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[7]Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit Erster Abschnitt

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Je weiter hin es sich in Untersuchung der ältsten Weltgeschichte, ihrer Völkerwandrungen, Sprachen, Sitten, Erfindungen und Traditionen aufklärt:a desto wahrscheinlicher wird mit jeder neuen Entdeckung auch der Ursprung des ganzen Geschlechts von Einem. Man nähert sich immer mehr dem glücklichen Klima, wo ein Menschenpaar unter den mildesten Einflüssen der schaffenden Vorsehung, unter Beistande der erleichterndsten Fügungen rings um sich her den Faden anspann, der sich nachher mit solchen Wirrungen weit und lang fortgezogen: wo also auch alle ersten Zufälle für Anstalten einer mütterlichen Vorsehung gelten können, einen zarten Doppelkeim des ganzen Geschlechts mit alle der Wahl und Vorsicht zu entwickeln, die wir immer dem Schöpfer einer so edeln Gattung und seinem Blick auf Jahrtausend und Ewigkeit hinaus zutrauen müssen.

Was waren diese Neigungen? Was sollten sie sein? Die natürlichsten, stärksten, einfachsten! für alle Jahrhunderte der Menschenbildung die ewige Grundlage: Weisheit statt Wissenschaft, Gottesfurcht statt Weisheit, Eltern-, Gatten-, Kindesliebe statt Artigkeit und Ausschweifung, Ordnung des Lebens, Herrschaft und Gottregentschaft eines Hauses, das Urbild aller bürgerlichen Ordnung und Einrichtung – in diesem allen der einfachste Genuss der Menschheit, aber zugleich der tiefste – wie konnte das alles, ich will nicht fragen, erbildet, nur angebildet, fortgebildet werden, als – durch jene stille ewige Macht des Vorbilds, und einer Reihe Vorbilde mit ihrer Herrschaft um sich her? Nach unserm Lebensmaße wäre jede Erfindung hundertfach verlorengegangen; wie Wahn entsprungen und wie Wahn entflohen – welcher Unmündige sollte sie annehmen? welcher zu bald wieder Unmündige sie anzunehmen zwingen? Es zerfielen also die ersten Bande der Menschheit im Ursprung oder vielmehr damals so dünne kurze Fäden, wie hätten sie je die starken Bande werden können, ohne die selbst nach Jahrtausenden der Bildung das menschliche Geschlecht durch bloße Schwächung noch immer zerfällt? – Nein! mit frohem Schauer stehe ich dort vor der heiligen Zeder eines Stammvaters der Welt! Ringsum schon hundert junge blühende Bäume, ein schöner Wald der Nachwelt und Verewigung! aber siehe! die alte Zeder blüht noch fort, hat ihre Wurzeln weit umher und trägt den ganzen jungen Wald mit Saft und Kraft aus der Wurzel. Wo der Altvater auch [10]seine Kenntnisse, Neigungen und Sitten herhabe? was und wie wenig diese auch sein mögen? ringsum hat sich schon eine Welt und Nachwelt zu diesen Neigungen und Sitten, bloß durch die stille, kräftige, ewige Anschauung seines Gottesbeispiels gebildet und festgebildet! zwei Jahrtausende waren nur zwo Generationen.

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Indes auch von diesen heroischen Anfängen der Bildung menschlichen Geschlechts weggesehen: nach den bloßen Trümmern der weltlichen Geschichte und nach dem flüchtigsten Raisonnement über dieselbe à la Voltaire – welche Zustände können erdacht werden, erste Neigungen des menschlichen Herzens hervorzulocken, zu bilden, und festzubilden, als die wir schon in den Traditionen unsrer ältesten Geschichte würklich angewandt finden? Das Hirtenleben im schönsten Klima der Welt, wo die freiwillige Natur den einfachsten Bedürfnissen so zuvor oder zu Hülfe kommt, die ruhige und zugleich wandernde Lebensart der väterlichen Patriarchenhütte, mit allem, was sie gibt, und dem Auge entziehet, der damalige Kreis menschlicher Bedürfnisse, Beschäftigungen und Vergnügen, nebst allem, was nach Fabel oder Geschichte dazu kam, diese Beschäftigungen und Vergnügen zu lenken – man denke sich alles in sein natürliches, lebendiges Licht – welch ein erwählter Garten Gottes zur Erziehung der ersten, zartesten Menschengewächse! Siehe diesen Mann voll Kraft und Gefühl Gottes, aber so innig und ruhig fühlend, als hier der Saft im Baum treibt, als der Instinkt, der tausendartig dort unter Geschöpfe verteilt, der in [11]jedem Geschöpfe einzeln so gewaltig treibet, als dieser in ihn gesammlete stille, gesunde, Naturtrieb nur würken kann! Die ganze Welt ringsum, voll Segen Gottes: eine große, mutige Familie des Allvaters: diese Welt sein täglicher Anblick: an sie mit Bedürfnis und Genusse geheftet: gegen sie mit Arbeit, Vorsicht und mildem Schutze strebend unter diesem Himmel, in diesem Elemente Lebenskraft welche Gedankenform, welch ein Herz musste sich bilden! Groß und heiter wie die Natur! wie sie im ganzen Gange still und mutig! langes Leben, Genuss sein selbst auf die unzergliederlichste Weise, Einteilung der Tage durch Ruhe und Ermattung, Lernen und Behalten – siehe, das war der Patriarch für sich allein. – – Aber was für sich allein? Der Segen Gottes durch die ganze Natur, wo war er inniger als im Bilde der Menschheit, wie es sich fortfühlt und fortbildet: im Weibe für ihn geschaffen, im Sohn seinem Bilde ähnlich, im Gottesgeschlecht, das ringsum und nach ihm die Erde fülle. Da war Segen Gottes sein Segen: sein, die er regiert, sein, die er erzieht; sein die Kinder und Kindeskinder um ihn ins dritte und vierte Glied, die er alle mit Religion und Recht, Ordnung und Glückseligkeit leitet. – Dies das unausgezwungene Ideal einer Patriarchenwelt, auf welches alles in der Natur trieb: außer ihm kein Zweck des Lebens, kein Moment Behaglichkeit oder Kraftanwendung zu denken. – Gott! welch ein Zustand zu Bildung der Natur in den einfachsten, notwendigsten, angenehmsten Neigungen! – Mensch, Mann, Weib, Vater, Mutter, Sohn, Erbe, Priester Gottes, Regent und Hausvater, für alle Jahrtausende sollt’ er da gebildet werden! und ewig wird, außer dem tausendjährigen Reiche und [12]dem Hirngespinste der Dichter, ewig wird Patriarchengegend und Patriarchenzelt das goldne Zeitalter der kindlichen Menschheit bleiben.

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Dass nun zu dieser Welt von Neigungen selbst Zustände gehören, die wir uns aus einem Betruge unsrer Zeit oft viel zu fremde und schrecklich dichten, dürfte eine Induktion nach der andern zeigen. – Wir haben uns einen Despotismus des Orients aus den übertriebensten, gewaltsamsten Erscheinungen meist verfallender Reiche abgesondert, die sich mit ihm nur in ihrer letzten Todesangst sträuben (eben dadurch aber auch Todesangst zeigen!) – und da man nun nach unsern europäischen Begriffen (und vielleicht Gefühlen) von nichts Schrecklicherm als Despotismus sprechen kann: so tröstet man sich, ihn von sich selbst ab, in Umstände zu bringen, wo er gewiss nicht das schreckliche Ding war, das wir uns aus unserm Zustande an ihm träumen.b Mag’s sein, dass im Zelte des Patriarchen allein Ansehen, Vorbild, Autorität herrschte, und dass also, nach der aufgefädelten Sprache unsrer Politik, Furcht die Triebfeder dieses Regiments war – lass dich doch, o Mensch, vom Worte des Fachphilosophenc nicht irren, sondern siehe erst, was es denn für ein Ansehen, was für eine Furcht sei? Gibt’s nicht in jedem Menschenleben ein Alter, wo wir durch trockne und kalte [13]Vernunft nichts, aber durch Neigung, Bildung nach Autorität alles lernen? wo wir für Grübelei und Raisonnement des Guten, Wahren und Schönen kein Ohr, keinen Sinn, keine Seele; aber für die sogenannten Vorurteile und Eindrücke der Erziehung alles haben – siehe! diese sogenannte Vorurteile, ohne Barbara celarent aufgefasst und von keiner Demonstration des Naturrechts begleitet, wie stark, wie tief, wie nützlich und ewig! – Grundsäulen alles dessen, was später über sie gebaut werden soll, oder vielmehr schon ganz und gar Keime, aus denen sich alles Spätere und Schwächere, es heiße so glorwürdig als es wolle (jeder vernünftelt doch nur nach seiner Empfindung), entwickelt – also die stärksten, ewigen, fast göttlichen Züge, die unser ganzes Leben beseligen oder verderben; mit denen, wenn sie uns verlassen, uns alles verlässt – – Und siehe, was jedem einzelnen Menschen in seiner Kindheit unumgänglich not ist: dem ganzen Menschengeschlecht in seiner Kindheit gewiss nicht weniger. Was du Despotismus in seinem zartesten Keime nennest, und eigentlich nur Vaterautorität war, Haus und Hütte zu regieren – siehe, wie’s Dinge ausrichtete, die du jetzt mit alle deiner kalten Philosophie des Jahrhunderts wohl unterlassen müsstest! wie’s das, was recht und gut war oder wenigstens so dünkte, zwar nicht demonstrierte, aber dafür in ewige Formen festschlug, mit einem Glanze von Gottheit und Vaterliebe, mit einer süßen Schlaube früher Gewohnheit, und allem Lebendigen der Kindesideen aus seiner Welt, mit allem ersten Genuss der Menschheit in ein Andenken zauberte, dem nichts, nichts auf der Welt zu gleichen. Wie notwendig! wie gut! fürs ganze Geschlecht wie [14]nützlich! da wurden Grundsteine gelegt, die auf andre Art nicht gelegt werden konnten, nicht so leicht und tief gelegt werden konnten – sie liegen! Jahrhunderte haben drüber gebaut, Stürme von Weltalter haben sie wie den Fuß der Pyramiden mit Sandwüsten überschwemmet, aber nicht zu erschüttern vermocht – sie liegen noch! und glücklich, da alles auf ihnen ruht.

Morgenland, du hiezu recht auserwählter Boden Gottes! Die zarte Empfindlichkeit dieser Gegenden, mit der raschen, fliegenden Einbildung, die so gern alles in göttlichen Glanz kleidet: Ehrfurcht vor allem, was Macht, Ansehn, Weisheit, Kraft, Fußstapfe Gottes ist, und sodann gleich kindliche Ergebung, die sich ihnen natürlich, uns Europäern unbegreiflich, mit dem Gefühl von Ehrfurcht mischet: der wehrlose, zerstreute, ruheliebende, herdenähnliche Zustand des Hirtenlebens, das sich auf einer Ebne Gottes milde und ohn Anstrengung ausleben will – alle das, mehr und weniger von Umständen unterstützt, freilich hat’s in der spätem Folge auch dem Despotismus der Eroberer volle Materialien geliefert, so volle Materialien, dass Despotismus vielleicht ewig in Orient sein wird, und noch kein Despotismus in Orient durch fremde äußere Kräfte gestürzt worden: er musste nur immer, weil ihm nichts entgegenstand, und er sich unermesslich ausbreitete, allein durch eigne Last zerfallen. Allerdings hat dieser Despotismus auch oft die schrecklichsten Würkungen hervorgebracht, und wie der Philosoph sagen wird, die schrecklichste von allen, dass kein Morgenländer, als solcher, noch kaum von einer menschlichen, bessern Verfassung, innigen Begriff haben kann. – Aber alle das später dahingestellt und [15]zugegeben: Anfangs unter der milden Vaterregierung war nicht eben der Morgenländer mit seinem zarten Kindessinne der glücklichste und folgsamste Lehrling? Alles ward als Muttermilch und väterlicher Wein gekostet! Alles in Kindesherzen aufbewahrt und da mit dem Siegel göttlicher Autorität versiegelt! der menschliche Geist bekam die ersten Formen von Weisheit und Tugend mit einer Einfalt, Stärke und Hoheit, die nun – geradeheraus gesagt – in unsrer philosophischen, kalten europäischen Welt wohl nichts, gar nichts ihresgleichen hat. Und eben weil wir so unfähig sind, sie mehr zu verstehen! zu fühlen! geschweige denn zu genießen – so spotten wir, leugnen und missdeuten! der beste Beweis!

Ohne Zweifel gehört hiezu auch Religion, oder vielmehr war Religion »das Element, in dem das alles lebt’ und webte«. Auch von allem göttlichen Eindruck bei Schöpfung und frühester Pflege des Menschengeschlechts, (dem Ganzen so nötig als jedem einzelnen Kinde nach seiner Geburt Pflege der Eltern), von alledem auch den Blick entfernt, wenn Greis, Vater, König so natürlich Gottes Stelle vertrat und sich ebenso natürlich der Gehorsam unter väterlichen Willen, das Ankleben an alte Gewohnheit, und die ehrfurchtvolle Ergebung in den Wink des Obern, der das Andenken alter Zeiten hatte,d mit einer Art von kindlichem Religionsgefühl mischet – musstens denn, wie wir aus dem Geist und Herzen unsrer Zeit so sicher wähnen,e nichts anders als Betrüger und Bösewichter sein, die dergleichen Ideen [16]aufdrangen, arglistig erdichtet hatten und argwüterisch missbrauchten? Mag’s sein, dass dergleichen Religionsgefühl, als Element unsrer Handlungen, für unsern philosophischen Weltteil, für unsere gebildete Zeit, für unsre freidenkende Verfassung von innen und außen äußerst schändlich und schädlich wäre (ich glaube, sie ist, was noch mehr ist, leider! für ihn gar unmöglich), lass es sein, dass die Boten Gottes, wenn sie jetzt erschienen, Betrüger und Bösewichter wären: siehst du nicht, dass es mit dem dortigen Geist der Zeit, des Landes, der Stufe des Menschengeschlechts ganz anders ist? Bloß schon die älteste Philosophie und Regierungsform hat so natürlich in allen Ländern ursprünglich Theologie sein müssen! – – Der Mensch staunt alles an, ehe er sieht: kommt nur durch Verwunderung zur hellen Idee des Wahren und Schönen; nur durch Ergebung und Gehorsam zum ersten Besitz des Guten – so gewiss auch das menschliche Geschlecht. Hast du je einem Kinde aus der philosophischen Grammatik Sprache beigebracht? aus der abgezogensten Theorie der Bewegung es gehn gelernt? hat ihm die leichteste oder schwerste Pflicht aus einer Demonstration der Sittenlehre begreiflich gemacht werden müssen? und dürfen? und können? Gottlob eben! dass sie’s nicht dürfen und können! Diese zarte Natur, unwissend und dadurch auf alles begierig, leichtgläubig und damit alles Eindrucks fähig, zutrauend-folgsam, und damit geneigt, auf alles Gute geführt zu werden, alles mit Einbildung, Staunen, Bewundrung erfassend, aber eben damit auch alles umso fester und wunderbarer sich zueignend – »Glaube, Liebe und Hoffnung in seinem zarten Herzen, die einzigen Samenkörner aller Kenntnisse, [17]Neigungen und Glückseligkeit« – tadelst du die Schöpfung Gottes? oder siehst du nicht in jedem deiner sogenannten Fehler Vehikulum, einziges Vehikulum alles Guten? Wie töricht, wenn du diese Unwissenheit und Bewundrung, diese Einbildung und Ehrfurcht, diesen Enthusiasmus und Kindessinn mit den schwärzesten Teufelsgestalten deines Jahrhunderts, Betrügerei und Dummheit, Aberglaub’ und Sklaverei brandmarken, dir ein Heer von Priesterteufeln und Tyrannengespenstern erdichten willt, die nur in deiner Seele existieren! Wie tausendmal mehr töricht, wenn du einem Kinde deinen philosophischen Deismus, deine ästhetische Tugend und Ehre, deine allgemeine Völkerliebe voll toleranter Unterjochung, Aussaugung und Aufklärung nach hohem Geschmack deiner Zeit großmütig gönnen wolltest! Einem Kinde? O du das ärgste, törichtste Kind! und raubtest ihm damit seine bessre Neigungen, die Seligkeit und Grundfeste seiner Natur; machtest es, wenn dir der unsinnige Plan gelänge, zum unerträglichsten Dinge in der Welt – einem Greise von drei Jahren.

Unser Jahrhundert hat sich den Namen: Philosophie! mit Scheidewasser vor die Stirn gezeichnet, das tief in den Kopf seine Kraft zu äußern scheint – ich habe also den Seitenblick dieser philosophischen Kritik der ältesten Zeiten, von der jetzt bekanntlich alle Philosophien der Geschichte, und Geschichten der Philosophie voll sind, mit einem Seitenblicke obwohl Unwillens und Ekels erwidern müssen, ohne dass ich mich um die Folgen des einen und des andern zu bekümmern nötig finde. Gehe hin, mein Leser, und fühle noch jetzt hinter Jahrtausenden die so lang erhaltne reine morgenländische Natur, [18]belebe sie dir aus der Geschichte der ältesten Zeiten, und du wirst »Neigungen antreffen, wie sie nur in dem Lande, auf die Art, zu den großen Zwecken der Vorsehung aufs Menschengeschlecht hinab gebildet werden konnten« – welch ein Gemälde, wenn ich’s dir liefern könnte, wie es war!

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Die Vorsehung leitete den Faden der Entwicklung weiter – vom Euphrat, Oxus und Ganges herab, zum Nil und an die phönizischen Küsten – große Schritte!

Es ist selten ohne Ehrfurcht, dass ich mich vom alten Ägypten und von der Betrachtung entferne, was es in der Geschichte des menschlichen Geschlechts geworden! Land, wo ein Teil des Knabenalters der Menschheit an Neigungen und Kenntnissen gebildet werden sollte, wie in Orient die Kindheit! Ebenso leicht und unvermerkt als dort die Genese, war hier die Metamorphose.

Ägypten war ohne Viehweide und Hirtenleben: der Patriarchengeist der ersten Hütte ging also verloren. Aber aus Nilschlamm gebildet und von ihm befruchtet, gab’s, beinahe ebenso leicht, den vortrefflichsten Ackerbau: also ward die Schäferwelt von Sitten, Neigungen, Kenntnissen ein Bezirk von Ackermenschen. Das Wanderleben hörte auf: es wurden feste Sitze, Landeigentum. Länder mussten ausgemessen, jedem das Seine bestimmt, jeder bei dem Seinen beschützt werden: jeden konnte man also auch bei dem Seinen finden – es ward Landessicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung, Polizei, wie alles im Wanderleben des Orients nie möglich [19]gewesen: es ward neue Welt. Nun kam eine Industrie auf, wie sie der selige, müßige Hüttenwohner, der Pilger und Fremdling auf Erden, nicht gekannt hatte: Künste erfunden, die jener weder brauchte noch zu brauchen Lust fühlte. Bei dem Geist ägyptischer Genauigkeit und Ackerfleißes konnten diese Künste nicht anders, als zu einem hohen Grad mechanischer Vollkommenheit gelangen: der Sinn des strengen Fleißes, der Sicherheit und Ordnung ging durch alles: jeder war in der Kunde der Gesetzgebung, derselben mit Bedürfnis und Genuss verpflichtet: also ward auch der Mensch unter sie gefesselt: die Neigungen, die dort bloß väterlich, kindlich, schäfermäßig, patriarchisch gewesen waren, wurden hier bürgerlich, dörflich, städtisch. Das Kind war dem Flügelkleide entwachsen: der Knabe saß auf der Schulbank und lernte Ordnung, Fleiß, Bürgersitten.

Eine genaue Vergleichung des morgenländischen und ägyptischen Geistes müsste zeigen, dass meine Analogie, von menschlichen Lebensaltern hergenommen, nicht Spiel sei. Offenbar war allem, was beide Alter auch gemeinschaftlich hatten, der himmlische Anstrich genommen, und es mit Erdehaltung und Ackerleim versetzt: Ägyptens Kenntnisse waren nicht mehr väterliche Orakelsprüche der Gottheit, sondern schon Gesetze, politische Regeln der Sicherheit, und der Rest von jenen ward bloß als heiliges Bild an die Tafel gemalt, dass es nicht unterginge, dass der Knabe davor stehen, entwickeln und Weisheit lernen sollte. Ägyptens Neigungen nicht mehr so kindeszart als die in Orient: das Familiengefühl schwächte sich, und ward dafür Sorge für dieselbe, Stand, Künstlertalent, das sich mit dem Stande wie Haus und [20]Acker forterbte. Aus dem müßigen Zelte, wo der Mann herrschte, war eine Hütte der Arbeit geworden, wo auch das Weib schon Person war, wo der Patriarch jetzt als Künstler saß und sein Leben fristete. Die freie Aue Gottes voll Herden, ein Acker voll Dörfer und Städte: das Kind, was Milch und Honig aß, ein Knabe, der über seine Pflichten mit Kuchen belohnt wurde – – es webte neue Tugend durch alles, die wir ägyptischen Fleiß, Bürgertreue nennen wollen, die aber nicht orientalisches Gefühl war. Dem Morgenländer, wie ekelt ihm noch jetzt Ackerbau, Städteleben, Sklaverei in Kunstwerkstätten! wie wenig Anfänge hat er noch nach Jahrtausenden in alledem gemacht: er lebt und webt als ein freies Tier des Feldes. Der Ägypter im Gegenteil, wie hasste und ekelte er den Viehhirten, mit allem, was ihm anklebte! eben wie sich nachher der feinere Grieche wieder über den lastbaren Ägypter erhob – es hieß nichts, als dem Knaben ekelte das Kind in seinen Windeln, der Jüngling hasste den Schulkerker des Knaben; im Ganzen aber gehörten alle drei auf- und nacheinander. Der Ägypter ohne morgenländischen Kindesunterricht wäre nicht Ägypter, der Grieche ohne ägyptischen Schulfleiß nicht Grieche – eben ihr Hass zeigt Entwickelung, Fortgang, Stufen der Leiter!

Zum Erstaunen sind sie, die leichten Wege der Vorsehung: sie, die das Kind durch Religion lockte und erzog, entwickelte den Knaben durch nichts als Bedürfnisse und das liebe Muss der Schule. Ägypten hatte keine Weiden – der Einwohner musste also Ackerbau wohl lernen, wie sehr erleichterte sie ihm dies schwere Lernen durch den fruchtbringenden Nil. Ägypten hatte kein [21]Holz: man musste mit Stein bauen lernen: Steingruben gnug da: der Nil bequem da, sie fortzubringen – wie hoch ist die Kunst gestiegen! wie viel entwickelte sie andre Künste! Der Nil überschwemmte: man brauchte Ausmessungen, Ableitungen, Dämme, Kanäle, Städte, Dörfer – auf wie mancherlei Weise ward man am Erdkloß angeheftet! aber wie viel Einrichtung entwickelte auch der Erdkloß! Er ist mir auf der Karte nichts als Tafel voll Figuren, wo jeder Sinn entwickelt hat: so original dies Land und seine Produkte, so eine eigne Menschengattung! Der menschliche Verstand hat viel in ihm gelernt, und vielleicht ist keine Gegend der Erde, wo dies Lernen so offenbar Kultur des Bodens gewesen als hier. Sina ist noch sein Nachbild: man urteile und errate.

Auch hier wieder Torheit, eine einzige ägyptische Tugend aus dem Lande, der Zeit und dem Knabenalter des menschlichen Geistes herauszureißen und mit dem Maßstabe einer andern Zeit zu messen! Konnte, wie gezeigt, sich schon der Grieche so sehr am Ägypter irren und der Morgenländer den Ägypter hassen: so dünkt mich, sollt’s doch erster Gedanke sein, ihn bloß auf seiner Stelle zu sehen, oder man sieht, zumal aus Europa her, die verzogenste Fratze. Die Entwicklung geschah aus Orient und der Kindheit herüber – natürlich musste also noch immer Religion, Furcht, Autorität, Despotismus das Vehikulum der Bildung werden: denn auch mit dem Knaben von sieben Jahren lässt sich noch nicht, wie mit Greis und Manne, vernünfteln. Natürlich musste also auch, nach unserm Geschmack, dies Vehikulum der Bildung harte Schlaube, oft solche Ungemächlichkeiten, so viel Krankheiten verursachen, die man [22]Knabenstreitigkeiten und Kantonskriege nennt. Du kannst so viel Galle du willt über den ägyptischen Aberglauben und das Pfaffentum ausschütten, als z. B. jener liebenswürdige Plato Europens,f der nur alles zu sehr nach griechischem Urbilde modeln will, getan hat – alles wahr! alles gut, wenn das Ägyptentum für dein Land und deine Zeit sein sollte. Der Rock des Knaben ist allerdings für den Riesen zu kurz! und dem Jünglinge bei der Braut der Schulkerker anekelnd: aber siehe! dein Talar ist für jenen wieder zu lang, und siehst du nicht, wenn du etwas ägyptischen Geist kennest, wie deine bürgerliche Klugheit, philosophischer Deismus, leichte Tändelei, Umlauf in alle Welt, Toleranz, Artigkeit, Völkerrecht und wie der Kram weiter heiße, den Knaben wieder zum elenden Greisknaben würde gemacht haben. Er musste eingeschlossen sein; eine gewisse Privation von Kenntnissen, Neigungen und Tugenden musste da sein, um das zu entwickeln, was in ihm lag und jetzt in der Reihe der Weltbegebenheiten nur das Land, die Stelle entwickeln konnte! Also waren ihm diese Nachteile Vorteile oder unvermeidliche Übel, wie die Pflege mit fremden Ideen dem Kinde, Streifereien und Schulzucht dem Knaben – warum willt du ihn von seiner Stelle, aus seinem Lebensalter rücken – den armen Knaben töten? – – Welch eine große Bibliothek von solchen Büchern! bald die Ägypter zu alt gemacht, und aus ihren Hieroglyphen, Kunstanfängen, Polizeiverfassungen, welche Weisheit geklaubt!g bald sie wieder gegen die [23]Griechen, so tief verachteth – bloß weil sie Ägypter und nicht Griechen waren, wie meist die Liebhaber der Griechen, wenn sie aus ihrem Lieblingslande kamen. Offenbares Unrecht!

Der beste Geschichtschreiber der Kunst des Altertums, Winckelmann, hat über die Kunstwerke der Ägypter offenbar nur nach griechischem Maßstabe geurteilt, sie also verneinend sehr gut, aber nach eigner Natur und Art so wenig geschildert, dass fast bei jedem seiner Sätze in diesem Hauptstück das offenbar Einseitige und Schielende vorleuchtet. So Webb, wenn er ihre Literatur der griechischen entgegensetzt: so manche andre, die über ägyptische Sitten und Regierungsform gar mit europäischem Geist geschrieben haben. – Und da es den Ägyptern meistens so geht, dass man zu ihnen aus Griechenland und also mit bloß griechischem Auge kommt – wie kann’s ihnen schlechter gehen? Aber teurer Grieche! diese Bildsäulen sollten nun nichts weniger (wie du aus allem wahrnehmen könntest) als Muster der schönen Kunst nach deinem Ideal sein! voll Reiz, Handlung, Bewegung, wo von allem der Ägypter nichts wusste, oder was sein Zweck ihm gerade wegschnitt. Mumien sollten sie sein! Erinnerungen an verstorbne Ältern oder Vorfahren nach aller Genauigkeit ihrer Gesichtszüge, Größe nach hundert festgesetzten Regeln, an die der Knabe gebunden war also natürlich eben ohne Reiz, ohne Handlung, ohne Bewegung, eben in dieser Grabesstellung mit Händ und Füßen voll Ruhe und Tod – ewige Marmormumien! siehe, das sollten sie sein und sind’s auch! sind’s im höchsten [24]Mechanischen der Kunst! im Ideal ihrer Absicht! – wie geht nun dein schöner Tadeltraum verloren! Wenn du auf zehnfache Weise den Knaben durch ein Vergrößerungsglas zum Riesen erhöbest und ihn belichtetest, du kannst nichts mehr in ihm erklären; alle Knabenhaltung ist weg, und ist doch nichts minder, als Riese!

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Die Phönizier waren, oder wurden, so verwandt sie den Ägyptern waren, gewissermaßen ihre Gegenseite von Bildung. Jene, wenigstens in den spätern Zeiten, Hasser des Meers und der Fremden, um einheimisch nur »alle Anlagen und Künste ihres Landes zu entwickeln«; diese zogen sich hinter Berg und Wüste an eine Küste, um eine neue Welt auf dem Meere zu stiften – und auf welchem Meere? auf einem Inselnsunde, einem Busen zwischen Ländern, das recht dahin geleitet, mit Küsten, Inseln und Landspitzen gebildet zu sein schien, um einer Nation die Mühe des Schwimmens und Landsuchens zu erleichtern – wie berühmt bist du, Archipelag und Mittelmeer, in der Geschichte des menschlichen Geistes! Ein erster handelnder Staat, ganz auf Handel gegründet, der die Welt zuerst über Asien hinaus recht ausbreitete, Völker pflanzte und Völker band – welch ein großer neuer Schritt zur Entwicklung! Nun musste freilich das morgenländische Hirtenleben mit diesem werdenden Staat fast schon unvergleichbar werden: Familiengefühl, Religion und stiller Landgenuss des Lebens schwand: die Regimentsform tat einen gewaltigen Schritt zur Freiheit der Republik, [25]von der weder Morgenländer noch Ägypter eigentlich Begriff gehabt. Auf einer handelnden Küste mussten bald wider Wissen und Willen gleichsam Aristokratien von Städten, Häusern und Familien werden – mit allem welch eine Veränderung in Form menschlicher Gesellschaft! Als also Hass gegen die Fremden und Verschlossenheit von andern Völkern schwand, ob der Phönizier gleich nicht aus Menschenliebe Nationen besuchte, es ward eine Art von Völkerliebe, Völkerbekanntschaft, Völkerrecht sichtbar, von dem denn nun wohl ganz natürlich ein eingeschlossner Stamm oder ein kolchisches Völkchen nichts wissen konnte. Die Welt wurde weiter: Menschengeschlechter verbundner und enger: mit dem Handel eine Menge Künste entwickelt, ein ganz neuer Kunsttrieb in Sonderheit, für Vorteil, Bequemlichkeit, Üppigkeit und Pracht! Auf einmal stieg der Fleiß der Menschen von der schweren Pyramidenindustrie und dem Ackerfleiße in ein »Niedliches kleinerer Beschäftigungen« hinunter. Statt jener unnützen, teillosen Obelisken wandte sich die Baukunst auf teilvolle und in jedem Teil nutzbare Schiffe. Aus der stummen, stehenden Pyramide ward der wandelnde, sprechende Mast. Hinter der Bildnerei und Werkarbeit der Ägypter ins Große und Ungeheure spielte man jetzt so vorteilhaft mit Glas, mit zerstücktem, gezeichnetem Metall, Purpur und Leinwand, Gerätschaft vom Libanon, Schmuck, Gefäßen, Zierrat – man spielt’s fremden Nationen in die Hände – welch andre Welt von Beschäftigung! von Zweck, Nutzen, Neigung, Seelenanwendung! Nun musste natürlich aus der schweren, geheimnisreichen Hieroglyphenschrift »leichte, abgekürzte, bräuchliche [26]Rechen- und Buchstabenkunst werden: nun musste der Bewohner des Schiffs und der Küste, der expatriierte Seestreicher und Völkerläufer dem Bewohner des Zelts und der Ackerhütte ein ganz anderes Geschöpf dünken: der Morgenländer musste ihm vorwerfen können, dass er Menschliches, der Ägypter, dass er Vaterlandsgefühl geschwächt, jener, dass er Liebe und Leben, dieser, dass er Treue und Fleiß verloren: jener, dass er vom heiligen Gefühl der Religion nichts wisse, dieser, dass er das Geheime der Wissenschaften, wenigstens in Resten auf seine Handelsmärkte zur Schau getragen.« Alles wahr. Nur entwickelte sich dagegen auch etwas ganz anderes, (was ich zwar keineswegs mit jenem zu vergleichen willens bin: denn ich mag gar nicht vergleichen!), phönizische Regsamkeit und Klugheit, eine neue Art Bequemlichkeit und Wohlleben, der Übergang zum griechischen Geschmack, und eine Art Völkerkunde, der Übergang zur griechischen Freiheit. Ägypter und Phönizier waren also bei allem Kontraste der Denkart Zwillinge einer Mutter des Morgenlands, die nachher gemeinschaftlich Griechenland und so die Welt weiter hinaus bildeten. Also beide Werkzeuge der Fortleitung in den Händen des Schicksals, und wenn ich in der Allegorie bleiben darf, der Phönizier, der erwachsenere Knabe, der umherlief und die Reste der uralten Weisheit und Geschicklichkeit mit leichterer Münze auf Märkte und Gassen brachte. Was ist die Bildung Europens den betrügerischen, gewinnsüchtigen Phöniziern schuldig! – Und nun der schöne griechische Jüngling.

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[27]Wie wir uns vor allem der Jünglingszeit mit Lust und Freude erinnern, Kräfte und Glieder bis zur Blüte des Lebens ausgebildet: unsre Fähigkeiten bis zur angenehmen Schwatzhaftigkeit und Freundschaft entwickelt: alle Neigungen auf Freiheit und Liebe, Lust und Freude gestimmt, und alle nun im ersten süßen Tone – wie wir die Jahre fürs güldne Alter und für ein Elysium unsrer Erinnerung halten (denn wer erinnert sich seiner unentwickelten Kindheit?), die am glänzendsten ins Auge fallen, eben im Aufbrechen der Blüte, alle unsre künftige Würksamkeit und Hoffnungen im Schoße tragend – in der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz bleiben, wo sie ihre schönste Jugend und Brautblüte verlebt hat. Der Knabe ist Hütte und Schule entwachsen und steht da – edler Jüngling mit schönen gesalbten Gliedern, Liebling aller Grazien und Liebhaber aller Musen, Sieger in Olympia und all’ anderm Spiele, Geist und Körper zusammen nur eine blühende Blume!

Die Orakelsprüche der Kindheit und Lehrbilder der mühsamen Schule waren jetzt beinahe vergessen; der Jüngling entwickelte sich aber daraus alles, was er zu Jugendweisheit und Tugend, zu Gesang und Freude, Lust und Leben brauchte. Die groben Arbeitkünste verachtete er, wie die bloß barbarische Pracht und das zu einfache Hirtenleben; aber von allem brach er die Blüte einer neuen schönen Natur. – Handwerkerei ward durch ihn schöne Kunst: der dienstbare Landbau, freie Bürgerzunft, schwere Bedeutungsfülle des strengen Ägypten, leichte, schöne griechische Liebhaberei in aller Art. Nun, welche neue schöne Klasse von [28]Neigungen und Fähigkeiten, von denen die frühere Zeit nichts wusste, zu denen sie aber Keim gab. Die Regimentsform, musste sie sich nicht vom orientalischen Vaterdespotismus durch die ägyptischen Landzünfte und halbe phönizische Aristokratien herabgeschwungen haben, ehe die schöne Idee einer Republik in griechischem Sinne, »Gehorsam mit Freiheit gepaart und mit dem Namen Vaterland umschlungen«, statthaben konnte? Die Blüte brach hervor: holdes Phänomenon der Natur! heißt »griechische Freiheit!« Die Sitten mussten sich vom orientalischen Vater- und ägyptischen Taglöhnersinn durch die phönizische Reiseklugheit gemildert haben: und siehe! die neue schöne Blüte brach hervor, »griechische Leichtigkeit, Milde und Landesfreundschaft«. Die Liebe musste den Schleier der Harems durch manche Stufen verdünnen, ehe sie das schöne Spiel der griechischen Venus, Amors und der Grazien ward. So Mythologie, Poesie, Philosophie, schöne Künste: Entwickelungen uralter Keime, die hier Jahrszeit und Ort fanden, zu blühen und in alle Welt zu duften. Griechenland ward die Wiege der Menschlichkeit, der Völkerliebe, der schönen Gesetzgebung, des Angenehmsten in Religion, Sitten, Schreibart, Dichtung, Gebräuchen und Künsten. – Alles Jugendfreude, Grazie, Spiel und Liebe!

Es ist zum Teil genug entwickelt, was für Umstände zu dieser einzigen Produktion des Menschengeschlechts beigetragen, und ich setze diese Umstände nur ins Größere der allgemeinen Verbindung von Zeitläuften und Völkern. Siehe dies schöne griechische Klima und in ihm das wohlgebildete Menschengeschlecht mit freier Stirn und feinen Sinnen – ein rechtes Zwischenland [29]der Kultur, wo aus zwei Enden alles zusammenfloss, was sie so leicht und edel verwandelten! Die schöne Braut wurde von zweien Knaben bedient zur Rechten und Linken, sie tat nur schön idealisieren; eben die Mischung phönizischer und ägyptischer Denkart, deren eine der andern ihr Nationelles und ihren eckigten Eigensinn benahm, formte den griechischen Kopf zum Ideal, zur Freiheit. Jetzt die sonderbaren Anlässe ihrer Teilung und Vereinigungen von den frühesten Zeiten her: ihre Abtrennung in Völker, Republiken, Kolonien, und doch der gemeinschaftliche Geist derselben; Gefühl einer Nation, eines Vaterlands, einer Sprache! – Die besondern Gelegenheiten zu Bildung dieses Allgemeingeists, vom Zuge der Argonauten und dem Feldzuge gegen Troja an, bis zu den Siegen gegen die Perser und die Niederlage gegen den Mazedonier, da Griechenland starb! – Ihre Einrichtungen gemeinschaftlicher Spiele und Nacheiferungen, immer mit kleinen Unterschieden und Veränderungen, bei jedem kleinsten Erdstrich und Völkchen – alles und zehnfach mehr gab Griechenland eine Einheit und Mannigfaltigkeit, die auch hier das schönste Ganze machte. Kampf und Beihülfe, Streben und Mäßigen; die Kräfte des menschlichen Geistes kamen ins schönste Eben- und Unebenmaß – Harmonie der griechischen Leier!

Aber dass nun nicht eben damit unsäglich vieles von der alten frühern Stärke und Nahrung verlorengehen musste, wer wollte das leugnen? Da den ägyptischen Hieroglyphen ihre schwere Hülle abgestreift ward, so kann’s immer sein, dass auch ein gewisses Tiefe, Bedeutungsvolle, Naturweise, was Charakter dieser Nation war, damit über See [30]verduftete: der Grieche behielt nichts als schönes Bild, Spielwerk, Augenweide – nennt’s gegen jenes Schwerere wie ihr wollt; gnug, er wollte nur dies! Der Religion des Morgenlandes ward ihr heiliger Schleier genommen: und natürlich, da alles auf Theater und Markt und Tanzplatz Schau getragen wurde, ward’s in kurzem »Fabel, schön ausgedehnt, beschwatzet, gedichtet und neugedichtet – Jünglingstraum und Mädchensage!« die morgenländische Weisheit, dem Vorhange der Mysterien entnommen, ein schön Geschwätz, Lehrgebäude und Zänkerei der griechischen Schulen und Märkte. Der ägyptischen Kunst ward ihr schweres Handwerksgewand entnommen, und so verlor sich auch das zu genaue Mechanische und Künstlerstrenge, wornach die Griechen nicht strebten: der Koloss erniederte sich zur Bildsäule: der Riesentempel zum Schauplatz: ägyptische Ordnung und Sicherheit ließ in dem Vielfachen Griechenlands von selbst nach. Jener alte Priester konnte in mehr als einem Betracht sagen: »Oh, ihr ewigen Kinder, die ihr nichts wisst und so viel schwatzt, nichts habt und alles so schön vorzeiget«, und der alte Morgenländer aus seiner Patriarchenhütte würde noch heftiger sprechen – ihnen statt Religion, Menschheit und Tugend nur Buhlerei mit alle dem Schuld geben können usw. Sei’s. Das menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muss immer verlassen, indem es weiterrückt. Griechenland rückte weiter: ägyptische Industrie und Polizei konnte ihnen nicht helfen, weil sie kein Ägypten und keinen Nil – phönizische Handelsklugheit nicht helfen, weil sie keinen Libanus und kein Indien im Rücken hatten: zur orientalischen Erziehung war die Zeit vorbei – gnug! es ward, was es war – Griechenland! Urbild und [31]Vorbild aller Schöne, Grazie und Einfalt! Jugendblüte des menschlichen Geschlechts – o hätte sie ewig dauren können!

Ich glaube, der Stand, in den ich Griechenland stelle, trägt auch bei, »den ewigen Streit über die Originalität der Griechen oder ihre Nachahmung fremder Nationen« etwas zu entwirren: man hätte sich wie überall, also auch hier, lange vereinigt, hätte man sich nur besser verstanden. Dass Griechenland Samenkörner der Kultur, Sprache, Künste und Wissenschaften anderswoher erhalten, ist, dünkt mich, unleugbar, und es kann bei einigen, Bildhauerei, Baukunst, Mythologie, Literatur, offenbar gezeigt werden. Aber dass die Griechen dies alles so gut als nicht erhalten, dass sie ihm ganz neue Natur angeschaffen, dass in jeder Art das »Schöne« im eigentlichen Verstande des Worts ganz gewiss ihr Werk sei – das, glaube ich, wird aus einiger Fortleitung der Ideen ebenso gewiss. Nichts Orientalisches, Phönizisches und Ägyptisches behielt seine Art mehr: es ward Griechisch, und in manchem Betracht waren sie fast zu sehr Originale, die alles nach ihrer Art um- und einkleideten. Von der größten Erfindung und der wichtigsten Geschichte an, bis auf Wort und Zeichen – alles ist davon voll: von Schritt zu Schritt, bei allen Nationen ist’s ebenfalls so – wer weiter System bauen oder über Namen streiten will, streite!

Es kam das Mannesalter menschlicher Kräfte und Bestrebungen – die Römer. Gegen die Griechen hat Virgil auf einmal sie geschildert, jenen schöne Künste und Jugendübungen überlassen:

tu regere imperio populos, Romane, memento.

[32]Ungefähr damit auch gegen die Nordländer ihren Zug geschildert, die es ihnen vielleicht an barbarischer Härte, Stärke im Anfalle und roher Tapferkeit zuvortaten; aber –

tu regere imperio populos –

Römertapferkeit idealisiert: Römertugend! Römersinn! Römerstolz! Die großmütige Anlage der Seele, über Wollüste, Weichlichkeit und selbst das feinere Vergnügen hinwegzusehen und fürs Vaterland zu würken: der gefasste Heldenmut, nie tollkühn zu sein und sich in Gefahr zu stürzen, sondern zu harren, zu überlegen, zu bereiten und zu tun: es war der unerschütterte Gang, durch nichts, was Hindernis heißt, sich abschrecken zu lassen, eben im Unglück am größten zu sein und nicht zu verzweifeln: es war endlich der große, immer unterhaltene Plan, mit nichts wenigerm sich zu begnügen, als bis ihr Adler den Weltkreis deckte. – – Wer zu allen diesen Eigenschaften ein vielwichtiges Wort prägen, darin zugleich ihre männliche Gerechtigkeit, Klugheit, das Volle ihrer Entwürfe, Entschließungen, Ausführungen und überhaupt aller Geschäfte ihres Weltbaus begreifen kann, der nenne es. – Gnug, hier stand der Mann, der des Jünglings genoss und brauchte, für sich aber nur Wunder der Tapferkeit und Männlichkeit tun wollte; mit Kopf, Herz und Armen!

Auf welcher Höhe hat das römische Volk gestanden, welchen Riesentempel auf dieser Höhe erbaut! Sein Staats- und Kriegsgebäude, dessen Plan und Mittel zur Ausführung – Kolossus für alle Welt! Konnte in Rom ein Bubenstück begangen werden, ohne dass Blut in drei Erdteilen [33]floss? und die großen würdigen Leute dieses Reichs, wo? und wie? würkten sie hinaus! was für Glieder dieser großen Maschine fast unwissend mit so leichten Kräften bewogen! wohin alle ihre Werkzeuge erhöht und befestigt: Senat und Kriegskunst – Gesetze und Zucht – Römerzweck und Stärke, ihn auszuführen – ich schaure! Was bei den Griechen Spiel, Jugendprobe gewesen war, ward bei ihnen ernsthafte, feste Einrichtung: die griechischen Muster auf einem kleinen Schauplatze, einer Erdenge, einer kleinen Republik, auf der Höhe und mit der Stärke aufgeführt, wurden Schautaten der Welt.

Wie man auch die Sache nehme: es war »Reife des Schicksals der alten Welt«. Der Stamm des Baums zu seiner größern Höhe erwachsen, strebte, Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige. Mit Griechen, Phöniziern, Ägyptern und Morgenländern zu wetteifern, haben die Römer nie zu ihrer Hauptsache gemacht; aber indem sie alles, was vor ihnen war, männlich anwandten – was wurde für ein römischer Erdkreis! Der Name knüpfte Völker und Weltstriche zusammen, die sich voraus nicht dem Laut nach gekannt hatten. Römische Provinzen! in allen wandelten Römer, römische Legionen, Gesetze, Vorbilder von Sitten, Tugenden und Lastern. Die Mauer ward zerbrochen, die Nation von Nation schied, der erste Schritt gemacht, die Nationalcharaktere aller zu zerstören, alle in eine Form zu werfen, die »Römervolk« hieß. Natürlich war der erste Schritt noch nicht das Werk: jede Nation blieb bei ihren Rechten, Freiheiten, Sitten und Religion; ja, die Römer schmeichelten ihnen, eine Puppe der letzten selbst mit in ihre Stadt zu bringen. Aber die Mauer lag. Jahrhunderte von Römerherrschaft – [34]wie man in allen Weltteilen, wo sie gewesen sind, siehet – würkten sehr viel: Sturm, der die innersten Kammern der Nationaldenkart jedes Volks durchdrang: mit der Zeit wurden die Bande immer fester, endlich sollte das ganze römische Reich gleichsam nur Stadt Rom werden – alle Untertanen Bürger – bis es selbst sank.

Auf keine Weise noch von Vorteil oder Nachteil geredet, allein von Würkung. Wenn alle Völker unter dem römischen Joche gewissermaße die Völker zu sein aufhörten, die sie waren, und also über die ganze Erde eine Staatskunst, Kriegskunst und Völkerrecht eingeführt wurde, wovon voraus noch kein Beispiel gewesen war: da die Maschine stand, und da die Maschine fiel, und da die Trümmern alle Nationen der römischen Erde bedeckten – gibt’s in aller Geschichte der Jahrhunderte einen größern Anblick! Alle Nationen von oder auf diesen Trümmern bauend! Völlig neue Welt von Sprachen, Sitten, Neigungen und Völkern – es beginnet eine andre Zeit – Anblick, wie aufs weite offenbare Meer neuer Nationen. – Lasset uns indessen noch vom Ufer einen Blick auf die Völker werfen, deren Geschichte wir durchlaufen sind.

*

I. Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset aufeinanderfolgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres, zusammen – wen hat man gemalt? wen hat das schildernde Wort getroffen? – Endlich, man fasst sie doch in nichts als [35]ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung! wie kann man missverstanden werden! –

Wer bemerkt hat, was es für eine unaussprechliche Sache mit der Eigenheit eines Menschen sei, das Unterscheidende unterscheidend sagen zu können? wie er fühlt und lebet? wie anders und eigen ihm alle Dinge werden, nachdem sie sein Auge siehet, seine Seele misst, sein Herz empfindet – welche Tiefe in dem Charakter nur einer Nation liege, die, wenn man sie auch oft gnug wahrgenommen und angestaunet hat, doch so sehr das Wort fleucht und im Worte wenigstens so selten einem jeden anerkennbar wird, dass er verstehe und mitfühle – ist das, wie? wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Länder übersehen, in einen Blick, ein Gefühl, ein Wort fassen soll! Mattes, halbes Schattenbild vom Worte! Das ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten müsste dazu kommen oder vorhergegangen sein; man müsste erst der Nation sympathisieren, um eine einzige ihrer Neigungen und Handlungen, alle zusammen zu fühlen, ein Wort finden, in seiner Fülle sich alles denken – oder man lieset – ein Wort.

Wir glauben alle, noch jetzt väterliche und häusliche und menschliche Triebe zu haben, wie sie der Morgenländer: Treue und Künstlerfleiß haben zu können, wie sie der Ägypter besaß: phönizische Regsamkeit, griechische Freiheitliebe, römische Seelenstärke – wer glaubt nicht zu dem allen Anlage zu fühlen, wenn nur Zeit, Gelegenheit – – und siehe! mein Leser, eben da sind wir. Der feigste [36]Bösewicht hat ohne Zweifel zum großmütigsten Helden noch immer entfernte Anlage und Möglichkeit; aber zwischen dieser und »dem ganzen Gefühl des Seins, der Existenz in solchem Charakter« – Kluft! Fehlte es dir also auch an nichts als an Zeit, an Gelegenheit, deine Anlagen zum Morgenländer, zum Griechen, zum Römer in Fertigkeiten und gediegne Triebe zu verwandeln – Kluft! nur von Trieben und Fertigkeiten ist die Rede. Ganze Natur der Seele, die durch alles herrscht, die alle übrigen Neigungen und Seelenkräfte nach sich modelt, noch auch die gleichgültigsten Handlungen färbet – um diese mitzufühlen, antworte nicht aus dem Worte, sondern gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein – nun allein bist du auf dem Wege, das Wort zu verstehen; nun allein aber wird dir auch der Gedanke schwinden, »als ob alles das einzeln oder zusammengenommen auch du seist!« Du alles zusammengenommen? Quintessenz aller Zeiten und Völker? das zeigt schon die Torheit!

Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfassung und Geschichte müssen entscheiden. Hat nicht ein Patriarch, aber außer den Neigungen, die »du ihm beimissest, auch andre gehabt? haben können?« ich sage zu beiden bloß: Allerdings! Allerdings hatte er andre, Nebenzüge, die sich aus dem, was ich gesagt oder nicht gesagt, von selbst verstehen, die ich, und vielleicht andre mit mir, denen seine Geschichte vorschwebt, in dem Worte schon anerkennen, und noch lieber, dass er weit andres haben können – auf anderm Ort, zu der Zeit, mit dem Fortschritte der Bildung, unter den andern Umständen – warum da nicht Leonidas, Cäsar und Abraham ein artiger Mann [37]unsres Jahrhunderts? sein können! aber war’s nicht: darüber frage die Geschichte: davon ist die Rede.

So mache ich mich ebenfalls auf kleinfügige Widersprüche gefasst, aus dem großen Detail von Völkern und Zeiten. Dass kein Volk lange geblieben und bleiben konnte, was es war, dass jedes, wie jede Kunst und Wissenschaft, und was in der Welt nicht? seine Periode des Wachstums, der Blüte und der Abnahme gehabt; dass jedwede dieser Veränderungen nur das Minimum von Zeit gedauert, was ihr auf dem Rade des menschlichen Schicksals gegeben werden konnte – dass endlich in der Welt keine zwei Augenblicke dieselbe sind – dass also Ägypter, Römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen – ich zittre, wenn ich denke, was weise Leute, zumal Geschichtkenner, für weise Einwendungen hierüber machen können! Griechenland bestand aus vielen Ländern: Athenienser und Böotier, Spartaner und Korinthier war sich nichts minder, als gleich – – Trieb man nicht auch in Asien den Ackerbau? Haben nicht Ägypter einmal ebenso gut gehandelt wie Phönizier? Waren die Mazedonier nicht ebenso wohl Eroberer als die Römer? Aristoteles nicht ebenso ein spekulativer Kopf als Leibniz? Übertrafen unsre nordischen Völker nicht die Römer an Tapferkeit? Waren alle Ägypter, Griechen, Römer – sind alle Ratten und Mäuse einander gleich – nein! aber sie sind doch Ratten und Mäuse!

Wie verdrüsslich muss es werden, zum Publikum zu reden, wo man vom schreienden Teile (der edler denkende Teil schweigt!) sich immer dergleichen und noch ärgere Einwendungen und in welchem Tone vorgetragen, versehen muss, und sich’s denn zugleich versehen muss, [38]dass der große Haufe Schafe, der nicht weiß, was rechts und links ist, dem sogleich nachwähne! Kann’s ein allgemeines Bild ohne Untereinander- und Zusammenordnung? kann’s eine weite Aussicht geben, ohne Höhe? Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an diesem Spane schnitzelst, an jenem Farbenklümpchen klaubest: nie siehest du das ganze Bild – siehest nichts weniger als Bild! Und wenn dein Kopf von einer Gruppe, in die du dich vernarrt hast, voll ist, kann dein Blick wohl ein Ganzes so abwechselnder Zeitläufte umfassen? ordnen? sanft verfolgen? bei jeder Szene nur Hauptwürkung absondern? die Verflößungen still begleiten? und nun – – nennen! Kannst du aber nichts von alledem: die Geschichte flimmert und fackelt dir vor den Augen! ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläuften – lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ich’s wie du, dass jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – Schöpfer allein ist’s, der die ganze Einheit, einer, aller Nationen, in all ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne dass ihm dadurch die Einheit schwinde.

II. Also von diesen kleinfügigen Einwendungen, Zweck und Gesichtspunkt verfehlend, hinweg! hingestellt in die Absicht des großen Folgeganzen – wie elend werden »manche Modeurteile unsres Jahrhunderts über Vorzüge, Tugenden, Glückseligkeit so entfernter, so abwechselnder Nationen, aus bloß allgemeinen Begriffen der Schule!«

Ist die menschliche Natur keine im Guten selbständige Gottheit: sie muss alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmählichen Kampf immer weiterschreiten; natürlich wird sie also von den Seiten am [39]meisten oder allein gebildet, wo sie dergleichen Anlässe zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat – in gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlass gibt: vom Übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also bei Tugenden der erhabensten Gattung von einer Seite, von einer andern Mängel haben, Ausnahmen machen, Widersprüche und Ungewissheiten zeigen, die in Erstaunen setzen; aber niemanden, als der sein idealisch Schattenbild von Tugend aus dem Kompendium seines Jahrhunderts mitbringt und Philosophie gnug hat, um auf einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu wollen, sonst keinen! Für jeden, der menschliches Herz aus dem Elemente seiner Lebensumstände erkennen will, sind dergleichen Ausnahmen und Widersprüche vollkommen menschlich: Proportion von Kräften und Neigungen zu einem gewissen Zwecke, der ohne jene nimmer erreicht werden könnte; also gar keine Ausnahmen, sondern Regel.

Sei’s, mein Freund, dass jene kindliche orientalische Religion, jene Anhänglichkeit an das weichste Gefühl des menschlichen Lebens auf der andern Seite Schwächen gebe, die du nach dem Muster andrer Zeiten verdammest. Ein Patriarch kann kein römischer Held, kein griechischer Wettläufer, kein Kaufmann von der Küste sein; und ebenso wenig, wozu ihn das Ideal deines Katheders oder deiner Laune hinaufschraubte, um ihn falsch zu loben oder bitter zu verdammen. Sei’s, dass er nach spätern Vorbildern dir [40]furchtsam, todscheu, weichlich, unwissend, müßig, abergläubisch, wenn du Galle im Auge hast, abscheulich vorkäme: er ist, wozu ihn Gott, Klima, Zeit und Stufe des Weltalters bilden konnte, Patriarch! – hat also gegen alle Verluste späterer Zeiten, Unschuld, Gottesfurcht, Menschlichkeit: in denen er für jedes späte Zeitalter ewig ein Gott sein wird! der Ägypter kriechend, sklavisch, ein Erdtier, abergläubisch und traurig, hart gegen Fremde, ein gedankenloses Geschöpf der Gewohnheit – hier gegen den leichten, alles schön bildenden Griechen, dort gegen einen Menschenfreund im hohen Geschmack unsers Jahrhunderts, der alle Weisheit im Kopfe und alle Welt im Busen trägt – welche Figur! Aber nun auch jenes Unverdrossenheit, Treue, starke Ruhe – kannst du die mit der griechischen Knabenfreundschaft und Jugendbuhlerei um alles Schöne und Angenehme vergleichen? und wieder griechische Leichtigkeit, Tändelei mit Religion, Mangel gewisser Liebe, Zucht und Ehrbarkeit verkennen, wenn du ein Ideal, weiß nicht wessen, nehmen wolltest? Konnten aber jene Vollkommenheiten ohne diese Mängel in dem Maße und Grade ausgebildet werden? Die Vorsehung selbst, siehest du, hat’s nicht gefodert, hat nur in der Abwechslung, in dem Weiterleiten durch Weckung neuer Kräfte und Ersterbung andrer ihren Zweck erreichen wollen – Philosoph im nordischen Erdental, die Kinderwaage deines Jahrhunderts in der Hand, weißt du es besser als sie?

Machtsprüche Lobes und Tadels, die wir aus einem aufgefundenen Lieblingsvolke des Altertums, in das wir uns vergafften, auf alle Welt schütten – welches Rechtes seid ihr! Jene Römer konnten sein, wie keine Nation; tun, was keiner nachtut: sie waren Römer. Auf einer Welthöhe, und [41]alles rings um sie Tal. Auf der Höhe von Jugend auf, zu dem Römersinn gebildet, handelten in ihm – was Wunder? Und was Wunder, dass ein kleines Hirten- und Ackervolk in einem Tale der Erde nicht eisernes Tier war, was so handeln konnte? Und was Wunder, dass dies wieder Tugenden hatte, die der edelste Römer nicht, und der edelste Römer auf seiner Höhe, im Drange der Not, Grausamkeiten mit kaltem Blute beschließen konnte, die der Hirte im kleinen Tale denn nun wieder nicht auf der Seele hatte. Auf dem Gipfel jener Riesenmaschine war leider! die Aufopferung oft Kleinigkeit, oft Not, oft (arme Menschheit, welcher Zustände bist du fähig!) oft Wohltat. Eben die Maschine, die weitreichende Laster möglich machte, war’s, die auch Tugenden so hoch hob, Würksamkeit so weit ausbreitete: ist die Menschheit überhaupt in einem jetzigen Zustande reiner Vollkommenheit fähig? Gipfel grenzt an Tal. Um edle Spartaner wohnen unmenschlich behandelte Heloten. Der römische Triumphator, mit Götterröte gefärbt, ist unsichtbar auch mit Blute getüncht: Raub, Frevel und Wollüste sind um seinen Wagen: vor ihm her Unterdrückung: Elend und Armut zieht ihm nach. – Mangel und Tugend wohnen also auch in diesem Verstande in einer menschlichen Hütte immer beisammen.

Schöne Dichtkunst, ein Lieblingsvolk der Erde, in übermenschlichen Glanz zu zaubern – auch ist die Dichtkunst nützlich, denn der Mensch wird auch durch schöne Vorurteile veredelt – aber wenn der Dichter ein Geschichtschreiber, ein Philosoph ist, wie es die meisten zu sein vorgeben, und die denn nach der einen Form ihrer Zeit – oft ist sie sehr klein und schwach! – alle Jahrhunderte modeln – Hume! Voltaire! Robertsons! klassische [42]Gespenster der Dämmerung! was seid ihr im Lichte der Wahrheit?

Eine gelehrte Gesellschaft unsrer Zeiti gab, ohne Zweifel in hoher Absicht, die Frage auf: »welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?« und verstehe ich die Frage recht, liegt sie nicht außer dem Horizont einer menschlichen Beantwortung, so weiß ich nicht, als zu gewisser Zeit und unter gewissen Umständen traf auf jedes Volk ein solcher Zeitpunkt, oder es war’s nie eines. Ist nämlich wiederum menschliche Natur kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definiert: sie zieht aber überall so viel Glückseligkeit an, als sie kann: ein biegsamer Ton, sich in den verschiedensten Lagen, Bedürfnissen und Bedrückungen auch verschieden zu formen: selbst das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche – (denn was ist dies je anders als die Summe von »Wunschbefriedigungen, Zweckerreichungen und sanftem Überwinden der Bedürfnisse«, die sich doch alle nach Land, Zeit und Ort gestalten?) im Grunde also wird alle Vergleichung misslich. Sobald sich der innerliche Sinn der Glückseligkeit, die Neigung verändert hat: sobald die äußern Gelegenheiten und Bedürfnisse den andern Sinn bilden und befestigen – wer kann die verschiedene Befriedigung verschiedner Sinne in verschiednen Welten vergleichen? den Hirten [43]und Vater des Orients, den Ackermann und Künstler, den Schiffer, Wettläufer, Überwinder der Welt – wer vergleichen? – – Im Lorbeerkranze oder am Anblicke der gesegneten Herde, am Warenschiffe und erbeuteten Feldzeichen liegt nichts – aber an der Seele, die das brauchte, darnach strebte, das nun erreicht hat, und nichts anders als das erreichen wollte – jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!

Gut hat auch hier die gute Mutter gesorgt. Sie legte Anlagen zu der Mannigfaltigkeit ins Herz, machte jede aber an sich selbst so wenig dringend, dass, wenn nur einige befriedigt werden, sich die Seele bald aus diesen erweckten Tönen ein Konzert bildet und die unerweckten nicht fühlet als wiefern sie stumm und dunkel den lautenden Gesang unterstützen. Sie legte Anlagen von Mannigfaltigkeit ins Herz, nun einen Teil der Mannigfaltigkeit im Kreise um uns, uns zu Händen: nun mäßigte sie den menschlichen Blick, dass nach einer kleinen Zeit der Gewohnheit ihm dieser Kreis Horizont wurde – nicht drüber zu blicken: kaum drüber zu ahnden! Alles was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sie assimiliert werden kann, beneide ich, streb’s an, mache mir’s zu eigen; darüber hinaus hat mich die gütige Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewaffnet; – sie kann gar Verachtung und Ekel werden – hat aber nur zum Zweck, mich auf mich selbst zurückzustoßen, mir auf dem Mittelpunkt Gnüge zu geben, der mich trägt. Der Grieche macht sich so viel vom Ägypter, der Römer vom Griechen zu eigen, als er für sich braucht: er ist gesättigt, das Übrige fällt zu Boden, und er strebt’s nicht an! Oder [44]wenn in dieser Ausbildung eigner Nationalneigungen zu eigner Nationalglückseligkeit der Abstand zwischen Volk und Volk schon zu weit gediehen ist: siehe, wie der Ägypter den Hirten, den Landstreicher hasset! wie er den leichtsinnigen Griechen verachtet! So jede zwo Nationen, deren Neigungen und Kreise der Glückseligkeit sich stoßen – man nennt’s Vorurteil! Pöbelei! eingeschränkten Nationalism! Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes!

III. Und der allgemeine, philosophische, menschenfreundliche Ton unsres Jahrhunderts gönnet jeder entfernten Nation, jedem ältesten Zeitalter der Welt, an Tugend und Glückseligkeit so gern »unser eigen Ideal«? ist so alleiniger Richter, ihre Sitten nach sich allein zu beurteilen? zu verdammen? oder schön zu dichten? Ist nicht das Gute auf der Erde ausgestreut? Weil eine Gestalt der Menschheit und ein Erdstrich es nicht fassen konnte, ward’s verteilt in tausend Gestalten, wandelt – ein ewiger Proteus! durch alle Weltteile und Jahrhunderte hin – auch, wie er wandelt und fortwandelt, ist’s nicht größere Tugend oder Glückseligkeit des Einzelnen, worauf er strebet, die Menschheit bleibt immer nur Menschheit – und [45]doch wird ein Plan des Fortstrebens sichtbar – mein großes Thema!

Wer’s bisher unternommen, den Fortgang der Jahrhunderte zu entwickeln, hat meistens die Lieblingsidee auf der Fahrt: Fortgang zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit einzelner Menschen. Dazu hat man alsdenn Fakta erhöhet oder erdichtet: Gegenfakta verkleinert oder verschwiegen; ganze Seiten bedeckt; Wörter für Wörter genommen, Aufklärung für Glückseligkeit, mehrere und feinere Ideen für Tugend – und so hat man »von der allgemein fortgehenden Verbesserung der Welt« Romane gemacht – die keiner glaubte, wenigstens nicht der wahre Schüler der Geschichte und des menschlichen Herzens.

Andre, die das Leidige dieses Traums sahen und nichts Bessers wussten – sahen Laster und Tugenden wie Klimaten wechseln, Vollkommenheiten wie einen Frühling von Blättern entstehen und untergehen, menschliche Sitten und Neigungen wie Blätter des Schicksals fliegen, sich umschlagen – kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution – Weben und Aufreißen! – Penelopische Arbeit! – Sie fielen in einen Strudel, Skeptizismus an aller Tugend, Glückseligkeit und Bestimmung des Menschen, in den sie alle Geschichte, Religion und Sittenlehre flochten – – der neueste Modeton der neuesten, in Sonderheit französischen Philosophen,j [46]ist Zweifel! Zweifel in hundert Gestalten, alle aber mit dem blendenden Titel »aus der Geschichte der Welt!« Widersprüche und Meereswogen: man scheitert, oder was man von Moralität und Philosophie aus dem Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede wert.

Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung aber in einem höhern Sinne geben, als man’s gewähnet hat? Siehest du diesen Strom fortschwimmen: wie er aus einer kleinen Quelle entsprang, wächst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und weitet und tiefer bohret – bleibt aber immer Wasser! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer stürzt – wenn’s so mit dem menschlichen Geschlechte wäre? Oder siehest du jenen wachsenden Baum! jenen emporstrebenden Menschen! er muss durch verschiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben aufeinander in Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare Ruheplätze, Revolutionen! Veränderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst! Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis unglücklicher als der heftig strebende Mann: der Pendul schlägt immer mit gleicher Kraft, wenn er am weitesten ausholt und desto schneller strebt, oder wenn er am langsamsten schwanket und sich der Ruhe nähert. Indes ist’s doch ein ewiges Streben! Niemand ist in seinem Alter allein, er bauet auf das Vorige, dies wird nichts als Grundlage der Zukunft, will nichts als solche sein – so spricht die [47]Analogie in der Natur, das redende Vorbild Gottes in allen Werken! offenbar so im Menschengeschlechte! Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalier sein, der Grieche bauete auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt – wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung, wenn auch kein Einzelnes dabei gewönne! Es geht ins Große! es wird, womit die Hülsengeschichte so sehr prahlet, und wovon sie so wenig zeigt – Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen.

Wenigstens ist der Blick weiter als jene Philosophie, die unter-über mischt, nur immer hie und da, bei einzelnen Verwirrungen sich aufhält, um alles zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Neigungen und Kräfte ohne Zweck, zum Chaos zu machen, in dem man an Tugend, Zweck und Gottheit verzweifelt! Wenn’s mir gelänge, die disparatsten Szenen zu binden, ohne sie zu verwirren – zu zeigen, wie sie sich aufeinander beziehen, aus einander erwachsen, sich ineinander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken – welch ein Anblick! welch edle Anwendung der menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts oder nicht alles sieht! – Ich fahre fort – – –

Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit

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