Читать книгу Am französischen Ende der Nacht - Joerg Embs - Страница 5

3 | TROIS

Оглавление

Die Schultern eng zusammengezogen, die Arme angewinkelt, die Hände krampfhaft ums Lenkrad geklammert, kauerte Jo hinterm Steuer. Der Wind zerrte an Haaren und Kleidung, brauste lausig kalt um seinen Kopf und er starrte finster in die sternklare Nacht. Das musste, das konnte nur ein böser Traum sein. Das Gaspedal durchdrücken, das Lenkrad gerade und die Augen offen halten, mehr gab es nicht zu tun. Rio Reiser sang traurigschöne Klagelieder als Endlosschleife, Jo hing finstertrüben Gedanken nach. Metz, Verdun, Reims, Chalôns sur Marne flogen unbeachtet vorüber. Jo fuhr und fuhr und fuhr, zunächst wie benommen, später wie rasend. Ohne Ruhe, ohne Rast schnurte der Käfer durch französische Provinzen, dem Elsass folgten Burgund und die Champagne. Rechts und links schlummerten Dörfer oder kleine Städte im tiefen Schwarz, die ganze Welt schien zu schlafen um diese Zeit. Jo konnte, Jo wollte nicht schlafen in dieser Nacht. Er wollte fahren, weiter immer weiter, bis er endlich den Rand der Scheibe erreichte. Galilei hatte gelogen, wie ihn alle angelogen hatten, wider besseren Wissens. Ausnahmslos. Seine Frau Marleen, sein angeblich bester Freund Frank, allen voran Anna und Elias.

Aber was erwartete er? Er war mit einer Lüge im Gepäck in dieses Leben geschickt worden, nahm es da noch Wunder, dass sich auf dem Weg von 35 Jahren die ein oder andere traulich zugesellt hatte.

Jo hielt das Gaspedal durchgedrückt, das Lenkrad gerade und die Augen offen, starrte weiter finster in die sternhelle Nacht. Wie leergefegt war die Straße. Alles wirkte wie aus der Zeit genommen. Die Felsen rechts und links schienen wie hingeworfen von der Ewigkeit, der Fluss jenseits der Leitplanken strudelte dahin in der Gewissheit seiner Wiederkehr, die Autobahn nur mehr ein graues endloses Band ohne Ziel, das Tiefschwarz der Nacht ein Fenster in die Unendlichkeit. Es war die Stunde in der sogar Gott ein Auge zutat. Jo nahm den Fuß vom Gas, ließ den Wagen auf dem Standstreifen ausrollen.

Elias hatte ihm die Geschichte vom schlafenden Gott immer erzählt, wenn er nachts aufgewacht war, weinend von sonderbaren Träumen, verängstigt von Dunkelheit und Stille. Da war er noch klein gewesen, hatte noch nicht geahnt, dass Elias ebenso wenig sein Vater war wie Anna seine Mutter. Da nannte er sie noch Papa und Mama. Damals hatte seine kleine Welt noch Farben. Ein paar Jahre später war er groß genug, dass ihm die Nacht keine Angst mehr machte. Und auch groß genug für die Wahrheit. Eines Morgens wurde seine Welt schwarz-weiß. Jemand beraubte sie am helllichten Tag ihrer Buntheit. Und ihn der Kindheit. Es waren Anna und Elias.

Verstehen konnte er ihr Bedürfnis, ihm die Wahrheit sagen zu woollen, bevor es jemand Anderer tat schon. Später. Aber wirklich verzeihen konnte er es ihnen nie ganz. Im Gegensatz zu ihnen hatte er sich noch nicht alt genug gefunden dafür, hätte gerne noch etwas länger im guten Glauben gelebt. An jenem Morgen verlor die Welt ihre Unschuld, er seine Eltern, Anna und Elias ihren Sohn. Bevor er ein Secondhandsohn war, war er lieber gar keiner mehr.

In der Folge hatten Anna und Elias stellvertretend den Hass abbekommen, der eigentlich für seine Erzeuger bestimmt gewesen war. Das war ungerecht. Aber mindestens ebenso fies war es, einem Kind das Gefühl mit auf den Lebensweg zu geben, nicht gewollt gewesen zu sein.

Jo hielt das Lenkrad fest umklammert, weiterhin gerade und die Augen offen, starrte finster in die sternhelle Nacht. Der Motor tuckerte im Stand vor sich hin, im steinernen Gesicht brannten die Augen von toten Tränen, die Straße vor ihm verschwamm zu einem dunkelgrauen Asphaltband hinein ins Unbekannte, in dem die Vergangenheit auf ihn wartete. Seine Vergangenheit.

Diese Fahrt besaß sehr wohl einen konkreten Endpunkt, war ganz und gar nicht planlos wie es sich Jo zunächst einzureden versucht hatte. Auch wenn er noch Stunden hinter Straßburg steif und fest behauptet hätte, jenes Straßenschild am Ortsausgang sei eine Einladung von Kismet und Moira gewesen, so wusste auch er sehr wohl, dass die Suche bereits in vollem Gang war. Sie galt der Person deren Vita am Ende des Buches nachzulesen gewesen war. ›Nathan Messner, geboren in Ludwigstal / Saar, entdeckte früh seine Leidenschaft für Literatur. Bereits mit 14 Jahren verfasste er seinen ersten Roman. Bedingt durch einen schwerer Schicksalsschlag blieb ihm das ersehnte Leben als Schriftsteller lange Jahre verwehrt. Heute lebt er mit seiner Familie in Paris.‹ Benommen langte Jo das Buch aus dem Fußraum und schlug die letzte Seite auf, starrte lange auf das Abbild von Nathan Messner, der ihm glich, wie nur ein eineiiger Zwilling dem Anderen gleichen konnte. Er mochte diesen Nathan Messner nicht, der ihm biologisch näher stand wie kein Zweiter, den er auch in Gedanken nie anders als Nathan Messner nennen konnte. Niemals mein Bruder oder mein Zwilling. Nathan Messner konnte aus dem Foto herauslächeln so lange er wollte. Jo konnte ihn nicht leiden, sein eigen Fleisch und Blut.

Von einem lauten Rumpeln der Gedanken geweckt schreckte er hoch. Draußen war es still. Noch war es finstere Nacht, aber in der Ferne sammelte der junge Morgen bereits seine Kräfte, um den dunklen Vorhang der Finsternis zurückzuschlagen. Er musste eingenickt sein. Irgendwie. Irgendwann. Irgendwo. Der Schlaf, wie lange er auch gewesen sein mochte, hatte keine Erholung gebracht. Jo fühlte sich wie erschlagen, gemartert von nimmer ruhenden Erinnerungen. Sieben Jahre lang war seine Welt klein und in Ordnung gewesen, dann war er mit einem Mal kein Wunsch mehr, sondern ein Unfall, ein lästiges Balg, das man abgeschoben hatte wie einen räudigen Köter zur Urlaubszeit. Dies alles zu vergessen war schwer genug gewesen, hatte lange genug gedauert. Aber mit einem Mal war auch das nur noch die halbe Wahrheit. 24 Jahre später war er die Hälfte ein Zwillingsbruderpaares, das man nach der Geburt getrennt und im Körbchen ausgesetzt hatte. Noch war die Zeit umzudrehen, die Suche abzubrechen bevor die Wahrheiten seine Schmerzgrenze endgültig übersprangen. Was würde als Nächstes ans Licht kommen? Dass sein Vater ein Schwerverbrecher, seine Mutter ein Trottoirschwälbchen gewesen war? Nein, er hatte keinen Bedarf nach einer neuen Wahrheit, ihm war die liebgewordene Realität wahr genug. Aber es war wie es oft gewesen war: Andere beschlossen sein Leben zu ändern und er musste dann irgendwie damit zu Recht kommen. Hatte man ihn vorher nach seiner Meinung gefragt? Nein! Warum also sollte er sich in dieses Spiel fügen, das sich sein Leben nannte, das gar kein Spiel war, sondern bitterer Ernst? Von einer Sekunde zur nächsten stieg Wut in ihm hoch. Indes, sie war ohnmächtig, tendierte zur Niedergeschlagenheit. 24 Jahre Bemühen vorwärts zu kommen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, wohin hatten sie ihn gebracht? Exakt dorthin wo er gestartet war. Um 24 Jahre älter. Um 24 Jahre müder. Ganz ähnlich musste es einem Hamster am Ende eines langen Tages gehen: 24 Stunden gerannt und doch keinen Schritt weitergekommen.

Nein, diesen Nathan Messner wollte er nicht treffen. Punkt. Und nach Paris wollte er auch nicht, zurück nach Stuttgart wollte er, zurück in seine vertraute Umgebung, zurück in sein altes Leben. Er ließ sich nicht länger zum Hamster machen. Nicht von falschen Eltern. Nicht von einem vorgetäuschten Freund. Nicht von einer bigotten Ehefrau. Von wem auch immer. Noch nicht einmal vom verlängerten Arm Gottes und dem Wind selbst. Punktum.

Aber hatte er denn überhaupt eine Wahl? Gab es sein altes Leben in das er hätte zurückkehren können noch? Wartete neben einer dunklen Wohnung und dem leeren Kühlschrank in Stuttgart nicht derselbe unbekannte Alltag auf ihn wie in Paris, wie in jeder anderen Stadt? Noch war Zeit umzudrehen, die Suche zu beenden, bevor sie nicht mehr abzubrechen war. Erneut bäumte sich die Wut auf, um Größe und Stärke bemüht. Längst tastete die rechte Hand nach dem Zündschlüssel. Als der Motor das erste Lebenszeichen in die Nacht hustete, erstarb der Zorn in abgründiger Trübsinnigkeit. Jo trat die Kupplung durch, legte den ersten Gang ein, der Gasfuß senkte sich langsam aufs Pedal herunter, der Atem stoppte, der Blick griff nach vorn als wollte er die Zukunft aus der Dunkelheit reißen. Welche Wahrheit wartete auf ihn, dort, am französischen Ende der Nacht?

Am französischen Ende der Nacht

Подняться наверх