Читать книгу Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang - Johann Gottfried Herder, Christian Friedrich Hebbel - Страница 138
V.
ОглавлениеAber Philoktet? – Hr. Leßing hat einen großen Abschnitt1 darauf gewandt, Sophokles zu vertheidigen, daß er körperliche Schmerzen aufs Theater gebracht, und einen Helden in diesem Schmerze schreien lasse. Die ganze Vertheidigung ist von der Seite des Dramaturgs, und verräth in der seinen Manier der Entwicklung, den Verfasser der Dramaturgie; Schade aber, daß sie ganz auf unrichtige Voraussetzung gebauet ist: bei Sophokles Philoktet sey Geschrei der Hauptton des Ausdrucks seines Schmerzes, und also das Hauptmittel, Theilnehmung zu wirken, das doch nicht ist. Und denn Schade auch, daß sie blos als Dramaturgie, als Anlage zum Drama abgefaßt ist; mich dünkts besser, sich den Eindrücken der Vorstellung zu überlassen, und nichts als Dramaturg zu rechtfertigen, sondern als ein Griechischer Zuschauer auf unverstellte Eindrücke zu merken – –
Und welches sind diese Eindrücke ohngefähr? Wenn ein Griechisches Stück geschrieben ist, um vorgestellt, und nicht um gelesen zu werden, so ists Philoktet: denn die ganze Wirkung des Trauerspiels beruhet auf dem Leben der Vorstellung. Hin also mit Auge und Geist in die Atheniensische Bühne. Der Schauplatz öfnet sich2: ein Ufer ohne die Spur eines Menschen: eine einsame unbewohnte Insel mitten in den Wellen des Meeres: – wie sind diese Reisende dahin verschlagen? was wird in dieser wüsten Einöde vorgehen? – Hier, hören wir, ist Philoktet, der berühmte Sohn Pöans: Elender Einsamer! der Menschlichen Gesellschaft völlig beraubt, hier zur ewigen Einsamkeit verbannet – wie wird er seine Tage hinbringen? – Und er ist krank – krank am Fuße mit einem faulenden Geschwüre! – Noch ärmerer Einsiedler! wer wird dich hier pflegen, dir Speise schaffen, dich reinigen und verbinden? – und wie bist du hergekommen? ach! ausgesetzt – ohne Barmherzigkeit, ohne Hülfe – und wegen eines Verbrechens, wegen seines Eigensinns? Nein, wegen seines barmenden Geschreies! Ach! die Unmenschen, was kann der Kranke, der Elende anders, als weinen, als schreien? und selbst diese Linderung ihm nicht zu gönnen, diese kleine Ungemächlichkeit nicht zu ertragen, ihn auszusetzen! Wer hat ihn ausgesetzt? die Griechen, sein Volk, seine Gefährten – vielleicht geschahe es durch Einen Boshaften? Nein, auf Befehl der Griechischen Heerführer vom – Ulysses selbst. Und eben dieser Ulysses kann uns so etwas, so kalt erzählen, so lau abbrechen, er darf noch die Insel sehen, er hat neue Anschläge wider ihn – o des Bösen! wer wollte nicht mit einem armen, einsamen, verlassenen Kranken, mit dem niemand Mitleiden gehabt, gegen den Treulosen Parthei nehmen, der ein Werkzeug seines Unglücks war.
Nun fällt uns die Wohnung des Elenden näher in die Augen – eine unbewohnte Höle! – Ist noch etwas Hausgeräth und Speise darinn? zertretenes Gras – ein elendes Lager der Thiere! – hier muß der Held liegen, ohne den Troja nicht kann erobert werden: ein Becher von Holze, etwas Feuergeräth – ist der ganze Schatz des Königes – und o Götter! hier Eitervolle Lappen, Zeugen seiner Krankheit! – Er ist fort – wie weit kann der Elende fort hinken? Ohne Zweifel mußte ers – nach Speise vielleicht! vielleicht nach einem lindernden Kraut! daß ers doch fände! daß man ihn doch sähe! Indessen3 geht die Scene des Betruges an, da Ulysses den Neoptolemus so weit bringt, daß dieser gutherzige Redliche, der Sohn des redlichen Achilles, einen Fremden, einen Elenden, mit List durch Lügen und Ränke gefangen nehmen soll. Ich weiß es, daß die Griechen, zumal Sophokles, jene unmoralische Ungeheuer so hasset, als er nur die Moralischen hassen mag, und daß er auf seinem Theater nichts als Menschen, weder Engel, noch Teufel vorstellet; allein Ulysses, wie er hier erscheint, ist nicht blos der schlaue, der verschlagene Ulysses Homers: er ist ein Verführer, der offenbar Grundsätze der Treulosigkeit verräth, die alle Tugend übern Haufen werfen, und pfui des Bösewichts! bei dem das Laster schon zur Sprache durch Grundsätze geworden. Sophokles also will lieber die Vorwürfe der Moralitäts-Pedanten auf sich nehmen, die jeden Ausspruch von der Bühne zu einem Sittenspruche des Pythagoras haben wollen: er malt seinen Ulysses lieber schwärzer, als er sonst zu malen pflegt – um uns nur desto mehr für den armen Philoktet einzunehmen, der von ihm hintergangen ist, und hintergangen werden soll.
Der Chor und Neoptolem sind nun4 beschäftigt, dieses Mitleid für Philoktet tiefer in uns zu prägen; sie wiederholen die vorigen Jammerzüge, vermehren sie durch Vermuthungen und – – da läßt sich von weitem ein Aechzen hören! Daß es ein Aechzen und kein Gebrüll sey, zeigt das Betragen Neoptolems, der, über dem mit seinem Auftrage bestürzt, nicht weiß, woher es kommt? Das Ach kommt näher, es wird ein Wimmern, ein tiefes klägliches Ach – nun ists erst vernehmlich! Sie haben sich nicht geirrt: Philoktet muß kommen, und ach! der Hirte kommt mit einem Tone der Schalmei, und Philoktet mit einem Tone des Jammers – er tritt auf! oder vielmehr er schleicht sich hinan, um –
Nun wird er sich mit Gebrüll aufs Theater werfen? zu schreien anfangen, daß Peter Squenz sagen möchte: lieber Löwe, brülle noch einmal! Wer doch den Kunstrichtern einmal das Gebrüll ausreden könnte, von dem im Griechischen so wenig Spur ist! Einen langen Aufzug durch5 spricht Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er ans Schreien gedenkt: selbst das vorher von ferne tönende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelassen. Der weise Sophokles! wie wird mich der Mann weibisch dünken, wie wird mir sein Ach! verächtlich seyn können, daß er nur hin ächzte, da er allein zu seyn glaubte, das er vor den Fremden gleich verbirgt, und im Gespräche immer bergen kann. Der Leidende ist ein Held.
Und für diesen Charakter sorgt Sophokles genau. Er muß sich erst mehr zum Freunde unsrer Seele machen,6 ehe unser Körper sympathisiren könnte, und wie bekümmert ist der Arme um die Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß sie ihm nachstelleten; der Gutherzige hält sie für Verschlagne, für solche, die seines Theilnehmens werth wären – der Menschenfreund! Er sieht die Griechischen Kleider; ein böses Erinnerungszeichen für ihn an die treulosen Griechen; aber dieß hat er vergessen. Wie wünscht er, daß sie Griechen wären: wie verlangt er, wieder einen Griechischen Laut zu hören! das ist ein ehrlicher Grieche, der kann Griechen interessiren. – Er hört Griechisch: der arme Philoktet hat für Freude all sein heftiges Weh vergessen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den Sohn seines zärtlichen Freundes: er wird offner; er erzält ihm seine Geschichte, rührend wie wenn die Penia selbst erschiene. Er ist ein Freund seiner Freunde: dem todten Achilles opfert er seine Zähre der Freundschaft; er vergißt sich selbst, und seufzet über einen Todten, der glücklicher ist, als er. Er ist ein Freund seiner Freunde; der Sohn des Achilles sieht ihn herzlichen Antheil an sich nehmen, selbst da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen, weil sie brave Leute sind: die Nichtswürdigen verflucht er! Wie sehr hat uns nun Philoktet für sich interessirt, als Menschenfreund, als ein Grieche mit Leib und Seele, als ein Held. Und dieser Held soll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Helden, auf einer wüsten Insel modern? Schmerzliche Abwesenheit, da jene Thaten thun, da jene mit Lorbeern starben, so soll er an einer Wunde ächzen, die ja keine Heldenwunde ist. Er, eine so Griechische Seele, muß fern von seinem Vaterlande, fern von seinem liebenden Vater, der vielleicht schon zu den Schatten gehangen, sein Leben verzehren: er ein betrogener Redlicher – – o Neoptolem, du willst ihn verlassen! o daß ihn Philoktet anflehete! Er thuts, und so dringend: er bestürmt sein Herz von so vielen Seiten, daß die Fürbitte des Chors: erbarme dich seiner! auch unsre Einsprache wird. Wir ärgern uns über Neoptolem, daß ihm der Ekel seiner Krankheit noch Einwendung macht, und lieben ihn, da er – – es ihm verspricht; Er wird ihn doch nicht betriegen! siehe! wie er ihm flehte, wie er ihm danket, wie er ihn noch zu guter Letzt in seine Höle ladet und –
Nun7 kommt der verkleidete Kaufmann. Er hört: »er soll nach Troja, Ulysses habe dieß dem Heere öffentlich versprochen,« und – den Kaufmann hält er kaum seiner Antwort werth. Eine einzige Heroische Verwunderung: »Götter! dieser Elende, dieser Treulose hat schwören dörfen, mich ins Lager zu bringen?« verräth die ganze Heldenseele Philoktets: diese redet fort:8 diese will zu Schiffe: diese redliche Seele glaubt dem Neoptolem, vertraut ihm seine Waffen, vertraut sich ihm in seiner Krankheit. Wie fühle ich für Philoktet! aber für ihn den Schreienden? Noch nichts! für ihn, den Helden, den Griechen, den Edlen – und denn den im höchsten Grade Elenden, und elender noch dadurch, was man mit ihm vor hat. Noch fühlen wir blos mit seiner Seele durch die Phantasie, und jetzt erst soll die seltne Scene der Krankheit kommen. Der Chor9 bereitet auf sie, durch ein Lied auf den äußerst Jammervollen Philoktetes, und sie kommt.10 Ich habe sie vorher durchgeführt und mag sie nicht wiederholen. Mich ärgert, wenn man sie auf der einen Seite zu einem bloßen Zetergeschrei macht, und auf der andern Seite, wie z.E. Brumoi,11 unter den löblichen Franzosen für nichts, als, einen Riegel, ein Einschiebsel, daß fünf Akte voll werden. Welch eine Stille muß auf dem Schauplatze zu Athen geherrschet haben, da dieser Akt vorgieng!
Die Auftritte des körperlichen Leidens sind vorbei, und weiter darf ich nicht. Ich kehre also von der Bühne zu Athen zurück, dahin wo ich Leßingen gelassen – wie sehr sind wir aber in dem Eindrucke verschieden, den dieses Stück machen soll. Einer von beiden kann nur Recht haben, und der andre hat sich nur nicht gnug idealisiren können, um nicht zu lesen, sondern zu sehen. Damit dieß mich nicht treffe, will ich auf guter Hut seyn.
Hr. Leßing macht »die Idee des körperlichen Schmerzes« zur Hauptidee des Stücks,12 und sucht die seinen Mittel auf,13 womit der Dichter diese Idee zu verstärken, zu erweitern gewußt hat. Ich gestehe es, daß, wenn dieß die Hauptidee der Tragödie wäre, einige von Hr. L. angegebene Mittel wenig auf mich gewirkt hätten. Der Eindruck des körperlichen Schmerzes ist viel zu verworren und körperlich gleichsam, als daß er z.E. der Frage Platz ließe:14 wo sitzt der Schmerz? außen oder innen? wie sieht die Wunde aus? was für ein Gift wirkt darinnen? Wäre die Vorstellung des körperlichen Schmerzes so schwach, um durch solche Sachen verstärkt werden zu müssen, so ist die Wirkung des Theaters verlohren: so ists besser, daß ich hingehe, um die Wunde selbst Chirurgisch zu besichtigen. Nein! Theatralisch sey die Idee des Schmerzes, und ich mag also auch nichts, als Theatralische Verstärkung – von fern, aus den gezogenen Minen, aus Tönen des Jammers, will ich, wenn Schmerz die Hauptidee des Stücks ist, ihn kennen lernen, und denn ists mir wohl beinahe gleich, worüber man schreie, und sich geberde? ob über einen lahmen Fuß, oder über eine Wunde im Innern der Brust. Der Kunstrichter verliert alles, wenn er aus der Theatralischen Anschauung weichet, und uns zur Verstärkung, zur Glaubwürdigkeit derselben den Attest eines Wundarztes geben ließe – – was es für eine Krankheit, daß es eine wirkliche Wunde, daß es ein Gift sey, das wohl so viel Schmerzen erregen könne. Sophokles habe so etwas überdacht, oder nicht überdacht: gnug, wenn so etwas auf mich wirken müsse, um meine Idee vom Schmerze zu verstärken – Lebe wohl, Theater! so bin ich in der Lazarethstube.
Theatralische Rührung also! und wodurch kann ich, wenn die Hauptidee des Stücks körperlicher Schmerz ist, gerühret werden? welches sind alsdenn die Hauptmittel zur Erregung der Sympathie? Ich weiß nichts anders, als die gewöhnlichen Aeußerungen, Geschrei, Thränen und Zückungen: diese giebt auch Hr. Leßing15 dafür aus, und giebt sich viele Mühe,16 bei ihnen den nicht beleidigten Anstand, und ihre entschiedne Wirkung zu erklären. Gut also! aber, wenn das Wimmern, das Schreien, die gräßlichsten Zückungen, das Mittel, das Hauptmittel sind, mir die Idee des körperlichen Schmerzes einzupflanzen, und mein Herz zu treffen: was kann denn die beste Wirkung dieses treffenden Schlages seyn? Mit körperlichem Schmerze kann ich nicht anders, als körperlich, sympathisiren: d.i. meine Fibern kommen durch die Theilnehmung in eine ähnliche Spannung des Schmerzes, ich leide körperlich mit. Und wäre dieß Mitleid angenehm? Nichts weniger, das Zetergeschrei, die Zuckung fährt mir durch alle Glieder, ich fühle sie selbst; die nämlichen convulsivischen Bewegungen melden sich bei mir, wie bei einer gleichgespannten Saite. Ob der in Zuckung liegende, winselnde Mann Philoktet sey, geht mich nicht an: er ist ein Thier, wie ich: er ist ein Mensch: der Menschliche Schmerz erschüttert mein Nervengebäude, wie wenn ich ein sterbendes Thier, einen röchelnden Todten, ein gemartertes Wesen sehe, das wie ich fühlet. Und wo ist nun dieser Eindruck auch nur im kleinsten Maaße vergnügend, angenehm? Er ist peinlich, schon bei dem Anblicke, bei der Vorstellung, ganz peinlich. Hier ist im Augenblicke des Eindruckes an keinen künstlichen Betrug, an kein Vergnügen der Einbildungskraft zu gedenken: die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich sehe, ich höre, ein Thier meiner Art leiden.
Und welche Gladiatorseele gehörte dazu, um ein Stück auszuhalten, in welchem diese Idee, dieß Gefühl des körperlichen Schmerzes, Hauptidee, Hauptgefühl wäre? Ich weiß keinen dritten Fall außer diesen beiden: daß ich entweder illudiret werde, oder nicht. Ist das erste, ists auch nur ein Augenblick, daß ich den Schauspieler verkenne, und einen zückenden, schreienden Gequälten sehe; wehe mir! es fährt mir durch die Nerven! Ich kann den künstlichen Betrüger, der sich mir zum Vergnügen, dem Augenscheine nach, aufhängen wollte, keinen Augenblick mehr sehen, so bald der Betrug schwindet, so bald er wirklich worget. Ich kann den Seiltänzer keinen Augenblick mehr sehen, so bald ich ihn fallen, in das unterliegende Schwert stürzen sehe, so bald er mit zerschlagnem Fusse da liegt. Der Anblick Philoktets ist meinem Gesichte unausstehlich, so bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet ist. Blos eine Fechterseele kann in dieser Illusion des körperlichen Schmerzes, wie an jenem sterbenden Fechter, studiren wollen: wie viel Seele noch in ihm sei? Blos ein Unmensch kann, nach der Fabel von Michael Angelo, einen Menschen kreuzigen, um zu sehen, wie er stirbt.
Hr. Leßing mag sagen,17 daß »nichts betrüglicher sey, als allgemeine Gesetze für die Empfindungen geben zu wollen.« Hier liegt das Gesetz in meinem unmittelbaren Gefühle selbst, und zwar in dem Gefühle, das am weitesten von allgemeinen Gründen abgehet, das mir, als einem sympathisirenden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende Körper Philoktets mein Hauptaugenmerk ist, so bleibts, »daß18 je näher der Schauspieler der Natur kommt, desto empfindlicher Augen und Ohren beleidigt werden müssen.« Ein Meer unangenehmer Empfindungen wird über mich ergehen, und kein angenehmer Tropfe mischt sich dazu. Die Vorstellung des künstlichen Betruges? – ist durch die Illusion gestört; ich habe nichts, als den Anblick eines zückenden, mit dem ich beinahe mit zücke, eines Wimmernden, dessen Ach! mir das Herz durchschneidet. Es ist kein Trauerspiel mehr, es ist eine grausame Pantomime, ein Anblick, Fechterseelen zu bilden: ich suche die Thüre.
Nun aber lasset uns den zweiten Fall setzen, daß der Griechische Schauspieler mit aller seiner Skävopoeie und Deklamation das Geschrei und die Verzuckungen des Schmerzes nicht bis zur Illusion bringen könne (etwas, das Hr. Leßing nicht zu behaupten getrauet,19 gesetzt also, daß ich ein kalter Zuschauer bleibe: so kann ich mir ja keine widerlichere Pantomime gedenken, als nachgeäffte Zuckungen, brüllendes Geschrei, und wenn die Illusion vollkommen seyn soll, ein übler Geruch der Wunde. Kaum würde also alsdenn der Theatralische Affe Philoktets zum Zuschauer sagen können, was der wahre Philoktet zum Neoptolem: »ich weiß! du hast es alles nichts geachtet; weder mein Geschrei, noch der üble Geruch wird dir Ekel erregt haben.«20 Bei einer widerlichen, und zum Unglücke nicht täuschenden Pantomime ist dies unvermeidlich.
Ich schlage die Litteraturbriefe21 auf, und finde den Ersten ihrer Verfasser an gründlicher Philosophie in einem andern ähnlichen Falle meiner Meinung. Er untersucht, »warum die Nachahmung des Ekels uns nie gefallen können,« und giebt zu Ursachen an, »weil diese widrige Empfindung nur unsre niedere Sinne trifft, Geschmack, Geruch und Gefühl: die dunkelsten Sinne, die nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste haben: weil zweitens die Empfindung des Ekels widrig werde, nicht durch die Vorstellung der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen Eindrücken, sondern unmittelbar durchs Anschauen: und weil endlich in dieser Empfindung die Seele keine merkliche Vermischung von Lust erkennet.« Er schließt also das Ekelhafte ganz von Nachahmung der schönen Künste, und den höchsten Grad des Entsetzlichen von der Pantomimischen Vorstellung im Trauerspiele aus, »weil theils die Täuschung hierinn schwer wäre, theils auch die Pantomime auf der tragischen Schaubühne nur in den Schranken einer Hülfskunst bleiben müßte.« Ich wollte, daß der Philosophische D. sich über meinen Vorwurf erklären möchte: denn der körperliche Schmerz Philoktets hat mehr als einen dieser Gründe wider sich. Seine Täuschung kann nur den dunkelsten Sinn, das thierische Mitgefühl, erregen: die Empfindung darüber ist allemal Natur, und niemals Nachahmung: sie hat nichts Angenehmes mit sich: sie ist kaum der Illusion fähig: sie macht die tragische Bühne zur Pantomime, die, je vollkommner sie wäre, um so mehr zerstreuete. Schlechthin kann also der körperliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauerspiels seyn.
Und ists doch bei Sophokles Philoktet, bei einem Meisterstücke der Bühne! »Wie manches, sagt Hr. Leßing,22 würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die That zu erweisen.« Ich glaube, schwerlich. Was in der Theorie wahrhaftig unwidersprechlich ist, und nicht blos so scheint, wird nie von einem Genie widerlegt werden, zumal wenn die Theorie in unsern unerkünstelten Empfindungen läge. Mich dauert die Mühe, die sich Herr Leßing giebt, Sophokles zu rechtfertigen, und den Engländer Smith zu widerlegen;, beide brauchen es nicht: und wenn sie es brauchten, wenn Sophokles Hauptzweck wäre, durch die Aeußerungen des körperlichen Schmerzes seinen tragischen Endzweck zu erreichen: so hätte L. mit allem, was er Gutes sagt, wenig gesagt.
Aber Sophokles, das tragische Genie, fühlte nur gar zu viel dagegen, diesen Zweck zu erreichen, und gieng ganz einen andern Weg, der ihm nicht mißrathen konnte, und den Hr. L. wie es scheint, von einer Nebenseite gesehen. Ich muß aus dem vorigen Eindrucke, den ich davon geliefert, einige Züge zurücknehmen:
1. Der erste Begriff von Philoktetes ist der Begriff eines Verlassenen, Kranken, Elenden, von Menschen, verrathenen Einsiedlers, eines Robinson Crusoe, dessen Jammervolle Höle uns gezeigt wird: diese Situation setzt Hr. L. mit der ihm gewöhnlichen Stärke aus einander.
2. Der Elende soll noch einen neuen Streich von der List seines alten Feindes leiden: hier schwillt unsere Theilnehmung, und der Kontrast zwischen Ulysses und Neoptolemus macht die ganze Scene Menschlich.
3. Der Chor und Neoptolem drücken die Pfeile des Mitleids tiefer in unser Herz: sie singen sein Elend in vollem Maaße. Wie begierig sind wir nun, den Mann zu sehen, der hier in der wüsten Insel eine besondere Scene spielt, und auf den neues Unglück lauert. In diesem ganzen Akt ist noch kein Philoktet zu sehen: noch weniger die Vorstellung von seinem körperlichen Schmerz Hauptidee. Sophokles hat in diesem Akt dreierlei Vorsicht, uns erst auf Philoktet lange vorzubereiten, ehe er auftritt: das Schwerste und Untheatralische in Erzälung und nicht in Handlung zu zeigen: unser Herz und unsre Phantasie ihm zu sichern, damit wir erst – auch nur seinen Anblick ertragen lernen. Und gleich als ob dieser noch nicht gnug vorbereitet wäre, muß den wilden Mann ein fern her murmelndes Ach anmelden, das sich nähert, und –
1. Nun sind durch den Anblick der Fremden die Seufzer weg, völlig weg. Warum das? warum läßt sie Sophokles so ganz hinter der Scene? Erst muß er ihn nicht blos vor Verachtung sichern, sondern seinem ganzen ersten Anblicke nach, ist Philoktet ein leidender Held. Ich weiß nicht, warum L. diesen ersten Eindruck, in dem der Held erscheint, nicht verfolget; wimmern haben wir ihn kaum von fern gehört, jetzt sehen wir dulden. Mitten unter verbissenen Schmerzen steht und spricht der Menschenfreund, Grieche, Held – warum hat Hr. L. das Interesse nicht mehr entwickelt, das er als Grieche, als ein theilnehmender Freund der Fremden, als der Verehrer Griechischer Helden, wirket? Man kann kaum mehr für ihn sympathisiren, als man schon gestimmet ist.
2. Und noch zeigt er eine große Seite. Der eben jetzt Flehende hört Ulysses neuen Verrath, und wie ist der flehende Elende plötzlich in einen Helden verwandelt?
3. In einen Helden, der gegen seine Feinde noch der ungedemüthigte Stolze bleibt: Originalzug der Griechischen Größe, »Liebe gegen die Freunde, unwandelbarer Haß gegen die Feinde!«23 Und wer anders als ein Redlicher, kann Neoptolem seine Pfeile und sein Leben so großmüthig anvertrauen? – ein solcher Mann ist nicht blos auf alle Wege vor Verachtung gesichert: er hat unser ganzes Herz.
4. Das Chor bereitet uns auf die Scene des Elendes, und ist offenbar in dem Tone der Ehrfurcht gegen einen Helden, der da duldet, der so lange geduldet hat, nicht, der da schreiet. – Wie wenig, wie wenig ist doch also der Philoktet Sophokles, seinem Hauptzuge nach auf der Bühne, der, den L. gewohnt ist, als den Gräßlichen zu charakterisiren, noch ist er immer der große duldende Held: und das in zween langen Auftritten!
Und beinahe fängt die Idee von seinem Elende, und von dem Versprechen des Neoptolemus an zu schwinden: fast kann man uns von seinem Schmerz zu viel erzählt, fast kann derselbe sich in neun Jahren doch wohl verringert haben? könnten wir ihn also nicht selbst leiden sehen? Wenn nichts mehr ist, als was wir gesehen haben, so – und nun kommt der Anfall. Es ist bloß ein Anfall, und ich weiß nicht, wie Hr. L. die Wahl einer Wunde rühmt,24 die doch keinen andern Vortheil bringen konnte, als ein ekles Ach fünf Akte lang zu dehnen! Sophokles wußte was bessers zu wählen – eine kurze Anwandlung. Sie legt er in die Mitte des Stücks zur Auszeichnung: sie kommt plötzlich; um so eindrücklicher wird das Gift, als eine Strafe der Götter, nicht blos als eine schleichende Krank heit: sie kommt Ruckweise, um durch ein Anhalten den Zuschauer nicht zu ermüden: sie schweift in Raserei aus, um den Zuschauer von der Pantomime mehr auf die leidende Seele zu wenden: sie wird lange von Philoktet unterdrückt, und nur mitten unter Gesprächen mit einzelnen Tönen des Jammers begleitet: sie endet sich in einem ruhigen Schlafe, und der läßt uns erst Zeit zu überdenken, was Philoktet ausgestanden. Man kann den ganzen Auftritt nicht mehr verkennen, als wenn man ihn blos für die Pantomime eines körperlichen Schmerzes, und das ganze Stück nicht mehr verkennen, als wenn Philoktet da seyn sollte, um über eine Wunde zu schreien und zu heulen. Der Anfall ist vorüber, und nach so wenig, als vor – – doch ich mag ja keinen Kommentar über Sophokles schreiben – wer urtheilen will, lese!
So kann also W. seinen Laokoon mit Philoktet vergleichen! So kann das Schreien wohl nie, und am wenigsten bei Homer der Charakterzug eines Helden gewesen seyn! So ist wohl nie Schreien das Hauptwerk des Philoktets, um Theilnehmung zu wirken, und körperlicher Schmerz nie die Hauptidee eines Drama! So hat das Schauspiel gewiß seine eigne schöne Natur gleichsam, und genaue Grenzen zwischen andern Dichtarten. So kann man es ohne Sünde eine Reihe handelnder, Dichterischer Gemählde nennen! Wer könnte uns über diese Materie besser belehren, als – der Verfasser des Laokoon und der Dramaturgie selbst, wenn er sich »über das Maas der Pantomime in der Tragödie, über die eigne schöne Natur des Drama, und über die besondern Grenzen zwischen Malerei und Schauspiel besonders erklärte?«
1 Laok. pag. 31.–49.
2 Sophocl. Philoct. Act. I.
3 Auftr. 2.
4 Auftr. 3.
5 Aufzug 2.
6 Aufzug. 2. Auftr. 1.
7 Aufz. 2. Auftr. 2.
8 Auftr. 3.
9 Auftr. 3.
10 Dritte Scene.
11 Theatre des Grecs, Tom. 2. p. 89.
12 Laok. p. 3. 4. 31. 32.
13 p. 33–49.
14 p. 33. 34.
15 p. 3. 52. 34.
16 p. 41–49.
17 p. 42.
18 p. 32.
19 p. 49.
20 Sophokl. Philokt. Akt. 4. Scen. I.
21 Litt. Br. Th. 5. Br. 82–84.
22 Laok. p. 33.
23 Laok. p. 43.
24 p. 33.