Читать книгу Das große Geschäft - Johann-Günther König - Страница 7
00 2 Tierisch menschlich
ОглавлениеKörperliche Ausscheidungsprozesse sind eine alltägliche Herausforderung für sich. Selbst im Falle des »kleinen« Geschäfts. Die menschliche Blase hat ein Volumen von gut einem halben Liter. Wenn ihre Füllung ein Volumen von 200 bis 300 Millilitern überschreitet, erhält das Gehirn die Information: Harndrang. Wird der Drang häufig unterdrückt, meldet sich die Blase seltener. Zudem können wir die Füllmenge der Blase ausdehnen, indem wir viel trinken. Nun gibt es – unabhängig vom Geschlecht – Menschen, die den Harndrang weniger unterdrücken als andere, und eben häufiger eine Toilette aufsuchen. Rein statistisch betrachtet scheinen Frauen ihrem Harndrang häufiger nachzugeben als Männer – sie suchen durchschnittlich fünf- bis siebenmal täglich die Toilette auf, während Männer es bei drei bis vier Gängen belassen. Wie dem auch sei, sicherlich empfinde nicht nur ich ein schnell erreichbares und gepflegtes WC als einen Segen, vor allem außerhalb der eigenen vier Wände. Die Heldin Annabel in Ildikó von Kürthys Roman Freizeichen nicht minder. Sie reist eines Tages spontan zu ihrer exzentrischen Tante nach Mallorca, die aber nicht wie vereinbart zu Hause ist. Da Annabel dringend auf Toilette muss, beschließt sie, in nächster Nähe eine Erleichterungsmöglichkeit zu suchen:
»Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht, aber wenn ich auf die Toilette muss, dann muss ich immer ganz plötzlich und dringend auf die Toilette. Vor langen Autofahrten zum Beispiel trinke ich immer tagelang nichts. Vergeblich. Schon bei der ersten Raststätte muss ich raus. Immer. Ben sagt, ich hätte eine Altherrenblase, und meine Freundin Mona schlug vor, ich solle beim nächsten Mal Windeln tragen oder mir einen Katheter legen lassen. […] Aber es ist tatsächlich so: Eigentlich befinde ich mich die meiste Zeit meines Lebens auf der Suche nach einem Klo.
Für mich also eine absolut vertraute Situation: Annabel Leonhard eilt mit zusammengepressten Schenkeln durch irgendeine völlig toilettenfreie Zone dieser Welt. […] Glücklicherweise habe ich durch jahrzehntelange Praxis ein seismografisches Gespür für Toiletten entwickelt oder für Gegenstände, die man als Toilette benutzen kann. Ich […] denke, der Satz, den ich in meinem Leben am häufigsten gesagt habe, ist: ›Dürfte ich wohl mal Ihre Toilette benutzen?‹ […] Unter Blasendruck verliert man viele seiner ansonsten hartnäckigen Hemmungen. Ich habe schon in Spelunken gepinkelt, die ich bei klarer geistiger Verfassung nur mit Schutzanzug und Atemmaske betreten hätte.«23
Um unserer vornehmsten Eigenschaft als Stoffwechsler zu genügen, müssen wir ausreichend essen und trinken. Um die unser Überleben sichernden Körperfunktionen gut zu versorgen, sind Fette, Kohlenhydrate, Mineralstoffe, Proteine, Vitamine und Wasser essenziell. Der Körper benötigt sie für das Wachstum, für die Zellteilung und die Blutgerinnung, zur Deckung des Energiebedarfs des Herzens, der Bewegungsabläufe und anderem mehr. Stoffwechselprodukte, die der Körper nicht verwerten kann, müssen wieder ausgeschieden werden. Während die Haut Wasser, Salze und Gifte herausschwitzt und die Lunge beim Ausatmen Kohlendioxid ausstößt, entsorgt der Darm die Abfallstoffe der Verdauung und befreit das Harnsystem den Körper vor allem von Stickstoff. Ohne die zuverlässig entgiftende Arbeit der Nieren, die pro Minute einen Liter Blut filtern (und ein Prozent davon in Urin verwandeln), kommt kein Mensch über die Runden. Der Urin sammelt sich in der Harnblase an, deren Wand dadurch mehr und mehr unter Spannung gerät. Ist die einen guten halben Liter Urin fassende Blase voll, entsteht Harndrang.
Der Mund fungiert als Tor und »Eingangshalle zu einer Welt, in der Fremdes zu Eigenem wird«, statuiert Julia Enders in ihrem Bestseller Darm mit Charme.24 (Mit »Charme« lassen sich Tabus übrigens auch gut entsorgen.) Nach der bereits in der Mundhöhle einsetzenden Verdauung wird die aufgenommene Nahrung dann mittels Säuren und Enzymen im Magen aufbereitet. Im bis zu fünf Meter langen Dünndarm erfolgt die Aufspaltung der Nähr- und Abfallstoffe, wobei die löslichen Nährstoffe durch dessen Zotten wieder in die Blutbahn und zur Leber gelangen. Der Dünndarm wird bei seiner Kärrnerarbeit von der Bauchspeicheldrüse unterstützt. Sämtliche unverdaulichen Stoffe gelangen in den anderthalb Meter langen Dickdarm, wo Bakterien sie zersetzen. Der verbleibende Rest des eingedickten Breis wird sukzessive weitergeschoben und steht dann zur Ausscheidung durch den After parat. Das kann freilich dauern. Bis die aufgenommene Kost ihre Verwertung und Verwandlung im Körper hinter sich hat, vergeht mindestens ein Tag.
Wie viele andere Körperfunktionen auch unterliegt der Verdauungsvorgang individuellen Schwankungen. Verstopfungen liegen aus medizinischer Sicht vor, wenn die Darmentleerung nicht dreimal wöchentlich erfolgt oder nur durch schmerzhaftes Pressen möglich wird. Hinzu kommen Störungen wie Stuhlinkontinenz und andere mehr. Die Häufigkeit des Stuhlgangs ist bei jedem Menschen individuell speziell – sie variiert bei gesunden Erwachsenen zwischen dreimal täglich bis dreimal wöchentlich. Auch die Konsistenz des Kots kennt keine feste Regel – sie schwankt zwischen hart und weich je nach individueller körperlicher und seelischer Verfassung und natürlich auch der jeweils präferierten Nahrung.
Die sich mehrmals täglich füllende Blase signalisiert durch den Harndrang, dass sie entleert werden muss. Erweist er sich als besonders stark oder unbeherrschbar, gilt das als Symptom für eine Störung. Der Harndrang kommt nicht von ungefähr. In der Blasenwand registrieren reizaufnehmende Zellen bzw. Rezeptoren stets die anliegende Spannung und melden sie an die zuständigen Kontrollstellen im zentralen Nervensystem. Muskelgeflechte rund um den Blasenausgang und an der hinteren Harnröhre sowie die Beckenbodenmuskulatur halten die Blase unter Verschluss. Gesunde Menschen können ihre Urinabgabe bewusst steuern, indem sie diese Muskeln erschlaffen lassen, wobei sich gleichzeitig der Blaseninnendruck durch die Anspannung der harnaustreibenden Muskeln erhöht. Und schon kommt es zur Miktion, der Blasenentleerung. Sie ist bekanntlich umso häufiger notwendig, als die Trinkmenge gesteigert wird. Und wenn das nicht klappt? In Günter de Bruyns 1984 publizierten Roman Neue Herrlichkeit erfährt Viktor telefonisch, dass es seinem Vater nicht gut geht:
»Das ist erschreckend und erheiternd zugleich. Den kraftstrotzenden Mann, dem Schwäche bisher defätistisch und Krankheit moralisch anrüchig erschien, kann man sich als Patienten nicht vorstellen. Jetzt fühlt sich der Löwe als Wurm; der Halbgott, der Ärzte sowenig gebraucht hat wie Priester, merkt, daß auch er sterblich ist. So gewaltig wie früher die Kraft, ist nun der Jammer. Er fühlt sich nicht nur geschlagen vom Schicksal, sondern auch noch verhöhnt, weil es ausgerechnet die Prostata ist, die ihn quält. Ehrenvoll zu Boden geht man in seinen Kreisen durch Herzinfarkt, nicht aber so. Ein Riese, der vor Schmerz schreit, wenn der Urin kommen soll und nicht will, ist kein Mann mehr, sondern eine Schießbudenfigur …«25
Die Ausscheidung der Stoffwechselendprodukte erfolgt in Form von Urin und Fäzes. Während es der Urin in aller Regel eilig hat, unserem Körper Ade zu sagen, nimmt sich der Darm, immerhin unser größtes sensorisches Organ, mehr Zeit. Aber irgendwann will auch er entleert sein, und wie das funktioniert, hat Giulia Enders in ihrem Werk Darm mit Charme trefflich zur Sprache gebracht:
»Unser Klogang ist eine Meisterleistung – zwei Nervensysteme arbeiten gewissenhaft zusammen, um unseren Müll so diskret und hygienisch wie möglich zu entsorgen. […] Unser Körper hat dafür allerlei Vorrichtungen und Tricks entwickelt. Es fängt schon damit an, wie ausgetüftelt unsere Schließmechanismen sind. Fast jeder kennt immer nur den äußeren Schließmuskel, den man gezielt auf- und zubewegen kann. Es gibt einen ganz ähnlichen Schließmuskel, wenige Zentimeter entfernt – nur können wir ihn nicht bewusst steuern. Jeder der beiden Schließmuskeln vertritt die Interessen eines anderen Nervensystems. Der äußere Schließmuskel ist treuer Mitarbeiter unseres Bewusstseins. Wenn unser Gehirn es unpassend findet, jetzt auf die Toilette zu gehen, dann hört der äußere Schließmuskel auf das Bewusstsein und hält so dicht, wie er eben kann. Der innere Schließmuskel ist der Vertreter unserer unbewussten Innenwelt. […]
Diese beiden Schließmuskeln müssen zusammenarbeiten. Wenn unsere Verdauungsreste beim inneren Schließmuskel ankommen, macht dieser reflexartig auf. Er lässt allerdings nicht einfach alles auf den äußeren Schließmuskelkollegen los, sondern erst einmal nur einen Testhappen. In dem Raum zwischen innerem und äußerem Schließmuskel sitzen viele Sensorzellen. Diese analysieren das angelieferte Produkt darauf, ob es fest oder gasförmig ist, und schicken ihre Information hoch an das Gehirn: Ich muss aufs Klo! … oder vielleicht auch nur pupsen. Es macht dann, was es mit seinem ›bewussten Bewusstsein‹ so gut kann: Es stellt uns auf unsere Umwelt ein. Dazu nimmt es Informationen von Augen und Ohren und zieht seinen Erfahrungsschatz hinzu. In Sekundenschnelle entsteht so eine erste Einschätzung, die das Gehirn zurück an den äußeren Schließmuskel funkt: ›Ich habe geguckt, wir sind gerade bei Tante Berta im Wohnzimmer – Pupse gehen vielleicht noch, wenn du sie ganz leise raustwitschen lässt. Fest eher ungut.‹ Der äußere Schließmuskel versteht und verschließt sich voller Loyalität noch fester als zuvor. Dieses Signal bemerkt dann auch der innere Schließmuskel und respektiert erst mal die Entscheidung seines Kollegen. Die beiden verbünden sich und schieben den Testhappen in eine Warteschleife. Raus muss es irgendwann, nur eben nicht hier und jetzt auch nicht. Einige Zeit später wird es der innere Schließmuskel einfach noch mal mit einem Testhappen probieren. Sitzen wir mittlerweile gemütlich zu Hause auf dem Sofa: freie Fahrt!«26
Nach der – hoffentlich wohlschmeckenden und bekömmlichen – Speisenaufnahme folgen die Verdauung und irgendwann später der Gang auf die Toilette. Was nun diesem Ablauf mit anschließender »freier Fahrt« gleichsam eingeschrieben ist, verdeutlicht Elias Canetti (1905 – 1994) in seinem Werk Masse und Macht in akribischer Klarheit. Sämtliche Nahrungsmittel, die wir uns zum Überleben einverleiben müssen, bestehen ja biologisch betrachtet aus anderen Lebewesen, und deren Verzehr bestimmt unsere Wirklichkeit aus der Sicht des Literaturnobelpreisträgers entschieden mehr, als es im alltäglichen Hin und Her den Anschein hat. In dem von Canetti unzweideutig betitelten Kapitel »Eingeweide der Macht« heißt es:
»Nichts hat so sehr zu einem gehört, als was zu Kot geworden ist. Der konstante Druck, unter dem die Speise gewordene Beute steht, während der ganzen langen Weile, die sie durch den Leib wandert, ihre Auflösung und die innige Verbindung, die sie mit dem Verdauenden eingeht, das vollkommene und endgültige Verschwinden erst aller Funktionen, dann aller Formen, die einmal ihre eigene Existenz ausgemacht haben, die Angleichung oder Assimilation an das, was vom Verdauenden als Leib bereits vorhanden ist – all das läßt sich sehr wohl als der zentralste, wenn auch verborgenste Vorgang der Macht sehen. Er ist so selbstverständlich, selbsttätig und jenseits alles Bewußten, daß man seine Bedeutung unterschätzt.«27
Unsere Exkretion, daran lässt Elias Canetti keinen Zweifel, hat weit größere Dimensionen, als die rein physiologische Funktion erkennen lässt. Die Bewältigung der Wirklichkeit durch das Ergreifen, Erkaufen, Zubereiten, Einverleiben und Verdauen von Beute, die die überlebenssichernden Nährstoffe, Mineralien und Vitamine enthält, bleibt für instinktentbundene Mängelwesen vom Schlage Homo sapiens offenbar nicht folgenlos. Weder im Psychischen noch im Sozialen und Kulturellen. Und eben deshalb kommt für Canetti beim Stuhlgang auch weit mehr ans Tageslicht, als es scheint:
»Der Kot, der von allem übrigbleibt, ist mit unserer ganzen Blutschuld beladen. An ihm läßt sich erkennen, was wir gemordet haben. Er ist die zusammengepreßte Summe sämtlicher Indizien gegen uns. Als unsere tägliche, fortgesetzte, als unsere nie unterbrochene Sünde stinkt und schreit er zum Himmel. Es ist auffallend, wie man sich mit ihm isoliert. In eigenen, nur dazu dienenden Räumen entledigt man sich seiner; der privateste Augenblick ist jener der Absonderung; wirklich allein ist man nur mit seinem Kot. Es ist klar, daß man sich seiner schämt. Er ist das uralte Siegel jenes Machtprozesses der Verdauung, der sich im Verborgenen abspielt und ohne dieses Siegel verborgen bliebe.«28
Ich kommentiere das nicht weiter. Ein durchschnittlicher Europäer verdaut in seinem Leben gut zwanzig Tonnen Nahrung. Und was gibt er davon an die Umwelt zurück? Schätzungsweise mindestens 30 000 Liter Urin und bis zu 8000 Kilogramm Kot. Allerdings haben auch die Fäzes viel Flüssigkeit in sich – gut drei Viertel der Menge sind nichts als Wasser. Einer der großen Universalgelehrten seiner Zeit, Leonardo da Vinci (1452 – 1519), kommentierte die Existenz ihm unliebsamer Mitmenschen denn auch spöttisch mit den Worten: »Zahlreich sind jene, die sich als einfache Kanäle für die Nahrung und als Erzeuger von Dung und Füller von Latrinen bezeichnen könnten, denn sie kennen keine andere Beschäftigung in dieser Welt. Sie befleißigen sich keiner Tugend. Von ihnen bleiben nur volle Latrinen übrig.«29
Übrigens hinterlassen Vegetarier fast doppelt so viele Fäzes wie Fleischesser, weil sie mehr unverdauliche Ballaststoffe zu sich nehmen. Die Fleischesser hingegen produzieren stärker riechenden Kot, weil beim Abbau tierischer Eiweiße chemische Stoffe entstehen, die für ein von Mitmenschen zuweilen als unangenehm empfundenes Odeur sorgen. Fäzes entwickeln ihren spezifischen Duft nach der Ausscheidung vor allem aufgrund der Verbindungen von Skatol und Indol, die beim Abbau der Aminosäure Tryptophan entstehen. Auch die sich bei der Verdauung von Proteinen bildenden Alkanthiolen nebst Schwefelwasserstoff tragen zur Geruchsbildung bei. Normaler Menschenharn entfaltet seinen strengen, von ausgasendem Ammoniak herrührenden Geruch hingegen erst mit der Oxidation an der Luft – zunächst duftet er mehr nach Fleischbrühe oder, nach dem Genuss von Spargel, Baldrian und Lauch, nach Methylmerkaptan. Bei manchen jedenfalls. Denn nach dem Spargelessen scheiden sich Untersuchungen zufolge die Menschen in zwei Gruppen. Bei der einen verströmt der Urin ein spezifisches Aroma, bei der anderen riecht er wie immer. Verursacht wird dieser Unterschied durch ein Enzym, das die im Spargel enthaltene Asparaginsäure zersetzt, und das die einen unter uns haben und die anderen nicht.30
Die natürlichen Ausgasungen und anderen anrüchigen Düfte, die mir in oder nahe der Örtchen für unaufschiebbare Bedürfnisse täglich mehr oder weniger intensiv um die Nase wehen, sind eine Tatsache des Lebens. Alois Gmeiner hebt sie in seiner Tour de Toilette wie folgt ins Bewusstsein: »Das mit dem Klogang ist so eine Sache. Die Erleichterung, die jeder nach dem Abdrücken verspürt, widerspricht der Peinlichkeit, die man nach dem Verlassen der Toilette zurücklässt. Der infame Geruch hat heutzutage im Gegensatz zu den letzten 100 000 Jahren Menschheitsentwicklung selbstverständlich seine Gegner, die alles daran setzen, den letzten Rest des Besuchs und den unvermeidlichen Beweis für das große Geschäft zu vernichten, oft aber bitter scheitern – der üble Geruch bleibt! Nicht bloß das, die bösen Gase suchen sich dann auch noch ihren Weg aus der Toilette und lösen sich erst langsam und gänzlich und von allen ›bemerkt‹ in Luft auf. Meist ist es dann auch schon zu spät. Andere rümpfen bereits ihre Nasen, und den Produzenten überkommt eine seltsame Scham. […] Doch wie so oft – der Mensch ist schlau und erfinderisch, wenn es darum geht, etwas zu verdrängen. Beliebt sind Duftsprays, die ein geradezu witziges Geruchsgemisch erzeugen …«31
Der Geruchssinn zählt zu den klassischen fünf Sinnen; er ist entwicklungsgeschichtlich älter als der optische oder akustische. Schon Säuglinge erkennen wenige Tage nach der Geburt die Brust ihrer Mutter am Geruch. Die Wahrnehmung, Interpretation und der Umgang mit dem Geruch hat einen historisch langen kulturellen Vorlauf.32 Nicht zuletzt die Geschichte der Parfümerie umspannt Jahrtausende. Der Geruchssinn dient zur Kontrolle von Nahrungsmitteln und zur Appetitanregung, er fördert die Verdauung und dient der Gefahrenerkennung, etwa wenn Feuer ausbricht. Er ermöglicht sowohl die Identifizierung von Krankheiten wie nicht zuletzt eine »passende« Partnerwahl. Während nun bis ins 18. Jahrhundert hinein allgemein eine recht hohe Toleranz gegenüber auch streng riechenden Körperausdünstungen, Schlachtereien, Jauche- und Latrinengruben etc. herrschte, ist diese Schwelle seitdem erheblich niedriger geworden. Eine maßgebliche Ursache für die sich wandelnde Interpretation des Olfaktorischen war nicht zuletzt die gleichsam explodierende Urbanisierung und die damit einhergehende Verengung des sozialen Raums. Die wachsende Zahl der europäischen Großstädte geriet ab dem 18. Jahrhundert jedenfalls in den Ruch, ein Sinnbild von Elend, Gestank und Verschmutzung zu sein.
Von Kindheit an werden von uns Menschen die jeweils kulturspezifisch vorgegebenen Auffassungen mit erlernt, die ein grobes Raster für all die Gerüche vorgeben, die gesellschaftlich als wohlriechend oder eben stinkend und ekelig gelten können. Sie unterliegen dem historischen Wandel. Alain Corbin schreibt in seiner überwiegend aus französischen Quellen gespeisten Geschichte des Geruchs, menschlicher und tierischer Kot hätte früher in gewissen Kreisen als wohlriechend und sogar heilsam gegolten. Dass insbesondere die Ausgasung der eigenen Exkremente in aller Regel nicht als Gestank wahrgenommen wurde und wird, bestätigt Michel de Montaigne (1533 – 1592). In seinen Essais zitiert der Philosoph eine bezeichnende Überlieferung aus dem Altertum: »Unser liebster Duft, was ist es? / Der Gestank des eigenen Mistes!«33
Dass das Odeur der eigenen Exkremente und Winde in aller Regel keine Ekelgefühle erregt, die Düfte der Ausscheidungen von Mitmenschen im Zweifelsfall aber sehr wohl, gehört offenbar seit ehedem zur (ontologischen) Begleiterscheinung des kleinen und großen Menschengeschäfts. In einem düsteren Männer-WC las ich vor Jahren den Kommentar: »Eigenlob stinkt, aber hier riecht’s auch nicht nach Flieder.«