Lethargie, und sie starrte teilnahmslos und das Ende ihrer Leiden erwartend einfach geradeaus auf die Rückfronten der an ihren Garten angrenzenden Häuser.

Das Viertel war noch nicht am Erwachen. Aus den verqualmten Kneipen drangen nach und nach die letzten Zecher der Nacht, erschrocken über die ihnen vorwurfsvoll entgegenschlagende Helligkeit. Vor dem Bistro Brasil hatte es eine Schlägerei gegeben. Wie Mechthild später den hausinternen Mitteilungen der Polizei entnehmen konnte, hatte ein zugekokster Postbeamter in seinem vermeintlichen Allmachtsrausch grundlos versucht, einen ehemaligen Anti-AKW-Kämpfer mit einem Tritt in die Genitalien niederzustrecken. Aber der kampferfahrene, heutige Soziologe konnte noch immer so einiges wegstecken, und der Postbeamte erlebte das, was Jahre vor ihm schon einige Polizisten erleben mussten und ihnen den Glauben an ihre Ausbildung in Selbstverteidigung genommen hatte.

Gegen Mittag und ziemlich durchgefroren noch immer im Sessel auf dem Balkon konnte Mechthild endlich wieder Entscheidungen treffen und ging duschen. Sie merkte, dass das Haarewaschen eigentlich noch ihre Kräfte überstieg, aber sie konnte sich zusammenreißen und war nachher froh, dass sie es zustande gebracht hatte.

Sie verließ das Haus und zerrte ihr Fahrrad durch die Pforte ihres Vorgartens. Dabei stellte sie sich recht ungeschickt an und blieb mehrmals mit den Pedalen irgendwo hängen. Wenn sie dabei einer gesehen hätte, würde der gleich bemerkt haben, dass sie gestern gezecht hatte, dachte sie bei sich. Aber sie schaffte es, glaubhaft elegant auf den Sattel zu kommen und fuhr eindeutig gerade los.

Die frische Luft tat ihr gut. Sie erreichte den Osterdeich und fuhr entlang der Weser bis zum Weserwehr. Einer in Beton neugebauten Weserquerung, die die frühere in das ehemalige Wasserkraftwerk integrierte Überführung ersetzt hatte. Auf der anderen Seite des Flusses musste sie sich entscheiden: große Runde oder lieber die kleine. Da sie heute ihren Kräften nicht so traute, entschied sie sich für den kürzeren Weg der Erholung und radelte Richtung Werdersee. Der auf dieser Weserseite gelegene künstliche See galt als Naherholungsgebiet und war zur Weser hin von unzähligen Kleingartenvereinen mit ihren Parzellen begrenzt. Am anderen Ufer stieg steil ein Deich empor, der sich schützend vor das dahinter befindliche Wohngebiet, die Neustadt, legte.

In der Stadt gab es ein ungeschriebenes Gesetz: Wer auf der einen Weserseite geboren war, zog niemals auf die andere. Nur sogenannte Zugezogene wechselten die Seiten. Woher diese Regel kam, wusste Mechthild nicht. Sie wusste nur, dass zu Zeiten der Räterepublik nach dem Ersten Weltkrieg die freiheitsliebenden Räteverbände von der Neustadtseite aus angegriffen wurden und an der alten Weserbrücke in Höhe der Altstadt erbitterten Widerstand leisteten. Vielleicht war das ein Grund. Vielleicht war diese Regel aber auch schon früher entstanden, und die Geschichte bewies damals nur einmal mehr, dass der anderen Weserseite nicht zu trauen war.

Oben auf dem Deich fuhr Mechthild an den Gebäuden der Bereitschaftspolizei vorbei. Hier hatte sie einmal ihre kriminalpolizeiliche Laufbahn begonnen, zu einer Zeit, als es für Frauen noch nicht möglich war, in den uniformierten Polizeidienst einzutreten. Damals war es noch etwas Besonderes, bei der Kripo zu sein. Auch sie fiel auf die von oben vermittelte Klassentrennung zwischen uniformierten Polizisten und den „Kriminalisten“ herein und stolzierte mit den verordneten Würden herum. In der täglichen Arbeit hatte ihr das später allerdings nicht geholfen. Schon früh bemerkte sie, dass eine Trennung der Dienste in der Polizei nicht hilfreich, sondern hinderlich war. Ein elender Konkurrenzkampf zwischen den Sparten wurde so entfacht. Auch viele sogenannte Kriminalisten gaben ihrer Eitelkeit nach und pflegten ihr Image der wahren Verbrechensbekämpfer auf Kosten ihrer uniformierten Kollegen. Und das Fernsehen tat sein Teil vielfach dazu, indem es das Erscheinungsbild der kriminalistisch ermittelnden Kommissare und ihrer Handlanger aus der uniformierten Polizei verstärkte. Während des Radelns erinnerte Mechthild sich an den Regisseur Jürgen Roland, der in seinen Kriminalfilmen als Erster eine Lanze für die uniformierten Kollegen im Fernsehen brach.

Heute waren die Laufbahnen durchlässiger. Die ehemaligen Standesunterschiede hatten sich nahezu völlig aufgelöst. Man war eine Polizei geworden. Die politisch den Ton angebenden Sozialdemokraten hatten der Forderung der Gewerkschaft nachgegeben und den mittleren Dienst bei der Polizei abgeschafft. Beizeiten gab es nur noch den Ausbildungsweg über die Hochschule, und alle erfolgreichen Abgänger traten als Kommissare ihren Dienst an. In Uniform oder in Zivil.

Von ihrem Großvater wusste sie, dass in den zwanziger Jahren Hundertschaften der Polizei von sogenannten Hauptleuten geführt wurden. Als sie Kriminalkommissarin wurde, verneigte er sich ehrfurchtsvoll, als er ihr zur Beförderung gratulierte. In seinen Augen war sie nun etwas ganz Besonderes geworden. Später erfuhr sie, dass er in den Freikorps gedient und zu diesen Zeiten bestimmt nicht auf Seiten der demokratischen Kräfte gestanden hatte. Was er wohl getan hätte, als sie zur Kriminalrätin befördert worden war? Doch da war er schon Jahre verstorben, und ihre Oma hatte all das nie beeindruckt.

Alles war vorbereitet. Er hatte ein paar alte Eichenbalkenstücke auf die Ladefläche des Transporters gelegt. Er würde Elena erklären, dass er die alten Balken in Bretter sägen wolle, um daraus einen rustikalen Tisch für die geplante Terrasse zu bauen. Das würde ihr bestimmt gefallen. Er ging davon aus, dass Frauen zu einem ersten Rendezvous nicht gerne in einen kleinen Lkw einsteigen wollten, auch wenn er sich bei Elena vorstellen konnte, dass sie einen gebildeten Mann in Hemdsärmeln akzeptieren würde, der ihr damit vermittelte, dass er nicht nur intellektuell war, sondern wusste, wie man zuzupacken hatte. Irgendwie spürte er, dass sie etwas Bäuerliches hatte, dass sie vom Land kam. Er war nah an ihr dran. Er glaubte, sie zu kennen. Er fühlte seine Macht, die sich daraus ergab, dass er immer spürte, was andere wollten. Er hatte die Kontrolle.

Um kurz vor elf Uhr bog er in den Rembertiring ein. Zum einen wollte er die Umgebung erkunden. Und zum anderen wollte er sich vergewissern, dass Elena keine Zeugen mitgebracht hatte. Obwohl er sicher war, dass ihnen die Kenntnis seines Autokennzeichens niemals würde helfen können. Er hatte die Schilder aus der Garage einer betagten Dame gestohlen, die ihn vor Monaten kurz als Gärtner beschäftigt hatte. Sie kannte nicht mal seinen richtigen Namen. Er hatte sie an ihrem Gartenzaun angesprochen und seine Hilfe bei der Gartenarbeit angeboten. Anfangs hatte er noch gedacht, dass sie die Erste hätte sein können, aber er verwarf diesen Plan, da sie eindeutig zu alt für ihn war. Es musste schon alles stimmen.

Als er den Parkstreifen vor der Diskothek passierte, sah er sie schon. Nichts deutete darauf hin, dass Elena jemanden mitgebracht hatte. Sie trug ein rotgeblümtes Sommerkleid. Viel zu kalt für diese Jahreszeit, dachte er. Und sie hatte sich wahrlich herausgeputzt. Sie hatte etwas aus sich gemacht. Ihr Gesicht war deutlich geschminkt, und ihr Haar auffällig frisiert. Sie war in ihrer Aufmachung sicherlich auch schon anderen aufgefallen. Aber hier war Bahnhofsvorstadt. Da standen schon mal aufgetakelte Frauen an der Straße.

Er wusste nicht, ob sie ihn in seinem Transporter schon bemerkt hatte, fuhr aber trotzdem an ihr vorbei und bog rechts in die nächste Straße ein, um nach drei weiteren Schlenkern wieder zu ihr zu gelangen. Jetzt war er wirklich aufgeregt. Sie war schon die Richtige mit ihren braunen, halblangen Haaren. Er war nervös, als er auf den Parkstreifen fuhr, aber er wusste, dass dies für seine Pläne nicht hinderlich war. Nervosität war nur etwas Natürliches, wenn man ein Blind Date hatte. Jede Frau würde argwöhnisch werden, wenn man zu cool auftrat. Elena würde denken, dass es die auch für ihn ungewohnte Situation war, die ihn aufgeregt machte.

Er öffnete ihr nicht einfach die Beifahrertür zum Einsteigen, sondern stieg aus. Er wusste, dass sie das Gefühl haben musste, beim ersten Zusammentreffen einfach Nein sagen zu können. Ohne diese vertrauenschaffende Geste hätte sie möglicherweise Vorbehalte entwickelt. Und die konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gebrauchen. Er ging mit einem gespielt unsicheren Lächeln auf sie zu. Für einen Moment dachte er, es könnte auch wirklich so sein. Er trifft auf die Frau, die ihm alles geben kann und die für ihn alles bedeutet, so dass er sein wahres Motiv nicht weiterleben muss und er nun von allem Leid befreit wird. Seine Erlösung.

Aber dann besann er sich. Eine solche Vorsehung gab es für ihn nicht. Dunkelheit legte sich wieder über ihn. Sein Lächeln versiegte nicht, als er sie begrüßte und ihr vermittelte, dass er eine Enttäuschung erwartet hatte und nun das Gegenteil vorfand.

So kam es jedenfalls bei Elena an. Sie sah in den Augen ihres Gegenübers all die enttäuschten Träume und hatte den Willen, diesem Mann zu seinem Glück zu verhelfen. Und das würde auch ihr Glück beinhalten.

Benjamin schaute, Unbeholfenheit vortäuschend, auf das Pflaster, als er sagte: „Sag mir gleich, wenn es nicht passt. Ich mache so was zum ersten Mal und weiß nicht, wie man weitermacht. Wenn ich dir nicht gefalle, kannst du das ruhig gleich sagen. Das ist nicht so schlimm.“

Das war für Elena die entscheidende Ansprache. Sie sah, oder genauer, sie glaubte, dass sie einen guten Mann vor sich hatte. Er war in ihren Augen eigentlich schwach. Aber er hatte alles, was sie sich zu diesem Zeitpunkt erträumte. Er wirkte auf sie jung und schüchtern. Ein wenig unbeholfen und mit nicht allzugroßem Selbstbewusstsein ausgestattet. Kein Machogehabe, sondern eine Natürlichkeit, die sie brauchte. Und sie war sich sicher, wenn es klappte, hatte sie diesen Mann im Griff.

„Mach dir keine Gedanken. Wir sind doch erst am Anfang“, antwortete sie fröhlich und unbeschwert. „Ich bin gespannt, wie du lebst. Lass uns auf deinen Bauernhof fahren.“

Er gefiel ihr wirklich. Er strahlte etwas Jungenhaftes aus, von dem sie sicher war, dass sie es ergänzen konnte. Sie durfte ihn jetzt nur nicht loslassen. Dem Himmel sei Dank, dass es so gekommen war. Wenn sie gewusst hätte, wie er zum Glauben stünde, hätte sie sich jetzt bekreuzigt. Aber lieber nicht. Wer weiß, was es ausgelöst hätte. Innerlich stieß sie ein Dankgebet gen Himmel. Nun ergriff sie die Initiative, hakte sich bei ihm ein und ließ ihn erst wieder los, als sie die Beifahrertür erreichten und sie ihm die Gelegenheit gab, die Tür für sie zu öffnen. Als sie losfuhren, musterte sie von der Seite sein Profil. Er sah wirklich gut aus. Ein kantiges Gesicht mit scharf konturierten Linien. Seine schlanke, sportliche Figur, die dunklen, lockigen Haare. Elena hatte einen Volltreffer gelandet. Auf dem Lenkrad ruhten seine Hände mit schönen, geraden Fingern und kurzgeschnittenen Nägeln. Ein Mann, wie sie ihn sich erträumt hatte. Attraktiv, aber nicht zu schön. Sie entschloss sich, auf dem Bauernhof mit ihm zu vögeln. Sie wollte etwas schaffen, dass sie genau dort miteinander verband. Und sie würde es ihm gut machen, so wie er es noch nicht erlebt hatte. Guter Sex konnte einen Mann für ewig an eine Frau binden. Und dieser Mann hatte lange keinen guten Sex gehabt. Das war ihr klar.

Der Transporter hatte mittlerweile die Stadt verlassen, und sie befuhren eine von Feldern gesäumte Bundesstraße. Elena war so mit Benjamin und ihren Gedanken beschäftigt gewesen, dass sie den Weg aus der Stadt, den sie bisher zurückgelegt hatten, nicht mehr nachvollziehen konnte. Ein Hinweisschild zeigte ihr, dass sie Richtung Syke fuhren.

Benjamin hatte ihre taxierenden Blicke sehr wohl bemerkt. Nun war es an der Zeit, ein belangloses Gespräch einzuleiten, um sie weiter zu zerstreuen und die Zeit der Fahrt zu verkürzen. „Ich bin gespannt, wie dir das alte Haus gefallen wird“, wandte er sich mit einem kurzen Blick direkt in ihre Augen ihr zu. „Es ist wirklich noch viel zu tun, aber mit ein bisschen Phantasie kann man sich vorstellen, dass es ein Traumhaus wird.“

Sie setzte sich etwas bequemer in den Beifahrersitz. „Ich finde das toll, dass du mir gleich bei unserem ersten Treffen dein Haus zeigen willst“, antwortete sie. „Mir würde es nichts ausmachen, ein Haus umzubauen. Wir haben zu Hause immer alles selber gemacht. Und ich musste immer mit anpacken.“ Dann erzählte sie noch, wie sie schon als Kind im häuslichen Garten mithelfen musste. Und wie sie ihrem Vater beim Bau einer neuen Scheune zur Hand gegangen war. Elena war es wichtig, Benjamin zu vermitteln, dass sie eine praktisch veranlagte Frau war. Und zudem noch alles hatte, was ein Mann sich wünschte. Sie atmete tief ein und drückte ihre Brust nach vorne, damit er sehen konnte, dass sie einen großen Busen hatte, der trotz ihres Bauches deutlich vorstand. Sie wusste genau, dass dabei der Stoff ihres vorne durchgängig geknöpften Kleides sich so weit dehnen würde, dass die Spitze ihres Büstenhalters zu sehen war. Und sie bemerkte, dass Benjamin es auch bemerkte. Sollte er ruhig ein wenig Lust auf sie bekommen. Ihre eigene Lust spürte sie bereits.

Benjamin war nun mehrfach abgebogen, und die Landschaft um sie herum reduzierte sich auf Äcker und kleine Waldstücke. Vereinzelt sah man in einiger Entfernung zur Landstraße pfannenbedeckte Bauernhäuser stehen. Menschen waren nicht auszumachen. Obwohl auch heute der Sonnenschein eine andere Stimmung vermittelte, war überall zu sehen, dass die Natur noch nicht wirklich aus ihrem Winterschlaf erwacht war. Das Grün war immer noch aus dem Vorjahr. Es fehlte die strahlende Frische des neuen Pflanzenwachstums.

Benjamin verlangsamte die Fahrt und sagte: „Hier ist es!“

Elena setzte sich aufrechter hin und blickte aufmerksam durch die Frontscheibe. Sie bogen in einen von einem kleinen Weg durchbrochenen Wald ein. Sofort wurde es merklich kühler im Wagen, da die Bäume die Sonnenstrahlen nicht durchließen. Elena erschauderte.

Nach etwa zweihundert Metern gab der Wald sie wieder frei, und am Ende einer Wiese lag ein altes, weißverputztes Fachwerkhaus. Das Dach war reetgedeckt und musste erst vor kurzem erneuert worden sein, denn es leuchtete in der Sonne hellgelb.

Das Haus war nicht besonders groß, aber an einer Flanke schloss sich ein etwas niedrigerer, länglicher Bau an, ebenfalls aus Fachwerk und rundherum mit Fenstern versehen. Wahrscheinlich ein ehemaliger Stall, dachte Elena. Wenn man ihn zu Wohnraum umbauen würde, ergäbe sich doch ein stattliches Anwesen.

Sie stiegen aus und standen nun beide schweigend vor dem Haus.

„Das sieht ja toll aus!“ beendete Elena als Erste das Schweigen und sah sich weiter um. Rechts von ihnen erhob sich eine große Scheune, die aber ohne Zweifel nicht in bisherige Bemühungen einer Renovierung einbezogen worden sein konnte. Ihr Dach war schief, mehrere Balken hatten nachgegeben, und es fehlten schon einige Dachpfannen.

Elena suchte den Eingang zum Haus, konnte aber nur eine unscheinbare, kleine Tür entdecken. „Wo geht’s denn rein?“ fragte sie.

„Komm!“ Benjamin bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie gingen auf die andere Seite des Hauses, die die eigentliche Vorderseite war. Von hier blickte man auf eine weitere Wiese, die aber angelegt war und von mehreren schmalen Wegen durchschnitten wurde. Verwilderte Reste eines Bauerngartens waren zu erkennen. Auch diese Wiese endete wiederum an einem Wald. Das Haus war in einigem Abstand fast vollständig von Bäumen umgeben. Nur eine breite Schneise ließ den Blick auf dahinterliegende Felder frei.

Früher war der Wald bestimmt für die Versorgung des Hofes mit Feuerholz angelegt worden, dachte Elena. Jetzt dachte sie an gemütliche Stunden vor einem wärmenden Kaminfeuer. Ein wohliges Gefühl kam in ihr auf.

Zu dieser Seite hatte das Haus einen in der Mitte eingezogenen Giebel, unter dem sich die Haustür befand. Dadurch entstand ein kleines Portal, das dem Haus etwas Herrschaftliches verlieh. In einem Balken über der Tür war in verwitterten Buchstaben „Gott beschütze dieses Haus“ zu lesen.

Elena gefiel, was sie sah. Und sie sah Benjamin an, dass er entspannter geworden war und es ihm Spaß machte, ihr alles zu zeigen.

„Komm, wir gehen rein“, schlug er ihr vor. Etwas umständlich schloss er die in dunklem Grün frischgestrichene Eichentür auf. Er trat zurück, um sie zuerst hereinzulassen.

Elena gelangte in einen großen, von diffusem Licht erhellten Raum. Alle inneren Wände des Hauses schienen entfernt worden zu sein. An einer Seite des Raumes entdeckte sie eine provisorisch eingebaute Küche. Der verbliebene Platz war nur spärlich möbliert. Ein runder Esstisch aus über die Jahre gedunkelter Kiefer stand mit ebenso unansehnlichen Stühlen vor einem Fenster neben der Küche. Schräg gegenüber auf der anderen Seite fristeten verloren zwei schwarze, voluminöse Ledersessel ihr Schattendasein. In einer Ecke führte eine massive hölzerne Wendeltreppe mit gedrechseltem Geländer in die obere Etage. Alles wirkte ein wenig trostlos. Sie bemerkte den frisch abgezogenen Dielenboden, dessen neue Versiegelung an den Stellen, auf die das Tageslicht durch die Fenster traf, hell leuchten ließ und ihre Stimmung wieder hob. An der Wand hinter den Sesseln tat sich ein schwarzes Loch auf. Erfreut erkannte sie, dass hier die ersten Steine für einen Kamin gemauert waren. Das gefiel ihr. Es gefiel ihr plötzlich sowieso alles immer besser. Sie hatte erkannt, dass hier ein schönes Heim entstehen konnte. Es fehlte nur noch die Handschrift einer Frau. Ihrer Handschrift.

Elena wandte sich zu Benjamin um. „Das ist wirklich wunderschön. Und der große Garten und die Bäume!“ Sie klang verzückt.

Benjamin strahlte sie an. „Es ist noch viel zu tun. Aber ich mache alles alleine, und das dauert eben. Das Grundstück ist riesig. Der Wald rund herum gehört noch mit dazu. Aber wenn ich jemanden finden würde, der es mit mir aushält, dann käme man schneller voran, und ich könnte auch endlich neue Möbel anschaffen.“

Er kam sich vor, als wenn er sich wirklich auf Freiersfüßen bewegen und Elena aus echten Gefühlen umgarnen würde. Wieder kamen für einen Moment Zweifel in ihm auf, ob ab jetzt nicht alles anders werden könnte. Dann fiel ihm Mathilde ein. Nein, es gab für ihn kein Glück. Nicht bevor er nicht für seine Sicherheit gesorgt hatte. Wenn alles vorbei war, dann konnte er endlich in Ruhe und Frieden leben.

Elena bemerkte, wie sich Benjamins Gesicht verdunkelte. Es ließ sie ein wenig erschrecken. Schnell fragte sie verunsichert, was denn los sei.

In dieser Sekunde hatte er aber schon seine Fassung wieder. Sie durfte nicht verängstigt werden. Er suchte und fand sofort eine Lösung. „Ach, es ist eigentlich nichts“, begann er und spielte den Leidenden. „Ich habe mir hier im Haus schon so viele Gedanken gemacht: Wie es hier unten werden soll, welche Zimmer ins Dach gebaut werden. Aber ich weiß nicht, was ich mit dem Anbau machen soll. Es belastet mich wirklich, dass ich dir da noch nichts zeigen kann. Ich wollte schon die Wand rausnehmen, damit wir mehr Platz haben. Aber ich konnte mich noch nicht entscheiden!“

Er wartete einen Moment und blickte dabei suchend an die Decke. Er brauchte Elena nicht anzuschauen, um erfassen zu können, ob seine verdeckte Botschaft bei ihr angekommen war. Die Spannung im Raum stieg. Er konnte es kaum aushalten, zu verharren. Das kleine Wörtchen wir, scheinbar unbewusst in seine Antwort eingeflochten, sollte ihr neues Vertrauen geben. Er wollte sie dazu bewegen, unbedingt hierbleiben zu wollen. Und er behielt recht.

Als Elena das anscheinend ohne sein Zutun seiner Seele entlockte wir vernahm, durchfuhr sie ein Stich, dem sich ein wohliges Kribbeln in ihrem ganzen Körper und ein aufgeregtes Gefühl in ihrem Magen anschloss. Er hatte sich in sie verliebt. Da war sie sich ganz sicher. Ihr Gefühl konnte sich nicht irren. „Vielleicht habe ich eine Idee!“ äußerte sie erlöst und entschlossen. „Zeig mir doch einfach den Anbau.“ Sie ergriff die Initiative, nahm ihn forsch bei der Hand und zog ihn aus dem Haus.

Sie spürte die Erleichterung, die sie ihm verschafft hatte, und öffnete geradewegs die Tür des Anbaus. Sie würde ihm schon einige tolle Ideen präsentieren.

Benjamin war ebenfalls erleichtert. Er hatte die Kontrolle wiedererlangt.

Als Elena in den dunklen Raum eintrat, konnte sie noch nicht viel erkennen. Die Fenster waren so dreckig, dass kaum Licht eindrang. Sie drehte sich zu Benjamin um und wollte ihn nach einem Lichtschalter fragen, aber dazu kam es nicht mehr. Er stand vor ihr in der offenen Tür, und die von hinten einfallende Helligkeit versenkte ihn vollständig in Schatten, so dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. In der rechten Hand hielt er einen Eisenstab mit einer doppelten Spitze am Ende. Das Licht reichte aus, dass sie den großen Gummihandschuh bemerkte, mit dem er den dick ummantelten Griff der Stange hielt. Sie erkannte auch noch, dass aus der Stange ein Kabel herausführte und irgendwo im Raum endete. Sie erschrak so sehr, dass ihr für einen Moment sogar die Luft zum Schreien fehlte. Dann traf sie das Ende der Stange in den Bauch.

Kurz funkte es zwischen den beiden Polen. Mit einem Satz sprang Elenas Körper zurück und schlug auf den Boden auf. Benjamin drehte sich um und legte den Starkstromschalter neben der Eingangstür wieder um. Er wartete noch einen Moment ab, bis sich die Restspannung aus dem Eisen verflüchtigt hatte, und legte dann sein Werkzeug vorsichtig auf den Boden. Er schloss die Tür und schaltete die großen Halogenscheinwerfer ein. Elena rührte sich nicht. An der Stelle, wo sie der Starkstrom getroffen hatte, war ihr Kleid verkohlt, und als Benjamin näher rückte, nahm er den Geruch von verbranntem Fleisch war.

Wie bei Mathilde, dachte er. Er hob den Arm Elenas an und suchte nach einem Puls. Nichts war zu fühlen. Er riss ihr Sommerkleid grob auf, legte sein Ohr zwischen ihre Brüste und horchte nach dem Herzschlag. Nichts war zu hören. Sie war tot.

Mechthild Kayser hatte das Ende des Werdersees erreicht. Sie schwitzte unter ihrer Regenjacke. In dieser Jahreszeit zu Beginn des Frühlings konnte man sich zum Radfahren einfach nicht richtig anziehen. Entweder war man zu warm angezogen, oder man fror.

Ein bisschen Schwitzen kann nur gut sein, dachte Mechthild, auf diese Weise käme der störende Restalkohol schneller aus ihrem Körper. Trotzdem wollte sie nicht viel weiterfahren. Die Strecke nach Haus kam ihr schon jetzt ganz schön mühsam vor. Sie entschloss sich, irgendwo eine Rast einzulegen. Das Café Sand kam ihr in den Sinn, aber bei der Vorstellung, sich unter die dort wahrscheinlich verweilenden Menschenmassen zu begeben, wurde ihr unwohl zumute. Sie brauchte es in ihrem angeschlagenen Zustand etwas ruhiger.

Sie lenkte ihr Fahrrad durch das angrenzende Parzellengebiet und steuerte die Einfahrt des Kuhhirten an, ein eher bürgerliches Restaurant und Ausflugslokal. Genau das Richtige für sie. Zudem bot der Kuhhirten eine überdachte Terrasse, die bei diesem Wetter, das auch schnell mal einen Schauer hervorbringen konnte, weit besseren Schutz bot als die wenigen Sonnenschirme mit dem Branding der örtlichen Brauerei im Café Sand. Sie schloss ihr Fahrrad an und stieg die Stufen zur Terrasse hinauf. Sie war der einzige Gast und setzte sich an einen der wenigen eingedeckten Tische.

Mechthild musste eine Weile warten, bis eine Bedienung zu ihr kam. Aber der abklingende Kater in ihrem Kopf verlieh ihr eine gewisse Gleichgültigkeit, so dass sie die Wartezeit nicht als störend empfand. Ansonsten hasste sie es, nicht umgehend und aufmerksam bedient zu werden. Sie war ein ungeduldiger Mensch, der sich ständig Mühe geben musste, andere mit ihrer fordernden Art nicht ungerecht zu behandeln.

Eine junge Frau mit Balkanakzent brachte ihr ein Kännchen Kaffee und ein Mineralwasser. Mechthild wollte zwar nur eine Tasse haben, aber die Bedienung bestand auf der Umsetzung einer Anweisung ihres Chefs, auf der Terrasse nur Kännchen zu servieren.

Kein Wunder, dass hier nichts los ist, dachte Mechthild, bei so viel Sturheit.

Ayse Günher hatte ihren Alkoholexzess erheblich besser überstanden. Nach dem Frühstück war sie mit ihrem Wagen in den Bürgerpark gefahren und hatte drei Runden auf der dortigen Finnbahn gejoggt. Unter achtzehn Minuten. Das war die Zeit, für die sie bereit war, sich mehr als einmal die Woche zu quälen. Und bisher hatte sie es immer geschafft und so manchen lahmen Mann auf der Finnbahn zweimal überrundet. Jetzt hing sie an der Reckstange neben einem Unterstand am Start und ließ ihre Beine baumeln, um die Wirbelsäule zu entlasten. Sie bemerkte zufrieden, dass die Finnbahn als sportliche Stätte kein Interesse bei Dieben weckte, denn an vielen hier abgestellten Fahrrädern waren Schuhe und Kleidungsstücke auf den Gepäckträgern und in Fahrradkörben deponiert. Aus einer der Jacken klingelte sogar ein Mobiltelephon.

In dem Viertel, wo sie wohnte, hätte keine der Sachen auch nur fünf Minuten unbeobachtet bleiben dürfen. Die Beschaffungskriminalität der dortigen Junkies war ungebrochen hoch. Seit ihre Kollegen an den örtlich zuständigen Polizeirevieren die Straßenprostitution der abhängigen Frauen stärker ins Visier genommen hatten und intensiv bekämpften, nahmen Diebstähle und Raubüberfälle auf kleine Geschäfte zu. Während vorher die Frauen den Heroinbedarf ihrer ebenfalls süchtigen Freunde und Männer durch den Verkauf ihrer Körper mit befriedigen konnten, kamen jetzt die Männer in die Versorgerrolle und begingen Diebstähle, Einbrüche und Überfälle. Die Prostitution hatte keinen größeren Schaden am Eigentum der Bevölkerung angerichtet. Ihre Unterbindung führte aber zu einer für alle mehr belastenden Art der Kriminalität. Abgesehen von dem nicht akzeptablen Zustand, dass diese armen Frauen aus ihrer Not auf den Straßenstrich gingen und von vielen Freiern wie Freiwild behandelt wurden. Sie trauten sich nicht, brutale oder perverse Freier anzuzeigen, da sie damit gleichsam ihre eigene Straftat zugeben mussten, die rigoros von Polizei und Justiz verfolgt wurde. Ein wahres Dilemma, das nur durch ein System kontrollierter Drogenabgabe gemildert werden konnte. Aber der derzeitige Justiz- und Sozialsenator wehrte sich aus prinzipiellen juristischen Gründen gegen jede Form irgendeiner möglichen Legalisierung des Drogenkonsums. Die Befürchtung war zu groß, dass ein solcher Bremer Alleingang die Junkies der ganzen Republik anziehen könnte.

Aber sie kamen auch so. Brutale Übergriffe auf Heroinabhängige von Polizisten in anderen Städten, großzügig von oben gedeckt, trieb zeitweise viele Abhängige ins liberalere Bremen. Bis auch hier wieder mal eine Gegenbewegung entstand. Die herrschende Politik bot keine wirkliche Lösung der Probleme an, sondern organisierte nur deren Verdrängung. Und damit kam sie bei der Bevölkerung, die direkt betroffen war, häufig gut an. Je härter, desto besser. Die Menschen, die sich hinter den ausgemergelten Gesichtern und in den von Krankheiten gequälten Körpern befanden, wurden als solche nicht mehr wahrgenommen. Sie störten nur.

Mechthild Kayser hatte es endlich geschafft, ihren Kater loszuwerden. Jetzt trat die unvermeidbare Müdigkeit an seine Stelle, die einem klarmachte, dass man betrunken keinen erholsamen Schlaf haben konnte. Sie radelte zurück nach Hause und beschloss, beim Nachmittagsprogramm des Fernsehens gemütlich auf dem Sofa einschlafen zu wollen.

Es war acht Uhr morgens, als Mechthild am darauffolgenden Tag mit dem Fahrrad das Polizeihaus in der Innenstadt erreicht hatte und nun durch das breite Portal mit den Steinstufen aus weserbergländischen Sandstein ging, um in die erste Etage zu gelangen, wo sich die Büros der Mordkommission befanden.

Das alte Gebäude, das um 1900 im Stil deutscher Renaissance und des Frühbarock errichtet wurde, wirkte mit seinen Fronttürmen sehr martialisch und wehrhaft. Was damals den Anforderungen an ein modernes Verwaltungsgebäude gerecht wurde, entsprach heute schon seit langem nicht mehr der einer zeitgemäßen Polizeiorganisation erfordernden Baulichkeit. Mehrfach hatte man im Kern des Gebäudes mit Umbaumaßnahmen versucht, die Büros so umzugestalten, dass vernetzte Abläufe zwischen den hier Dienst versehenden Ermittlungsgruppen zu organisieren waren. Das alte Gemäuer hatte aber in der Statik begründete Grenzen, die nicht zu verschieben waren. Darum hatte vor kurzem eine Planungsgruppe damit begonnen, nach einem geeigneten Gebäude Ausschau zu halten. Und wie der Polizeipräsident kürzlich verlauten ließ, gab es wohl Anzeichen aus dem Haus des Innensenators dafür, dass die gesamte Kriminalpolizei in eine ehemalige Bundeswehrkaserne im Stadtteil Vahr umziehen könnte. Nach Ende des Kalten Krieges stand dort ein mittlerweile geräumtes Kasernengebäude zur Verfügung. Ein relativ moderner Komplex, der räumlich für eine stabsstellengelenkte Führung ausgerichtet war und über entsprechende Räumlichkeiten für Einsatzplanungen und die Einrichtung von anlassbezogenen Ermittlungszentren verfügte.

Viele Kriminalbeamte waren gegen einen Umzug, da sie die fehlende Zentralität der Kaserne bemängelten. Aber in Wahrheit ging es einigen von ihnen nur darum, die guten Einkaufsmöglichkeiten in der Innenstadt nicht zu verlieren. Mechthild Kayser war eindeutig für den Umzug in ein moderneres Gebäude. Gleichgültig, wo es lag. Mord und Totschlag konnte sie an jedem Ort bearbeiten. Sie stellte in ihrem Büro den Computer an und ging auf ihre polizeiinterne E-Mail-Seite. Bemerkenswerte Fälle würden in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht anstehen. Dann hätte man sie schon am Wochenende alarmiert.

Durch das interne E-Mailsystem wurde die Informationsgeschwindigkeit erheblich erhöht, und jeder bekam seine Aufgaben zeitnaher übertragen. Die zu den Vorfällen gehörenden Akten wurden zwar in Papierform erstellt und durch einen Botendienst verteilt, da Richter, Staatsanwälte und Verteidiger sie in verantwortlich unterzeichneter Form einsehen wollten, aber bald würden in das gesamte System elektronische Signaturen integriert und auf diesem Wege Ausdrucke auf Papier enorm reduziert werden. Das glaubten jedenfalls die Einsparstrategen der Haushaltsabteilung. In Wirklichkeit ließ sich jeder jede auch noch so banale E-Mail ausdrucken, um eine sichtbare Grundlage in den Händen halten zu können. Arbeitende Menschen brauchten etwas zum Anfassen. Etwas, woran sie sich halten konnten.

Mechthild Kayser war der Auffassung, dass es in Ermittlungen sowieso immer besser war, mit den damit beschäftigten oder betroffenen Menschen im persönlichen Gespräch zusammenzutreffen. Ein Papier konnte nur erlesen werden, aber im persönlichen Kontakt erhielt man weitaus mehr Hinweise, Gefühlsregungen und andere nonverbale Informationen vermittelt, als es selbst ein Video nicht zustande bringen könnte. Polizeiarbeit war in erster Linie immer eine Arbeit mit Menschen und ihrem individuellen Ausdruck in einem Rahmen von ganzheitlicher Kommunikation.

Viel war am vergangenen Wochenende nicht geschehen. Neben den allgemeinen Mitteilungen über Fahndungen nach gestohlenen Autos, entwichenen Strafgefangenen und verschwundenen psychisch Kranken gab es in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag einen Blitzeinbruch in ein Juweliergeschäft in der Sögestraße, gleich am Anfang der innerstädtischen Fußgängerzone. Die Täter waren mit einem gestohlenen Auto einfach in die Eingangstür gerammt und hatten blitzschnell die Auslagen abgeräumt.

Ganz schön dreist, dachte Mechthild.

Für sie gab es drei Nachrichten, die in ihre Zuständigkeit fielen: Ein kleines Mädchen wurde als vermisst gemeldet. Die nächste E-Mail teilte mit, dass sie unversehrt wiedergefunden wurde. Also doch nichts zu tun. Und die dritte Nachricht bezog sich auf einen Frührentner, der nach einem Restaurantbesuch nicht wieder heimgekehrt war und von seiner Ehefrau vermisst wurde.

Wahrscheinlich ist er bei seiner heimlichen Freundin auf dem Sofa eingeschlafen, dachte Mechthild. Doch sie musste diese Mitteilung trotzdem ernst nehmen. Mit gutem Grund war die Bearbeitung von Vermisstensachen Aufgabe der Mordkommission in Bremen. Häufig wurde ein vermisster Mensch als Opfer eines Kapitalverbrechens aufgefunden.

„Da hatte der Kriminaldauerdienst ja ein ruhiges Wochenende“, sprach Mechthild laut in ihr leeres Büro. Sie sah auf die Uhr. Halb neun. Und von ihren Mitarbeitern war noch keiner zu sehen. Mit der Einführung der Gleitzeit konnte jeder seinen täglichen Arbeitsbeginn selbst festlegen. Allerdings musste er spätestens um neun Uhr auf der Matte stehen. Kontrolliert wurde das durch ein elektronisch gesteuertes Chipkartensystem. Und durch Mechthild selbst. Sie bestand darauf, dass sich ihre Kollegen jeden Morgen bei ihr zu melden hatten, wenn sie ihren Dienst aufnahmen. Auf diesem Weg erlangte sie nicht nur einen groben Überblick über die zu leistenden Dienststunden, sondern erhielt jeden Tag auch einen Eindruck über Stimmung und Verfassung der einzelnen Mitarbeiter der Mordkommission.

Mechthild Kayser beschloss, die Sache mit dem vermissten Rentner an den Jüngsten in ihrer Truppe zu übergeben. KK Heiner Heller war vor kurzem gerade dreißig geworden und vor einem Jahr aus dem Raubkommissariat zu ihr gewechselt. Er wirkte immer noch unreif und hatte etwas Jungenhaftes an sich. Heller hinterließ bei vielen den Eindruck, dass er alles nicht so ernst nehmen würde. Er war noch ledig, ging viel auf Partys und zog an freien Wochenenden durch die Diskos der Stadt, um Frauen aufzureißen. Da er sehr gut aussah und eine sympathische, anziehende Art hatte, war er auf diesem Gebiet sehr erfolgreich. In seiner Arbeit hatte er allerdings noch keine großen Erfolge aufzuweisen, und Mechthild war sich sicher, dass er sich nur zu ihr beworben hatte, um in einem anderen Arbeitsfeld die Gelegenheit zu erhalten, sich profilieren zu können, was ihm im Raubkommissariat nicht vergönnt gewesen war. Aber sie mochte ihn. Seine unbeschwerte Art, sein lockeres Umgehen mit den unschönen und belastenden Dingen ihrer Arbeit, verbesserte die Atmosphäre für alle, auch wenn seine lockeren Bemerkungen an vielen Stellen völlig unpassend waren.

Als Erster meldete sich ihr Kollege Roder mit einem wie immer frustrierten Blick durch den Spalt ihrer halbgeöffneten Bürotür und einem knappen „Moin“ an. KHK Kurt Roder war ein schwieriger Typ. Als einziger Kriminalhauptkommissar in der Mordkommission war er Mechthilds Stellvertreter. Roder war ein unverbesserlicher Macho, hatte Schwierigkeiten, unter der Leitung einer Frau zu arbeiten, und sein Charakter war von unterdrückter Aggressivität und einer spürbaren, schlummernden Gewaltbereitschaft geprägt. Er hatte selbst Ambitionen gehabt, Leiter der Mordkommission zu werden. Er war am längsten hier tätig und hätte sicher auch das Zeug dazu gehabt. Aber durch die vor einigen Jahren begonnene Polizeireform waren die Kommissariatsleitungen höher bewertet und sukzessive durch Kriminalräte ersetzt worden. Und Roder war nicht bereit gewesen, sich für die Ratslaufbahn zu bewerben und sich einer Prüfungskommission zu stellen. Aus welchen Gründen auch immer. Ob er nun Angst gehabt hatte, durchzufallen und abgelehnt zu werden, oder ob er seinen Anspruch auf die Leitung als selbstverständlich ansah, er hatte es jedenfalls nicht getan und war seitdem immer schlecht gelaunt.

Dennoch hatte er auch seine Vorteile und Fähigkeiten, die Mechthild Kayser sehr wohl sah und zeitweise zu schätzen wusste. Roder konnte Verdächtige in einer harten und brutalen Art und Weise verhören, sie bis an die Grenzen der Legalität verbal und durch seine körperliche Präsenz unter Druck setzen wie kaum ein anderer.

Mechthild war überzeugt, dass er, wenn sie nicht dabei war, diese Grenzen ohne Skrupel auch überschritt, um Ergebnisse zu erreichen. Aber bislang gab es keine belegbaren Vorwürfe, die dazu geführt hätten, Roder in seine Schranken zu verweisen. Und solange das so war, musste sie davon ausgehen, dass er sich an die Regeln hielt.

Zusammen mit Ayse Günher trat der junge Heller in ihr Büro. Sie begrüßten sich kurz, und Mechthild erinnerte daran, in zehn Minuten ihre Frühbesprechung machen zu wollen. Sie sollten KHK Roder mitbringen.

Mechthild steckte die ausgedruckte E-Mail über den vermissten Rentner in eine Besprechungsmappe zu den Vorgängen, die noch von Freitag unbearbeitet auf ihrem Schreibtisch lagen, und verließ ihr Büro.

Das Besprechungszimmer der Mordkommission war im Zuge der Personalreduzierung entstanden. Zwischen zwei nicht mehr belegten Büros war die Trennwand entfernt worden und ein Raum entstanden, in dem man jetzt einen großen, rechteckigen Tisch, umrahmt von zwölf Stühlen, unterbringen konnte. Durch die vier nebeneinanderliegenden, hohen Fenster hatten sie einen schönen Blick auf die Wallanlagen der Stadt, die den alten Stadtkern im Mittelalter vor Angreifern schützen sollten. Während sich damals die aufgrund ihrer Gewürzimporte als „Pfeffersäcke“ bezeichneten Kaufleute mit den anderen Honoratioren der Stadt sicher hinter den Befestigungsanlagen verschanzen konnten, wurden die Bewohner der davorliegenden Stadtteile regelmäßig Opfer der Brandschatzung angreifender Truppen.

Das Besprechungszimmer hatte die Tristesse aller mit öffentlichen Mitteln eingerichteten Funktionsräume. Im Gegensatz zu den Büros der Mitarbeiter fanden sich hier keine persönlichen Gegenstände, die die Atmosphäre auflockerten. Photos, Pflanzen, Andenken fehlten völlig. Die Vorgaben für die Beschaffung von Büromöbeln waren eng gefasst. Entscheiden konnte man sich lediglich zwischen zwei verschiedenen Kunststoffoberflächen: hellgraues Plastik oder Nussbaumimitat. Wer etwas auf sich hielt und bereit war, in seine Arbeitsumgebung selbst zu investieren, der stellte sich die Möbel für seine Besprechungsecke im Büro selbst zusammen. Das wurde von der Leitung toleriert, führte es ja schließlich auch dazu, Kosten einzusparen. Doch ließ sich auch der Verdacht nicht von der Hand weisen, dass so manche Mitarbeiter auf diesem Weg ihre alten Wohnzimmereinrichtungen einer neuen Nutzung zuführten oder besser gesagt diese Möglichkeit zu deren Entsorgung nutzten. Jedenfalls bekam man einen Einblick über die vorherrschenden, zum Teil erschreckenden Geschmäcker der Kollegen.

Mechthild Kayser begrüßte noch einmal ihre kleine Truppe und begann die angefallene Arbeit zu verteilen. Heiner Heller als Benjamin in der Mordkommission bekam den Vorgang um den vermissten Rentner, der einzige aktuelle Fall an diesem Tag und ihres Stellvertreters Roder nicht würdig. Die fehlenden Unterlagen über die bisher durch den Kriminaldauerdienst getroffenen Maßnahmen würden Heller in Kürze über den Botendienst erreichen. Ayse Günher wurde von ihrer Chefin mit einer Anfrage aus den neuen Bundesländern beauftragt. Dort war in Leipzig eine Prostituierte ermordet worden, und man bat um Auskünfte über ähnlich gelagerte Fälle. Sie liebte es, an ihrem Computer die Tatort- und Täterdateien zu durchforsten und nach Übereinstimmungen in den Fällen zu suchen. Mechthild wusste, dass Ayse ein echter Fan von Serienkillern oder besser – und weniger reißerisch ausgedrückt – von Wiederholungstätern war. Obwohl es sie unter Mördern selten gab. Kurt Roder musste sich mit einer Bitte des Bundeskriminalamtes befassen. Das BKA wollte eine Expertise über Ausstattung und Einsatzmöglichkeiten von Observationsfahrzeugen erstellen, und alle Bundesländer waren aufgefordert, ihre Erfahrungen darzustellen. Genau das Richtige für Roder, der es gerne sah, wenn unter einem Papier, das zentral in der Polizeiführung ausgewertet wurde, sein Name stand.

Mit dem Wissen, dass sie sich selbst mit elender Kriminalstatistik zu beschäftigen hatte, entließ Mechthild ihre Kollegen in den Tag. Wenn kein Tötungsdelikt zu bearbeiten war, ging das Leben in der Mordkommission einen beschaulichen Gang. Überstunden konnten abgebummelt werden, endlich war dann Zeit für Weiterbildungen, oder alle konnten mal wieder zum Schießen fahren und die jährlich vorgeschriebenen Übungen ableisten. In solchen Zeiten galt es für Mechthild gegenüber ihren Kollegen großzügig zu sein, was die Ausgestaltung der Dienstzeit betraf. Denn bei Vorliegen eines Kapitalverbrechens änderte sich abrupt alles. Urlaub und Freizeit wurden nicht gewährt. Und wer glaubte, einen Acht-Stundentag zu haben, wurde arg enttäuscht. Solche Haltungen gab es jedoch nicht in der Mordkommission. Wenn es galt, einem Verbrecher habhaft zu werden, scheute niemand Zeit und Mühe, und alles andere wurde zurückgestellt.

Thomas Brandt parkte den gemieteten weißen Lkw vor dem geöffneten Rolltor einer ehemaligen Fertigungshalle in der Bremer Neustadt. Hier hatte ein Betrieb bis vor etwa zehn Jahren Stanz- und Falzmaschinen zur Blechbearbeitung hergestellt. Sie waren pleite gegangen oder hatten den Betrieb verlagert. Das wusste Thomas Brandt nicht. Und es interessierte ihn auch nicht.

Als Partyveranstalter war er stetig auf der Suche nach neuen, ungewöhnlichen Örtlichkeiten, die man in der Szene „locations“ nannte, um den Erlebnishunger seiner jungen Kundschaft immer wieder aufs Neue zu befriedigen.

Das Geschäft war in den letzten Jahren schwerer geworden. Auch andere veranstalteten jetzt Partys, und der Wettbewerb hatte dazu geführt, dass Brandt sich jedes Mal etwas wirklich Neues, Irres ausdenken musste, um es der Konkurrenz zu zeigen. Als er begann, reichten ein paar künstliche Palmen neben einer Cocktailbar in einem alten Keller aus, dazu noch ein paar Lichteffekte und natürlich einer der angesagten Discjockeys der Stadt. Und fertig war die Dschungelparty. Mittlerweile ließ er DJs aus London, New York und Barcelona einfliegen. Jede Party bekam ihr eigenes, gestyltes Image, ein Motto, das von der gesamten, aufwendigen Dekoration und Aufmachung widergespiegelt wurde. Dabei explodierten natürlich die Kosten, und immer weniger blieb für ihn übrig.

Für die Party vom letzten Wochenende hatte er einen „martial-industry-sound“ angekündigt. Dafür hatte er die alte, heruntergekommene Fertigungshalle angemietet. Unter die nicht mehr funktionsfähigen Lastkräne an der Decke der Halle hatte er Gitterkäfige mit Gogo-Girls hängen lassen. Die mit Bikinis bekleideten Mädchen traten im Schweißeroutfit auf. Am Eingang brannten helle Feuer in verrosteten Ölfässern, und der Clou der Party war eine Anlage, die oberhalb der Tanzfläche brennende Gasfontänen mit hohem Druck über die Tanzenden schoss, so dass man beim Tanzen einen heißen Schauer abbekam. Das war alles sehr teuer. Und die Eintrittseinnahmen waren auch nicht mehr so berauschend. Da er sich nicht mehr darüber ärgern wollte, wie viel Geld ihm seine Bedienungen an den Theken klauten, hatte er den gastronomischen Teil seiner Veranstaltungen gegen eine Gebühr an einen örtlichen Caterer vergeben. Aber trotz der Verluste durch Diebstahl fehlte ihm unter dem Strich etwas. Er hatte zwar die Eintrittspreise erhöht, aber es gab Grenzen, deren Überschreitung das Bremer Publikum nicht mehr akzeptieren würde. Um Ausgaben zu sparen, fuhr er nun selbst den Lkw für den Abtransport und packte auch beim Abbau mit an.

Als er in die Halle trat, war nichts mehr von der ausgelassenen Stimmung der Samstagnacht zu spüren. Es roch nach Rauch, Schweiß und abgestandenem Bier. Die bunte Welt des martial-industry-sounds war einer öden, maroden und staubigen Umgebung gewichen. Es war kalt in der Halle, jetzt, da keine Menschenmassen mehr da waren, die sie aufheizten.

Wo während der Party noch buntes Licht von außen durch die Hallenfenster strahlte, fiel der Blick nun auf verrostete Eisenrahmen, durch deren butzenartige Fensteraufteilung ein wild überwucherter Hof zu erkennen war. Es fehlten einzelne Scheiben, einige waren zerbrochen. Die Gitterkäfige waren schon verschwunden. Die beiden Männer der PA-Firma luden ihr Equipment in bereitstehende, rollbare Holzkisten, die Trapeztürme für die Licht- und Gasanlage lagen auseinandergebaut auf dem Hallenboden.

Thomas Brandt sah sich nach den Klapptheken um. Sie standen schon für den Abtransport vorbereitet am Eingang. Er zählte die Zapfanlagen und die Kühltruhen. Nichts fehlte.

In der Mitte der Halle stand der große, schwere Rolltresen der Cocktailbar. Die einzige Theke, die er noch selbst betrieb. Er hatte sie vor wenigen Jahren, als die Geschäfte noch besser liefen, nach seinen eigenen Vorstellungen anfertigen lassen. Sie war aus massivem Holz mit eingebauten Zapfanlagen und Kühlschränken. Der Rolltresen war nicht auseinanderzunehmen und selbst, wenn man die Ware ausgeräumt hatte, richtig schwer. Um ihn zu transportieren, bedurfte es mindestens zweier Männer und eines Lkws mit Hebebühne.

Thomas Brandt winkte zwei seiner Aushilfen herbei, die gerade damit beschäftigt waren, die an den Wänden aufgehängten Ölfackeln abzunehmen. „Los, kommt! Erst mal den Tresen raus. Dann den Kleinkram!“ kommandierte er.

Bereitwillig kamen beide her und lösten die Verriegelungen der Gelenkrollen. Dann drückten sie mit aller Kraft gegen eine Flanke des Tresens, um ihn ins Rollen zu bringen. Da die beweglichen Rollen noch nicht alle in eine Richtung wiesen, stellte sich der Tresen quer, und Thomas Brandt schnauzte: „Dahin, dahin!“ und zeigte dabei auf das Rolltor, wohlwissend, dass sich das Ungetüm erst zurechtlaufen musste. Aber schließlich war er der Chef hier und wollte das auch zeigen. Er stemmte sich mit aller Kraft an eine Ecke des Tresens, um ihn in Fahrt zu bringen, als plötzlich unter ihm der Boden nachgab und der Tresen mit der gegenüberliegenden Ecke in einen Hohlraum einsackte und schief hängen blieb. Im gleichen Augenblick hörte man das Splittern von Holz, und Thomas Brandt schrie auf, als er in eine etwa einen Meter tiefe Versenkung rutschte und auf einem weich gefüllten Plastiksack landete. Holzsplitter und Bruchstücke zerborstenen Estrichs rieselten auf ihn nieder.

Glücklicherweise hing der schwere Tresen fest. Wenn er ins Rutschen gekommen wäre, hätte er Thomas Brandt zerquetschen können. Nun saß er auf dem Boden und schrie verärgert: „So eine Scheiße!“ Der Schreck saß ihm in den Knochen. Er sah zu seinen Füßen herunter, und ab diesem Zeitpunkt wusste er für sein ganzes restliches Leben, was es hieß, sich wirklich zu erschrecken.

Vom anderen Ende des durchsichtigen Plastiksacks, auf dem er saß, sah ihn im Halbdunkel der Grube eine blonde Frau mit aufgerissenen Augen an. Eine tote blonde Frau. Obwohl er in diesem Moment keinen bewussten Gedanken fassen konnte, war ihm dieser Umstand intuitiv klar. Mit einem markerschütternden Schrei fuhr er hoch und versuchte aus dem Loch zu kommen. Er richtete sich mit einer hastigen Bewegung auf, stemmte sich mit den Händen auf der Kante des Loches ab und wusste genau, dass das Weiche, das er noch unter seinen Füßen fühlte, eine Leiche war, auf der er immer noch stand. Er drückte sich nach oben, rollte sich auf dem Hallenboden ab und sprang sofort auf.

Alle Anwesenden, denen die Sicht auf die Tote versperrt war, starrten ihn verblüfft an. Schlechte Nerven, dachten sie. Dreht gleich durch, wenn mal was schiefgeht!

Thomas Brandt war kreidebleich im Gesicht und zitterte. Noch nie hatte er eine Leiche aus der Nähe gesehen. Und schon gar nicht unter diesen Umständen.

„Roland für Roland 5012 kommen!“

„Hier ist Roland! Bitte 5012!“ antwortete die Einsatzzentrale der Bremer Polizei, deren Rufname vom Wahrzeichen der Stadt, einem steinernen Rolandritter auf dem Marktplatz, herrührte.

„Bitte IDA schalten!“ meldete sich die Stimme von 5012 wieder.

IDA, das Sprachverschlüsselungssystem der Polizei, wurde immer dann verwendet, wenn der polizeiliche Funkverkehr, der theoretisch von jedem Radiobesitzer illegal mitgehört werden konnte, brisante Meldungen enthielt, die nicht für jedermann einfach zugänglich sein sollten.

Der Streifenführer von Roland 5012 fuhr fort: „Es handelt sich um einen Tatort. Eine weibliche Leiche in einem Plastiksack. Fremdverschulden nicht auszuschließen. Fundort ist die Richard-Dunkel-Straße 10a, die ehemalige Halle von Siemer & Behrend. Ich brauche Unterstützung zur Tatortsicherung. Und benachrichtigt die Kollegen von K!“

Die Einsatzzentrale bestätigte die Meldung und erreichte einen Einsatzwagen des Kriminaldauerdienstes, der sich im Stadtgebiet aufhielt und ebenso wie zwei weitere Streifenwagen der Schutzpolizei die Fahrt in Richtung des Leichenfundortes aufnahm. Grundsätzlich war es von großer Wichtigkeit, möglichst schnell eine großzügig bemessene Absperrung eines Tatortes zu veranlassen und alle in der Nähe befindlichen Personen festzuhalten, um Spuren und Zeugenaussagen zu sichern. Während die eingesetzten Streifenwagen unter Wahrnehmung ihrer Sonderrechte mit Blaulicht zum Fundort der Leiche brausten, schrieb Mechthild Kayser noch immer Zahlenschlüssel in grün- und blauumrandete Kästchen. Als ihr Telephon klingelte, war sie dankbar für die kleine Ablenkung.

Noch während der Beamte der Einsatzzentrale in knappen Worten die für sie erforderlichen Fakten übermittelte, schob sie den nervenden Papierkram beiseite und machte sich ihre ersten Notizen. Dann legte sie auf und drückte die Taste für die Konferenzschaltung an ihrem Telephon. Bei all ihren Mitarbeitern klingelte es nun gleichzeitig mit einem besonderen Ton, der darauf hinwies, dass eine Nachricht erster Priorität auf dem Display abzulesen war. „Einsatz! Sofort Lagebesprechung!“

Mechthild schnappte sich ihren Notizblock und eilte zum Besprechungszimmer. In Kürze waren alle versammelt, bis auf Heller, der nach dem vermissten Rentner suchte.

Kurz und knapp gab Mechthild die wenigen Erkenntnisse, die sie bisher hatte, ihren Mitarbeitern bekannt. „Fund einer weiblichen Leiche. Fremdverschulden nicht auszuschließen. Identität unbekannt. Fundort in der Richard-Dunkel-Straße 10a in einer leerstehenden Fabrikhalle. Die Kollegen der Schutzpolizei sind vor Ort. Die Absperrung steht. Zeugen werden vor Ort festgehalten.“

Sie blickte auf ihre Kollegen. Roder saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Arme verschränkt. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Ganz anders bei Ayse Günher. Sie wirkte aufgeregt und voller Einsatzfreude.

Mechthild Kayser sah kurz auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie schrieb die Zeit auf ihren Block und sann dann über ihre zu treffenden Maßnahmen nach. Gerade Roder brauchte eine klare Ansprache, sonst wurde er bockig. Ayse würde auch ohne ihr Zutun wissen, was im ersten Angriff zu unternehmen sei. Aber Mechthild war die Chefin und hatte hier das Sagen. Sie musste jetzt präzise Aufträge verteilen.

„Herr Roder, Sie informieren den Erkennungsdienst und fahren beim ED mit. Wir haben nur einen Wagen. Der andere ist mit Heller unterwegs. Informieren Sie auch die Gerichtsmedizin und sorgen Sie dafür, dass die vor Ort erscheinen!“ Dann wandte sie sich Ayse Günher zu. „Du fährst mich! Am Tatort nimmst du dir dann zuerst alle Zeugen vor. Sprich vorher mit den schon eingetroffenen Kräften, ob Personen sich schon entfernt haben und ob Personalien hinterlassen wurden. Frag sie nach Auffälligkeiten!“ Sie überlegte noch einen Moment, und mit einem „Los geht’s!“ hob sie die kurze Lagebesprechung auf.

Als Mechthild auf dem Innenhof des Polizeihauses in ihren Dienst-Mercedes einstieg, hatte Ayse gerade das mobile Blaulicht mit dem Magnetfuß am Wagendach festgeklickt. Sie fuhr in zügiger Fahrt mit eingeschaltetem Blaulicht von der Buchtstraße links über die Straßenbahnschienen und versuchte so den Weg in die Neustadt abzukürzen. Mechthild hatte währenddessen ihr Funkgerät eingeschaltet und ihre Einsatzfahrt der Zentrale gemeldet. Ayse legte ein rasantes Tempo vor, und obwohl Mechthild wusste, dass ihre Freundin ein Auto wie ein Rallyemeister beherrschen konnte, war es ihr doch etwas zu riskant, so zu brausen.

„Ayse, bitte etwas langsamer! Wir wollen heil ankommen. Die Leiche kann uns nicht mehr weglaufen!“

Ayse reduzierte wie befohlen das Tempo und kam trotzdem überraschend gut durch den Verkehr. Sie überquerten die Weser auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke und gelangten in die Friedrich-Ebert-Straße. Dann passierten sie bei roter Ampel vorsichtig die vielbefahrene Neuenlander Straße. Ein innerstädtisches Hinweisschild zeigte nach links in Richtung Flughafen. Rechts ab ging es hier zur Richard-Dunkel-Straße.

Ayse schaltete das Blaulicht aus. Beide Frauen hielten Ausschau nach Hausnummern an den größtenteils leerstehenden Gebäuden dieser ehemaligen Gewerbeansiedlung. So wie Siemer & Behrendt waren hier auch andere Betriebe weggezogen, und weitere Hallen moderten vor sich hin. Ayse kannte die Gegend. Sie hatte sich im zurückliegenden Herbst von einem Gotcha-Club überreden lassen, auf dieser Industriebrache an einem Häuserkampf teilzunehmen. Das war zwar nicht erlaubt, aber Spaß gemacht hatte es ihr trotzdem. Die vielen bunten Farbkleckse an den Wänden der Hallen zeugten noch davon.

„10a muss weiter hinten von der Straße weg liegen“, erinnerte Mechthild ihre Fahrerin. Langsam bewegten sie sich weiter vorwärts, und dann sahen sie etwa zweihundert Meter entfernt ein Blaulicht blitzen.

Ayse bog ab auf einen welligen, asphaltierten Weg, der zu beiden Seiten von Maschendrahtzaun begrenzt wurde. Ein Eingangstor hatte es mal gegeben, aber an den verrosteten Türangeln konnte man erkennen, dass es schon lange fehlte. Sie fuhren an einer ehemals weißen Halle vorüber, deren Putz an vielen Stellen von den Wänden gebrochen war und rote Backsteine zum Vorschein kommen ließ. Scheiben befanden sich nicht mehr in den Fenstern. Der Weg machte jetzt eine Rechtskurve, und sie gelangten auf einen grasüberwucherten Vorplatz, der mal als Parkplatz gedient haben musste. Ein Blechschild auf einem abgebrochenen Balken wies früher einmal den Stellplatz für die Geschäftsleitung aus. Vor der hier befindlichen Halle waren mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei abgestellt. Neben einem geöffneten Rolltor stand ein weißer Lkw mit heruntergelassener Hebebühne.

Als erstes dirigierte Mechthild Kayser einen Schutzpolizisten an die Straße, um die nachfolgenden Kräfte in die richtige Einfahrt zu weisen.

Ein uniformierter Polizeihauptkommissar, der bis zu ihrem Eintreffen den Einsatz am Tatort geleitet hatte, erstattete ihr seinen Bericht und fragte, ob er für weitere Unterstützung vor Ort bleiben sollte. Aus Erfahrung wusste Mechthild, dass verfügbare Kräfte nicht so schnell entlassen werden sollten. Wenn man sie nach geraumer Zeit gleich wieder anfordern musste, galt man als unfähig. Sie bat den Polizeihauptkommissar, der sich nun als Leo Jettner vorstellte und stellvertretender Leiter des Neustädter Polizeireviers war, mit seinen Leuten zu bleiben. Dann wollte sie sich den Fundort der Leiche ansehen.

Zuerst zeigte sie sich sehr verärgert darüber, dass Jettner die Absperrung um den Tatort auf die unmittelbare Umzäunung des Loches im Boden und den darin hängenden Tresen reduziert hatte. Aber nachdem er erklärt hatte, dass hier unmittelbar zuvor über tausend junge Leute gefeiert hatten und auch die Umgebung der Halle mit Dutzenden von Autos befahren worden war, nahm sie ihre Kritik zurück. Sehr zur Freude von Jettner übernahm nun die attraktive Ayse die weiteren Gespräche mit ihm.

Mechthild Kayser hatte aus dem Kofferraum ihres Mercedes ein Diktiergerät und eine starke Lampe mitgenommen. Als sie in die Halle trat, sprach sie eine kurze Beschreibung der Umgebung auf das Band, hielt den Weg vom Rolltor bis zum Loch im Boden fest und nickte dabei ernst den umstehenden Polizisten und anwesenden Zivilisten zu.

Sie trat an die Öffnung im Boden und leuchtete hinein. Alles, was sie sah und entdeckte, wurde von ihr verbal auf dem Diktiergerät festgehalten. Der Hohlraum unter dem Boden war mit Brettern und darauf einer dünnen Schicht Estrich verschlossen worden. Die Öffnung war rechteckig, circa 1,30 Meter breit und 2,50 Meter lang. Die Tiefe schätzte Mechthild auf etwas mehr als einen Meter. Am Boden liegend war ein Sack aus transparenter Folie zu erkennen, darin liegend eine bekleidete weibliche Leiche. Nach erstem Eindruck vollständig.

Mechthild drückte die Stopptaste des Diktiergerätes. Sie ging noch weiter in die Knie und senkte ihren Kopf in die vorhandene Öffnung. Im Schein der Lampe sah sie das Gesicht der toten Frau. Sie hatte blonde Haare und auffällig war − neben ihren aufgerissenen Augen −, dass die Verwesung noch nicht oder nur in geringem Ausmaß eingesetzt hatte. Verwesungsgeruch war nicht wahrnehmbar. Soweit Mechthild das beurteilen konnte, lag die Tote noch nicht lange hier.

Als KHK Roder mit dem Erkennungsdienst eintraf, richtete sich Mechthild Kayser auf und ging zur Seite. Nun mussten erst einmal die Spezialisten der Spurensicherung ran. Zufrieden registrierte sie, dass auch der leitende Gerichtsmediziner erschienen war.

Obwohl die Frau im Sack zweifellos tot war, war die Ausstellung eines Totenscheins mit der amtlichen Feststellung des Exitus durch einen Arzt zwingend erforderlich. Häufig waren damit eilig herbeigerufene Hausärzte oder völlig überforderte und unerfahrene Notärzte betraut. Sehr oft kam es vor, dass sie unbedacht vorgingen und wichtige Spuren zerstörten, verfälschten oder neue legten. Oder sie attestierten vorschnell einen natürlichen Tod oder einen tödlich verlaufenden Unfall. Während ihrer Ausbildung hatte Mechthild selber einmal erlebt, wie ein Notarzt einem aufgefundenen Toten in der Alexanderstraße einen Tod durch Treppensturz attestierte und später die Transporteure einer Bestattungsfirma hilfesuchend auf eine Wunde am Hinterkopf hinwiesen, die sich anschließend als Einschussloch herausstellte.

Aber jetzt war Prof. Dr. von Sülzen da. Der Pathologe und Gerichtsmediziner genoss bei der Bremer Polizei hohes Ansehen, das er sich mit genauesten und intensivsten Untersuchungen von Todesfällen erworben hatte. Zudem war er in keiner Weise abgehoben oder einem Standesdünkel verfallen, sondern gab den mit ihm zusammenarbeitenden Ermittlern das Gefühl, eine gemeinsame Jagd auf den Täter zu unternehmen. Sein kollegiales Auftreten wurde sehr geschätzt.

Wenn es für eine Ermittlung nötig war, verzichtete von Sülzen auf seine Freizeit, und Kraft seiner Autorität und seines Ansehens konnte er es sich erlauben, so manche hinderliche Dienstanweisung beizeiten zu ignorieren, um eine Untersuchung voranzubringen. Sehr zur Freude der bei solchen Ermittlungen enorm unter Druck stehenden Mordkommission.

Sorgsam und mit Bedacht arbeiteten sich Gerichtsmediziner und Erkennungsdienst an die Leiche heran. Zuerst wurde der große Tresen aus seiner misslichen Lage befreit und dann die Grube vollständig freigelegt. Sie war eindeutig nicht nachträglich angelegt worden. Bohrlöcher und Reste von eisernen Halterungen wiesen darauf hin, dass hier wahrscheinlich einmal eine Hebebühne der Maschinenfabrik eingelassen gewesen war.

Mechthild winkte Ayse zu sich. Sie sollte den Partyveranstalter genauestens befragen, wann er die Halle zum ersten Mal besichtigt hatte und ob die Grube dann schon verschlossen war. Im gleichen Moment schoss es ihr durch den Kopf, dass es nicht das erste Mal wäre, dass ein Mörder vorgab, sein eigenes Opfer zufällig gefunden zu haben, um den Verdacht von sich abzulenken. Auch darauf solle Ayse achten.

Dann brauchten sie noch den Immobilienmakler, der die Halle vermietet hatte. Roder sollte sich darum kümmern und versuchen, KK Heller über Funk zu erreichen, damit sich dieser gleich den Makler vornehmen konnte. Den verschwundenen Rentner sollte er erst einmal ausblenden.

Mechthild hoffte, auf diese Weise die Tatzeit enger eingrenzen zu können. Zumindest den Zeitpunkt, wann die Leiche hier abgelegt worden war.

Nach unzähligen Photos durch den Erkennungsdienst stieg von Sülzen in die Grube hinab. Mechthild Kayser und Kurt Roder traten an den Rand, nachdem sie sich bei den Beamten der Spurensicherung vergewissert hatten, ihre Arbeit damit nicht zu stören.

Von Sülzen sah in seinem weißen Overall mit den Schuhüberziehern und der Haube auf dem Kopf wie ein Vorarbeiter einer Großbäckerei aus, der gerade einen neuen Mehlsack mit einem Messer öffnen wollte. Aber nachdem er das relativ dicke Plastik des Sackes vorsichtig aufgeschlitzt hatte, ließ der ausströmende, leicht süßliche Leichengeruch dieses Bild sofort verblassen.

„Ein Vakuum!“ bemerkte von Sülzen. „Im Sack herrschte ein leichter Unterdruck. Man konnte es beim Öffnen hören.“

Eingeschweißt, dachte Mechthild. Wie bei einem Stück Fleisch im Gefrierschrank.

Von Sülzen stand nun einige Minuten über der Leiche und war offensichtlich am Nachdenken. „Gut! Soweit erst mal hier“, brach er sein andächtiges Schweigen und kündigte damit plötzlich das Ende seiner Arbeit am Tatort an. Er schob breite Kunststoffbänder unter den Sack mit der Leiche. Dann schloss er sie über ihm mit Ringen zusammen, und mit Hilfe der ED-Beamten wurde die Tote aus der Grube geborgen. Vorsichtig wurde sie in einen bereitstehenden weißen Kunststoffbehälter gelegt und dieser mit einem Deckel verschlossen. Zwei Mitarbeiter einer Transportfirma trugen den Behälter zu ihrem Fahrzeug.

Von Sülzen stieg aus der Grube und versprach Mechthild Kayser, noch heute mit der weiteren Untersuchung der Leiche fortzufahren.

„Und jetzt können Sie noch nichts sagen?“ fragte Mechthild erstaunt.

„Tut mir leid“, antwortete der Gerichtsmediziner. „Alles ein bisschen merkwürdig.“ Dann wandte er sich um und ging. Auf dem Weg zu seinem Fahrzeug entledigte er sich geübt der Schutzkleidung und verstaute sie in einem Beutel, bevor er losfuhr.

Mechthild blickte ihm fragend nach. Es gab natürlich auch ohne weitere Auskünfte des Gerichtsmediziners genug zu tun. KHK Roder erhielt von seiner Chefin den Auftrag, der Leichenöffnung als polizeilicher Zeuge beizuwohnen. Mechthild gab Ayse ein Zeichen, dass sie Roder den Schlüssel für ihren Dienstwagen geben sollte, und wies Roder weiter an, über die ersten verwertbaren Erkenntnisse noch heute auf einer Dienstbesprechung zu berichten.

Roder nickte wortkarg wie immer und machte sich auf den Weg zum Mercedes, blieb abrupt stehen und wandte sich Mechthild noch einmal zu. „Heller habe ich erreicht und instruiert. Er kommt anschließend, wenn er mit dem Makler gesprochen hat, hierher, um Sie und Ayse ins Präsidium zu fahren.“ Dann ging er eilig davon.

„Danke, Roder!“ rief ihm Mechthild noch hinterher. Er hat einen guten Überblick über die Abläufe, dachte sie. Und weiß immer, was wann zu tun ist. Wenn er nur nicht so mürrisch wäre, hätte man einen phantastischen Kollegen.

Ayse kehrte zu ihrer Chefin zurück und meldete, dass sie fürs Erste alles beisammen hätte und alle Anwesenden vorläufig entlassen wären. Sie warteten draußen vor dem Gebäude, da sie nach Abschluss der Tatortuntersuchung ihre Sachen weiter einladen wollten.

Mittlerweile hatte sich der Trupp des Erkennungsdienstes aufgeteilt. Zwei Beamte waren damit beschäftigt, Proben von Boden und Deckel der Grube und Vergleichsproben aus der Halle zu nehmen. Die anderen waren draußen rund um das Gebäude damit beschäftigt, das Areal nach möglicherweise doch noch vorhandenen Spuren oder Beweisstücken abzusuchen. Kollegialerweise halfen ihnen die verbliebenen Beamten der Schutzpolizei bei dieser undankbaren Aufgabe. Obwohl die Wahrscheinlichkeit gegen Null ging, etwas Relevantes für die Ermittlung zu finden, musste diese Arbeit gemacht werden. Schludrigkeit bei der Spurensicherung konnte für eine Ermittlung tödlich sein.

Mechthild Kayser hatte sich unterdessen auf einen Mauervorsprung in einer Ecke der Halle gesetzt und versuchte die ganze Szenerie auf sich wirken zu lassen. Die Halle, das Rolltor, die Grube.

Sie wollte sich eine Vorstellung vom Geschehen machen: Ein Fahrzeug fährt auf den Parkplatz vor der Halle oder gleich direkt hinein. Es ist ruhig hier, menschenleer bis auf den oder die Täter. Der Täter ... Halt! Es könnte auch eine Frau gewesen sein. Auszuschließen war das nicht. Also: Jemand dringt in die leere Halle ein, verbesserte sie sich. Das Rolltor ist vielleicht nie verschlossen. Kann sein, dass es dunkel war. Also brauchte der- oder diejenige Licht. Hatte er oder sie das Auto in die Halle gefahren und im Scheinwerferlicht sein Werk vollendet, oder hatte er oder sie Lampen mitgebracht? Der Sack mit der Leiche wird in die Grube gelegt. Die Grube wird mit Brettern verschlossen, und dann wird Zement zu einem Estrich angerührt und akkurat aufgetragen und glatt gestrichen. Waren es vielleicht doch eher mehrere Personen, die diese Arbeiten durchführten?

KK Heller kam in die Halle und holte Mechthild mit einem überflüssigen „Na, wie sieht’s aus?“ aus ihren Gedanken,.

„Schon fertig mit dem Makler?“ fragte sie.

Heller nickte. „Soll ich gleich oder später auf dem Meeting?“ fragte er.

„Wenn es nichts Außergewöhnliches ist, dann besser nachher mit allen anderen. Falls es aber eine heiße Spur gibt, dann bitte gleich“, antwortete Mechthild. Sie winkte Ayse zu sich, und zusammen mit Heller fuhren sie zurück ins Präsidium. Dort hielt jeder für sich seine bisherigen Ermittlungsergebnisse schriftlich fest, um sie auf der späteren Dienstbesprechung allen vorzutragen.

Mechthild setzte sich an ihren PC und ging die Vermisstenmeldungen der letzten Wochen durch. Das war eine Standardaufgabe bei unbekannten Toten. So gut wie möglich hatte sie sich das Gesicht der Toten eingeprägt und verglich ihre Erinnerung nun mit den in der bundesweit eingerichteten Vermisstendatei gespeicherten Photos. Blonde Frauen waren auch dabei, aber sie schienen ihr alle zu jung. Mechthild schätzte das Alter der Toten auf über vierzig. Aber sie konnte sich irren. Die Sicht durch den Plastiksack war nicht besonders gut gewesen. Sie würde die Suche noch einmal beginnen, wenn sie aus der Gerichtsmedizin weitere Identifizierungsmerkmale geliefert bekommen hatte. Jetzt brachte sie erst einmal ihre eigenen Notizen in einer geordneten Form zu Papier.

Zwischendurch rief sie die Staatsanwaltschaft an und teilte dem für Tötungsdelikte zuständigen Oberstaatsanwalt den Sachverhalt und den derzeitigen Stand der Ermittlungen mit. Der Oberstaatsanwalt kündigte an, dass er an der geplanten Dienstbesprechung teilzunehmen gedenke, und erwartete eine rechtzeitige Verständigung.

Dann schickte Mechthild dem Polizeipräsidenten, der, da die K-Leiter-stelle momentan unbesetzt war, im Augenblick auch kommissarischer Leiter der Kripo war, eine E-Mail über den Leichenfund und überließ es ihm, die anderen Kommissariate elektronisch per Hausnachrichten über den Fall zu informieren.

In der Pathologie war Prof. Dr. von Sülzen gerade mit der Beschreibung des ersten Eindrucks der unbekannten Toten fertig. Seine Helfer hatten begonnen, die Frau vorsichtig zu entkleiden und die einzelnen Kleidungsstücke zu archivieren. Roder hatte sich etwas abseits des Seziertisches aufgestellt und beobachtete von Sülzen. Die Frau trug sehr altmodische Unterwäsche und Strumpfhalter, fiel Roder auf. Wie früher seine Mutter, dachte er, die er einmal als Junge beim Ankleiden überrascht hatte.

Die nackte Leiche wurde jetzt hin- und hergewendet und in jeder Position abgelichtet. Der Rücken der Toten war unversehrt. Lediglich großflächige, dunkle Leichenflecken hatten sich durch das abgesunkene Blut gebildet. Vorne, auf dem Unterbauch, waren mehrere kreisrunde Wunden mit einem Durchmesser von circa einem Zentimeter zu erkennen, die sich durch einen dunklen Wundrand deutlich von der ansonsten hellen Haut abhoben. Die Brüste waren an der Unterseite mit Schnitten in Form eines auf dem Kopf stehenden T aufgeschnitten und die Wundränder anschließend mit weißem Gewebeklebeband wieder zusammengefügt worden.

KHK Roder steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Jetzt kam der unangenehmste Teil der Obduktion. Während in einigen anderen europäischen Ländern gezielt nur die Teile einer Leiche gerichtsmedizinisch untersucht wurden, deren Relevanz sich aus den davor liegenden Ermittlungen ergeben hatten, gab es in Deutschland nur die Totalobduktion. Die Deutschen waren eben besonders gründlich.

Von Sülzen sprach seine Ergebnisse, Feststellungen und Vermessungsdaten in das an seinem Kittelkragen befestigte Kehlkopfmikrophon und setzte zum V-Schnitt für die Öffnung des Oberkörpers der Leiche an.

Roder umgab sich mit einer Wolke aus Zigarettenqualm. Die Ansicht einer Leichenöffnung machte ihm nichts aus, aber er hasste den sich ausbreitenden Geruch. Besonders abstoßend empfand er den Gestank von Wasserleichen. Er hatte zwar noch nie gekotzt, aber wenn sich der Verwesungsgestank auf seine Geschmacksnerven legte, wurden seine Zunge und sein Gaumen trocken, und ein Würgereiz stellte sich ein. Eine instinktive Reaktion, die er nicht mit seinem Willen beherrschen konnte. Es gelang ihm lediglich, sich nicht zu übergeben. Von Sülzen schien das alles nichts auszumachen. Ein bis zwei Stunden würde es jetzt noch dauern. Dann würde Roder so viel Informationen zusammenhaben, dass er seine Kollegen auf den neuesten Stand bringen konnte und sie genügend Ansätze für ihre weitere Ermittlungsarbeit hätten.

Ab heute wusste Benjamin, dass das Leben für ihn zugleich schön und schrecklich sein würde.

Sein Vater hatte in den letzten zwei Jahren seinen Betrieb ausgebaut, und gestern Abend waren seine Eltern auf einen Empfang des Wirtschaftsministeriums für mittelständische Unternehmer eingeladen gewesen.

Die Schlaftabletten nahm er nicht mehr. Seine strikte Weigerung hatte mal wieder eine schlimme Auseinandersetzung mit seiner Mutter nach sich gezogen. Er merkte, dass er immer aggressiver gegen sie wurde, aber statt sich mehr um ihn zu kümmern, drohte sie ihm immer häufiger mit einem Internat. Berta hatte ihm erzählt, wie schlimm und erniedrigend die Verhältnisse dort für ihn sein würden, und da er die Drohung seiner Mutter sehr ernst nahm, versuchte er weitere Konflikte mit ihr zu vermeiden. Das funktionierte zwar, aber er zog sich auch viel stärker in sich zurück, und neben seiner unerfüllten Liebe zu seiner Mutter wuchs das Misstrauen.

Berta war vergangene Nacht unbemerkt in sein Zimmer gekommen, und er wurde davon geweckt, als sie an seinem Bettrand sitzend seinen Penis unter der Bettdecke massierte. Als er wach wurde, schlug sie seine Decke zurück und zog sich den Bademantel aus. Sie trug nur Strümpfe an Strumpfbändern, und dieser Anblick erregte ihn noch mehr.

Er mochte Strümpfe. Er wusste, dass seine Mutter auch solche trug. Wenn er allein zu Hause war, schlich er sich in ihr Badezimmer, verriegelte die Tür und suchte im Wäschekorb nach der Unterwäsche seiner Mutter. Dann saß er auf dem Klodeckel und sog genüsslich den Geruch ihrer getragenen Strümpfe ein. Sein einziger indirekter Körperkontakt mit ihr.

Berta hatte sich jetzt auf ihn gesetzt und bewegte ihren schweren Körper auf seinem steifen Penis auf und ab. Er konnte nichts mit ihrem Körper anfangen. Er schaute ihn an, sah, wie sich ihre Brüste im Takt ihrer Bewegungen auf und ab schwangen. Aber er traute sich nicht, sie zu berühren oder auch nur irgendetwas zu Berta zu sagen. Sie kam regelrecht über ihn, und er konnte nur stillhalten. Er sah und hörte diesen keuchenden Berg Fleisch über sich, als sich plötzlich sein Penis anspannte wie noch nie. Sein Körper wurde immer heißer, und er begann zu schwitzen. Denn in dieser Nacht geschah noch etwas Außergewöhnliches. Seine Knie wurden ihm weich, er begann zu zittern und immer schneller zu atmen. Er erlebte seinen ersten Orgasmus. Im gleichen Augenblick wälzte sich Berta von ihm herunter. „Geiles Schwein!“ sagte sie zu ihm und verließ einfach das Zimmer.

Benjamin war völlig durcheinander. Mit seinen verwirrten Gefühlen allein gelassen, fing er an zu weinen. Ganz leise natürlich. Damit bloß keiner etwas hören würde. Er schämte sich.

Seit dieser Nacht war auch Berta anders geworden. Sie schob ihm die Schuld dafür zu, dass sie nachts zu ihm kommen würde. Sie erzählte ihm ständig, dass er sie anmachen, sie absichtlich erregen würde und sie ihm nicht widerstehen könnte. Aber weil sie ihn gerne mochte, würde sie seinen Eltern nichts davon erzählen. Sie wollte nicht verantwortlich dafür sein, dass er ins Internat kommen würde.

Benjamin wurde immer verwirrter. Er konnte sich nicht erklären, dass er Berta dazu gebracht hatte, nachts zu ihm zu kommen. Und er die Schuld daran hätte. Er spürte aber auch, dass ihr Tun irgendwie nicht in Ordnung war. Er wusste sich nicht zu helfen. Wahrscheinlich hatte Berta recht, und irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung. Er kam mit der Situation nicht mehr zurecht. Auf der einen Seite sein Vater, den er kaum noch sah, und seine Mutter, der er nichts so recht machen konnte, dass sie ihn liebte − obwohl er sich das immer noch unbedingt wünschte. Auf der anderen Seite Berta, die ihn wenigstens mochte und sich um ihn kümmerte. Sie war sein letzter Halt, und er wollte sie nicht auch noch verlieren.

Immer häufiger griff er nun abends in das Barfach seiner Eltern und nahm sich vom Cognac oder Wodka. Die Bar war groß, und viele Flaschen galt es auszuprobieren. Am Anfang war er sich sicher, dass niemand etwas merken würde, aber als er begann, größere Mengen zu trinken, füllte er die Flaschen mit Leitungswasser wieder auf.

Berta erwischte ihn dabei, versprach aber, ihn nicht zu verraten. Geheimnisse verbanden. Seitdem hatte sie ein kleines Arsenal an Flaschen, aus denen sie die von ihm entnommenen Mengen nachfüllte. Doch kurze Zeit später kam sie abends mit einer Flasche im Arm in sein Zimmer und schenkte ihm ein. Manchmal war er an solchen Wochenenden so betrunken, dass er nicht mehr wusste, was alles in seinem Rausch passiert war. Nur manchmal ließ ihn am nächsten Morgen seine schmerzende Vorhaut erahnen, was alles noch geschehen war.

In der Schule wurde er jetzt schlechter. Seine Mutter machte ihn vor Berta nieder, als sie einen Brief des Klassenlehrers erhalten hatte, in dem er als aggressiv, provozierend und aufmüpfig angeklagt wurde. Das Erreichen des Klassenziels war gefährdet. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Später kam Berta mit einer Flasche Wodka zu ihm und tröstete ihn.

Benjamin schaffte die Schule nicht mehr. Er lehnte sich immer mehr gegen alles auf und nahm jede Gelegenheit wahr, gegen die verhassten Lehrer zu opponieren und musste im Ergebnis das Gymnasium verlassen. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die aus ihm gerne einen Stararchitekten oder wenigstens einen Arzt gemacht hätte. Nun hatte er eine Gärtnerlehre angefangen.

Jetzt, in diesen Jahren, wo seine eigene Sexualität in ihm lebendig wurde, ließ Berta plötzlich von ihm ab. Wieder etwas, das ihn verunsicherte, weil er es nicht verstand. Und obwohl er begann, den Zusammenhang zwischen ihr und seinem Leben im Suff zu verstehen und sich zeitweise Hass und Gewaltphantasien gegen Berta richteten, war sie für ihn doch immer auch eine feste, einschätzbare Instanz geblieben. Er hatte sogar manches Mal daran gedacht, mit ihr weiter zusammen zu leben und damit wenigstens etwas Sicherheit zu erhalten. Aber ihre Abkehr von ihm war so deutlich, dass ihm selbst dieses kleine Glück vorenthalten blieb. Das Verlangen, von seiner Mutter geliebt zu werden, war ungebrochen, wurde aber mit jedem Tag ausgeschlossener. Und sein Vater hatte nur noch den Betrieb im Kopf. Für ihn existierte er überhaupt nicht mehr. Besonders sein schulisches Versagen war der Grund, warum er ihn völlig fallengelassen hatte.

Benjamin sah seine Eltern nur noch selten. Dass von Anfang an schon sein Kinderzimmer mit eigenem Bad versehen war, unterstützte die Trennung einmal mehr. Man traf nicht einmal versehentlich bei der Morgentoilette zusammen.

Aber der große Knall kam noch. Eines Tages standen Beamte der Steuerfahndung vor der herrschaftlichen Villa. Benjamins Vater wurde von der Polizei abgeführt, und auch der eiligst herbeigerufene Staranwalt konnte nicht verhindern, dass das ganze Haus durchsucht wurde. Benjamins Mutter lief an diesem Tag nur noch hysterisch kreischend durchs Haus und beschimpfte den hilflosen Anwalt als unfähig und nutzlos. Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug lauteten die Vorwürfe gegen Benjamins Vater. Im Laufe der Untersuchungshaft in Essen brach das Unternehmen seines Vaters zusammen. Die Villa wurde gepfändet. Die Fabrik ging in Konkurs. Das alles interessierte Benjamin aber nicht mehr. Er wusste längst, dass er für sich alleine auf der Welt war und selbst für sich sorgen musste. Sein Vater erhielt eine Bewährungsstrafe und wurde so vor einer Gefängnishaft bewahrt. Aber alles war verloren.

Da sie im Ruhrpott sehr bekannt waren und seine Mutter die Schande nicht aushielt, zogen sie nach Bremen und mieteten ein kleines Reihenhaus in der Bremer Vahr. Benjamins Vater war bemüht, konnte aber nicht wieder Fuß fassen. Wer wollte schon einen vorbestraften Steuerhinterzieher in eine verantworungsvolle Stellung in seine Firma holen? Aber als kleiner Angestellter zu arbeiten, konnte er nicht verkraften. Und seine neuen Arbeitgeber, die es mal mit ihm versuchen wollten, auch nicht. Seine Mutter erlebte den sozialen Abstieg nur als kurze Periode. Wie sich zeigte, hatte sie schon lange für sich vorgesorgt und einen Ausweichplan für sich vorbereitet. Aber nur für sich. Benjamin und sein Vater waren darin nicht vorgesehen.

Während Benjamin seine Lehre in einem Bremer Gartenbaubetrieb erfolgreich zu Ende brachte, verzog sich seine Mutter über Nacht mit einem reichen Verleger nach Amerika, von wo aus sie über Anwälte die Scheidung von ihrem Mann regelte. Obwohl er noch keine 18 Jahre alt war, ließ sie ihn einmal mehr im Stich.

Kurz darauf zog Benjamin aus und suchte sich eine günstige Bleibe. Einige Wochen, nachdem die Scheidung seiner Eltern vollzogen war, erhielt Benjamin Besuch von seinem Vater. Er wirkte alt und erschöpft und ein wenig ungepflegt. So schnell kann es kommen, wenn man kein Geld mehr hat für teure, gepflegte Kleidung und den wöchentlichen Frisörbesuch.

Das billige Appartement, das Benjamin jetzt im Aalto-Hochhaus bewohnte, war nur spärlich eingerichtet. Vor Jahren hätte sein Vater eine solche Wohnumgebung für seinen Sohn schwer missbilligt. Aber heute hatte er wahrscheinlich auch nicht mehr. Und Benjamin war das ziemlich gleichgültig. Dass Geld allein nicht glücklich machen konnte, hatte er zur Genüge gelernt.

Sein Vater machte nicht viele Worte. Und auch Benjamin wusste nicht, worüber er sich mit diesem ihm mittlerweile fast fremden Mann unterhalten sollte. Sein zermürbter Vater hatte einen Koffer dabei, den er Benjamin mit wenigen holprigen Worten übergab und ihm dann alles Gute wünschte, bevor er sich verabschiedete. Für einen Moment verharrte sein Vater steif vor ihm, und dann nahm er ihn seit Jahren zum erstenmal in den Arm. Er versuchte es zumindest. Für Benjamin war dies ein völlig ungewohntes Berühren, ein Gefühl durchzog ihn, das ihn mehr erstarren ließ als Wärme zu empfinden. Sein Vater quälte eine Entschuldigung zwischen seinen Lippen hervor, ließ ihn dann abrupt stehen und ging. Er konnte wohl selber mit dieser Geste nichts anfangen. Benjamin schob den Koffer seines Vaters unters Bett. Jetzt bloß nicht auch noch irgendwelche alten Liebesbriefe seiner Eltern oder Glückwunschkarten zu seiner Geburt lesen.

Zwei Tage später erhielt Benjamin überraschend Besuch von einem Polizisten, der ihm gelangweilt darüber informierte, dass sich sein Vater auf dem Autobahnparkplatz in Mahndorf erschossen hatte. Kein Verlust für die Gesellschaft, sagte der Polizist. Eben das Ende einer kriminellen Unternehmerkarriere. Dann ging er wieder. Da Benjamins Vater aufgrund seiner Fingerabdrücke zweifelsfrei identifiziert werden konnte, brauchte er ihn sich auch nicht in der Gerichtsmedizin anzusehen.

Anschließend saß Benjamin stundenlang am Fenster im zwölften Stock seines Hochhauses und starrte über die Stadt. Jetzt waren sie wirklich alle weg. Berta, die ihn nur benutzt hatte. Seine Mutter, die er innig geliebt und die ihn einfach im Stich gelassen hatte. Und nun sein Vater, der sich mit einem Schuss in den Kopf davongemacht hatte. Verluste war er sein ganzes Leben nun schon gewöhnt. Sie sollten ihn nicht mehr erschüttern. Sein Leben war nicht von Glück bestimmt; sein Wegbegleiter war das Leid. Das war ihm nun endgültig klargeworden. Und noch etwas anderes: Er wollte sein Leid nicht in sich hineinfressen. Er würde eines Tages davon etwas an alle zurückgeben. Er würde sich rächen.

Wut und die Lust zu töten stiegen zum ersten Mal in ihm hoch. Er fühlte sich stark, unglaublich stark, und war sicher, dass sich ihm niemand erfolgreich in den Weg stellen konnte. Wenn diese Wut losbrach, gab es für keinen ein Entrinnen. Mit einem aggressiven Ruck zog er den Koffer seines Vater unter dem Bett hervor. Sollte ihm doch ruhig noch etwas auf die geschundene Seele treten, dachte er aufgebracht. Er öffnete den Koffer und war völlig überrascht. Zu seinem Erstaunen lagen darin nicht irgendwelche Briefe und Ansichtskarten, sondern er war prall gefüllt mit Geldscheinen. Er klappte ungerührt den Koffer wieder zu. Dieses Geld wollte er nicht.

Am nächsten Tag mietete er ein großes Schließfach bei einer Bank auf dem Domshof und verstaute den Koffer dort.

Für immer mein

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