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Zeitgrind „Die Wirklichkeit hat uns am Haken, ganz gleich ob wir nicken oder mit dem Kopf schütteln“

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Ein Licht streifte den Nachthimmel. Das ließ sich mit allem Möglichen und Unmöglichen in Verbindung bringen lassen, je nachdem, ob man ein gottesgläubiger oder eher ein den messbaren Realitäten anhängender Mensch war. Der Schatten eines Mannes reckte den Kopf hoch zum schweigenden Firmament, das für einen flüchtigen Moment an einem winzigen Punkt aufgeplatzt war, bevor sich die Gestalt wieder zu anderen gesellte, mit dem Wanst jenes hindrapierten Häufchens verschmolz, Menschen, die auf einem ausgedehnten Platz am Rande eines von Hochhäusern umzingelten Rondells auf Matten unter einem Pavillon mit hellen Tüchern zugedeckt wie tot da lagen. Im Hintergrund drohte die große Fassade eines riesigen Gebäudes mit ihrer Dunkelheit, ließ lediglich am oberen Ende einen bläulichen Schimmer gen Himmel äugen. Die steil aufragenden Stelen der Zivilisation verschlangen die stummen Schreie der sie fütternden Signale fühllos wie immer. Es war still. Die Nacht blieb dunkel und nichtssagend, und abgesehen von dem kurzen Aufrecken jener dem Anschein nach männlichen Person ließ keine Menschenseele sich blicken.

„Trotzdem“, sagte der hingekauerte Schatten zu sich selbst oder wer auch immer ihm zuhören mochte in einer selbst für ihn gerade noch entzifferbaren Lautstärke, „dass man an was glaubt, für möglich hält, gerade in so einer Zeit, Herr Gott nochmal, hab ich nich mein Leben lang auf irgendwas gewartet, ein Zeichen, so’n Anstoß, der mir sagt, he, wach auf, mach, mach mal was Sinnvolles, und während ich und wir alle dabei sind regelrecht unterzugehn, hält man dran fest, hab immer dran festgehalten, dass da noch was kommt, dass da mehr ist, dass es mich ergreift, richtig ergreift, und wir sinken bloß immer tiefer und versinken in unserer Lethargie, und wir liegen da“, er sieht auf die Schläfer rings herum, „liegen da und schlafen, verschlafen vielleicht das Wichtigste, aber wie ..., wie soll man ... das sonst alles ... wie soll man ...“ Die letzten Worte hatte er so leise gesprochen, dass wohl nur noch der liebe Gott - alle anderen waren eingeschlafen - sie hat hören können.

Die nur dem Augenschein nach in einen kargen Schrecken versetzte Welt darunter, der 43. Sektor, kurz D43, dessen ursprünglicher Name Lorrick zugleich mit den ehemaligen Häusern und Einwohnern verschwunden war, ein nordwestlicher Vorort der Stadt Tobee, wurde von den neuen Eignern und Mietern und Angestellten dieses Stadtbereichs Steria genannt, eine Namensbildung, die sie von dem Astral genannten Knotenpunkt am westlichen Fuß der Hauser-Brücke - neben dem hiesigen A.H.-Platz und dem Sand die dritte Ein- beziehungsweise Ausfahrt des D43 - ableiteten. Der Bezirk war der bis dato rigorosesten städtebaulichen Up-now-Innovation anheim gefallen. Hier hatten sich Bürotürme breit gemacht, großzügig kubistische Ensembles potemkinscher Hochkonjunktur, kaabaistische Riesen, deren Antennen sich nach einem vermeintlichen Oben reckten, einer Zukunft, in welcher der Widersinn der grauen Formations-Hünen recht behalten würde können. Und die darin ihrer Arbeit nachgehenden Menschen waren umschlungen von der Geborgenheit eines lückenlosen Sicherheitsverwahrsams. Als der Morgen sich mühselig anschickte, sich in die noch dünnwandige Gegenwart zu schälen, erschien das rückwärtige Gebäude wie ein monströser Leib, der alsbald über die Gestrandeten hinwegzurollen gedachte, ohne auch nur Notiz von ihnen zu nehmen. Der Tag machte sich daran, die Nacht in die Schranken zu weisen, und der, der am Vorabend den Lichtstreif beobachtet hatte und am längsten sitzen geblieben war, war der erste, der erwachte. Er hockte sich auf seine graue Matte, reckte sich, schlug die dünne Decke beiseite, rückte seine schmale Hornbrille zurecht, sah sich um, bedachte den Mann, der - ohne Matte und Decke - rechts neben ihm auf dem Boden lag und schlief, mit skeptischen Blicken. Dann gab er dem Mann zu seiner Linken einen Schubs, woraufhin dieser die Augen öffnete, blinzelte und sich langsam aus der Horizontalen schälte. Ohne einen Laut deutete ersterer mit dem Kopf auf den Schläfer zu seiner Rechten. Der Geweckte reckte den Kopf vor, verzog den Mund. Ein Dutzend Gestalten in weißen Schutzanzügen näherte sich schnellen Schrittes von Westen her, verschwand im hinteren Gebäude. Auch die anderen vier Männer, die hier genächtigt hatten, wurden nun wach und des Fremden gewahr. Sie alle konnten nicht umhin, mittels dazu geeigneter Grimassen einem nicht unbedingt positiv gestimmten Erstaunen Ausdruck zu verleihen. Sie alle trugen graue Jeans, weiße T-Shirts und helle Sportschuhe, hatten die Haare kurz geschoren. Derjenige, welcher da lag, sich süßen Träumen hinzugeben und den lieben Gott der Frühe einen guten Mann sein zu lassen schien, hatte schulterlanges Haar, eine helle Leinenhose und darüber ein dunkles, langes Hemd unbekannter Machart am Leib, war barfuß. Die Männer schüttelten die Köpfe, verzogen die Münder. Inmitten der Postmoderne antiseptischer Architektonik, just in diesem hochfrisiert modischen Toupet zukunftsweisender Stadtplanung gingen sie, ein jeder in seinem Bereich, dem Treiben eines Street-Service-Teams nach. Sie waren Schuhputzer, Autoscheibenreiniger, Autowäscher, Zeitungs-, Kaugummi-, Zigaretten-, Sandwichverkäufer, und nicht zuletzt ergänzte ein Musiker das anachronistisch illustre Bild. Ihr Tun bildete eine Einheit, ergänzte sich, bot sich als CP, complete package an. Was sie dadurch verdienten, könnte man meinen, sei nicht der Rede wert gewesen; aber es reichte, für den Lebensunterhalt zu sorgen, zumindest, wenn man sich wie sie entsprechend stark einzuschränken vermochte. Dass sie ausgerechnet an diesem Ort ihrer Beschäftigung nachgingen, lag an Wolfram Walther, dem siebzigjährigen Gruppenältesten, der aus dem Viertel stammte, ganz in der Nähe, Ambrosia 7, aufgewachsen, mit seiner Familie gelebt, sich eines Tages, einem Wink des Schicksals folgend - wohnte er doch zu jenem Zeitpunkt längst nicht mehr hier - Putzzeug in der Hand, allein hier aufgestellt hatte. Ein Mann der es gewohnt war, die Initiative zu ergreifen, ein so genannter Tackler, der es sich zu eigen gemacht hatte, schnelle Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Einer nach dem andern waren sie dann zu ihm gestoßen, oder er hatte sie angesprochen, aufgefordert mitzumachen, das sei doch besser als nichts, dafür könne sich doch niemand zu schade sein, man sei doch schließlich in der Pflicht seiner Familie, nicht zuletzt sich selbst gegenüber. Manche hörten wieder auf, fingen wieder an, einige kamen nie wieder. Aber dieser Trupp war nun seit langer Zeit in dieser Formation zusammen, die Männergemeinschaft, dieser Ort, die Kleidung, der Ablauf, all das war ihnen zum stereotypen Alltag geworden, hatte bereits eine Unveränderlichkeitspatina angesetzt. Das Leben war für die große Mehrheit der Menschen dieses einst reichen Landes ein schwer zu tragendes Kettenhemd geworden, ein sorgengefülltes Fass, eine Verhedderung in der Untiefe einer trostlosen See. Diese Männer hier waren insofern privilegiert als sie Arbeit hatten, noch dazu an einem bevorrechteten Fleckchen erster Klasse. Somit konnten sie sich und ihren familiären oder befreundeten Anhang mit dem Nötigsten versorgen, wobei die Kost sich allerdings angewöhnt hatte mager auszufallen. Vor knapp einem Jahr hatte der Mann mit dem schiefen Mundwinkel und der schmalen Hornbrille, der sich gern als studierter Scheibenwäscher bezeichnete, genau hier seinen Vierzigsten Geburtstag gefeiert, wenn man denn ein Geburtstagsständchen schon eine Feier nennen kann. „Hoch soll er leben!“ Das hatte ein wenig wie Hohn geklungen, aber am Abend hatten sie zusammen gesessen, von alten Zeiten geredet, von neuen geschwärmt. „Es kommen auch wieder bessere Zeiten.“ Der Spruch war nur so dahingesagt, niemand hätte darauf gewettet, und schließlich empfand man den Status quo allgemein als das kleinere - wenn überhaupt - Übel in einer Zeit, da die Mächte des Bösen auch die vermeintlich uneinnehmbare westliche Welt eingenommen hatten beziehungsweise kausalplausibel daraus hervorgegangen waren.

Das zerschlissene Seidentuch der Vergangenheit wummerte bei solchen Gelegenheiten noch durch die Ganglien der Männer, wenn auch die Hoffnung auf eine bessere Zeit mehr als eine in homöopathischer Dosierung selbstordinierte Medizin zu verstehen war, die ihnen über die Tristesse der Realität hinwegzuhelfen vermochte. Alltäglich gab es drei Publikumsschübe: Jeweils das In-and-out-oftown morgens und nachmittags und dazwischen der Noon genannte Mittagsschub, der weit weniger hektisch vonstatten ging, weil die aus den Offices strömenden Menschen sich Zeit nehmen konnten für einen Drink, ein Sandwich, fürs Schuheputzen, Rauchen, Reden und Dösen; oder sie saßen still irgendwo im Schatten und lauschten der Gitarrenmusik, die der Musikant der Gruppe zum Besten gab. Nach 19 Uhr fiel die Gegend in ihren Security-Schlaf, und - neben den Unsichtbaren - wachte die ebenfalls unwahrnehmbare Armada der dp (direct-positioned, also auf und an Gebäuden positionierten) sowie der hp (highpositioned, also im Orbit schwebenden) Cams für den Fall der Fälle. Das alte Lorrick - das war ja noch nicht wirklich lange her - kannte der Mann mit der Hornbrille noch aus seiner Kindheit. Er hatte nicht weit von hier, in Cymber, auf der Quiry, schräg gegenüber dem ehemaligen GymPalace, gewohnt. Das hätte er sich nicht träumen lassen, eines Tages seinen Geburtstag auf der Straße zu verbringen, in so einer Situation. Alles war so schnell gegangen, die Veränderungen, die kulturellen und politischen Umwälzungen seit Griechenland und der ersten verhältnismäßig kleinen Flüchtlingswelle. Die Wucht der Veränderung brachte eine Radikalisierung zu tage, die sich gerne in ersterer einen Grund suchte, in Wirklichkeit das übliche Jetzt-ist-der Zeitpunkt der Macht- und Geltungs- und Vorzeige-Interessen einzelner Geldköpfe war. Die Zeit war verflogen. Der Ort war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Männer, die sich in dem Neuland dieser neuen Welt zusammengerauft hatten, ihren Verdienstalltag zu bestreiten, waren eine eingeschworene Clique, ein Grüppchen, in dem sich jeder gut kannte und mochte, sich half und gegenseitig unterstützte; und ein jeder von ihnen - hätte man ihn gefragt - wäre geneigt gewesen zu sagen, dass er bessere Freunde nie im Leben hatte.

Wer Realist war, erwartete den großen Crash, wie auch immer der aussehen mochte. Wer noch die verzweifelt brodelnde Hoffnung auf Fortschritt in sich trug, glaubte daran, dass sich - wahrscheinlich mittels irgendwelcher Erfindungen - alles von selbst regeln würde. Wer in tiefem Glauben verwurzelt war oder sich plötzlich in einem solchen, vom Erdrutsch der katastrophalen Entwicklung beschleunigt, wiederfand, ohne je dort gewesen zu sein, mit dem war, was die Geschicke der Welt anbelangte, nicht mehr zu rechnen, es sei denn, es geschähe ein Wunder. „Der sieht aus“, flüsterte der erste seinem Nebenmann zu, „wie dieser Kerl in dem Film, wie hieß der noch, der vom Himmel gefallen war, ... hab ich damals mit Jakob, hast den eigentlich gekannt?, Pferdeschwanz und Lennon-Brille, nee, egal, in dem kleinen Kino da Graph-irgendwas, war später n türkisches Café, jetz glaub ich WW-Holidays, jedenfalls ham wir das da, The man who ö-ö-ö.“ „Der hat n Frisörladen noch nie von innen gesehn“, flüsterte der zweite. „Du denn?“ „Früher schon. ... Komisches Outfit, wär selbst meinem Großvater ...“ Der Fremde wachte auf. Er wirkte müde, wie er sich da - nachdem er die Beschaffenheit des nackten Bodens, des Kunststoffs, auf dem er gelegen hatte, durch eingiebiges Betasten mittels seiner Hände gewissermaßen geprüft und, wie aus dem mit einem Lächeln verbundenen Kopfschütteln zu schließen, für irrwitzig empfunden hatte - ungelenk hoch quälte, als sei er übernächtigt, mit steifen Knochen, einem Rückenleiden oder sonstigen Wehwehchen behaftet. Mit verkniffen blinzelndem Blick wie ein Kurzsichtiger betrachtete er die Umgebung, als sei er gerade von Bord der Santa-Maria gestiegen und habe zum ersten Mal den Boden des noch nichts von sich wissenden Americas unter den Füßen. Ungläubig, beinah misslaunig. Er nickte den anderen zu, hob die Schultern, die Augenbrauen, sagte nichts. Die anderen sahen ihn verwundert an, dann sich selbst, dann wieder ihn. Der Fremde, mittelgroß, stämmig, womöglich auf dem Weg, ins Lager der Dicken zu wechseln, stand da mit einer Nonchalance, musterte die Männer, bedachte sie mit einem Lächeln, als seien sie die Kuriositäten. Er mochte Mitte Fünfzig, vielleicht älter sein. Die langen Haare waren ergraut, die Nase knollig, die Ohren lagen eng am Kopf, der sich nach vorn reckte, um mit staunenden graublauen Augen neugierig wie ein Kind die Welt beziehungsweise deren Entstehen zu betrachten. Alle anderen trugen das Haar kurz, der Hygiene wegen, der Einheitlichkeit wegen, der Einfachheit halber und weil es vornehmlich praktisch war. Außerdem hatte man beim H6H auf die Unity, dem Einheitslook bestanden. Die Frisöre hatten reihenweise ihre Läden dicht gemacht, da die Leute, die Normalsterblichen zum Selfcut übergegangen waren. Ein Haarschnitt bei einem der verbliebenen Coiffeure war ein für den Normalbürger unerschwingliches Nice-to-have, Nein-danke geworden. Noch der vormals Unbekümmertste war im Laufe der Depression zum Centfuchser geworden. Wenn, was selten vorgekommen war, ein Neuer aufgetaucht war, dann hatte es vorher irgendeinen Informations- beziehungsweise Kennenlernen-Kontakt gegeben. Der Älteste dieses Trupps, gewissermaßen dessen Gründervater, hatte - nicht nur diesbezüglich - das Sagen. Aber es war - in anbetracht der spärlichen order situation, wie jener es ausgedrückt hatte - beschlossen worden, niemanden mehr aufzunehmen; ein dutzend Leute, wahrlich genug. „Sieht aus wie dieser, wie heißt der noch gleich, Schauspieler, Ro, Ro, irgendsowas“, sagte eben jener zu demjenigen, der gerade dabei war, das Innenleben der da stehenden cases zu inspizieren.

Die Männer, zwischen zwanzig und siebzig Jahre alt, organisierten und nutzten viele Dinge gemeinsam, ab und zu wurde ein Set abgehalten, sie redeten über Probleme, machten Vorschläge, schafften sich einen Kocher an, ein Handy, irgendwelche Gerätschaften, die von allen nach gemeinsamer Absprache für notwendig erachtet wurden und von denen ein jeder etwas hatte. Nach Feierabend wurde alles in die hinten in einer Reihe stehenden flightcases verstaut. Für den Winter gab es sogar ein Zelt, welches in Ermangelung beziehungsweise der Unmöglichkeit der Handhabung von in den Boden zu justierenden Heringen mittels der Cases daran gehindert wurde wegzufliegen. Im Winter der strombetriebene Heizstrahler, im Sommer die Außenkühlanlage. Eine Kühlbox, die - dank des von H6H beziehungsweise dessen Chef und Eigner Alexander Hoffmann for free zur Verfügung gestellten Stroms - Tag und Nacht im Einsatz war, krönte die Reihe der ebenfalls vom freundlichen aber unsichtbaren Mentor A.H. überlassenen Edelstahl-Behältnisse. Recht luxuriöse Bedingungen also. Und weil an dem so war - alter Trick der Besitz und Sagen eignenden Minderheit von in diesem Lande 2 % der Population, die Mehrheit mittels kleiner dem eigenen Wohl nicht abgehenden Aufmerksamkeiten still zu halten - hinterfragte man erst gar nicht das Warum. In wechselndem Turnus blieben mindestens zwei der Männer - auch an den Wochenenden - dort, um Wache zu halten, guarding, wie sie es ausdrückten. Eine allen ziemlich unsinnig anmutende Auflage von H6H. Aber wozu dies hinterfragen. Tatsächlich wurde allerorten gestohlen, gestohlen was nicht niet- und nagelfest war; aber hier war eben mitnichten allerorten. Die stete Anwesenheit von mindestens zwei Männern also stand auf der ungeschriebenen Agenda von H6H. Doch kaum jemals - schon gar nicht nachts - verirrten sich Fremde hierher. Schon gar nicht hätte jemand es gewagt, etwas zu stehlen, wusste doch jeder ob der triumviralen Überwachung, die aus permanenten satelite hp-Scannings, unsichtbaren hochauflösenden dp-object-move Kameras und schließlich den Securityleuten, die mit ihrer - wie das Oberhaupt der Gruppe sich ausdrückte - GSG9-Ausbildung wohl overqualified gewesen sein dürften, bestand. Da die Cases Eigentum von H6H waren, hätte sich deren Security im Notfall genötigt gesehen einzugreifen, indes war ihnen diese Möglichkeit des Zeitvertreibs bis dato noch nie untergekommen. Die Männer der Gruppe gehörten zu der harmlosen Ausprägung der so genannten Fringes, womit gesellschaftliche Randerscheinungen aller Art gemeint waren. Es gab derer zahlreiche, wovon die meisten bewaffnete Banden waren, die Geschäfte plünderten, Autos klauten, Passanten überfielen und Banken ausraubten. Die Polizei - zu einem Heer herangewachsen und entsprechend ausgestattet - war zwar ebenso wie die zahlenmäßig noch größere Armada der Securities überall präsent, beklagte aber in ihren eigenen Reihen, ob der Militanz, welche die Gegenseite nicht minder denn die eigene an den Tag legte, fast täglich Verwundete und gar Tote und war nicht wirklich Herr der Lage. Der Gegner rekrutierte sich aus tausenden Einzelgrüppchen bis hin zum One-Man Attentäter oder Amokläufer, überall und jederzeit präsent im unauffälligen Look eines Jedermann. Wachdienste und Security-Services hatten entsprechend Hochkonjunktur, trotz der schlechten Bezahlung, punkteten allerdings, ob der Skrupellosigkeit der Gewalttäter eher mit vornehmer Zurückhaltung. Nach dem globalen Einbruch, der seine Anfänge 2012 - just als man, wie es im Nachhinein schien, aus lauter Verzweiflung und wohl auch Wut darüber, dass das Kartenhaus gewissermaßen implodiert war, die Vereinigten Staaten von Europa auf den Weg brachte - genommen hatte, folgte mit einsteinscher Unweigerlichkeit der große Welt-Zusammenbruch, der common collapse, den auch die United States of Europe, U.S.E. nur im Schutzkeller des Fatalismus zu überstehen vermochte. Überall im Land hatten sich Gruppen und Banden gebildet, Gegner von Irgendwas, zumeist zusammengesetzt aus der großen Heerschar der Erwerbslosen, der Aussätzigen, der Hungernden, der Kranken, der Süchtigen, der Verrückten, der Nichtse. Doch hatte auch jede der darüber liegenden Schichten ihren criminal intent, der alle darunter liegenden in ihre Schranken verwies. Die organisierten lower gangs standen oft unter dem Einfluss großbürgerlicher Personen, die ihre schützende Hand über die jeweilige Gruppe hielten oder gar direkt dieser vorstanden und einen beträchtlichen Teil der Ernte einstrichen. Die wirklich armen Leute, die nichts waren, gar nichts besaßen außer dem was sie am Leibe trugen und ein paar Sperrmüll-Habseligkeiten, die wirklich Ausgestoßenen lebten ausgestoßen unter anderem im Sektor 101, D101, im Süden der Stadt, hausten dort in zerfallenen oder dem Zerfall nahen ehemaligen Mietskasernen; im D94, in dem die wenigen noch verbliebenen Hallen und Gebäude des alten Gabriel-Werkes aus dem Meer der Blech- und Plastikhütten aufragten wie die düsteren Zeugen eines untergegangenen Reiches; und im Norden außerhalb der Stadt, wo das Wohncamp Seasons, zwischen einem eigens errichteten Vordeich und dem Hauptdeich, hinter dem sich die Villen der Reichen alarmanlagensicher duckten, gelegen, seinem Namen zum Spott gereichte. Die Deiche hatten derweil im anthropogen hochgemilderten Klima ihren Sinn vollkommen eingebüßt. Von solch unwürdigem outsidermäßigen Leben war die Gruppe in D43 weit entfernt, und die Leute der hier präsenten und doch meist unwahrnehmbaren Security hatten fürwahr einen langweilig lauen Job. Eine der unsinnig anmutenden Auflagen von H6H gegenüber der Gruppe, was deren Wirken als street-service an diesem Ort anbelangte, war also die 24/7 Rund-um-dieUhr-Anwesenheit von mindestens zweien derer Mitglieder sozusagen für die in-case-of Eventualität. Dass sich irgend Gesindel dem H6H-Gebäude auch nur näherte, war nahezu unwahrscheinlich Da eigentlich Kameras beziehungsweise Monitore beziehungsweise die Security, die im Normalfall sofort einschreiten würde, sobald sich von ihr als Scallies spezifizierte Personen auf den Überwachungsbildschirmen beziehungsweise durch Sattelite Q identifiziert ausmachen würden lassen, diesen Job erledigten, blieb dies der Nonsens schlechthin, welcher allerdings nicht hinterfragt sondern strikt eingehalten wurde. Sich darüber Gedanken zu machen, oblag niemandem. Der unternehmenseigene Wachdienst, die H6HS, konnte sich also die Weichteile schaukeln, hätte man annehmen können. Momentan standen derer vier, geradezu durchsichtig, vor dem Hauptportal, andere machten derweil geräuschlos die Runde, wieder andere waren drinnen auf mysteriöse Weise damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass nichts passieren konnte und würde. Und die, welche versuchten, ihnen das Leben schwer zu machen, waren sicherlich keine tunichtguten Scallies oder Bagger wie die, mit denen es die auf dem Vorplatz geduldete Gruppe hin und wieder tagsüber zu tun hatte und die gemeinhin durch gutes Zureden dazu zu bewegen waren, sich aus dem Staub zu machen. Mittellose Touristen, nannte der Gruppenälteste in seiner warmherzigen Art, Dinge zu verharmlosen, diese Leute. Wie jedes andere Unternehmen auch hatte die H6H - neben der offensichtlich allgegenwärtigen Angst vor Hacker-Angriffen sowie der, selber überwacht und abgehört zu werden - weniger Sorge, bebettelt oder bestohlen, als vielmehr in die Luft geblasen zu werden, von Konkurrenten, von Neidern, von irgendwelchen Sillies. Bomben beziehungsweise Detonationen aller Art waren zu jener Zeit an der Tagesordnung. Im Zuge der ersten und dann der zweiten, weitaus größeren - diesmal klima-orientierten - Flüchtlingswelle waren Millionen von Menschen hereingeströmt und hatten das System an den Rand des Kollaps gebracht. Die Grenzen waren eh so löchrig wie ein Scheunentor offen, obschon der Sicherheitswahn bereits seit der ersten Welle unmenschlich menschenunwürdige Züge angenommen hatte, und hereinspaziert kamen naturgemäß die, welche man nicht eingeladen hatte, und sie strömten in dieses Land, weil sie sich hier noch etwas erhofften, was im eigenen und oft auch anderswo todsicher nicht mehr zu finden war: Hoffnung. Noch im März desselben Jahres hatte eine Ministerin aus dem Gruselkabinett der neuen Kanzlerin - wieder eine Frau an der Spitze! - nachdem die alte wegen Weichherzigkeit vom aufgemoppten Wähler ausgeschaltet worden war, allen Ernstes vorgeschlagen, man könne die Arbeitslosen - Zusatz „und andere eh-ehe-eh ...“ - welcher Nationalität auch immer, womit sie das Gesindel, also die Scallies meinte - alle zusammen - in einer Stadt wie zum Beispiel Neu-G unterbringen, was den Umgang mit ihnen wesentlich erleichtere und die Kriminalitätsrate drastisch werde sinken lassen. Bis dato wäre solch eine Proposition undenkbar gewesen. Den Absender eines solchen Vorschlags hätte man augenblicklich in eine entsprechende Anstalt überwiesen. Das jetzige zur Normalität gewordene Desaster kannte man hierzulande nur aus den so genannten Dritte-Welt-Ländern, aus irgendwelchen Filmen, deren Realität noch weiter von der hiesigen entfernt gewesen war als die Länder selbst. Die Ministerin war mit einer kleinen vorsichtigen Rüge der Opposition davongekommen, aber ihr Vorschlag hatte sich in nicht wenigen Köpfen eingenistet - und früher oder später würde die absurde Unmenschlichkeit einer staatlichen oder gar übergeordneten U.S.E.-Notwendigkeit, einer unumgänglichen social need, weichen. Dass die Gruppe ausgerechnet hier gelandet war, ist womöglich Zufall. In der Nähe des Flughafens, im D61, oder am nördlichen Zubringer, D64, oder am K in Molize, D42, war mehr los, einfach mehr Verkehr. Die Frequenz hier war eher eine beschauliche, das Einkommen hätte nicht für alle gereicht, wäre nicht die Qualität der Kunden eine andere gewesen. Der Sterianer, also der in diesem Sektor seinem gut bezahlten Job nachgehende, war bereit, mehr für die von den Männern hier angebotenen Dienste zu zahlen als beispielsweise der eilige Passant am Airport oder der betulich anmutende im SüdSektor. Steria war quasi die edelste der Rebsorten im Weinkeller des Herrn, ein Hightech-Hochsicherheitstrakt, der damals seinesgleichen suchte. Außerdem war diese Örtlichkeit ein sentimentales Fleckchen, was die Erinnerung nicht nur des Gründers dieser Streetservice-Gruppe an bessere Zeiten, von denen hier allerdings nichts mehr zu sehen war, anbelangte. Ein beflecktes Sentimentchen, das, da es nun einmal grimmsche Dimensionen angenommen hatte, der Nimbus 2000 war, auf dem zu reiten die Helden, nach Einnahme einiger Tropfen preisgünstigen Rebensafts bei irgend exorbitanten Gelegenheiten als da wären Geburtstage, Jahres- oder Rekordfeiern, wahre Meisterschaft an den meist späten Tag zu legen pflegten. Oft bekamen sie anstatt des Geldes von den Autofahrern oder Passanten - allesamt in einem der Bürohäuser, den so genannten Loffs (16 Großkomplexe, jeweils 8 links und rechts der Hanseatic, alle grauweiß mit schwarzen Flachdächern, die in der Dunkelheit einen bläulichen Farbton annahmen, sogenannte Luxury-Roofs, welche Helligkeit absorbierten und in Energie umzuwandeln vermochten) beschäftigt - auch andere Dinge wie Zeitschriften, Dosensuppen, Krawatten und auch Tickets für ein Fußballspiel, für die U-Bahn, ja, sogar Kondome, Tampons, angebissenes Gebäck, jede Menge HT und allerlei Selbstgebasteltes. Niemand wunderte sich mehr über irgend etwas. Alles wurde gesammelt und untereinander aufgeteilt, somit musste zum Beispiel auch die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht aus eigener Tasche bezahlt werden. Andere Zuwendungen wie Kino- und Theaterkarten wurden, so niemand darauf Anspruch erhob, weiterverkauft, sodass man sich den Erlös teilen konnte. Wieder anderes - wie das Gebäck - wurde, trotz oft offensichtlichen Makels, von Werwillnochnicht-werhatschon verspeist. Das Entscheidende - im Unterschied zu vielen anderen Gruppen - war, dass die Einnahmen in einen Topf geworfen wurden, was jeden der Beteiligten mit Stolz erfüllte und erst gar keine Zankereien und Neid und Konkurrenzdenken aufkommen ließ. Und wenn man sich tatsächlich einmal zu keiner Entscheidung durchringen konnte, wer zum Teufel beispielsweise die Tampons behalten dürfe oder müsse, so machte der Älteste von seiner Funktion als Chef und Bestimmer Gebrauch, und basta.

Die sechs Männer, die hier übernachtet hatten, schickten sich an, ihre Decken und Matten in einen der sechs silbernen Flightcases - wobei es sich bei einem derer um eine Kühlbox handelte - die hinter der Gruppe ein Mäuerchen bildeten, unterzubringen; weitere sechs trudelten dann fast gleichzeitig gegen 05.30 Uhr ein, man begrüßte sich. Vier von ihnen trugen einen Mundschutz, den sie bei ihrem Eintreffen abnahmen. Der Fremde starrte sie an. Erstere bedeuteten mit ihren Weiß-nicht-Gesichtern, dass auch sie keine Ahnung hatten, wer der war und was er hier wollte. Also machten sich die Ankömmlinge daran, die von ihnen in Plastiktüten jeweilig mitgebrachten Mitbringsel - als da wären Hemden, Hosen, Handtücher einerseits und irgendwelche Reinigungspasten etcetera andererseits - in eine der jeweils dafür vorgesehenen Silberkisten zu packen. Derweil war es rasch so hell geworden, dass der Fremde eine infantile Freude daran zu haben schien, die hochragenden Gebäude um ihn herum zu beäugen, als könne er gar nicht genug bekommen von soviel-Schönheit? Ja, man konnte den Eindruck haben, dass er sie - angelegentlich faltete er gar die Hände - gleich anzubeten gedachte. Derjenige, der des nachts das Licht gesehen hatte, ließ den Mann nicht aus den Augen. „Äh“, sagte einer zu ihm, deutete mit dem Kopf auf den Stauner, „plemplem, hähä.“ „Pscht!“, zischte jener. „Der hat doch nich mehr ...“ „Er sieht sich die Gegend an.“ „Heilige Scheiße, aber wie!“ „Als sähe er sie zum ersten mal.“ „Als hätte er sie verdammt noch mal selber erschaffen, hähä.“ Ein Dritter trat hinzu. „Was’n los?“ „Mh.“ „Kann mir was Schöneres vorstellen, hähä, als diese abgefuckte Ge...“ „Muss jeden Moment kommen.“ „Heilige ...!“, brüllte der eine. Ein summendes Motorengeräusch flog heran. Es war Punkt sechs. Daran behaftet schoss ein Auto auf die Gruppe zu. In der Nacht hatte es hier überhaupt keinen Autoverkehr gegeben, lediglich durch die Ferne war angelegentlich der Pinseltupfer eines elektrofarbenen Geräuschs gehuscht. Ein Lieferwagen, darum handelte es sich, Vorbote des Stoßverkehrs, kam, hupte, parkte am Rand der Gruppe, und das unmenschliche Geräusch erlosch. Der Fremde war drauf und dran wegzurennen, das heißt, tatsächlich rannte er einige Schritte in Richtung des Eingangs zu dem großen, noch im Schatten liegenden rückwärtigen Gebäude, als werde man ausgerechnet dort Mama spielen für den kleinen Bub, der aus einem Alptraum in ihren Schoß zu flüchten gedachte, so einen Schreck jagte das Vehikel ihm ein. „Bloß’n Auto“, rief sein neuer Aufpasser leise. Der Lieferant, „Das ist F“, stieg aus, grüßte mit einem „Morn“, öffnete die Heckklappe, holte einen großen, wasservollen Kessel heraus, dann eine Box, die mit allerlei Essenssachen gefüllt war, „Reste der gehobenen Gesellschaft, welche jene verschmäht hat, von Global F“ - letzteres stand groß und weiß und schnörkellos an dem silbernen Wagen - „eingesammelt, werden nun an die überall in den Randgebieten der Stadt eh sich verteilenden Tagelöhner, Peons, so nennt man uns, vielleicht schon ma gehört, verkauft, Ware gegen Bares.“ Eine Kühlbox, gefüllt mit etwa 2 Dutzend frischen Sandwichs, Süßigkeiten, Erfrischungsgetränken. Zuletzt - und während der Fremde sich langsam dem Ungetüm, das sein neuer Bekannter „Auto“ genannt hatte, näherte -warf der Fahrer, ein junger Mann mit kahl geschorenem Kopf und einer Uniform, die ihn, bis auf das fehlende Käppi, aussehen ließ wie den Kapitän einer Fluggesellschaft, ein Bündel Zeitungen aus dem Wagen, ebenfalls sofort zu bezahlen genauso wie alles übrige. „Wenn wir irgendwas benötigen, zum Beispiel Schuhcrème, Toilettenpapier, Kaugummis, Kraftriegel, Obst oder Ähnliches, teilen wir es dem Fahrer mit, und am nächsten Tag bringt der das Gewünschte.“ Der Fremde ergab sich einer silbernen Faszination. „Der Fahrer nennt den Preis, und wir akzeptieren es oder lassen es bleiben.“ Endlich stellte er ihnen noch einen Wasserkanister vor die Füße sowie eine Tüte mit allerlei Spraydosen. „Hab nich das Gefühl“, sagte jemand von hinten, „dass der überhaupt zuhört.“ Derjenige, welcher dem Aussehen nach der älteste der Gruppe zu sein schien, hielt ihm den dafür üblichen Gegenwert in Euro hin, den der andere sogleich einsteckte. Die Männer verstauten alles in die im Hintergrund bereit stehenden silbernen Kisten. Die Unterschrift auf dem Zettel, der sich Lieferschein schimpfte, zu leisten, behielt sich ebenfalls der Älteste vor, nicht ohne die gelieferte Ware mit den auf dem Wisch verzeichneten Posten verglichen zu haben. Der Fremde betastete derweil den Lack des Ungetüms, war scheint’s ganz zufrieden, besah sich, den Schirm seiner Hände über die Augen gehalten, den Wageninnenraum, klopfte an die Scheiben und scharwenzelte behutsam um das schlafende Monster herum. Das allmorgendliche Ritual, das wie ein Relikt aus vergangener Zeit anmutete, dauerte keine zwei Minuten, dann - der begeisterte Begutachter hatte sich flugs ein paar ängstliche Schritte rückwärts begeben - heulte der Motor des Lieferwagens sanft auf, um sich mit einem kurzen Hupen zu verabschieden. „Sod you!“, rief ihm einer hinterher, während der Wagen das Rondell bereits in westlicher Richtung verlassen hatte.

Die, welche die Nacht hier verbracht hatten, gingen nun ihren üblichen Beschäftigungen nach, deren Anfang die Morgentoilette machte. Zähneputzen mittels altmodische anmutender Zahnbürsten, Waschen aus einer Gemeinschaftswasserschüssel, wobei sie mit dem Wasser äußerst penibel umgingen. Auf Seife wurde verzichtet. Der neue Beistand des Fremden hielt sich vornehm zurück, um, nachdem er seine Brille mit dem Saum seines Hemdes geputzt hatte, mit jenem zusammen das Geschehen zu betrachten, ihm womöglich dies und das zu erklären. „Rasierer“, sagte er und unterstrich dies mit einer entsprechenden Geste, als ein Rasierapparat die Runde machte und adäquate Verwendung fand. Anschließend verschwanden die Männer einer nach dem anderen in den Tiefen des nahe gelegenen U-Bahnhofs, der sein Dasein mit einem großen blauen U ankündigte. „Die gehen aufs Klo, da, in der U-Bahn.“ Der Angesprochene stand da, die Arme ineinander verschränkt, besah sich die Gegend, dann wieder das Treiben der rückkehrenden Männer, setzte sich, stand wieder auf, drehte sich um, kratzte sich am Dreitagebart, zog die Brauen hoch, schüttelte den Kopf, stemmte die Hände in die Hüften, betrachtete die Gebäude, die Gegend, gar den Boden, nickte, verlegte das Gewicht auf das andere Bein, verschränkte die Arme, nickte, gab keinen Ton von sich. „Mh“, machte der Adjutant. Er musste grinsen. „Hab was Komisches geträumt“, sagte er als rede er mit einem alten Kumpel. „Wir saßen, meine Freunde und ich, muss zu unserer Schulzeit gewesen sein, wir waren jung, eh, saßen vor dem alten Segh auf dem schmalen Stück Rasen zwischen omnes omnia omnium und der Straße, als sich einer in unsere Mitte setzte, einfach so, womöglich ein neuer Mitschüler, ein neuer Nachbar, ein Junge in unserem Alter. Wir fanden das komisch, merkwürdig, befremdend, wie auch immer, aber der Neue war einer, der schnell Freundschaften schloss, ging offen auf einen jeden zu, und schwupps hockte er bei mir oben im Dachzimmer, und wir lasen uns aus Steppenwolf vor. Dann saß er im Klassenraum neben mir, und sein Latein war besser als das aller anderen. Und dann gingen wir schwimmen, und dann himmelten wir Mädchen an, und dann fuhren wir Rad, und dann sahen wir uns die Sterne an. Und dann, eh, sagte jemand, Bernd, so hieß der Junge, komme nicht mehr, nie mehr. Und tatsächlich tauchte er nicht mehr auf. Und dann saßen wir wieder da, und alles war, als sei Bernd nie da gewesen. Welcher Bernd?, fragte jemand. - Hälst'n davon?" Der fremde Mann stand ihm nun gegenüber und sah ihm direkt und freundlich in die Augen. Da wich das Grinsen mit einem mal vom Gesicht des Einheimischen, denn der Blick dieses Menschen hatte ihn offenbar getroffen, als hätte man einen Eimer Musik über ihn gegossen. Ihm wurde regelrecht schwindlig, und der Fremde reichte ihm die Hand, hielt ihn fest, lächelte. „Das ist“, und der beinahe Strauchelnde sah dabei auf seine Hand und die des Fremden, „etwas aus der Mode gekommen, ich eh meine, jemandem die Hand zu zu geben, anzufassen, also seit, seit, die Keime, Viren, Epidemien, du verstehst.“

„Anton, ich heiße Anton, Anton Esching.“ Der Fremde überlegte, fasste sich für dieses einigermaßen zeitraubende Unterfangen an das bartende Kinn. „ J e - s u s “, sagte er dann gedehnt und als sei es ihm gerade eingefallen. „Ah!“, machte der Erdling und ließ die Hand des Mannes los. Einer der Männer, in einiger Entfernung damit beschäftigt, sich aufs tägliche Einerlei vorzubereiten, Habseligkeiten aus den da stehenden Flightcases zu klauben, begann plötzlich zu summen, dann fielen die Kollegen, sich dabei den gleichen Tätigkeiten hingebend, ein, sangen. „Das ist dein Leben.“ „Freut mich“, sagte Anton Esching. „ F r e u t m i c h “, repetierte der Mann mit Namen Jesus. Dann zeigte er in Richtung der sich auf die Arbeit vorbereitenden Männer und die silbernen Kisten. „Das ist dein Leben.“ „Ja, da ham wir unsre Sachen drin, was man so braucht, Hosen, Hemden, Unterwäsche und eben Reinigungsmittel, Bürsten, Wischer, Schaber und so.“ „Schon halb abgebrannt.“ „Mh.“ „Und du,duhast nichts dabei?“ „ N i c h ts d a be i .“ „Das ist dein Leben.“ „Ich werd mal, meine, ich muss mal, also, wenn du auch mal, eh, musst, bitte, kommst du einfach mit.“ Mit diesen Worten machte Esching sich auf den Weg, begleitet von dem bärtigen Mann, der -etwas unsicheren Schrittes, die Augen auf den Boden heftend versuchte, mit ihm Schritt zu halten. „Wohin bist du gerannt.“ Sie überquerten rechterhand die Low, ließen den in der Mitte des Platzes angelegten kleinen Rundsee mit seinen orangenen Kieselsteinen links liegen, steuerten auf das blaue U zu, verschwanden in dessen Katakomben und traten in den großzügig gestalteten weißen Toilettenraum ein. Eschings Begleiter erschrak, als er inmitten dieses gekachelten Daseins eingeschlossen schien. „Was ist?“ „ W a s i s t .“ „Wie wär’s mit ... Wasser lassen!?“ „ W a s s e r l a s s e n .“ „Musst du eigentlich alles wiederholen?“ „ E i ge n t l i c h …“ Esching schüttelte den Kopf. „Na, geht doch.“ Jesus trat nahe an eines der Urinalbecken, verzog das Gesicht, blickte zu Anton, der seinerseits auf ihn blickte, stellte sich alsdann mit dem Rücken zum Pinkelbecken, begann etwas schamhaft, die Hose herunter zu ziehen. „He!“, schrie Anton. „Machst’n da, willst doch wohl nich!“ Jesus zog die Hose wieder hoch, harrte einer Erläuterung. „Hier das“, Anton stellte sich vor ein anderes Becken, zeigte was zu tun war, „ist nur zum Pinkeln, und zwar vorwärts, Mann!“ „Ah.“ „Und das da“, er zeigte auf die rechterhand vorhandenen Türen, „da sind die Toiletten.“ „ T o i l e t t e n .“ „Ja, für das große Geschäft.“ „ G e s c h ä f t .“ „Oh, Mann!“ Er ging zu einer der Türen, holte einen Chip hervor, hielt ihn vor die Scannzone, und die Tür öffnete sich. „Ohne Chip kein Geschäft, he, sind von H6H, sonst müssten wir einen Chip kaufen oder in die Büsche gehen.“ Dann erklärte er, wie das alles zu bewerkstelligen sei. „Oh, oh, ja, oh“, machte Jesus. „Stellst dich ja an wie der erste Mensch.“ „Mh.“ „Nu mach schon!“ Anton wartete in einiger Entfernung. Es dauerte. Dann die erlösende Druckluftspülung und dazu Jesus’ lautes Lachen, der anschließend grinsend durch die Tür trat. „Spaß gemacht?“ „Mh-mh“, lachte Jesus durch die Nase. Nachdem Esching gepinkelt hatte, erschrak der Begleiter aufs Neue beim plötzlichen Einsetzen des Airclean-Geräusches.“ „Automatisch, die Luft, kein übler Geruch.“ „ A u t o...“ „Zum Waschen gibt’s nur diese Feuchttücher“, Esching zeigte auf einen Kasten mit der Aufschrift freshs, „kosten aber.“ Als sie die Treppen hochstiegen, schockte das Geräusch der unterirSch dahin sausenden Bahn den Mann dermaßen, dass er einige Stufen hoch rannte, sich dann mit beiden Händen an die Wand drückte, so als werde das Biest gleich genau dort vorbeirasen. „Langsam, langsam! Mein Gott, das war die erste, die rauscht einfach durch, hält erst …“ „ D i e e r s t e .“ „Die erste U-Bahn, ja, hält erst, wenn sie wieder zurückkommt, dann kommen die ganzen Leute.“ „ G a n z e n L e u t e .“ „Na, die hier arbeiten, in den Loffs, dass sind doch alles Loffs hier, Büros.“ „ B ü r o s .“ „Sag mal, kann das sein, dass du irgendwie ...“ „N e i n.“ „Ja, was nein?“ „L a n g s a m.“ „Langsam?“ „ B i t t e !“ „Ooh - k a y .“ Beim Rasieren hing Jesus, nachdem das Geräusch, welches der Rasierapparat von sich gab, als Esching das Ding über sein Kinn führte, bei ihm Heiterkeit hervorgerufen hatte, weiterhin wie eine Klette an seinem neuen Freund, beobachtete jede Bewegung, als gelte es, anschließend eine Gebrauchsanweisung in Worte zu fassen. Dann überreichte Esching ihm den Rasierer, stellte die Schneideposition ein, und Jesus besah sich den Apparat, versuchte es seinem Vorgänger gleich zu tun, rasierte sich umständlich, lachte wie ein Teenager, Esching schüttelte den Kopf. Er hielt dem Anfänger das Handtuch hin, als dieser endlich sein Gesicht gewaschen hatte. Der hielt das weiße Baumwolltuch über Gebühr lange in den Händen, trocknete sich nach ausgiebiger Befühlung schließlich ab. Der Neuling wurde auf eine Tasse Kaffee eingeladen. Er erhielt einen dickwandigen Plastikbecher, den er beklopfte und an sein Ohr hielt, als könnten ihm Töne entweichen. Esching schmierte eine unidentifizierbare gelbliche Paste auf zwei Scheiben Brot, hielt die eine dem neuen Freund hin, biss in die andere hinein. „Gibt sich mir als Erdnussbutter zu erkennen, möchte ich meinen.“ Auch Jesus nahm einen herzhaften Bissen und gab mittels eines breiten Gesichtsausdruckes zu verstehen, dass es ihm gut schmeckte. Dann probierte er den Kaffee, verzog das Gesicht, lächelte aber sogleich wieder unter seinen dicken Augenbrauen hervor. „Du hast noch nie Kaffee getrunken?“ „Mh , n e i n “, sprach der Mann, der sich Jesus nannte, langsam, geradezu vorsichtig. „Totale Amnesie?“ Fragender Blick des Fremden. „Gedächtnisverlust.“ „ G e d ä c h t n i s - v e r l u s t .“ „Und manche Wörter, Begriffe, die hörst du wohl tatsächlich zum ersten Mal?“ „?“ „Tatsächlich. Aber dann bist du schnell von capé?“ „ T a t s ä c h l i c h .“ „Aha, meine, du bist nicht begriffsstutzig. Wenn du mal an etwas geschnuppert hast, dann fällt’s dir schnell wieder ein.“ „ S c h n e l l w i e de r e i n.“ „Mit einem Mal weißt du es.“ „ M i t e i n e m M a l .“ „Mit einem Mal.“ „Mh.“ „Mh.“ Immerhin gingen die Worte dem Fremden jetzt schon etwas flüssiger über die Lippen. „Gut, der Kaffee?“, wollte Esching wissen. „Gut“, repetierte der andere. Sie schwiegen eine Weile, standen sich direkt gegenüber, bissen ein jeder von der jeweiligen Scheibe Brot ab und nippten abwechselnd am jeweiligen Becher. Esching beobachtete, wie Jesus die jetzt ankommenden und vorbeifahrenden Autos argwöhnisch musterte, als seien sie futuristische Mobile aus einem Science-Fiction-Film. Die Neugier des Ungläubigen wurde immer größer. Er legte sein Brot beiseite und schüttelte erneut den Kopf. „Der Jesus?“, fragte er endlich. Mit einem knappen „Ja“ schien die Sache erledigt. Aber nicht für den wissbegierigen Esching. „Jetzt mal Spaß beiseite! Das ist doch ...?“ Die Straßen belebten sich langsam. Die U-Bahn-Station entließ die ersten Passagiere. An dem Rondell bildete sich infolge des zunehmenden Verkehrs aus nördlicher und westlicher Richtung bald stockender Verkehr, und die Männer konnten nun anfangen, ihrer Arbeit nachzugehen. Sie packten Reinigungszeug, Zeitungen, Sandwiches, Süßigkeiten und so weiter zusammen, begaben sich an den Rand der Fahrbahn, um ihre Dienste anzubieten. In Jesus’ Augen, die auf das Geschehen starrten, als handele es sich um die Erschaffung der Welt, war der Glanz kindlichen Staunens. Esching holte aus einem der Cases einen Scheibenwischer, ein Tuch und eine Flasche mit Glasreiniger der Marke W7, stellte sich dann wieder neben Jesus.

Viele Autos waren schwarz, meistens firmeneigene Fahrzeuge, die mit ihrer geschmackvollen Uniformität genau jene konnotierten, welche darin saßen. Neuerdings erfreuten sich aber auch bunt lackierte, fahrende Bilder zunehmender Beliebtheit. Esching deutete mit dem Finger auf eines. „Moving pics nennt man die“, sagte er. Meist schmiegten sich Frauenhände um solch sportliche Lenkräder. Man sah wenige deutsche Standard-Modelle neben der reichhaltigen Palette marktbeherrschend asiatischer Limousinen. „Das da“, der Kundige zeigte auf ein abstrus wirkendes mattschwarzes Fahrzeug, das ist ein Crace, sieht aus jedem Blickwinkel anders aus, siehst du, irgendwie kubistisch. Und das da“, ein eierweißer Sportwagen rollte vorbei, „das ist ein Flash, jetzt sieht’s ganz normal aus, aber bei zunehmender Geschwindigkeit wird’s immer stromlinienförmiger.“ „Normal?“ „Für dich scheint das Automobil an sich schlichtweg ein Wunder zu sein, entsprechend schaust du nämlich aus der womöglich zweitausend Jahre alten Wäsche, haha.“ Er rückte seine Brille zurecht. Als Jesus diese auf seine naiv eindringliche Weise betrachtete, nahm Esching sie ab, hielt sie Jesus hin. „Eh ...“ „Oh“, machte der. „Ja, oh. Is kein Fensterglas, ganz normale Brille.“ Jesus setzte sie behutsam auf seine Nase. „Brillle.“ „Was sonst.“ Der Fremde runzelte die Stirn, nahm die Brille ab, blinzelte, gab sie dem Eigentümer zurück. „Ach so, ja, damit kann man, wenn man schlecht sieht, je nachdem, ob man kurz- oder weitsichtig ist, also, man kann wieder ganz normal sehn. Ohne Brille bin ich aufgeschmissen.“ Der Heilige lachte. „Manche haben auch,“ er hielt das Gestell in der einen, zeigte mit dem Finger auf seine Pupillen, „hier, im Auge, auf dem Auge eine Haftschale, sozusagen unsichtbare Brille, hat den gleichen Effekt. Und wer sich’s leisten kann“, fügte er hinzu, „lässt seine Augen lasern, das ist so’ne kleine Operation am Auge, auf der Netzhaut, kann man sich als so eine Art elektrischen Strahl vorstellen, dann benötigt man weder Brille noch Haftschalen.“ „Oh.“ „Oh-oh, ich seh schon.“ Jesus schickte einen neugierigen Blick in Richtung Eschings Schuhe. Der Besitzer hob die Augenbrauen und stöhnte. Der Verkehr nahm zu, auf den Straßen und Gehwegen flatterte buntes, lautes Treiben, und die Passanten stoben wie Fliegenschwärme in alle Richtungen. „Du fragst dich, wo die alle hin wollen. In die Loffs, ihre Offices, Büros, Geschäftsräume, Arbeitszimmer. Früher, so lange ist das noch gar nicht her, da standen hier überall Wohnhäuser, alles weg. Nur da hinten, sieht man von hier aus nicht, das Seniorenheim, Neubau, sieht aus wie alle andern hier, das Altenheim, sinniger Weise Greys genannt, das graue Heim, das hat sich - wenigstens als solches, als Institution - behaupten können, natürlich im neuen Steria-Outfit, für Normalsterbliche aber unerschwinglich, vermute mal, dass die Mama irgendeines der Bosse hier, also der Finanziers, der Geldgeber für dieses ganze Tamtam, dass die da inhaftiert ist.“ „?“ „Spass, meine, dass die da einsitzt, nein, also wohnt quasi. Schaut aus dem Fenster auf die hoch aufschießenden Mahnmale architektonischen Trotzes.“ „?“ „Der Ausblick, den sie da hat, nicht eben erbaulich, wie ich finde, also ich möchte da nicht ...obwohl, wozu rausschauen.“ Mit einer Geste seiner Hände, die in halber Ausführung abbrach, da sie auf Jesus zeigte, diesen aber nicht zu beschämen gedachte, kombiniert mit einem leichten Anheben sowohl der Schultern als auch der Augenbrauen, gab Esching einem seiner Kollegen zu verstehen, dass er noch ein Weilchen mit dieser außerplanmäßigen Tätigkeit beschäftigt sein werde. Die Schuhputzer, Scheibenputzer, Autowäscher, Getränke-, Sandwich-, Zeitungs- und Süßigkeitenverkäufer gingen derweil routiniert ihrem Tun nach, ohne den Fremden weiter zu beachten.

Anton Esching nahm das Brot, das er auf einer Box abgelegt hatte, um den Rest zu verzehren. Eine Fliege setzte sich auf den Rand, als er eben hineinzubeißen beabsichtigte. Er verscheuchte sie und nahm einen herzhaften letzten Bissen. „ D i e s e s F l i e g w e s e n “, fing der Mann, der sich Jesus nannte, an, „ob es auf einer Scheibe Brotes sitzt oder an einer Decke, es fällt nicht hernieder, ob es wacht oder schläft, es fiele dem Fliegwesen im Traum nicht ein abzustürzen, nie hat man ein solches Wesen taumeln sehen, darob es sich nicht mehr hätte halten können.“ „Alle Achtung! Wenn du eben noch kaum ein Wort hervorbringen konntest, dann war das jetzt das erste Wunder, mein lieber Schw... Die Fliege, ja, das ist klar“, sagte er, nicht recht begreifend, worauf der andere hinaus wollte. „Glaubst du, dass ich übers Wasser gewandelt bin?“ „Woher weißt du, dass du ...?“ „Ich meine, diesen Gedanken eben bei dir gesehen zu haben.“ „Mh, ja, also, also, ok, ja, tatsächlich, also zumindest glaube ich, dass Jesus das getan hat. Ob du das bist, das wage ich allerdings immer noch zu bezweifeln.“ „Wie hat denn Jesus das tun können, was ist deine gedankliche Bezüglichkeit?“ „Eh. Na ja, er konnte es halt, er war Jesus, der Sohn Gottes ...“ „Er hat es gekonnt“, fiel der eine dem andern ins Wort, „weil er es gemacht hat wie dieses Fliegwesen: Er war sich dessen sicher, für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel, so wie es für die F l i e g e keinerlei Zweifel an ihrer natürlichen Fähigkeit, an der Decke entlang zu spazieren, gibt.“ „Aber wissenschaftlich betrachtet ... Mh. - Ich muss mich nun mal an die Arbeit machen, sonst müssen die andern ... Da die Cases“, er zeigte von links nach rechts auf die silbernen Behälter, „das ist die Kühlbox, mit 1a Strom versorgt von H6H, dann da sind Klamotten drin, da auch, da so dies und das, da unser Handwerkszeug, und in der da rechts so Dinge für den täglichen Bedarf, auch der Kaffeekocher, funktioniert ohne Strom, wenn du ...“ Jesus winkte ab. „Ich gedenke euch ein wenig zu betrachten.“ „Tja, mach das!“ Anton Esching nahm seine Utensilien, machte einen Schritt in Richtung seiner Kollegen, blieb stehen, wandt sich erneut an Jesus. „Das mit dem Auto und all dem Zeug, das du anscheinend noch nie gesehn hast“, bohrte er, „ich meine, wenn du der von vor 2000 Jahren bist, du würdest, wenn du vor 2000 Jahren gelebt hast und jetzt in diese Welt, dieses Chaos, dieses verrückte Heute geworfen würdest, ha, du würdest sofort den Verstand verlieren, augenblicklich, das hielte nichma Jesus aus, muss ein, eh, dermaßen krasser Unterschied sein, wird mir schwindelig, wenn ich nur daran denke.“ „Entschuldige“, unterbrach Jesus, „die Situation bedarf meiner Gewöhnung, das ist wahr. Aber ich naturalisiere schnell. Für mich ist alles neu. Ich bin plötzlich, unvermittelt hier.“ Wollte er den anderen zum Narren halten? „Wie, was?“, fragte der. „Plötzlich? Soll das heißen, du bist jetzt einfach so, plumps, vom Himmel gefallen quasi? Ich meine, he, man wird normalerweise geboren, man taucht nicht mit ... wie alt, sagst du, bist du? ... mit, mit Fünfzig, mit über Fünfzig einfach so auf, he, mit grauen Haaren und, übrigens hast du schlechte Zähne, und dir fehlt da einer, und da, also, he, man hat doch eine eine Mutter, wenigstens eine Mutter, he!“ Er sah zu den andern hinüber, die am Außenoval des Rondells ihrer Arbeit nachgingen. Der eine drückte einem Mann eine Zeitung - die großlettrische Kriegsbemalung lautete "Todesvirus aus Gondwanaland" -in die Hand; ein anderer gab einer jungen Frau, die ihren Arm aus dem Wagenfenster streckte, zwei Erfrischungsriegel; ein dritter wischte einem älteren Herrn, der naturgemäß in Eile war, rasch mit einem Tuch über die schwarz glänzenden Schuhe; ein vierter war dabei, die Frontscheibe eines Subtile, der auf der Freifläche geparkt hatte, zu reinigen. Jesus lächelte. „Soll das eine Antwort sein? Damals hat Jesus“ -Anton setzte den Namen mit Hilfe seiner Gliedmaßen in Anführungszeichen - „wenigstens Eltern gehabt, man kann doch nicht mit ... über 50, ohne jegliches Vorleben, plötzlich vom Himmel fallen.“ Der Gemeinte war nicht aus der Reserve zu locken. „Was wirst du denn den Leuten erzählen, das kauft dir doch kein Mensch ab, is ja noch unglaublicher als die unbefleckte Empfängnis“, rief er, schon auf dem Weg zu den Kollegen, hinter sich zu dem nun in sicherem Abstand stehen gebliebenen Jesus. Mit einem Gefühl aus Ungläubigkeit und Neugier ging Anton Esching seinem Handwerk nach. Der weißhaarige Fahrer eines Felice der Marke Fiat bat um einen Außen-Full-Service, Waschen, Reinigen, Polieren. Ein eingespieltes Team von vier Männern fiel über die seitlich abgestellte Limousine her, während der Besitzer am Steuer saß und die U-Post überflog, wozu ihm knapp vier Minuten Zeit blieben, bevor einer ans Fenster klopfte, aus dem anschließend ein Geldschein den Besitzer wechselte. Zeitung, Geldschein undsoweiter, das waren alles Dinge, die man sich leisten können musste. Geld war so teuer wie noch nie. das Leben war so kurios wie noch nie, so fremd wie noch nie, zumindest anders, sehr sehr anders, verglich man es mit dem vor 30 oder 40 Jahren. Als der Wagen sich mit einem leisen Schnurren wieder in den Verkehr eingeordnet hatte, sagte Esching in die Runde: „Arme Schweine sind wir. Sind wir arme Schweine?“ „Was’n mit dir los?“ „Hätte mir das damals ..., meine, du hast doch auch Abitur, hättst du gedacht, dass du mal auf der Straße landen würdest, solche Typen kannte man vom Hörensagen, aus dem Fernsehn, aber nich persönlich. Mann!“ „Das hatten wir doch alles schon mal.“ „Ja, aber dass ausgerechnet wir ...“ „Wir sind“, meinte der andere, „eine eigene Gesellschaft, eine vom Rand her sich ausbreitende Masse.“ „Und arme Schweine.“ Einer klopfte ihm auf die Schulter. „Sentimentale Anwandlung. Hat das was mit“ - er deutete mit dem Kopf auf den Fremden - „dem da zu tun?“ Er winkte ihn herüber. „Anton sagt, wir sind arme Schweine, stimmt das?“ Einige dieser Gruppen waren dazu übergegangen, so etwas wie Straßenkarneval aufzuführen, traten als Piraten oder Marsmenschen auf. Am Staufer gab es die ZooZoos, eine gemischte Truppe, verkleidet als wilde Tiere. Im Süden, am P-West, befanden sich die Stars, die sich in aufwendigen Kostümen und Make-ups darin gefielen, Größen des Show-Biz zu imitieren. Anderswo gab es eine Engelgruppe, die sich nur aus weiblichen Mitgliedern rekrutierte; dort eine Fantasie- und sogar eine südamerikanische Tanzgruppe, Gringo, die zu entsprechender Musik eine regelrechte Show hinlegte. Die Männer am A.H.-Platz kamen in dieser Enklave des Wohlstands, in der sie - aus welchem Grund auch immer - geduldet, wenn nicht gefördert wurden, ganz ohne irgendein Tamtam aus, Tagesverdienst pro Mann und Nase 20 Euro, samstags und sonntags nahezu Null, im Monat ein erkleckliches Sümmchen von 400 Euro, rechnet man noch Theaterkarten, Krawattennadeln und anderen Tand, den man in bare Münze umsetzen konnte hinzu, kam man pro Nase vielleicht auf 450, davon ging allerdings noch einiges ab, sodass einem jeden von ihnen durchschnittlich letztlich etwa 400 Euro am Monatsende übrig blieben. 400 Euro!, wo ein 250grammPaket Butter schon 20 Euro kostete. Aber wer aß schon Butter! Das Geld wurde hauptsächlich für die Ernährung aufgewendet, sowohl die eigene als auch die der verwandten und befreundeten Personen. So mühsam es verdient wurde, so schnell versickerte es auch wieder. Allein die Lebensmittelpreise - mochte man auch noch so billig einkaufen - sorgten für stetige Ebbe in der Kasse. Strom, Wasser, Kleidung etcetera verlangten also, Billigstes zu billigen. „Es gibt“, erklärte Esching an den Neuen, der nur große Augen machte, gewandt, „Menschen, Frauen und Männer, von den Kindern gar nicht zu sprechen, denen geht es viel viel schlechter als uns, unvorstellbar schlecht, die meisten haben keine Arbeit, erhalten keine Unterstützung. Viele leben in einer Art Höhle, Hölle, wenn du mich fragst, in Käfigen, in Dachverschlägen, in der U-Bahn, unter Brücken, an irgendwelchen Ecken im Freien. Die wenigsten von denen verdienen etwas, verdienen, wenn überhaupt, ein paar Euro am Tag, zu wenig zum leben, zu viel zum sterben. Die meisten haben gar keine Arbeit, null Geld. Wir geben jeder einen Euro täglich an die CPO, Cage-peopleorganisation, die diese Leute unterstützt.“ Der Applaus blieb aus. Stattdessen schien der Blick des Fremden zu sagen, dass das nicht genug sei. „Vergleichsweise sind wir tatsächlich auch nur arme Schweine,“ verteidigte Esching sich, „nehmen ja hier nicht viel ein; wenn wir was abgeben, ist das schon verdammt großzügig, aber wer bist ...“ „Lass ma, Thomas! Wir tun, was wir können.“ „Jeden Tag?“ „Der kann ja reden.“ „Jeden Tag, den Gott erschaffen hat, stehn wir hier, ja. Natürlich nich an den Wochenenden, da is ja nichts los, tot hier, abgesehn von den Wachleuten, den patrouillierenden Securities und den zu Wachsfiguren erstarrten Portiers. Schnorrer, Hausierer und Bettler ham schon wochentags hier nichts zu lachen, so sich denn mal über Umwege einer in den Sektor verirrt, da verstehn die Sicherheitsleute keinen Spaß, an den Wochenenden allerdings ist die Gegend gänzlich ausgestorben, bis auf uns, also zwei von uns -und die Alten vom Brooch Weg, die allerdings im Durchschnitt nahe dran sind.“ Von Staatsseiten beziehungsweise Stadtseite beziehungsweise behördlicherseits ließ man all diese Gruppen in Frieden, verlangte keine Anmeldung, keine Abgaben, solange sie Staatsangehörige der U.S.E. waren, solange sie einen Wohnsitz nachweisen konnten, solange sie friedlich waren, damit sie eben dies blieben. Nur nicht noch mehr Randalierer und Demonstranten und Bombenwerfer, die ihrem Unmut Luft zu verschaffen suchten. Man ließ den Leuten diese kleinen Jobs, dies Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben, damit sie nicht aufstanden und sich beklagten wie die anderen, die gar nichts hatten und aus lauter Verzweiflung Autos in Brand steckten, Schaufenster einschlugen, Läden plünderten, Kaufhäuser in die Luft sprengten oder sich von Dächern stürzten. Das alles war an der Tagesordnung. Das Leben war unglaublich brutal. Die untere Gesellschaft war abgespalten von der oberen. Viele der Peons hatten gedacht, wenn sie das, was sie verdienten, zusammenhielten, dann könnten sie den Schritt schaffen, die Leiter hochklettern. Aber es ließ sich nichts sparen, hier nicht und dort nicht und nicht heute und nicht morgen, es war keine Besserung abzusehen, und die Besitzer der anderen Welt gewährten keinem Außenstehenden Einlass: Geschlossene Gesellschaft, jetzt war sie da, wenn auch ganz anders, ganz unphilosophisch trist, äußerst unschön. Und es gab keine Leiter mehr. Wer unten war, der blieb auch dort. Das Lächeln der Menschen war zu einem seltenen Pfand des Lebens geworden. „Thomas“, sagte Anton Esching zu seinem Freund, während sie sich um einen alten Bentley kümmerten, dessen Besitzerin, eine Frau mittleren Alters und Grécoschen Aussehens, die infolge dessen mit Madame angesprochen wurde, ausgestiegen war, „ich kann mich heute nich konzentrieren. Er sagt, er sei Jesus, heißt nich nur so, is es auch, meint er.“ „Blödsinn.“ Der Blödsinn schaute mit einem Grinsen auf den Lippen auf alles und jedes. „Gottes Sohn, soll das doch wohl heißen.“ „Ein Verrückter.“ „Aber irgendwas Faszinierendes, also, weiß auch nich, klar is das verrückt, aber irgendwie fühl ich mich plötzlich - beschenkt.“ „Du bist auch verrückt.“ „Klar is das nich die sunny side of the street hier, wenn man’s mit früher ..., aber, wir haben uns hineingefunden ...“ „Und finden nich mehr raus.“ „Quatsch, es geht uns doch gut, allem Anschein zum Trotz geht’s uns doch gut, oder? Brauchen wir Luxus? Braucht irgendwer Luxus?“ Jesus’ Blick schien plötzlich ins Mitleidige gekehrt. Die Schatten wurden kürzer. In der Ruhepause zwischen den ersten beiden Verkehrsschüben dösten die Männer vor sich hin. Jesus saß etwas abseits am linken Rand der Gruppe, hatte den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen. Der Gitarrenspieler improvisierte Peter Greens Albatross. Einer der Männer, mit einer dicken Brille und noch dickeren Gläsern bewaffnet, die er sich jetzt auf den fast kahlen Kopf geschoben hatte, fragte den, der am ältesten aussah: „Wolfram, willste den nich ma fragen, meine, willste dem nich ma bescheid stoßen, dass wir hier kein’ mehr brauchen könn’!?“ „Scheint zu schlafen. Hält sich für Jesus. Lass ihn mal.“ „Und ich halte ihn für’n ganz ausgebufften ...“ „Pscht!“

Der nächste Publikumshype stand an. Die Businessleute begannen aus ihren jeweiligen Offices zu strömen, nahe gelegene Bars oder Restaurants aufzusuchen, sich einfach die Füße zu vertreten, eine Zigarette zu rauchen, das Gesicht in die Sonne zu halten, ein Fresh-B abzuhalten. Einige rauschten mit ihren Autos davon, sich anderweitig zu amüsieren beziehungsweise zu entspannen, oder gar das eine als Synonym des anderen zu nehmen. Die Männer wollten sich, nachdem sie größtenteils herum gesessen hatten, geschwiegen, einen Happen zu sich genommen, ein Nickerchen eingelegt, die Zeit tot geschlagen und den Fremden in ihren Reihen mit Unbehagen bedacht hatten, gerade wieder an die Arbeit machen, da ging Anton Esching zu Jesus, drückte ihm den Eimer und die Waschutensilien in die Hand. Sie sprachen kein Wort. Jesus nickte nur, nahm die Sachen, marschierte zum Straßenrand, wo er beinahe von einem Auto überfahren wurde. Natürlich stellte er sich dann an wie ein Anfänger, der er ja auch war. Die anderen amüsierten sich über seine Ungeschicklichkeit, also winkte Esching ihn schnell wieder zu sich. „Liegt das jetzt daran, dass es in deinem früheren Leben keine Autos gab, oder was?“ „Geduld! In meiner Werdung bin ich ein Mensch wie jeder andere auch.“ Er hielt immer noch das Putzzeug in Händen, lächelte. „Ich nötige für manche Dinge eine Weile.“ „»Ich nötige«, hä?!“ „Hört sich nach ausgefuchstem Scharlatan an“, flüsterte der mit den dicken Brillengläsern seinem Nachbarn zu. „Der Mensch weiß nicht um seine Fähigungen.“ Esching fasste sich an den Kopf. Ein anderer tippte mit dem Finger gegen den seinen. Ein dritter versuchte ein Prusten so gut es ging zu unterdrücken. „Die Gabe“, sprach Jesus, schnappte sich erneut das Putzzeug, „mich in die ...“ - da konnte ihm keiner helfen, aber er kam von alleine drauf - „Spur der Dinge“, fuhr er fort, „zu setzen.“ Sagte es, ging zum Rondell, hielt einen Wagen an, orderte die Fahrerin zur Seite, eine Mittvierzigerin, verblüfft und kurzhaarig, die zu diesem Zwecke ihre Sonnenbrille in die hohe Stirn schob, wobei ein grauer Haaransatz nicht umhin konnte, sichtbar zu werden, unterzog die Scheiben des CX11 einer Behandlung nach allen Regeln der Kunst, wie es niemand hätte besser und schneller bewerkstelligen können, ging dann zurück, ohne einen Lohn erhalten noch verlangt zu haben. „So wir im Vertrauen sind, vermögen wir alles.“ Die offenen Münder derer, die das Geschehen hatten verfolgen können, ersetzten ein Nicken. Die Hanseatic war die erste Straße in Tobee, die, im Zuge der nördlichen Autobahnanbindung, den neuartigen Polysterol2-Belag erhalten hatte, der, in Verbindung mit integrierter Software, Ampelanlagen ersetzte, den Verkehr regelte, Unfälle verhinderte, die Autos in der Spur hielt, auf den Bremsvorgang Einfluss nahm und Warnsignale bei Annäherung an den Fahrbahnrand weitergab, tags dunkelte, nachts leicht aufhellte, bei Hitze und Kälte durch ein integriertes Temperaturgitter eine konstante Eigentemperatur zu halten imstande war, ein Belag, der sich keinerlei Abnutzungserscheinungen zuschulden kommen ließ und im Winter die Fahrbahn schnee- und eisfrei hielt. Letzteres hatte sich durch die Klimaverschiebung allerdings von selbst erledigt. Die ehemalige Häuserzeile hatte - wie alle anderen auch - den Loffs, riesigen Bürowürfeln oder auch BSQs platz machen müssen, und an der Ecke waren diverse Kaufläden und Einzelhandelsgeschäfte einer planen Öde gewichen, die zu nichts anderem diente, als ein optisches Entree für das sich daran anschließende H6H, eigentlich Hoffmann & Hoffmann, gegründet vom Senior im Jahr der ersten Assange-Welle, erweitert und modernisiert vom Junior, dem der Vater nach nur zwei Jahren und einer stattlichen Auszahlung nebst einem lebenslangen monatlichen Sümmchen - laut W-Post - das ihm ein luxuriöses Dasein auf einem tropischen Eiland gestattete, zugestand, das Headhunter-Imperium nach Belieben auszubauen. In dessen erstem beziehungsweise äußeren Dreieck hatte sich die Gruppe - mit offizieller Duldung beziehungsweise Erlaubnis des H6H - niedergelassen, mit der schon erwähnt unsinnig erscheinenden Auflage, jedwedes Gesindel, dessen man in diesem SicherheitsSektor ansichtig werde, schon im Vorfeld, bevor es zu den H6H-Wachleuten vorstoßen hätte können, fernzuhalten. Der vom alten Richter gestaltete Eingangsbereich im rückwärtigen Winkel - zu einem Preis, den andere vielleicht für eine Villa auszugeben bereit gewesen wären - konnte sowohl von der Hanseatic als auch von der schmalen Straße linkerhand aus befahren werden. Chauffeure in Business-Anzügen bugsierten die dort vorfahrenden Karossen der kleinen und mittleren Bosse - die obersten Mitglieder dieser Spezies verfügten über einen eigenen Carlift, der sie mitsamt ihres Automobils zur Chefetage sanftete - mittels Fahrstuhl in die Tiefgarage, deren Lüftungsschächte der im Vordergrund tätigen Gruppe im Winter als Wärmespender dienten; jetzt stob dort kühle Luft heraus, und in den Pausen stellten oder setzten sich die Freunde gerne auf die Belüftungsgitter und boten, nebeneinander aufgereiht, das Bild einer modernen Version eines Bildes von C D Friedrich. Esching stellte sich neben den Ältesten der Gruppe, zuckte mit den Schultern und deutete ein Kopfschütteln an, was vom anderen ohne Schwierigkeiten dahin gehend verstanden werden konnte, dass dieser Jesus möglicherweise doch nicht ganz dicht in der Birne sei. Der so Angesprochene hob die buschigen Brauen. Der daneben stehende Mann, der mit Hilfe seiner überlangen Koteletten durchaus imstande war, seinem kurzgeschorenen Schädel einen Hauch von Chic abzunötigen, trat dann, die Hände in den Hosentaschen, zu Jesus und sagte: „Wir könnten ein Jahrgang sein.“ „Ja.“ „Geschwätzig bist du wohl nicht.“ „Ja.“ „Das Blöde ist, wir können hier keinen mehr gebrauchen.“ Jesus sah ihm in die Augen. „So man das Eigene im Anderen sieht“, sagte er, „wird diese Aussage allerdings zur Verneinung des Selbst: Ich kann mich nicht gebrauchen. Das sollte einem zu denken geben!“ Der Düpierte schürzte die Lippen, blickte den Brillenträger an, der, selbige in Händen haltend, beschäftigt, nicht gewillt war, dem Ganzen eine - wie ihm schien - übergebührliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Anton Esching gesellte sich zu dem Ältesten, als dieser alleine da stand, druckste herum. „Mh, also.“ „Na, sag schon, raus damit!“ „Nja, weißt du, dieser Jesus, dieser Mensch, berührt der dich nicht auch?“ „Denke gerade darüber nach.“ „Seine Präsenz, ist das nicht Berührung?“ „Mh.“ „Alles was ich war, alles was ich je getan habe, alles war und und war geschehen und war so geschehen, um hier hin zu kommen, jetzt hier zu sein, diesen Punkt zu erreichen.“ „Kann man sagen.“ „Ich glaube, ich bin der erste Fisch im Netz dieses Mannes.“ „Mh.“ „Ich rede Quatsch,he?" "Mh." Mir ist beinah, als müsse ich auf die Knie fallen, verstehste, einen Kniefall vor diesem Fremden machen, ihn ..., das is doch total ..., einen Mann, ich weiß, das klingt absolut verrückt, der bislang kaum etwas gesagt geschweige denn getan hat, ein Mensch, den ich vor ein paar Stunden noch nicht einmal gekannt, den ich gerade noch für einen Spinner gehalten habe.“ „Schon Gut“, sagte der Älteste und nahm den anderen, der nun den Tränen nahe war, in die Arme. Als der Ansturm vorüber war, begann auch die Sonne -nach einer letzten Anstrengung sich aufzurecken - mit einer Diminuierung ihres optischen Daseins. Die Männer bedienten sich der Reihe nach aus einer Waschschüssel, um sich frisch zu machen, bevor sie sich der Siesta des Müßiggangs hinzugeben gedachten. Man versammelte sich um den Neuen. „Das also ist Jesus“, stellte Esching seinen neuen Freund den Ungläubigen oder denen, die es noch nicht mitgekriegt, sich bislang eher auf Stanz gehalten und über den komischen Kauz amüsiert hatten, vor. Die beiden Autowäscher traten näher, und der Jüngste, der gerne den Komiker spielte, konnte, während die anderen sich setzten, in Erwartung einer Erklärung oder einer Aufklärung dieses Scherzes, denn dafür hielten es alle, seinen vorlauten Mund nicht halten. „Hat Maria dich aber fein gemacht“, sagte er kichernd. „Hab ma irgendwo gehört, dass für Gott hundert Jahre wie eine Sekunde sind“, wandt er sich an die anderen. „Dann hat er wohl’n Nickerchen gemacht, is ja auch nich mehr der Jüngste, hä-hä.“ Seine Witzigkeit brachte diesmal nur ein recht wirkungsloses Schweigen zustande. Niemand lachte. „Also, dann erzähl ma!“, lenkte er, sich mit einem Plumps niederlassend, ein. „Klaus“,stellte Anton seinen Kollegen vor. „Äh, ja, Klaus.“ „Ich freue mich“, sagte Jesus und sah jedem Einzelnen in die Augen. Der Spaßmacher zog eine Grimasse und kratzte sich am Hinterkopf. „Natürlich“, fuhr Jesus fort, „könnt ihr das nicht ohne weiteres einbegreifen. Es ist nicht nachvollziehbar. Es liegt außerhalb einer erfahrbaren Tunlichkeit.“ „So weit außerhalb wie die Welt derer, denen wir die Autos putzen“, steuerte Esching bei. „Noch etwas weiter.“ Der so Belehrte nickte, wohl in Gedanken an seine automobile Vergangenheit. „Äh, wenn man Amnesie ...“ „Er hat keine Amnesie, hat nur noch nie etwas erlebt, ist quasi ...“ „Äh, wie jetzt?“ „Angenommen, er ist Jesus, gewissermaßen hier hin gebeamt ...“ „Heilige Scheiße, hingebeamt.“ “Er weiß es selber nicht, nur dass er plötzlich ...“ „Es währt ein Außerhalb, das ihr mit der etwas kindlichen Vorstellung von Himmel verbindet,“ wandt sich Jesus an die versammelte Gruppe, deren Einzelteile hie und da mit den Augen rollten. „Hä?“ „Ich habe keine Erinnerung, ich sinne mich nicht, aber wenn ich mit den Dingen in Berührung rücke, dann ist es, als könne ich mich an ihrer statt erinnern.“ „Erinnerst dich kwasi, wie das is, n Auto zu sein, hähä.“ „So ungefähr.“ „Voll crazy.“ Ein pummeliger Mann hob den Finger, als säße er bei seiner alten mütterlichen Lehrerin auf der Schulbank. „Wie bist du denn hierhin gekommen, nach Tobee, also hier ...“ „Hat er nicht gesagt, er is vom Himmel gefallen?“ „Die Kameras, da könnte man theoretisch ma nachschauen.“ „Kameras, das sind so, ja, wie soll man das“, versuchte Anton sich an einer Erklärung, „alles, was hier passiert, jeder, der hier vorbeigeht, alles wird aufgezeichnet, eh, digital, automatisch, man kann sich die Bilder ansehn auf einem Bildschirm, jetzt oder später, immer wieder.“ „Oh“, machte der Heilige, der immer noch nicht ganz im Bilde schien. Just in dem Moment kamen zwei Männer in Hoffmannsblauen Anzügen, wie unschwer zu erkennen war, den Kostümen des H6H-Sicherheitsdienstes SDH, aus dem Hintergrund auf die Gruppe zu. Der eine, größere, trat nahe heran, während der andere in gebührendem Sicherheitsabstand, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, stehen blieb. „Wer ist denn der da?“, wollte er von dem Gruppenältesten, der sicherheitshalber aufstand, wissen. „Wir rätseln noch. Ist auf alle Fälle ein Freund. Alles in Ordnung.“ „Ein Freund?“ „Ja.“ Sie trabten der Umstände halber wieder zurück. „Ham ihn wohl nich aufm Schirm gehabt, hähä.“ „Ich bin Wolfram, Wolfram Walther“, sagte sich wieder hinsetzend der Älteste zu Jesus. „Das freut mich. Wo sind wir?“ „China, 12. Jahrhundert“, scherzte der Possenreißer. „Lass dich nicht verarschen“, meinte der mit der goldenen Brille. „Wir sind hier in 43, Sektor 43, Tobee. Die Schwachköpfe hier nennen es Steria, Gate One, da oben.“ „U-und das Land?“, kam der vom Himmel Gefallene ins Stottern. „Mh, Deutschland, immer noch, beziehungsweise is jetz ein Teil der U.S.E., United States of Europe, Europa. Vor über 2000 Jahren, also zu deiner Zeit, hehe, war das hier ... Was war das hier eigent...“ „Vor über 2000 Jahren?“ „Ja, Alter, da stauntste, hähä.“ „Wusste gar nicht“, äußerte der Dickbrillige, dass man total das Gedächtnis ...“ Anton legte Jesus die Hand auf die Schulter. „So sieht’s aus. Dieser Stadtteil hier, das ist quasi eine Enklave, eine Insel, in Privatbesitz, abgeschirmt und überwacht. Anderswo sieht es vergleichsweise ziemlich erbärmlich aus.“ „Oh.“ „Sowas von in die Zukunft geschossen, Alter, hähä.“ „Woher kommst du denn?“, wollte einer wissen. „Er weiß es nicht.“ „Da hat uns der Herr Gott aber einen geschickt, hähä.“ „Jeder“, meinte der mit verknoteten Armen und verstopfter Nase durch seine dicke Brille hindurch zu einem gedachten Horizont Schauende, „jeder weiß, wo er herkommt.“ „Jeder?“ Ein einhelliges Nicken. „Und du“, fragte Jesus, an Anton Esching gewandt, „wo kommst du her?“

„Ich komme ... von dort drüben, Alt-Cymber, vorher wohnten wir in Rosen, davor in Cymber, davor in eh Braubach, und meine Urgroßeltern kommen aus eh ... Ich bin ...“ „Homo tempis“, ergänzte Jesus. „Jetzt kann er auch schon Latein“, amüsierte sich der mit der dicken Brille. „Das war mein Gedanke“, belehrte ihn Esching. „Kann also auch Gedanken lesen, wird ja immer besser.“ „Die meisten von uns haben Familie, Frau, Kinder, Eltern, ich habe sogar noch einen Großvater, und was für einen! Musst uns mal besuchen!“ „Dein Weltbild, ist das nicht, bist du nicht der A-ansicht, die Erde sei eine Schscheibe?“ „Ich bedarf in allen Dingen der Anklärung - wie ein kleines Kind.“ "Auf, Aufklärung." „Leute!“, rief ein stiernackiger Blonder und schüttelte den darauf sitzenden Schädel. „Ihr seid doch echt burned!“ „Kann doch was dran sein.“ „Was dran sein, ich darf mich nicht aufregen!“ „Dann reg dich doch nicht auf!“ „Du meinst, das is Jesus, Jesus mit ner Totalmeise, sitzt hier, mitten unter uns, und ich soll mich nicht ...“ „Dann reg dich halt auf, aber behalt’s für dich, und keine Beleidigungen, wenn ich bitten darf!“

Die Zeit schien in einer Langsamkeit zu verweilen, in einer ozeanischen Stille zu verschwinden. Die Männer vertieften sich in diesen von der Zeit unbedrängten Moment, stellten jegliche Tätigkeit ein, legten alles beiseite, und eine große Ruhe kam über sie. Sie setzten sich in einem Halbkreis um Jesus herum. Dann und wann hupte ein Stammgast, der ein Sandwich, eine Scheibenwäsche oder was auch immer wollte, fuhr dann verärgert weiter. Eine Passantin wartete vergebens auf ihre Zeitung, ein Herr im Maßanzug trabte mit einem Kopfschütteln und ungeputzten 99Sini-Schuhen von dannen. Die anmutig herumliegenden Zeitbröckchen wurden aufgewirbelt wie Staub. „Wie ist das, in die heutige Zeit geworfen zu werden, das muss doch krass sein“, meinte nach geraumer Weile einer der Autowäscher. „Ich erlebe in der Eigenschaft des Augenblicks“, antwortete Jesus. „Der Augenblick scheidet keine Zeit. Das Jetzt ist niemals ein Erstaunliches, und doch steht man immerzu vor einem Wunder. Nur wenn man sich auf die ...“, er blickte Anton an, „Spositionen der Zeit einlässt und auf einen bestimmten Energiepunkt schaut, mutet dieser einem erstaunlich an.“ „Wie wenig erstaunlich isses denn da oben?“ Der ältere Mann, mit einer Dose Polierspray spielend wie andere mit einem Rosenkranz, zeigte auf die oberen Etagen des H6H-Gebäudes. Die Architekten von KOOK hatten diesen Klotz als sensationell angepriesen, er war aber in Wahrheit - zumindest was Konstruktion und Ausmaße betraf - nur ein kleiner Aufguss des in Dubai errichteten Sham-Buildings. „Da oben zu sitzen und auf die armen Idioten hier unten an der Straßenecke zu glotzen?“

Jesus erhob sich, nicht ohne den gebogenen Rücken zu strecken, stellte sich in die Mitte, die Hände in den Hüften, und sagte: „Wir werden erblicken.“ „Willst du dich unserem Clübchen anschließen?“, fragte der groß gewachsene Mann mit der feinen, goldenen Brille. „Also, ihr seid doch, ihr habt doch“, warf der Nörgler ein, wurde aber durch eine Handbewegung des Ältesten zur Zurückhaltung gemahnt. „Wenn ihr denkt, dass euer Tun mit Mühsal beladen sei, dass euer Leben Plage und Bekümmernis sei - ich sage euch: Das ist nichts gegen das, was da kommen wird.“ „Tch! V-viel tiefer können wir ja wohl nnich mehr ...“, meinte ein recht klein gewachsener Mann, wobei die letzten Worte in einen Hustenanfall übergingen.

Ein offener weißer Panam 12 fuhr vor, parkte direkt linkerhand neben der Gruppe. Der Jüngste ging raschen Schrittes zu dem Wagen, in welchem eine junge Frau saß. Ihr gerades, dünnes, braunes, mittellanges Haar, die braunen Augen und der schmallippige Mund wandten sich mit einem „High!“ an den am Heckende sich mit der linken Hand Aufstützenden. „Ich kann nicht.“ „Dann warte ich“, antwortete sie, den rechten Arm auf den Rücken des Ledersitzes schmiegend. „Es geht heute nicht.“ Ihrem fragenden und zugleich drohenden Blick antwortete er mit einer Is-nu-ma-so-Geste seiner Hände, drehte ab, sich dann noch einmal um und rief: „Geht nich mehr, geht nie nie mehr, nänä-never, tut mir leid, sorry.“ Die Frau tippte sich an die Stirn. „Das war nicht eben gentlemanlike“, sagte der Älteste anschließend zu ihm. „Weiß.“ Der Motor des Wagens heulte auf. „Und für sie ist das bestimmt nicht so ohne weiteres dead and buried.“ „Weiß.“ „Aber dir geht’s gut?“ „Ja, hähä.“ Klaus Jolitz, Mitte Zwanzig, hatte soeben - auf diese seine etwas burleske Art - seiner Geliebten den Laufpass gegeben. Er hatte meistens irgendwelche Liebschaften gehabt, die waren aber in der Regel so kurz wie die Nacht Stunden hat. Diese letzte Eroberung hieß Debbie Mohan, war Amerikanerin, sprach leidlich gut Deutsch mit dem gewissen Kaugummi-Akzent. Eines Tages, als ihr Mann, der irischstämmige Christopher Mohan, Manager bei M-Bloos, drei Loffs weiter, der, wenn er lachte, aussah wie ein Softball mit Pitbullgebiss, sich in Folge einer Beinverletzung, die ihn vom Autofahren abhielt, sich von Debbie hatte kutschieren lassen, hatte er sie gebeten, wie für ihn üblich, an der Kreuzung anzuhalten, um sich, neben dem Kauf einer Zeitung, der godsavethequeen Times, von dem jungen Mann, Klaus, den Wagen im Schnelldurchgang waschen zu lassen, was mehr eine nette Gewohnheitsgeste denn eine Notwendigkeit war. Er hatte mit den hier Arbeitenden ihr gegenüber regelrecht kokettiert: „Look ’t tose guys, dar’n! Das sind Äkadimiker, hatten mal hok dotierte Jobs, very well paid positions, y’know.“ Debbie hatte bloß die Backen aufgepustet. Der unbedarfte Jolitz hatte ihr, als sie, ausgestiegen, ihm im Weg stand, versehentlich an die Brust gefasst, was sie als ordinäre Dreistigkeit, wenn nicht gar sexuelle Belästigung, der man augenblicklich eine Maßregelung - was erlauben sich this bloody dweep, dieser Crétin! - würde folgen lassen müssen, verstanden hatte. Dann, als sie sich sicher gewesen war, dass ihr Mann sie nicht hatte hören können, hatte sie den Unverschämten gefragt: „Kennen Sie Youlback?“ Klaus Jolitz hatte - einfach so - genickt, was sie als eine Art geheimes Einverständnis interpretiert hatte. Auf diesem Joke beruhte also quasi ihre Beziehung, ups! Das war zwei Monate her, und von da an war sie mindestens einmal die Woche gekommen, allein, in ihrem weißen Sportwagen, den sie stets an der Seite parkte. Anfangs hatte Jolitz tatsächlich das Auto gewaschen, man war sich näher gekommen. Nach einiger Zeit hatte man die Abkürzung genommen, war schnurstracks hinüber in den Park am Altenheim gegangen, welcher den sinnigen Namen P1 trug, Pi one, weil man bei den vier in Steria befindlichen Parks mit der Zahl Pi -3,14159265 - was deren Grundfläche anbelangte, gespielt hatte. „ParaSe one?“, hatte die zur Ironie zu neigen scheinende Amerikanerin dann gequestioned. Meistens, weil das schneller ging, hatten sie das fast immerzu menschenleere U-Bahn-WC aufgesucht. Es hätte noch einen näher gelegenen Park gegeben, aber der befand sich quasi im Inneren des linkerhand liegenden Confidence, ein BCQ, in dessen Kubus - identisch mit den fünfzehn anderen in Steria - man eine Ansammlung von ebenfalls kubischen, exklusiven, zumindest dem Anschein nach - alles eine Frage der Optik - kubistisch verzerrten Raumelementen eingebracht hatte, die je zur Hälfte aus einer Art Parkscape bestanden, ehemals dazu gedacht, Lehrende und Lernende, Klienten und Patienten in einem urbanen Naturama ins Loslassen zu entlassen. Die Zugänge waren trotz aktueller Nichtnutzung des Komplexes bewacht und somit unpassierbar. Die Toilette des Underground 75 war zwar nicht die allerbeste Wahl für ein Schäferstündchen, aber im drängenden Jetzt, im frequenzlosen Hier der nächste und also geeignetste Ort gewesen - wenn man es functal zu betrachten gedachte. Debbie Mohan hatte immer enge Shirts mit nichts darunter und Röcke mit gar nichts darunter getragen. Ansonsten war sie - in Klaus’ Augen - eher unamerikanisch - u.s.-amerikanische Schnitten stellte er sich eher silikonbrüstig und ballonlippig vor - sie hingegen hatte gerades, dünnes, braunes, mittellanges Haar, kein Kurzhaarschnitt!, braune Augen und einen schmalen Mund. Mit ihrem mädchenhaft sportlichen Oberkörper hatte er sich nicht lange aufzuhalten gepflegt, während die geschwungene Linienführung ihres Unterleibs und ihr prägnant ausgeprägter Hintern, der mittels eines Zirkels erschaffen schien - so absolut rund war er - ihn sexuell fasziniert hatten und somit zu einer immer neuerlichen Aussetzung seines Hirns nicht unwesentlichen Beitrag geleistet hatten. Seit geraumer Zeit aber hatten selbst Debbies Wunderwaffen keinen Reiz mehr auf Klaus auszuüben vermocht. Vielmehr ärgerte ihn nun dieses Schnell-Schnell, das Aufpassen im Park, die Klo-Atmosphäre und der Hygienegeruch, für den die Männer der Gruppe, denn sie betrachteten es quasi als ihr Klo, eigenhändig zu sorgen hatten. Er hatte schon überlegt, den Job zu schmeißen, um Debbie nicht mehr begegnen zu müssen, so frustriert war er plötzlich gewesen ob dieser schamlosen Routine, der die Liebe völlig abging, und so feige, wenn es darum gegangen war, ihr Auge in Auge mit dieser Wahrheit gegenüber zu treten. Wolfram hatte es dem Youngster schon einige male nahe gelegt, das Techtelmechtel zu beenden. Auf Klaus’ „Was-soll-ich-dennmachen?“ hatte der Ältere geantwortet: „Beenden!“ Und als die Befehlsparole ein weiteres mal ins Leere gelaufen war, hatte Wolfram Walther mit bestmöglicher 70er-Jahre-Lehrermiene gesagt: „Wenn der gehörnte Mister dahinter kommt, sind wir alle dran. Also, sie oder du!“ Klaus Jolitz, der vor Wolfram einen gehörigen Respekt hatte, hatte genickt und die Augen niedergeschlagen. Wolfram war der einzige, der schon einmal alle Freunde gleichzeitig zu sich nachhause eingeladen hatte. Klaus fand, dass die Wohnung, so messimäßig überladen sie auch gewesen sein mochte, einen recht pompösen, respekteinflößenden Eindruck zu machen imstande war, so wie eben Wolfram selber. Nur mit Wolfs damals neuen Schützling hatte Klaus sich nicht anfreunden können, da jener, ein Streetkid und Prolo dazu, so war es Klaus zumindest vorgekommen, sich ins gemachte Nest gesetzt hatte, um sich vom Hausherrn bedienen zu lassen, anstatt derjenige zu sein, der jenem zur Hand ging. Nach dem von Wolfram Walther gestellten Ultimatum hatte der Geforderte sich plötzlich imstande gefunden, seine Lage mit zwei Worten zu analysieren: Sexuelle Hörigkeit. Dennoch war er in den folgenden Tagen nicht imstande gewesen, die Beziehung zu beenden. Dann war dieser Jesus in sein Leben getreten, und nun war Klaus endlich fähig, seiner Liebschaft adieu zu sagen. Er hatte - so sah er es - das Ereignis Jesus gebraucht, so wie andere nur an Sylvester mit dem Rauchen aufhören konnten. Debbies Mann beziehungsweise dessen Wagen, obgleich ersterer mittlerweile wieder genesen war, erschien in den darauf folgenden Wochen nicht mehr auf der Bildfläche, was allerdings nicht weiter auffiel, da die Ereignisse anderweitige Ranken aus dem Unterholz der Zeit trieben und somit die Tätigkeiten der Gruppe in neue Bahnen lenkten. Jemand hatte eine Zeitung, jemand hatte ein Telefon, jemand hatte ein Pad. „Welche Bewandtnis hat es damit?“, fragte der naive Heilige. „Wie kann das eine Entfaltung erwirken? Welcher Begreiflichkeiten bedarf dies?“ Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als Klaus ihm zeigte, was so ein TP alles kann, nämlich alles, „na gut, hähä, nahezu alles“, sogar Dinge in die Luft zaubern, da fiel der Heilige beinahe vom Glauben ab, musste sich hinsetzen, ein paar Schlucke Wasser in sich hinein gießen. „Das ist einfach wunderbar, dieses Pad, TiPi?, ah, wirklich, wer vermöchte größere Wunder zu vollbringen“, rief er entzückt aus. „Das ist kein Wunder“, klärte ihn ein Mann mit einem Schnauzstoppelbart auf. „Einfach nur Fortschritt, Technik, Progress, Entwicklung, Knowhow.“ „Ein Wunder ist es“, warf ein anderer ein, „dass das die Menschheit keinen Schritt weiter bringt. Oh Wunder, die Menschheit geht den Bach runter.“ „Ohne Liebe ist alles nichts.“ „Das hab ich schoma irgendwo ...“ Ein dickbackiger Mann mit feinen Manieren hielt Jesus das Pad vors Gesicht. „Tschuldigung, darf ich, man kann mit dem TP auch Fotos machen, wirst gleich sehen, was ich meine.“ Klick, und Jesus war im Bilde. Dann betrachtete er sein Konterfei. „So erschauet ihr mein Antlitz?“, fragte er. „Na ja.“

„Hähä, werd dir das ma alle in Ruhe erklären, später.“ „Vielen Dank.“

Überall lagen unbenützte Zeitstückchen herum. Jesus trat, während sich Josef de Jong, Klaus Jolitz und Thomas Krause drittselbst über einen am Rand abgestellten Wagen hermachten, heran, lauschte einen Moment lang der aus dem Inneren tönenden Musik, klopfte an die Scheibe der Fahrertüre. Eine junge Frau mit weiß gefärbtem, kurzem Haar betätigte die Automatik, woraufhin das Fenster wie von Geisterhand herunterfuhr. „Oh, guten Tag, junge Dame. Wess' Musik erschallet hier?“

„Hallo! Eh, weiß nicht, irgendwas Poppiges, älteres, vielleicht Beyoncee oder so.“ „Und wie gelanget die Musik in ihr Automobil?“ „Wie bitte?“ Thomas schaltete sich ein. „Tschuldigung, das ist, der Herr, eine Amnesie, wissen Sie.“ „Oh mein Gott.“ „Ja, so was in der Art.“ Und zu Jesus: „Ich erklär dir gleich, oder lass dir von Ded erzählen!“ Der hatte mitgehört. „Hallo, ich bin Ded. Was ein Radio ist?“ „Ja, die Musik.“ „Kommt aus der Anlage beziehungsweise Internet. Also via Satellit empfängt das Auto beziehungsweise die Anlage, also der Receiver ... Die Musik wurde irgendwann aufgenommen, ist dann jederzeit abrufbar, abspielbar ...“ Man sah das Unverständnis im Gesicht des anderen. „Jo, also, Radio, von lateinisch radius gleich der Strahl, als Kurzwort für Radioempfangsgerät oder auch Rundfunkempfangsgerät, bezeichnet einen Apparat zum Empfang von Hörfunksendungen. Diese werden bei herkömmlichen Radios von einem terrestrischen Rundfunksender über elektromagnetische Wellen oder als hochfrequente elektrische Signale über Kabel ausgesendet, jo. Die empfangene Information wird im Wesentlichen in Schall umgewandelt; zu einem kleinen Teil kann das Sendesignal zusätzlich auch Daten und Informationen enthalten, wie die RDS-Daten, die es beispielsweise ermöglichen, den Sendernamen zu übertragen. Neben dem speziellen Radioempfänger kann der Hörfunk auch mit Computern, Streaming Audio, Internetradio und Satellitenempfängern empfangen werden. Wiederhol mal!" "Radio, von lateinisch radius gleich der Strahl, als Kurzwort für Radioempfangsgerät oder auch Rundfunkempfangsgerät, bezeichnet einen Apparat zum Empfang ..." "Stooop!" Deds Finger trommelten irgendwas. Nach einem weiteren unbenützten Stückchen Zeit, da alle sich schon wieder ihren Aufgaben widmeten beziehungsweise der Gewohnheit, welche bekanntermaßen unbemerkt daher schreitet, frönten: „Und Beyoncee, was ist das?“ „Ne Sängerin.“ „Mh.“

„Schlage vor, wie stellen uns mal vor. Mach du doch mal den Anfang Detlef!“, applizierte der Älteste. „Jo, O.K., mach ich mal den Anfang, also ich bin Detlef.“ „Ded“, fuhr der Jüngste, sich die Hände reibend, als habe er soeben Großes hinter sich gebracht, dazwischen. Der Älteste knipste ihm mit einem Auge zu. „O.K., Ded nennen mich alle. Eigentlich Detlef, Detlef Greiner. Jo, ich bin, gehe auf die Vierzig zu, war Musiker, das heißt, bin, bin Musiker, meine, ich hatte ma Erfolg, jo.“ Zwischenruf des Jüngsten: „Ding didi didi dijä.“ „Jo, sollte wohl den Anfang von Hey Joe darstellen.“ „Hähä.“ „Hab mal mit The Dog U Ment ...“ „Von ihm is das Dein Leben, war sogar ma in’ Charts.“ „Sagt dir jetzt alles nix, hab auf jeden Fall mit ziemlich bekannten, erfolgreichen Leuten aus’m Business gearbeitet. Ham uns dann zerstritten. Hatte auch auf Deutsch gesagt die Schnauze voll. War wieder bei Null. O.K. Hab ne Frau, Lisa, und zwei gesunde Kinder, Sarah und Jim, jo.“ „Ergänze mal“, beeilte sich der Älteste. „Hab ich mich schon? Wolfram, ja. Vielleicht, ja, ich sollte vielleicht, weil -wenn ihr nichts dagegen habt“, wandt er sich an die Kollegen -weil, nicht jeder kriegt den Mund auf oder will mit seiner Story hausieren gehen. Also: Dieser schlaksige Mann mit dem graudunklen Haar, dem schleppenden Gang nach könnte man ihn für einen Schiffer halten, dem an Land immer leicht unwohl zumute ist.“ „Geh doch ma n’paa Schritte, Däd, hähähä.“ „Aus seinem ehemals reichhaltigen Fundus musikalischen Equipments hat er seine akustische Gitarre gerettet, die er, wie ich weiß, mit Siebzehn von seinen Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, und von der er sich für nichts in der Welt je trennen würde. Stimmt’s Ded?“ Der nickte zögerlich. „Dein Leben, das ist sein Lied, sein Song, den hat er mit Anfang Zwanzig geschrieben, Jahre später hat das Liedchen die Charts gestürmt, es immerhin auf Platz 9 der GTC geschafft, is rauf und runter gespielt worden, hat dir viel Geld eingebracht, mh?“ Das Nicken unterschied sich nur unwesentlich von dem vorigen. „Hat seine stahlsaitenbespannte Di-Giorgio immer dabei, spielt und singt mit seiner Keith-Richard-Stimme den Leuten was vor oder unterhält uns abends, wenn wir noch beisammen sitzen, aus seinem schier unerschöpflichen Vorrat an Songs. Das einzige, was er partout nicht spielen will, auch wenn wir ihn des öfteren darum bitten, ist sein Hit. Stimmt’s Ded?“ Ein Schulterzucken bestätigte diese präzise Frage, während einige Kollegen nochmals das Mh-mh-mh–mh-mh summten.

Nach kurzer Pause, die Jesus mit einem breiten Nicken glatt strich, stellte der nächste, ein großes Pummelchen mit pechschwarzem Haaransatz, sich vor. „Josef De Jong, haben, solang ich denken kann, Kaiser-Friedrich gewohnt, ziemlich protzig, Eltern, Großeltern, mein Bruder, und ich, eh, und die Bediensteten ...“ „Ääh!“ „Mein Vater schwirrte in der ganzen Welt rum, war in allen möglichen Aufsichtsräten, selten zuhause, hatten ne Putzfrau, ne Köchin, Chauffeur, Gärtner. Vater ist tot, und meine Mutter, ja, sagen wir, weint den alten Zeiten nach. Meine Frau, die Großeltern, wir wohnen alle unter diesem altehrwürdigen Dach ...“ „Ich erinner mich an deine Geburtstagsfete, glaub du wurdest Sechszehn, da sind wir ... oij, wollte nicht unterbrechen“, unterbrach Anton Esching, der leicht errötete und sich die Hand vor den Mund hielt. „Na ja, mehr hab ich auch nicht zu sagen“, beendete der Erzähler seinen knappen Vortrag. „Erinnerungen an eine Zeit, da unser Kleiner in einer schwarzen Luxuslimousine vom Chauffeur zum Sportplatz gebracht und wieder abgeholt worden war“, fügte Wolfram bei. „Ja, muss ich auch grad dran denken. Louis, so hieß unser Chauffeur, Belgier, ein Bediensteter alter Schule, war nie ohne seine Uniform in der Öffentlichkeit zu sehen, hellgrauer Anzug und Chaffeurskappe, wohlgemerkt Kappe, keine Mütze, eher so ein Barett, vorn unser Wappen, fliegender Adler mit Beute in den Klauen. Sein Leben wurde meines Wissens nach nie von Weib oder auch nur Werfandten, Ver-wandten flankiert, hat mich immer gewundert. Nach dem Ende der Ära De Jong wurde er auf Betreiben meines Vaters hin in einen belgischen Haushalt, um drei Ecken mit dem Königshaus verwandt, vermittelt. Wir haben alle geweint, als er ging. Bis auf meinen Vater natürlich.“ „Ja“, sagte Wolfram, „das lässt sich nicht so eben mal erzählen, dieses Wappen-Leben, in das man da hineingeboren wird, Hochfinanz und Hochadel, und dann hat, wie hieß dein Vater?“ „René.“ „Hat Monsieur René de Jong den Karren in den Dreck ..., und man war plötzlich selbst die Beute in den ...“ „Ja, mein Gott!“ „Tschuldigung, wollte nur andeuten, dass an dieser Stelle vielleicht nicht der richtige ...“

Der nächste im Kreis war an der Reihe, räusperte sich, wie immer, bevor er zu reden anhub. „Ngh, Thomas, Tom, ehm.“ „Krause“, ergänzte der Jüngste. „Wär ich schon selbst drauf gekommen. Ja, also wir waren, meine Eltern kommen aus der Modebranche, waren ziemlich erfolgreich, so bin ich also sehr behütet aufgewachsen und zum Weichei geworden. Nein, Quatsch, ich hab’s zu was gebracht. Aber mit meiner eigenen Linie dann bin ich auf die Nase gefallen. Bin nicht geboren für diese Einheitskleidung, die man heutzutage trägt. Und TK-Mode sollte dann Mode von der Stange sein, da brauchte man keine genialen Ideen, bloß eine Brise Zeitgeist. Nun ja, der fehlte mir wohl. Und wie das so ist, wenn’s nicht mehr läuft - da können auch andere hier ein Lied von singen - wenden sich alle von einem ab. Putze Autos, nhg, auf jeden Fall, kann mich nich’ wirklich beklagen.“ „Das war die Kurzfassung eines bis dato sehr ereignisreichen Lebens“, warf Wolfram Walther ein. „Vom Aufstieg des kleinen Schneiders Karl Krause zum Star der Haute Couture. Von der ersten Frau des aufstrebenden Handwerkers, Marlene K., geborene Salzig, deren einziger Sohn Thomas war, stimmt doch -oder?, über die zweite Frau, Cecilia Wecker, Tochter von Wecker-Moden, von der er sich nach zwei Jahren hatte scheiden lassen, über die dritte Frau, Bernadette La Louche ...“ „Is ja doller als bei der Taylor, hähä.“ „Woher kennst du denn ...?“ „La Louche ...“ „Voll pei ...“ „ ... die er im Alter von fünfunddreißig Jahren geheiratet hatte, da sie, in seinen Augen, das Schönste und Grazilste war, das je über die Laufstege von Paris und Mailand gelaufen war. Als Mutterersatz war sie eine Niete gewesen, aber als Frau war sie ihm, Thomas - sie betonte den Namen auf der letzten Silbe ...“ Derjenige nickte. „War sie ihm gefährlich nahe gekommen - worüber zu schweigen wäre. Bloß seinen Gang mochte sie auf den Tod nicht leiden.“ „Ça je ne comprends pas, c'est incroyable!“, imitierte der Betroffene die Französin. „Als ihre Schönheit schließlich verblasst war, war sie in Depressionen gefallen, hatte dem Alkohol und Medikamenten zugesprochen und den nostalgischen Chansons des Monsieur Moustaki. Thomas hat sich dann selber ans Steuer des Modemobils gesetzt ... „ „Und den Karren an die Wand gefahren“, ergänzte der. „Ist eben kein Geschäftsmann sondern Künstler. Ein schier buddenbrockches Leben liegt hinter dem Guten.“

Der Bullige mit der dicken Brille schüttelte den Kopf. „Quatsch.“ sagte er. „Alles Quatsch.“ Und nach einer Pause, als sei das schon eine Erklärung gewesen, fuhr er fort: „Da kann doch jeder kommen.“ Als er sich erheben wollte, hielt sein Nachbar ihn am Arm fest und sagte: „Sei kein Spielverderber! Is doch eh nichts los. Ob wir nun da rumstehen oder hier sitzen. Komm!“ „Na meinetwegen“, willigte jener schließlich widerwillig mit Blick auf das neue, schier unauslöschliche Lächeln in der Runde ein. „Ludwig Maaßen, alle nennen mich Lu. Reicht das?“ sagte er in seiner knatschigen Art. „Er meint’s nich so“, versuchte neben ihm der Schmaläugige zu beschwichtigen. „Ich glaub so’n Quatsch einfach nich.“ Unter der dicken schwarz umränderten Brille fand ein Augenpaar, die einzige Möglichkeit, diesem Tag zu begegnen, sei es, einen grimmigen Blick aufzusetzen, unterstützt von einem schmal gezogenen Mund, der den Ernst der Lage durch die Demarkationslinie eines angedeuteten Schnurrbärtchens unterstrich. „Er ist ein ehemaliger Soldat, und als solcher weiß er nur zu gut, dass Krieg kein Wort ist, dessen Inerscheinungtreten sich auf irgendwelche Spielchen auf dem Kasernengelände, noch auf Schauplätze außerhalb des Empfangsbereiches altmodischer Hausantennen beschränkt, sondern ein hier und jetzt und überall stattfindendes Ereignis.“ „Das tägliche Brot, das der Herr, jener unsichtbare Kerkermeister, der Welt hinhält.“ „Deine Meinung. Dieses Zackige, was aus ihm herausblitzt“, sagte Wolfram an Jesus gewandt, „weicht einer regelrechten Schlumpigkeit, geradezu einer liebenswürdigen Vernachlässigung, wenn er für sich ist oder glaubt, es zu sein.“ „Bullshit!“ „Es hat ja was Sympathisches, wirklich. Ich weiß, dass deine Eltern, weil sie mit deiner Haltung und deinem Benehmen nicht einverstan ...“ „Nicht einverstanden, dass ich nich lache!“ „Nun ja, auf jeden Fall haben sie dich gedrängt ...“ „Und meinen Bruder gleich dazu.“ „Genau, euch gedrängt, die Militärlaufbahn einzuschlagen. Dort hat man euch jede Unordentlichkeit ausgetrieben. Und genau deswegen ist sie“, wandt sich Wolfram nun wieder an Jesus, „zu seinem Refugium geworden.“ „Wenn schon.“ „Ich erzähl ja nur’n bisschen, was ihr so für Kerle seid. Das wird Jesus schon nicht missverstehen.“ „Tolle Geschichte.“ „Sagte ja schon, das ist ein sympathischer Zug an dir.“ Ludwig winkte ab.

Jesus schien ein wenig das Gesicht zu verziehen, daher beugte Anton sich zu ihm herüber und fragte im Flüsterton, ob alles in Ordnung sei. Der wandt den Kopf, nickte. „Zahn“, sagte er, schon wieder ganz Lächeln. „Hast du denn mehr Background zu bieten?“ forderte der gereizte Ludwig den nun wieder gelassen dasitzenden Jesus heraus. „Weißt nich, wo du herkommst. Haste ne Mutter? Biste irgendwo geboren? Haste nen Nachnamen?“ Er schüttelte den Kopf, blickte in die Runde derer, die anscheinend keine Antworten erwarteten. „Ihr lasst euch verarschen, aber bitte, macht weiter! Reiher, erzähl du mal, was du für’n toller Kerl bist!“ „Mh“, sagte der errötend. „Ich, ich bin Atheist, genau wie du, Ludwig. Aber mich interessiert alles Neue. Und wenn jemand daherkommt und behauptet, er sei der Jesus, na, is doch interessant, hör ich mir erst mal an. Und der Mann hat ja echt Fähigkeiten, ich meine ... Also ich bin, um mich mal vorzustellen, Reiher, Karl-Heinz, verheiratet, 2 Töchter. Auch ich komme, wie die meisten hier, aus - wie man früher sagte - Gutem Hause, gibt’s ja nich mehr, Gutes Haus, entweder gutes Haus oder gar kein Haus, denn ...“ „Quatsch keine Opern!“ nörgelte ein Freund dazwischen. „Ja, ja, tut mir leid, dass ausgerechnet du nicht aus Gutem Hause kommst, lieber Werner. Aber O.K., also ich, ich war mal Bauunternehmer, bin dann, von einem auf’n andern Tag, auf der Straße gestanden, wegen ... egal. Die Kinder sind aus’m Haus. Jetzt bin ich hier.“ „Hab vergessen“, sagte Wolfram, „dass unser liebenswürdiger Nörgler“, er deute auf Ludwig, der demonstrativ ins Nirgendwo starrte, „auch fürs Haareschneiden zuständig ist.“ Damit erntete er bei den Zuhörern, mit Ausnahme eines einzigen, einen kleinen Lacher. „Deine Zustimmung vorausgesetzt“, fuhr er, nun wieder an den zuletzt sich vorstellenden gewandt, fort, „darf ich mal ergänzen." Also, Karl-Heinz, wir nennen ihn alle Reiher, hat so mit Mitte Dreißig auf dem Zenit seines bauunternehmerischen Schaffens gestanden. Korrigiere mich, wenn ich falsch liege! Sein kleines Imperium, und darüber war er gestolpert, war allerdings nicht zuletzt auf dem Sockel von Korruption errichtet worden, gepaart mit dem großflächigen Einsatz illegaler Billigarbeiter und einem Netz von Spekulationen, die ihm, im Zuge seines damaligen Größenwahns, den Hals gebrochen haben.“ „Ja, kann man so sagen.“ „Seine beiden Töchter sind, ob des Verbrechers, der sich ihr Vater schimpfte, nicht mehr bereit gewesen, noch ein weiteres Wörtchen mit ihm zu reden, geschweige denn ihn zu sehen, geschweige denn mit ihm unter einem Dach zu leben, haben - die eine als Lehrerin, die andre als als Ehefrau - in anderen Städten ihr Glück gefunden, haben ihre Mutter nur, wenn das Scheusal außer Haus war, besucht. Der Schuft ist nun ein frühzeitig gealterter, jedoch geläuterter Mensch, der, dank seiner Gelassenheit, einen beinahe weisen Eindruck macht.“ „Danke für die Blumen.“ „Maybe Nelken, hähä.“

„Unser Jüngster ist ist als Kind mal vom Schalk gebissen worden, seitdem ...“ „Tja“, sagte der knapp, „Klaus Jolitz, hähä. Mein Vater war selbständiger Fernsehtechniker und Computerspezi. PC, TV, Jolitz ist schlau, lautete seine fabelhafte Annonce im Käseblättchen. Hat dann unser Haus hähä verspielt, irgendwann hat er die Fliege gemacht, meine Mutter, also wir mussten aus’m Haus raus, seitdem schlagen wir uns irgendwie durch. Tom und ich sind’n gutes Team. Wir sind alle’n gutes Team. Von wegen Gutes Haus! Gutes Team, Alter! Good Team!“ Er räkelte sich, stützte sich mit den Händen ab, Körper nach hinten, Körper nach vorn, stellte ein Bein hoch, dann das andere, Gewicht auf die linke, dann die rechte Pobacke, zog die Beine an, streckte sie aus. „Er ist ein begnadeter Handwerker, Elektroniker. Computer - Hard- und Software - sind seine Leidenschaft. Kann er dir mal alles erklären, ja Klaus?“ „Äh, klar, klar Män.“

„Gut, ich bin der nächste in der Reihe. Wolfram.“ „Das’ sein Markenname, Wolfram, es hieß immer nur Wolfram, man hat geglaubt, das sei sein Nachname, dabei heißt er Walther, WW.“ „Ja, das stimmt. Mein Vorname wurde zu ... Egal. Auf jeden Fall, meine Mutter war katholisch, das hat mir, was Religion angeht, gereicht. Soll heißen, meine Kindheit hab ich in der Kirche verbracht, obwohl das damals eigentlich schon aus der Mode war. Es war die kleine Kirche am Low, wo ich, obwohl meine Eltern kategorische Nichtkirchengänger waren, vom Knirpsen- bis zum Jugendalter hingeschickt worden bin, was ich stets als Strafe empfunden habe, bis ich alt genug war, es als ein Vergnügen anzusehen, die Hinterteile der vor mir versammelten Frauen einer ausgiebigen Betrachtung zu unterziehen. Besonders eine hatte es mir angetan, bis zu dem Tag, da sie einem Mann mit blonder Akuratfrisur schöne Blicke zugeworfen hat. Das hat meine Kirchenkarriere abrupt beendet. Für mich war das vielleicht der entscheidende Hinweis des Schicksals, mich von da an der männlichen Spezies zuzuwenden. Gut. Ich hab nicht vor, meine Zeit mit irgendwelchen mysteriösen religiösen Fragen zu verplempern. Wenn man bedenkt, dass wir alle mal ganz gut im Leben standen - und wo wir jetzt gelandet sind!“ „Er war mal so was wie der Ranitzky der Kunst: Wolfram: Paris - New York - Tobee“, warf Detlev Greiner ein, „is lange her.“ „Ich meine, wenn Sie, guter Mann, ein Wunder auf Lager haben - hab nämlich nich mehr so wahnsinnig viel Zeit, hätte also nichts dagegen“, beendete der krummnasige ältere Herr, sich an die Stirn greifend, wo ehemals eine schwarze Locke ihren schrägen Platz gehabt haben mochte, seine Rede. „Erzähl ma das mit der Limo, hähä, wo du angequatscht wurdest!“, forderte Klaus als Zugabe, winkte dabei dem, der an der Reihe gewesen wäre, von sich zu berichten, zu, er möge sich noch einen Moment lang gedulden. „Also, also, ja, ich ging die Straße lang, die Henrik rauf, da hält ein Wagen neben mir, eine Limousine, sehr altes amerikanisches Modell mit dunklen Scheiben, der Chauffeur streckt den Kopf mit Käppi aus dem Fenster, macht auf französisch: »Monsieur, Monsieur, am H6H, die könnten da so was wie Streetservice gebrauchen, kommt keiner auf die Idee, sich da zu stellen.« Ich sage: Meinen Sie mich, Sie meinen ich soll? Aber das ist doch privat, sage ich. »Oui, oui«, gibt Gas und weg is er.“ „Und die, äh, ham dich dann einfach so.“ „Na ja, hab mich da tatsächlich hingestellt, Anzug, Krawatte, Kühltasche mit Getränken. Kommt gleich die Security von H6H, was ich da mache. Wollen meinen Ausweis sehen, hauen damit ab. Nach zehn Minuten kommt der Second Chief, ein Herr Best. »O.K., Mister, good idea, but no one-man-show.“ Sie meinen, sage ich, ich soll. „Suken Sie sich ein paar Leute. You accept the rules, everything will be fine.« Dann zeigt er mit dem Finger auf mich wie ein amerikanischer Präsident bei seiner Antrittsrede und dreht ab. Danke, hab ich ihm hinterhergerufen. Ihr wisst ja, als der dann wieder auftauchte und uns die Zehn Gebote von H6H vorlas. Yes, Sir!“

„Puh!“, machte der nächste. „Tschuldigung, du bist dran.“ „Ich weiß nich.“ Da alle Augen auf ihn gerichtet waren und blieben, fühlte sich der wortkarge, groß gewachsene Mann in den Vierzigern genötigt, seine Rede um einige Wörtchen zu erweitern. „Weiß nich“, wiederholte er. „Jeder holt hier seinen alten Kram raus, war’n ma gut betucht, man! Na und! Was soll’n das! Mag ja’n netter Kerl sein, unser Neuer, meinetwegen Jesus, nichts gegen Sie, Mister, is ja egal, aber meint ihr, dass wir morgen alle reich sind, dass wir nich mehr hier stehn, Zeitungen, Sandwiches anpreisen, Scheiben putzen, Cleaning, n Liedchen singen oder was?! Soll er doch ma erzähl’n!“ „Ich entschuldige mich für die Schroffheit meines Freundes. Darf ich vorstellen: Peter Kroschinsky, dereinst angehender, Hoffnungsvoller Pianist, Sohn eines reichen Kohlen- und Mineralöl-Händlers, der nach dem Bankencrash mittellos dastand.“ Der blickte mit Augen voller Selbstmitleid auf seine Hände. „Er ist im Karwendelgebirge beim Bergsteigen -eine Leidenschaft, die er mit seiner ersten Frau, Annemarie -so hieß sie doch? - Annemarie Bach, einer Fotografin, teilte - beim Aufstieg in eine Wand, die eigentlich für einen erfahren Alpinisten wie ihn keine große Herausforderung darstellen hätte sollen, abgerutscht, nur wenige Meter tief gefallen, hat seiner in der Wand hängenden Frau zugerufen, dass alles halb so wild sei ...“ „Halb so schlimm“, verbesserte der Mitleidige. „Auch gut, und im selben Moment hat ein wegbröckelnder Felsbrocken von der Größe eines Fußballs ihm die rechte Hand zerschmettert, war nu fürs Klavierspiel nicht mehr zu gebrauchen.“ „Seitdem macht er den Spielverderber“, warf der nächste in der Reihe ein. Der Querkopf verdrehte sein längliches Gesicht und überließ nur zu gerne dem Freund das Wort.

„Reinhard Kraft“, hob dieser erneut an. „Ich bin der, der anderen Leuten die Scheiben poliert, natürlich habe auch ich mal was anderes gemacht, wir hatten alle mal unser Einkommen, unser Häuschen, unsere Familie, letztere haben einige - wenn auch nicht alle - behalten, alles andere ist Schnee von gestern. Wir sind hier und haben uns in dieser kargen Existenz eingerichtet, nicht das Übelste, wenn man sich so umschaut.“ „The worst is yet to come, hähä“, scherzte Klaus Jolitz. „Er hat, pscht!“ Die kleine Welle aufkommender Unruhe versteckte sich wieder hinter Wolframs Expertise. „Hat Mathematik, Statistik und Informatik studiert, sich anschließend auf Brückenbau spezialisiert, hatte wesentlichen Anteil an der Konstruktion und Planungsleitung unter anderem der Pont d’Avantage, der Hermes-Bridge, der Mars-Stable, der Rowling und der St.James.“ „Aber das sagt ihm“, womit er Jesus meinte, warf Anton ein, „doch alles gar nichts.“ „Ich erzähle es, so wie ich es weiß, tschuldigung. Also es geht um Brücken.“ „Bitte, bitte.“ „Irgendwo in Ohio U.S.A., beim Bau einer Pilonbrücke der mittleren Kategorie, musste es einen dermaßen groben Rechenfehler gegeben haben, vielleicht auch Sabotage, weiß man nich, dass es bereits sieben Tage nach Fertigstellung zur Katastrophe, bei der es etliche Tote und Verletzte gegeben hatte, gekommen war. Er war seinen Job los, seine Reputation, gestand vor Gericht idiotischer Weise seine Schuld ein, wurde bestraft und bestrafte sich selbst unablässig mit Vorwürfen, und seine Frau bestrafte ihn mit der Liebe zu einem andern und indem sie mitsamt den Kindern verschwand und ihn in seinem Selbstmitleid und seinen Selbstvorwürfen sitzen ließ.“ „Sind so was wie der Club der selbstmitleidigen Dichter, hähähä.“ Der Betroffene gab sich betroffen. Auch das im Datendsatz festgehalten - als Möglichkeit.

„Tch-tch“, begann der kleine Süßigkeitenverkäufer sein Vorstellungsgespräch. „I-ich verkaufe, Schütz, Martin Schütz, verkaufe Süßigkeiten, oder bin ich P-politiker? Auf jeden Fall bin ich ein armes Schwein, neige zum J-jammern, gebe ich zu, dusele mich aber wenigstens nicht ein in ein I-is-ja-gar-nich-so-übel-hier.“ Er erhob sich. „M-mein Vater war Bauunternehmer, meine Schwester trat in seine Spuren, von ihr und i-ihrem Mann stammen übrigens die Entwürfe, damit verbunden die D-durchführung des großen neuen Sitzungssaals ...“ „Okidoki!“ rief Greiner dazwischen. „Fassen Sie sich kürzer, Herr Abgeordneter, jo!“ „Soweit sind wir schon, dass Musiker den Politikern den Takt vorgeben“, entgegnete Martin mit besänftigend abwehrender Hand. „Kann mich noch erinnern“, warf Anton ein, „wie der kleine Ded samstags immer zu uns kam, um angeblich ein wenig auf dem Klavier zu klimpern, in Wahrheit wollte er meiner Schwester untern’n Rock ..., stimmt’s Dadlein?“ „Bitte!“, bat Jesus. „Tschuldigung, is sonst nich meine ...“ „Tch, also, o.k., es ist wie es ist, ich stehe den Dingen realistisch gegenüber, den Traum von einer wie auch immer gearteten Karriere habe ich begraben. Aber aus seiner Haut kann man nicht heraus.“ Mit einer Handbewegung, die sich nicht zwischen Danksagung und Abwertung entscheiden konnte, schloss der Redner seine Rede, eine der kürzesten, die er je gehalten hatte, setzte sich abrupt. Thomas Krause kicherte. „Tut mir leid, aber ... Vielleicht“, wandt er sich an Wolfram, „darf ich mal, war ja immerhin, also das war ihm, diese Angewohnheit war ihm schon in der Schule, hat sich später im Plenarsaal fortgesetzt: Aufstehen und das Wort ergreifen.“ „N, na ja“, machte der. „Also, egal, auf jeden Fall war er ein gewieftes Kerlchen, machte Karriere in der Politik, war kurz davor, die internationale Bühne zu betreten, hatte aber“, wider kicherte er, hatte aber nicht begriffen, dass man nicht Parteivorsitzender wird, indem man die Parteivorsitzende ohrfeigt. Das war ihm so herausgerutscht. Die Dame hatte ihm ins Gesicht gesagt, dass sie die Angriffe der Israelis gegen deren aggressiven Feinde nur gutheißen könne, war doch so, sie seien sogar die einzig mögliche Abwehr. Und er meinte noch so etwas wie kleiner Idiot gehört zu haben, seine Hand hatte aber schon mit der linken Gesichtshälfte der Dame Bekanntschaft gemacht.“ „Stimmt das?“, fragte Klaus. „Sch stimmt.“ „Hähä, cool.“

„Also ich hab nich sonne dolle Geschichte auf Lager. Nich alle hier stammn aus wohlhabendem Elternhaus, und so weit entfernt is dat, wat ich jetz mache, nich von dem, was mein Vater damals jemacht hat, er hat nämlich ...“ - mit ausladender Geste zeigte der trotz der mageren Mahlzeiten wohlbeleibte Freund hinter sich in Richtung Norden beziehungsweise Rosen. „Da is Norden“, verbesserte, es mit ausgestrecktem Arm zeigend, der Mathematiker die geographische Unkenntnis des Freundes. „Is doch wurscht, da hinten im ehemaligen Stahlwerk hat mein Vater gearbeitet, n Knochenjob, dem ich den hier allema vorziehe.“ „Das ist Werner“, flocht Wolfram ein. „Tschul, ja, Werner, Werner Hunecke. Wir ham hier vorn paar Häuser weiter zur Miete gewohnt, und samstags hab ich das Badewasser mit meiner Schwester und meim Bruder teiln müssn, und wenn ich neue Fußballschuhe brauchte, musste ich lange dafür sparn oder sie mir zu Weihnachten wünschn, und dat war dann alles an Geschenkn, wat et gab, Fleisch gabs sonntags und freitags Fisch, wir ham nich gehungert, aber wir musstn jeden Sent umdrehn, mein Vater hatte irgndwann n Rücken kaputt, und meine Mutter, die nebenbei noch bei andern Leutn putzn ging, litt immer unter Migräne, Küche und Wohnzimmer warn meistens verdunkelt, und wenn wir ma ins Kino durftn, war dat dat Highlight des Jahres, so sahs aus, mir gehts also jetz gar nich so schlecht.“ „Er hat nicht die so genannte Höhere Schule besucht, ist trotzdem ein ganz toller Mensch.“ „Danke.“ „Musste als Jugendlicher schon im Stahlwerk arbeiten, musste mit zwanzig seine Freundin von nebenan ...“ „Martina.“ „Eh, ja, Martina heiraten, weil sie von ihm schwanger war, mit fünfundzwanzig den Job verloren, dann in der Brauerei gleich um die Ecke angefangen, dann sich, nachdem er Carola kennen und lieben gelernt hatte, scheiden lassen, dann hat die Brauerei pleite gemacht und er hat sich als Handwerker verdingt. Seine Eltern sind auf dem Höhepunkt seines Niedergangs fast gleichzeitig verstorben. Mit einem Haufen Schulden im Nacken hat er schließlich, als er sich eines Tages aus sentimentalen Gründen durch die Gefilde seiner alten Heimat schlich, mich, Martin und Anton, wir standen damals zu dritt hier, nachdem er uns ein Weile beobachtet hatte, angesprochen und auf seine Frage, ob er mitmachen könne, sofort unser O.K. erhalten. Am nächsten Tag ist er hier mit ein paar Tüchern, Putzlappen und Polierpaste aufgetaucht.“ „Und um Ende des Tages haste mir auf die Schulter geklopft.“ „Genau.“

Anton Esching kratzte sich am Kinn, denn nun war die Reihe an ihm. „Wir, ich meine Jesus und ich, wir haben uns ja schon mehr oder weniger bekannt gemacht. Auch meine Familie hat nur zur Miete gewohnt und wir waren auch bloß einfache Leute, mein Vater war Angestellter, IT-Specialist bei einem damals erstklassigen Hotel, dem Chapel, trabte jeden Morgen zu seinem Büro und abends wieder zurück, und wenn ihn meine Mutter, die für die Kirche tätig war, beim Abendbrot fragte, was es Neues gebe, pflegte er zu sagen: »Viel Steine gab’s und wenig Brot«, muss ein Bibelzitat sein, schätze ich. Wir ham ja jetzt’n Fachmann hier. Ich habe noch eine Schwester, die ist zu gut für diese Welt, und einen Bruder, der ist zu kriminell für selbige, außerdem lebt meine Mutter noch bei uns, die leider phasenweise weggetreten ist, was weniger an ihrem Verstand liegt, als an der Tatsache, dass sie den Verlust meines Vaters nicht verschmerzen kann. Nicht zu vergessen mein wunderbarer Großvater und unsere Pflegekinder Marleen und Linus, um die sich meine Mutter und hauptsächlich Luisa, so heißt meine Schwester, kümmern. Die meisten hier kennen sich von früher, aus der Nachbarschaft, von der Schule, von irgendwelchen gemeinsamen Interessen und Erlebnissen. Für jeden einzelnen hier würde ich die Hand ins Feuer legen, aber ich bin sicher, dass mir jeder einzelne ohne zu zögern auf die Finger hauen würde. Tja.“ „Das lass ich mal so stehn. Ja“, sagte Wolfram langgezogen, so weit so gut. Das war ein kleiner Einblick, Überblick, wie auch immer, dass du weißt, wen du vor dir hast.“

„Mh!“, machte Jesus. „Das wiedergibt mal einen Anbeginn.“ Er erhob sich, ging zu jedem einzelnen hin, reichte seine Hand, die der jeweils andere, wofür auch immer der den Fremden halten mochte, ganz unzeitgemäß in die seine nahm. „Ich bin mitnichten Kenner der Bibel. Für mich ist alles Novität, wirklich alles. So ich mit den Dingen in Berührung komme ...“ Und sie berührten sich. „Und mit den Menschen. Also, wer des Vermögens willig, berichte bei Okkasion Angrenzendes.“ Heiterkeit ob der ulkigen Ausdrucksweise und ein bestätigendes Nicken ob der darin enthaltenden Bitte. „Alles obliegt dem Gedeih des kindlichen Gemüts, daraus sich die Jugend dröhnend erhebet, woraufhin der Mensch seinen Weg gehet, mit Freude und Begeisterung - oder Melancholie. Für was vermögt ihr zu brennen? Was nötigt euch Ehrfurcht ab? Seit ihr beladen mit Zweifel, mit Sorge und Angst? Wer seid ihr? Lasset mich wissen!" Fürs Erste ließ man es bei der Kurzversion bewenden. Die Freunde, selbst die Skeptiker unter ihnen, fühlten, dass irgendetwas Erstaunliches, Besonderes, womöglich Wunderbares seinen Anfang nahm. Jesus lächelte, dann schloss er die Augen. Alle taten es ihm gleich. Anton Esching biss sich auf die Unterlippe. „Ich bin mitten unter euch.“ Und alle Geräusche verebbten. „Was ich bin, seid auch ihr. Was ich vermag, vermöget auch ihr. Alles ist in allem, das Eine wirkt in allem und alles in dem Einen. Das ist die Offenbarung.“ Ludwig Maaßen ballte - anstatt seiner Faust, denn schließlich wollte er ja niemandem zu nahe treten - die Lippen, wozu er die Backen aufblies, seinen Mund in Stellung brachte und ein Schwadron an unflätigen Wörtern bereit war, auf die todbringende Reise zu schicken, so es denn notwendig sein sollte. „Ihr möchtet nun“, vernahmen sie Jesus’ Stimme und öffneten die Augen, „Fragen an mich hinstellen.“ „Wenn du schon so aus dem Nichts in die Welt katapultiert bist“, preschte Klaus Jolitz vor, „wieso bist du dann so alt, ich mein’, du warst doch, ich mein’, hähä, du bist doch bloß 33 oder so geworden?“ „Vielleicht damit ich nicht mit den Leuten aus dem mittleren M...“ „Management?“ „Management entwechselt werde.“ „Verwächselt, hähä, so wie du aussiehst?“ „Wir haben ja noch nicht einmal losgefangen.“ „Aangefangen, womit?“ Martin Schütz hob artig die Hand, dann sich selbst, um zu verkünden: „D-das hat alles nicht Hand noch Fuß. Sie sind, sagen wir mal, beeindruckend, Mister, a-aber dass Sie Jesus sein sollen, das ist geradezu absurd. Und was sollten Sie auch hier? U-und wieso sollten Sie sich uns, ausgerechnet uns aussuchen, um, um was auch immer ...“ Er neigte den Kopf zur Seite, Ludwig ausströmende Luft leistete beifallartigen Beistand. „Haben Sie einen Plan, ich meine, was soll nun konkret, haben Sie ...?“

Jesus war aufgestanden und ging nun raschen Schrittes zur Kreuzung, wo der Verkehr stark zugenommen hatte. Er stellte sich wie selbstverständlich in das Oval des Verkehrs, und mit erhobenen Armen, während die anderen Augen und Ohren spitzten, verkündete er: „In Liebe sein. Miteinander.“ Er blickte den Menschen in die Augen. „Ich erschaue Sie zum ersten Mal“, sprach er mit lauter, dennoch sanfter Stimme, die bis zu der Gruppe herüber klang. „Ich schaue mich zum ersten Mal in Ihnen. Ich gehe auf Sie zu. Sie erkennen sich in mir - so wie ich mich in Ihnen erkenne.“ Manche schüttelten den Kopf, anderen blieb der Mund vor Staunen offen. „Gott erkennt sich in uns. Die Religionen und Kirchen haben uns zu weit geführt von Gott. Sie haben das Göttliche außerhalb unserer selbst übergestellt.“ „Da wird sich die Kirche freuen“, freute sich Ludwig. Die Zeit flirrte wie eine Luftspiegelung, wie ein Band, das man auseinander gedehnt hatte. „Wahrlich, ich sage euch, Gott ist in jedem von uns. Das Ganze vermag nicht das Ganze zu sein ohne seine Teile. Alles ist in allem. Wir sind Teil. Wir sind alles. Untrennbar. Die Liebe hat uns erschaffen. In ihr erschaffen wir uns.“ Es gab Leute, die sich ob des unfreiwilligen Aufenthalts mit ihrem Auto ärgerten, Fenster oder Tür aufrissen, schimpften, hupten oder dem Prediger einen Vogel zeigten. Es gab Passanten, die einfach weitergingen, sich durch die Menge drängten, andere schüttelten den Kopf oder bedachten den Störenfried mit Ausdrücken wie Verrückter oder Idiot. Aber die meisten, und dann sogar die, welche sich eben noch gleichgültig gegeben oder sich aufgeregt hatten, verharrten in einer Art Andacht, einer stillen Begeisterung, einer Betroffenheit, einer tiefen Ergriffenheit, einer plötzlich entflammten Faszination. Einige riefen laut „Ja, ja!“, andere waren zu Tränen gerührt, Autofahrer stiegen aus, fielen wildfremden Menschen in die Arme. Sie gingen auf Jesus zu, um ihm die Hand zu drücken, ihn zu berühren. Sie sagten „Danke!“, weinten, sanken zu Boden, hoben die Hände gen Himmel, jubelten. Sie gaben ihm Münzen und Scheine, oder, wenn sie zu weit weg standen, nicht heran kamen durch die nun dichte Menge, schrieen sie „Hier!“ und warfen die Geldstücke oder Scheine zu ihm hin. Mit ein paar Sätzen hatte er die Menschen mitten ins bedürftige Herz getroffen. Martin und Ludwig waren kurz davor umzukippen. Knallharte Geschäftsleute, hohe Angestellte, Manager, Industriebosse waren gerührt wie Kinder, denen man das Schönste, was sie sich nicht einmal zu erträumen wagten, unverHofft vor die Nase stellt. Bitteschön! „Hast du das ge-gesehn!?“ hauchte Reinhard Kraft, dessen Stimme bei der unglaublichen Beobachtung des Geschehens gelitten zu haben schien. Martin Schütz faltete indes selbstredend die Hände, ihm schien irgendwas zu dämmern. Ludwig versuchte sich mit einem Ich-bin-Ludwig, heute-ist-der-Soundsovielte der Realität beziehungsweise seiner Teilnahme an selbiger zu vergewissern.

Von oben betrachtet konnte man sie in Augenschein nehmen: die Veränderung. Die veränderte Welt schickte alle möglichen Koinzidenzen in die Takelage der Zeit: Positive Ausstrahlungen, die sich auf jedermanns Gesicht legten, alle Bewegung durchdrangen, alle Dinge verformten, sodass sie nicht anders als schön bezeichnet werden konnten. „O.K.“, sagte Wolfram, der, was Entscheidungen innerhalb der Gruppe anbelangte, das letzte Wort hatte, „du bist unser Mann.“ Er drückte Jesus’ Hand. „Nein“, sagte er dann“, machte eine Kunstpause und fuhr fort: „Ich bin dein Mann.“ Die anderen drückten - jeder im Rahmen seiner haptisch gestischen Möglichkeiten - ihre Zustimmung aus. Das kurzerhand entstandene Chaos auf den Straßen löste sich einfach wieder auf.

„Das ist das Fork-Building“, explizierte Karl-Heinz Reihermann, als sei er danach gefragt worden. „Data-protection, eh, Datenschutz, eh, Deutschland,und data-collection, also eh, was gerne verschwiegen wird. Von außen wie alle anderen hier, halt ein BCQ, innen wie eine Forke, eine Gabel, unten eine Art Schaft und nach oben hin die Zinken. Die arbeiten gern mit optischen Täuschungen, Transparenzen, Holographie und so, die Architekten heute. Wahrscheinlich weil hier sonst alle Klötze gleich aussähen beziehungsweise identisch wären. Sollte man sich mal verlaufen, innen merkt man’s dann spätestens. Und alles hochwassersicher, erdbebensicher und bis zu einem gewissen Grad bombensicher.“ „Aha.“ Aus den Aufzügen kam just eine übertriebene Anzahl fein gekleideter Damen, als diene der Bau nicht der Unterbringung des ENTER, ein Akronym für irgendwas mit Datenschutz in Zusammenhang Stehendem, sondern einer Miss-Wahl, deren illustre Teilnehmerinnen lediglich von ein paar Herren, welche ebenso als Preisrichter hätten durchgehen können, flankiert wurden. Aufgrund einer ganz bestimmten, ganz bestimmt blonden Dame wurde Klaus’ Aufmerksamkeit für einen Moment lang umgeleitet, da er nicht umhin konnte, sein Augenmerk auf diese Beautyqueen, die er schon des öfteren gesichtet und angeschmachtet hatte, ohne dass dies Unterfangen von irgendwem außer seinen belustigten Kollegen bemerkt worden wäre, zu richten. Jesus bedachte Klaus mit einem fragenden Blick. „Ich gucke nur“, entschuldigte der sich. „Du guckst und ich sehe“, sagte Jesus und lachte mit den Augen. „Nicht schon wieder!“, grummelte Wolfram Walther. Das Clübchen marschierte stracks vom Fork-Building nach rechts weg auf den Nachbarbau zu. „Und das“, erläuterte der Fachmann, „ist das VuQ, auch I-MOVE. Beherbergt unter anderem ein Filmtheater, Filmstudio, Kino, Lichtspielhaus, Dating Center, VIP-Lounge, Ballhaus, Charity-Room, was weiß ich. Hat Bolte & Kern innerhalb von nur drei Monaten hochziehen lassen. Die Außenwände, also das, eh, das, die Hülle all dieser Bauten hat ja Graham geschaffen, von dem auch die Idee, die sich ja auch gottweißwo sonst durchgesetzt hat, dass alles gleich aussieht, eh, ist. Was wollte ich sagen? Ach so, ja, also für Kern war das der erste Großauftrag seines Lebens, hat ihm nicht nur den sprichwörtlichen Kragen gerettet, sondern auch seine Exfrau wieder auf den Plan gerufen, die plötzlich wieder auf Familie machte, nachdem sie dem klein Häusle-Bauer für Jahre den Rücken gekehrt hatte. Hab die beiden mal kennengelernt, er ist ganz nett, eigentlich beide. Mit einem solchen Sujet überhaupt nicht vertraut, hat er sich die Idee des Drehsystems gewissermaßen ausgeliehen beziehungsweise abgeguckt, den inneren Würfel wie eine Russische Puppe komponiert und die innen liegenden Cubes in Proportion und Drehbarkeit variabel gestaltet. Die äußere Plumpheit des Baus hat er kurzerhand als gewolltes Pendant zur Kompliziertheit des Kerns - kleines Wortspiel seinerseits - verkauft.“ „Aha.“ „Willkommen in der neuen Welt, hähä.“ „Und, wo wir gerade dabei sind, sieh mal da!“ Der Experte auf diesem Gebiet zeigte nach rechts auf den Nachbar-BCQ. „Da drinnen, da drin, ich hatte einmal das Vergnügen, sieht es aus, eh, waldbraun, wiesengrün, schieferfarben, ein Haufen, dessen Einzelteile den Eindruck erweckten, als habe man sie vom Himmel direkt in den Würfel fallen lassen und dann den Deckel drauf gemacht. Ein sozialarchitektonischer Fauxpas comme il faut. Sollte mal so was wie ein Suchtzentrum werden. Da prangen noch die Lettern über dem Eingang: Confidence. Man hat irgendwie keine Wände, keine Türen, hat den Charme eines Witzes, über den lediglich der Absender zu lachen in der Lage ist.“ „Och, ich auch, hähä.“ „Und was ist das da drin? Also, was du alles weißt, ich war noch nie ...“, fragte und bewunderte und bedauerte zugleich Wolfram Walther. „Da drin ist ein Gemisch aus Landschaft und Loft, quasi Natur-Büros, hat man zumindest versucht.“ „Ah.“ „Na ja. Man hat es sich dann anders überlegt, wollte doch nicht Nachbar von Suchtkranken werden. Stand jahrelang leer. Dann hat man ausgerechnet die Theoretische Ausbildungsabteilung der Desideriumsgeschöpfe, aus dem Universitätsbereich ausgegliedert, hierher verlagert, mittlerweile sind die auch wieder raus. Der Witz war, dass das Clübchen aus Professoren und Auszubildenden beziehungsweise Studenten die Zahl 50 in keinem Semester überschritten hat, sodass maximal 2 bis 3 Prozent des Ballons ausgelastet wurde. Anderswo hätte man das Gebäude besetzt oder platt gemacht; daran war in dieser Area Securita Maximum nicht zu denken. Alles privat! Nur, wer dahinter steckt ...? Der andere Witz war, dass das Architekturbüro Aichner - nicht zuletzt wegen der guten Absicht - für das Werk den Social-Town-Award erhalten hat, eine Auszeichnung, die, in Form eines schiefergrauen Schriftstückes, fürderhin die rückwärtige Wand des Arbeitszimmers von Finn Aichner Junior ziert, eine Auszeichnung, die der berühmte Herr Papa, da er es ja bekanntlich oder nicht bekanntlich verabscheute, Architektur mit - wie er es nannte - sozialem Getue in Verbindung zu bringen, mitnichten vorzuweisen hat.“ „Hähä, was du alles weißt“, stimmte auch Klaus zu. „Es sieht nicht überall in der Stadt so aus?“, wollte Jesus wissen. „Nä, hähä! Das’ krass, der Unterschied.“ „Offiziell“, schaltete sich Wolfram ein, „stagniert die Einwohnerzahl seit Jahren.“ „Stagniert heißt: ist gleichbleibend“, half Anton. „Die Stadt groß in ...“ „Groß in die Hose, hähä, sorry.“ „Na ja, o.k., war mal groß, Film, Mode, Verwaltung, Security undsoweiter. Elendsquartiere im Süden, Zeltstadt im Norden, und mittendrin sieht’s auch nich viel besser aus. Außerdem der Flughafen ...“ „Und dieses Bluff-Viertel, hähä.“ „Loffs, Loffs nennt man solche Bürobauten, ja. Und die hier speziell wegen ihres Pi mal Pipi heißen BCQs. Und dann gibt’s noch den Hafen, eigentlich auch so eine Loff-Area, da is alles - im Gegensatz zu hier - schief und schiffig.“ „Irre einfallsreich, hähä.“ „Karl Heinz“, sagte selbiger für den Fall, dass Jesus es vergessen haben könnte. Und immer mit dem Finger in die Richtung zeigend, wobei er mit der Beuge seines Armes die dazwischen liegenden Hindernisse auszuhebeln gedachte: „Da der Flughafen mit seinen Subsurroundings und da der Hafen.“ „Hä, Flugzeuge, wie der Name schon sagt, die fliegen, sogar mit Menschen drin, hähä.“ „Hier ist alles straight-up, aufgeräumt, seitengleich, a gleich b gleich c.“ Anton wies in die Senkrechte. „Äußere Simplizität, die sich im Inneren ins Gegenteil verkehrt. Besonders das Lift, auch Illusion genannt, Komplex Nummer 3 sozusagen, entworfen, also innen, von Bloom & Jahr, macht seinem Namen alle Ehre. Sitzt man zum Beispiel, also man nennt es deswegen auch Illusion, also sitzt man zum Beispiel in dem Restaurant in einer der oberen Etagen und genießt bei Rabeau und Trüffelpastete den schönen Ausblick, so sieht man sich im nächsten Moment in eine höhere oder tiefere Ebene transportiert. Und manch einem erging es dabei schon wortwörtlich übel, obgleich ein jeder um die Illusion weiß.“ Nach einer kleinen Weile fiel ihm noch was ein: „Bei Kortrijk, glaube ich, bin mir nich ganz sicher, jedenfalls irgendwo in Belgien, da sind, also da, wo Belgien höher gelegen ist, weil, wegen der Überschwemmungen sind ja plötzlich Millionen weg von den Küsten und mussten irgendwo hin, irgendwo untergebracht werden, da sind sind dann, da hat man dann solche Siedlungen, ganze Städte, ganze Städte, stell dir ma vor, nach dem Unisonoprinzip hochgezogen, von heute auf morgen.“ Jesus’ Kopf folgte der Amplitude eines Auf und Ab, als er versuchte sich dies en gros vorzustellen.

Die Zeit hat kleine Ausbeulungen, Knoten und Seitverzweigungen, an denen sich allerhand tut. Im Dunkel dieser Linearität leuchtet nur ein winziges Stück auf, das sich nach hinten hin schnell verliert. Die Lampe der Betrachtung erhellt indes ein schier unendliches Ausdehnen. Einige der Schönheitsköniginnen von Gegenüber waren bei genauerem Hinsehen alles andere als schön: Sie waren zu dick, zu dünn, unproportioniert oder mit sonstigem unästhetischen Makel behaftet. Die meisten entsprachen dem Durchschnitt, der nur in feiner Aufmachung zu gefallen weiß. Einige litten unter Depressionen, Schlaf- und Essstörungen. Andere waren chronische Verwalter mittlerer und schwerer Angstattacken.

Mit dem gespielten Elan einer sissymentalen Actrice, wusste eine jede, was sich gehörte, beziehungsweise was zu tun war, um die Außenwelt zu übertölpeln, indem sie ihr nämlich gab, was jene wollte, respektive sehen wollte. Als sich das Bündel der Augen der Männer um dieses Damengrüppchen schloss, schien sich auch die Gebrechlichkeit letzterer zu offenbaren, nicht zuletzt auf die eigene widerhallend, sodass sich der ein und andere genötigt sah, diverse Verrenkungen, Kleinst-Luxationen zu vollführen. Den Geräuschen, die dieser Tag hergab, fehlte es an Natürlichkeit, wenn man denn darunter hätte verstehen wollen, dass sie vom Scherzo der so genannten Natur beseelt hätten sein sollen. Stattdessen war das Schweigen eines Windes zu vernehmen, das Luftanhalten eines Verkehrslärms. Lediglich in den drei Strömen der Rushhour bildete sich so etwas wie eine akustische Kulisse, ein summendes Elektrosümmchen, dem nur noch wenige Widersacher der Modernität althergebrachtes Motorengeräusch, gepaart mit den entsprechenden Ausdünstungen, entgegen zu setzen hatten. Heraus stachen die wie zufällig hingewürfelten Detonationen, die sich dann und wann über das Stadtgebiet zogen und vom Groll einer Unterwelt kündeten, deren Gegengötter keinen Sinn für Humor hatten. Wenigstens in den zwischen den BCQs wie Puzzleteile platzierten identischen sechs Parks (die Konformität allerorts hatte das Zeug, sogar einen außerirdischen Erdbetrachter in den Wahnsinn zu treiben), sollte man meinen, sei der Klang der Natur in Form von Entenschreien, Vogelgezwitscher, Mäusepiepen und ähnlich tierischem Tralala zu hören gewesen; aber nichtsda: außer ein paar Ameisen und Fliegen nichts gewesen, den Mikrokosmos unsichtbarer Welt nicht eingerechnet. Der Mensch war geneigt, sich mittels Berührung von der Natürlichkeit dieser so unnatürlich wirkenden Natur zu überzeugen. Als Klaus mit seiner damaligen Gespielin zum ersten Mal hier herein trabte, um sich dorten in die Büsche zu schlagen, stellte er erstaunt fest: „Äh, ist das grün!“ Und dann, den wohlgeformten weiblichen Hintern vor sich her schiebend: „Die Natur ist brutal.“ Und dann: „Brutal schön.“ „Es ist so still“, konstatierte Jesus. „Obwohl es im Viertel jede Menge Parkfluchten und Wasserquader gibt, meiden sogar Vögel diese aufgepfuschten Natürlichkeiten. Auch für Katzen ist hier nichts zu holen, und Hunde werden, sobald sie auch nur auf irgendwelchen Monitoren gesichtet werden, von einer eigens dazu ausgebildeten Berufsgruppe rückgeführt - wohin auch immer“, erläuterte Wolfram. „Dabei riecht es lecker nach Lavendel, Jasmin, Pfirsich oder Purzel, und in den Palästen geben die nicht vorhandenen Vögel ein immergrünes printemps! von sich“, ergänzte Karl-Heinz. Sabine B., die zur Gruppe der Neurotischen zählte, gelang es - mit Hilfe eines heimlich angewendeten Inhalators - ein Asthmaleiden zu verbergen. Marthe P., vielleicht die Schönste von allen, versteckte mittels eines orthopädischen Tricks immerhin eine Gehbehinderung - ihr linkes Bein war sagenhafte irgendwas Zentimeter länger als das linke. Constanze W., Gruppe Unproportioniert, nannte ein korsettiertes Rückenleiden ihr eigen. Tatjana C., Gruppe Angst-Attacken, litt zu allem Überfluss an chronischem Durchfall. Das war nicht so leicht. Einige Implantate rundeten das Bild menschlichen Makels ab. Wenden wir also einmal den Blick in eine jener dunklen Gassen, die da im Hohlschacht der Zeit nach allen Seiten hin wegschluchten! Klaus hatte keine Ahnung, dass seine Angebetete Pelzer mit Nachnamen hieß, wie der berühmte Studentenführer seinerzeit, der die Bewegung Roter Sommer ins Leben gerufen hatte; noch weniger ahnte er, dass sie, die seit nunmehr sechs Jahren bei ENTER als Koordinatorin angestellt war, im turnusmäßigen Halbjahresrythmus der Drohgebärde seitens des Konzerns um ihren Arbeitsplatz fürchtete. Die Polyphonie des Leidens hatte sich wie feiner Saharastaub auf die Menschheit gelegt. Von ihrer Schönheit und Intelligenz, welche sie die London E.School of Advanced Adaption mit Auszeichnung hatte abschließen lassen, abgesehen, hatte Marthe nichts, wie sie selbst fand, was sie, nach einer sie persönlich betreffenden Einsparungsmaßnahme der Firma in die Waagschale einer zukünftigen Existenz hätte werfen können. Sie hatte ihre Augen lasern lassen, weil, wie sie meinte, eine Brille einen Schönheitsfehler auf dem Tableau der Vollkommenheit ausmache. Sie war - über viele Hürden hinweg - einem noblen Tennisclub beigetreten, präsentierte sich dort zweimal wöchentlich und absolvierte - mit Schuheinlage - ihr Training. Sie hatte 12 Kleider, 5 Anzüge, 16 Paar Schuhe, alles oberstes Niveau. Und sie wohnte in einer zu einem Safety-Village gehörenden modernen 2Zimmer-Wohnung im teuren Rosen, Ortsteil Late, ein Ort dessen Preise ob der Nachbarschaft zur Zeltstadt als moderat durchgingen. Des Abends war sie dabei, sich, auf ihr LVL-Sofa ausgestreckt, Informationsbroschüren diverser Automarken durchzublättern, mit ernsthafter Kaufabsicht. Wenn sie sich denn - so der Stand der Dinge - zwischen einem fliederfarbenen Bharain der Marke O und dem neuen Trash aus dem Hause M in schwarzem - wie es der Hersteller annoncierte - Banky-Look würde entscheiden können. Wenn sie diesbezüglich die Anzahlung, die monatliche Rate bei einer Laufzeit von 36 Monaten vor Augen sah und errechnete, wie viel beziehungsweise wie wenig ihr noch zum Lebensunterhalt übrig bleiben würde, biss sie in ihre mit Chill-U bestrichene SF-Brotscheibe und seufzte. Dann fand sie, dass ihr eine kleine, winzig kleine, sich womöglich über viele Monate und Jahre hinziehende Abspeckkur gut zu Gesicht stünde, war, trotz der im Feuer ihres Lebens bereits kokelnden Angstspäne, bereit, dies Risiko einzugehen. Think positive! Sie hieß Marthe. Wenn es einen Schönheitsfehler an ihr gab, der für andere offensichtlich war - das Lispeln hatte sie sich schon in ihrer Jugend abtrainiert - dann war es ihr Lachen, das gekünstelt klang, falsch - im Sinne von schadenfroh - und übertrieben, auch wenn es wohl ehrlich gemeint war. Auf der Suche nach einem Mann - via diverser Foren im Internet (nachdem, wie sie fand, in der Firma nur Keksdosen - so nannten sie die Hohlköpfe, die außer Sex nichts im Sinne zu haben schienen - herumliefen, und im Tennisverein, abgesehen von den älteren Herren, lediglich Möchtegernmänner, Wannabes) - war sie von einer Enttäuschung in die nächste geschliddert, wurde mittlerweile von Träumen heimgesucht, in denen ihr ausgezehrter Dad anstatt des Brautvaters den Bräutigam mimte, was meist damit endete, dass sie den Brautstrauß auf den Boden warf und ihn mit ihren Esplanade-Schuhen zertrampelte. Der Letzte in der Reihe der Reinfälle war ein gewisser Hubert Konsiewicz gewesen, der ihr nicht nur sexuelle Gewaltpraktiken abverlangt hatte, sondern sich nach und nach, was sie eher zufällig durch ihre Freundin Ramo, die dem Schurken in gleicher Weise und fast zeitgleich aufgesessen war, herausbekommen hatte, als umtriebiger Heiratsschwindler, selbst verheiratet und mit zwei Kindern strafgeSeghnet, herausgestellt hatte. In ihrer Wohnung hingen drei Head-to-Feet-Portraits von ihr: Die Jugendliche, die Frau und die alte Dame, digitale Gemälde eines Bekannten über drei Ecken, Arbeiten des Digital Artists Kurt England, seit dem es verpönt war, Backgrounds, die irgendetwas Gegenständliches zeigten, zu malen. Als Jugendlicher, da kannte man ihn noch bei seinem eigentlichen Namen, war er furchtbar schüchtern gewesen und hatte infolgedessen den Fotoapparat zu seinem Schutz, zur Waffe und zum Mittel der Annäherung -allgemein an die Menschen, speziell an deren weibliche Exemplare - auserkoren. Seine Bildserie „Wesen“, die Menschen vor ihrem weichgezeichneten Arbeitsplatz zeigte, war ein durchschlagender Erfolg gewesen. Die Damen, welche mit ihm in wie auch immer gearteten Kontakt zu treten gedachten, hatten nach wie vor ihre eigene Tür mitzubringen, mit der sie alsdann in sein Haus fielen. Vor dem mit gaußschem Filter eingeweichten blaugrün schimmernden Hintergrund des mittleren Bildes stand eine wunderschöne Frau in einem sexy geschnittenen Moss-Kleid aus Kunstseide. Das war sie, Marthe. Sie war in Anline, unter der allgegenwärtigen Glocke eines Chemiegiganten aufgewachsen, hatte zwei Jahre im euroabtrünnigen London gelebt, bevor sie ins vergleichweise beschauliche Tobee zu ENTER vermittelt worden war. Der Hauch eines süddeutschen Akzents war ihr eigen, gab ihr eine spezielle Note. Alle Jahre wieder besuchte sie ihre Eltern, die mittlerweile im Odenwald ein Häuschen hatten. Neben Ramo, mit der sie gemeinsam in London studiert hatte, zählte sie Isolde und Alberta, die beide in der Esoterik-Szene nach Luft rangen, zu ihren besten Freundinnen.

Die Dinge waren, schien es, unverrückbar an ihrem Platz, während das Leben der kleinen Randgruppe verrückt zu spielen begann. Von Tag zu Tag - die eigentlichen Tätigkeiten der Gruppe rückten allmählich in den Hintergrund - kam irgendetwas näher, oder man näherte sich an irgendetwas, das - das war so offenkundig wie obsolet - das Leben auf den Kopf stellen würde, geradeso wie das Innere des Fork-Buildings, leicht und unvorstellbar anders. Anton Esching und sein Freund Wolfram Walther standen im Schatten des untergehenden Tages wie Friedrich und Friedrich, wobei der ältere den Großen und der andere entsprechend den Maler vorstellte. Ein grasgrüner Reinigungswagen, ein sogenannter Collection-Truck, auf dem ein wie selbstgemaltes, orangenes I’M CLEAN prangte, summte auf einem Luftkissen heran, hielt kurz an, ein Mann in weißem Overall mit Mundschutz entsprang dem Wagen, um den Müll der Freunde einzusammeln und im Heck des Wagens zu verstauen, fuhr einmal ums Rondell und setzte -nicht ohne irgendetwas auszuscheiden, was wiederum sämtliche Miniaturlebewesen davon überzeugen sollte, dass es besser gewesen wäre, nicht hier vorbeigeschaut zu haben oder - alternativ - sich mittels eines tiefen Atemzugs für immer zu verabschieden -seinen Weg die Hanseatic hinunter in entgegengesetzter Richtung fort. „Mir scheint, ich müsste tausend Fragen stellen, doch gleichzeitig, und ohne dass ein Wort fällt, ist mir klar, dass alle Antworten bereits gegeben sind, weil, was was mich selbst anbetrifft, kein Zweifel an der Identität dieses Wesens besteht. Mir ist, mir ist, als seien wir aus der lethargischen Finsternis ins lebendige Bild des Lebens belichtet worden.“ „Hört sich ja geradezu biblisch an, ins lebendige Bild des ...“ „Du spürst doch auch, dass unser Tun von einer Leichtigkeit getragen wird, der Funke allenthalben überspringt - oder?“ „Gewiss.“ „Es gibt da einen Mann, der sich Jesus nennt, der stellt sich mitten auf die Kreuzung, fängt zu reden an, von Liebe, und dass alles eines ist, erst denkt man, das’n esoterischer Spinner, aber plötzlich hab ich Tränen in den Augen, stell dir vor, das, was ich was ich anfangs für so eine Art Schlagertext gehalten habe, betrifft plötzlich mich, haut mich um, womm, die himmlische Botschaft, der Mann da, das ist Jesus, ich versuche mir zu sagen: halt, stopp, du bist der und der, betrachte es mal nüchtern, es ist der Soundsovielte, soundsoviel Uhr, ich kneife mich, will mich beruhigen, aber ich bin ja ganz ruhig, und ich bin alles was ich anfasse, alles was ich sehe, alles was ich denke, und ich bin, wie soll ich sagen, in einer unvorstellbaren unvorstellbaren Fülle, und in einer unglaublichen Weite, und in einer unendlichen Dankbarkeit.“ Der andere nickte bewegt. Freilich hatte es sich bald herumgesprochen, dass ein Mann namens Jesus, der noch dazu von sich selbst behauptete, eben jener zu sein, mittags und gegen 15 Uhr nachmittags eines jeden Tages an diesem Ort zu predigen pflegte, und sie kamen in Scharen, in Scharen, um den merkwürdigen Mann zu sehen und ihm zu lauschen oder einfach ihre Neugier zu befriedigen. Die Polizei tauchte in Form eines Mannschaftswagens, der im Gewühl stecken blieb, auf. Eine Horde schwer bewaffneter, vermummter Beamter schlug sich, unter Einsatzleitung eines drahtigen Vorgesetzten, durch die brennenden Büsche aus Autos und Menschen hin zum Mittelpunkt des Geschehens, welches ob der unkontrollierten Masse und der damit verbunden Wahrscheinlichkeit eines zügellosen Chaos, in den Augen der Obrigkeit den Namen Ausschreitung durchaus verdiente und somit zum Einschreiten einlud. Der geistesgegenwärtige Klaus schnappte sich sein Arbeitszeug, seifte rasch einen Wagen ein - während Jesus hinter einen anderen geschoben wurde - und verkündete: „Damen und Herren! Das ist neu! Neu, neu, neuer hähä geht’s nicht!“ Tat, als sei sein Schwämmchen die neue Wunderwaffe im Kampf gegen den Staub der Zeit, der nichts anders vorhabe, als den Lack der Herzallerliebsten zu zerkratzen. „Dieser Schwamm, Ladies and Gentllemen, birgt das Geheimnis des Lebens: die Liebe. Dieser Lovesponge ...“ Die Leute lachten, die bemitleidenswerten Beamten zogen wieder ab, und alle gingen unbeschadet ihrer Wege. Die jungen Damen des ENTER spazierten also auf eine keck dramaturgisierte Weise, der nur Klaus, da er in der Fixierung der dem Objekt seiner Begierde in seinen Augen anhängenden Zeitlosigkeit verharrte, die Schönheit Wilsonscher Zeitlupe abgewinnen konnte, hinüber zum VuQ, wo sie es sich im Garten des Mandler, einem zeitgenössischen In-Restaurant, kommod zu machen beabsichtigten, während die Männergruppe wahrlich andere Sorgen hatte. Klaus Jolitz fand Jesus’ Hand auf seiner Schulter, hüstelte. „Ich nehme an, du hast keinen Ausweis“, sagte Anton Esching zu seinem neuen Meister, auf selbigen zutretend. „Wir können jetzt!“, rief Ludwig Maaßen, der sich neuerdings von seiner heiteren Seite zu zeigen wusste, herüber. Jesus schüttelte den Kopf, dann ging er hinüber zum Frisörsalon, der aus einem Flightcase-Hocker bestand sowie aus dem das Messer wetzenden Frisör, dem schnellsten Cutter der Welt, wie er sich selbst vorstellte „Brauchst einen“, rief Anton, trat dann selbst zu dem Kreis der Schaulustigen -die Männer bildeten ein neugieriges Grüppchen, postierten sich, ein genüssliches Lächeln aufgesetzt, um die Attraktion des Tages. „Siehst gleich menschlicher aus“, wusste der Barbier zu scherzen, tauschte das Messer gegen die Schere, während Jesus auf dem Flightcase Platz nahm und die Augen schloss. Esching kratzte sich an seinem Schädel. Ludwig Maaßen benutzte einen neumodischen Rasierapparat. „Geschenk eines gewissen Herrn Meyerbeer, seines Zeichens Chef im braunschen Konzern. Hat er mir eines Tages, als ich Peter gerade eine Schnellrasur auf die altmodische Weise verpasst habe, mit den Worten »Habe genug davon« und dem, da ich wohl wie angewurzelt dastand, Zusatz »Sie können’s doch gebrauchen«, den Apparat samt einer Visitenkarte überreicht. Im Davonfahren rief er noch: »Und empfehlen Sie mich weiter!« Eigentlich mein Spruch.“ Er, Meyerbeer, war Mitte Fünfzig, zum zweiten Mal verheiratet, hatte 2 Kinder aus erster Ehe, einen Nachzügler mit seiner jetzigen, elf Jahre jüngeren Angetrauten und bewohnte eines der Hightech-Häuser am vornehmen Leuchtberg zwischen Louxon und Menhir. Sein Arbeitsort lag in der obersten Etage des braunschen Knight-Towers, so genannt wegen seiner ihm innewohnenden Kunstwerke, welche allemal um das Thema Ritter und damit verbundene Attribute kreisten, gegenüber des H6H, also auf Visierhöhe mit Hoffmann Junior. Der Mann, Meyerbeer, der eben von einem Breakfast-for-one kam - er hatte sich das Neuroth, in Terenz, D 15, ein im französischen Stil des 19. Jahrhunderts gehaltenes Café, welches sich darauf spezialisiert hatte, jedem Gast ein auf ihn zugeschnittenes kreatives Ereignis, ein Crévent zu kredenzen, nachdem es vom Maître ad hoc komponiert worden war, ausgesucht. In dem Stadtteil wimmelte es von solchen Exostismen: quer durch die Lande und Stile und Epochen angesiedelte Cafés und Restaurants und Bars und Kneipen und Hotels, deren Klientel sich rund ums Jahr hauptsächlich aus MesSeghästen und Touristen rekrutierte, bis auf Leute wie Herrn Meyerbeer, der es sich leisten konnte, einen grundsätzlich außergewöhnlichen Geschmack zu haben, wofür ihn seine vornehmlich auslänSchen Geschäftspartner mit Komplimenten und Aufträgen überhäuften. Vor dem Frühstück hatte Meyerbeer bereits seine 20 Bahnen im in der nordöstlichen Ecke von Steria gelegenen Ho-Center (es war dies das größte - bis auf das Berliner One-a-Two - mit Sicherheit das architektonisch üppigste im Lande des Adlers. Bloom, Melzer & Shephard hatten sich hier austoben dürfen und das Hightech-Nonplusultra schlechthin erschaffen) am Astral hinter sich gebracht.

Ausgerechnet jetzt, just in dem Moment da Ludwig die Schere beiseite legte, den Rasierer in die Hand nahm, um Jesus in den Genuss des quasi vereinsüblichen Kurzhaarschnitts kommen zu lassen, da tauchte - wen wunderte es - dieser Herr Meyerbeer auf. „Das ’s doch!“ „Hähä.“ Er parkte seinen Wagen, einen bitterschokoladenbraunen Nu:P der Marke VW - „Mr. Meyerbeer, locker ma so 250000 die Karre, hähä“ - auf dem H6H eigenen Vorplatz, stieg aus, schüttelte, als handelte es sich um Staub, die klimatisierte Luft ab und begab sich schnurstracks zu dem düpierten Barbier und seinem Opfer. „Herrschaften, jetzt habe ich es verpasst!“, verpasste er dem Moment der kurzfristig eingetretenen Stille einen Dämpfer. „Darf ich mich“, wandte er sich an Jesus, „vorstellen: Meyerbeer, Ephraim Traugott Meyerbeer. Und Sie sind der ...“, er beugte sich, jenem die Hand reichend. „Oh, behalten Sie Platz! Sie sind der, der, der sich Jesus nennt.“ Meyerbeer, braun gebrannt, im dunklen Anzug, weißen Hemd, das grau melierte dichte Haar in wilder Pose nach hinten gebändigt, starke Lachfalten um die immer grinsenden Augen, hätte, hätte Jesus sich überhaupt an irgendwas und wen erinnern können, den Heiligen an einen abgespeckten Mario Adorf wie er im Film Die Lange Welle zu sehen gewesen war - mit exzentrischer Brille und Fliege - erinnert. „Selbiger“, bestätigte der Barbier mit einer kleinen Erbostheit um die Mundwinkel, welche darauf zurückzuführen war, dass er sich um die Endkontrolle betrogen sah. „Ist mir eine Ehre“, sagte der gottesfürchtige Mann. „Aus der luftigen Höhe meines Büros blicke ich des öfteren auf die Gruppe, deren Mitglieder ameisengleich ihren Anteil, so sehe ich es, am Gelingen des Ganzen beitragen. „Gelingen, hähä.“ „Nun ja. Dann sind Sie aufgetaucht, ein wenig unpassend oder unzeitgemäß gekleidet, hatte ich den Eindruck. Dann habe ich in der Zeitung gelesen, dass Sie sich Jesus nennen. Wie hat es dieser Journalist, glaub' es war Feldmann, ja Feldmann ausgedrückt, unter der Headline Jesus Reloaded hieß es unter anderem: Wenn je einer aufgetaucht ist, der ...“ „Und da wollten Sie ihn mal unter die Lupe nehmen.“ „Andere haben ihn Scharlatan ...“ „Dünnschiss, die haben ihn noch nicht kennen gelernt, so wie wir, hähä.“ „Ja, eben, deswegen bin ich ja ...“ „Sie haben da einen tollen Anzug an, Herr Meyerbeer mit Ypsilon.“ Wie auf Kommando rückten alle noch ein Stückchen näher an die beckettsche Kleingruppierung. „Toller Anzug“, hörte man den Kumpel sagen. „Und fast die gleiche Figur.“ „Hähä!“ Nach einer kurzen Pause, die den Manager ein klein wenig zu komatisieren schien, sagte eben jener wie erwachend: „Natürlich, natürlich, natür...“, und fing an, sich seiner Jacke zu entledigen. „Anton, hol doch mal Hemd und Hose aus meinem Rucksack! Wir wollen den Wi-Ei-Pi doch nicht bloßstellen, haha!“ Im umschließenden Kreis der Kollegen entzog sich das Ganze dem neugierigen Blick eines etwaigen Passanten-Konsortiums. Die graue Arbeiterhose samt himmelweißem Shirt reichte Esching dem Mann in Manager-Unterwäsche, während Jesus - „Also, ich weiß nicht“ - in Ludwigs - „Also, ich weiß“ - Ersatz-Unterhose schlüpfte, ein paar Ersatz-Sportschuhe gereicht bekam, in die er - da die Meyerbeerschen Schuhe offensichtlich am Spann zu eng waren - schlüpfte, schließlich im 3000 Dollar-Anzug dastand. Die Männer schüttelten sich weltmännisch die Hände und applaudierten mit den entsprechend preiswerten Regional-Ausgaben selbiger. Herrn Meyerbeer blieb die Spucke weg. „Tatsächlich, mein Gott! Ich meine, ha! Ja, Sie sehen großartig aus.“ Reinhard Kraft schubste Anton an. „Hö?“, machte Anton. „Kleider machen ...“ Herr Meyerbeer aber sagte nur noch: „Ja“, und legte beide Hände in die Hände Jesus’ und ging nickend und glücklich und spuckelos zu seinem Auto zurück, der klimatisierten Limousine, die nichts dagegen hatte, dass Herr Meyerbeer im unangemessenen Outfit eines Freizeitsportlers auf dem kühlen Ledersitz Platz nahm. Zum Abschied noch ein Winken. Seine Frau würde Augen machen! Erst einmal machte der Sicherheitsbeamte vor dem Braunschem Tower Augen, dann machte der Sicherheitsbeamte an der Tür - „Guten Morgen, Herr M-Meyerbeer“ - Augen, dann, als der Chief seine Karosse auf dem P seiner Büroetage abgestellt hatte, ausgestiegen war, machte die VSO - „Guten Morgen ... Herr Meyerbeer“ - Augen, dann machte der SC, Second Chief, Augen, und die Kette der Augenmacher würde sich des abends in umgekehrter Reihenfolge fortsetzen, und erst am Ende der Kette, am Abend zuhause angekommen, würde Frau Meyerbeer an der Reihe sein, Augen zu machen, die allerdings, in die Vorbereitungen zu einer Kreuzfahrt vertieft, keine optische Notiz von dem Ankömmling zu nehmen imstande sein würde. Die Männer sahen sich das Kunstwerk nochmals in Ruhe an, und das Kunstwerk ließ sich ansehen, und das Kunstwerk ließ sich sehen. Der Haarschnitt allein hätte schon für ein Wunder gesorgt, zumal als solches gelten können, aber der Anzug setzte allem die Krone auf. „Kannst die Jacke wieder ausziehen“, meinte Frisör Überalle-Maaßen, während er das Haar des Herrn, jenen auf dem Boden klumpenden heiligen Sondermüll, sorglos entsorgte, indem er es penibel aber bedachtlos in einer grauen Mülltüte verschwinden ließ. „Mal sehn“, meinte Klaus Jolitz, „wie es sich in einer - was ist das? Butoni-, Berlusconi-Hose? so schläft, hä-hä, hähä!“ „Hä?“ Maaßen fasste sich an den Kopf. Dann sagte er mit Blick auf Jesus in die Runde: „Da haben wir ein Wunderwerk vollbracht, der Meyerbeer und ich.“

TROST

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