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Hugo
ОглавлениеSieben Jahre lang haben wir gemeinsam die Schulbank gedrückt (wobei die Bank vor allem mich gedrückt hat), doch Freunde waren wir nie, der Hugo und ich. Er wohnte im Haus „gleich um die Ecke“, wir waren also Nachbarskinder, die sich nicht mochten. Das heisst, er hatte immer um meine Gunst geworben, sich um meine Freundschaft bemüht und war dauernd in meiner Nähe, aber genau das liebte ich nicht.
Wir hatten eine ganz eigenartige Beziehung zueinander, er war wie ein Hund, der schwanzwedelnd meine Hände leckte um mich im nächsten Moment in die Fersen zu beissen. Er war ein verdammter Schleimscheisser, der von Freundschaft sprach um mich im nächsten Moment zu verraten.
Zu alledem kamen noch meine Vorurteile: Hugo hatte rote Haare, das allein war schon ein Grund um ihn zu verachten, dann war er ein weiches Muttersöhnchen und zu allem Überfluss noch katholisch. Seine Mutter war eine Deutsche und das war während der Kriegsjahre auch keine gute Reverenz in unserer voreingenommenen Dorfgemeinschaft. Für seine Petzerei in der Schule kriegte er regelmässig seine verdiente „Klassenhaue“ was aber keine Wirkung bei ihm zeigte.
Eine meiner Eigenschaften ist meine aufbrausende, jähzornige Art. Ich kann zwar meist lange an mich halten, aber wenn man mich zu lange, zu stark und zu hinterhältig reizt, sehe ich plötzlich nur noch Rot und dann werden bei mir verborgene Kräfte frei, die, vermischt mit meiner Wut, Angst und Schrecken verbreiten und grossen Schaden anrichten. Hinterher tut es mir immer furchtbar leid, aber Reue macht die Tat auch nicht mehr ungeschehen.
Hugo verstand es ausgezeichnet mich zu reizen und zu triezen bis ich die Beherrschung verlor und genau dieses grausame Spiel liebte er, obschon er es war, der schliesslich die Prügel einheimste.
An eine der ersten unserer Auseinandersetzungen kann ich mich mit dem besten Willen nicht mehr erinnern, obschon der Ausgang blutig gewesen sein musste. Mein Vater hatte mir einen riesig grossen Sandkasten eingerichtet in dem ich Sandburgen errichtete, Strassen, Brücken und Galerien baute und lange Tunnel durch die Berge bohrte. War ich mal nicht anwesend wenn Hugo vorbeikam, so zerstörte er genüsslich meine Kunstwerke um sich anschliessend noch zu brüsten für seine Heldentat.
Man hat mir später erzählt, dass ich ihm geschworen hätte, ihn „tot zu machen“ , wenn er noch ein einziges Mal meine Arbeit kaputtmachen würde.
Ich habe ihm scheinbar mit meiner eisernen Schaufel eins übergezogen und ihm an der Stirne eine grosse klaffende Wunde zugefügt. Eine gut sichtbare, hässliche Narbe ist dabei übriggeblieben, die er fast sein ganzes Leben lang, immer mit einer Haarlocke verdeckte oder auch stolz zur Schau trug, je nach gegebener Situation.
Seine Narbe war in der Folge mein Fluch, sie zeigte, dass ich ein gefährlicher, unbeherrschter Totschläger war, der einst am Galgen enden würde. Nicht dass mich das besonders belastet hätte, doch für die anderen war seine Narbe mein feuriges Kainszeichen.
Ich glaube, ich war an und für sich nie ein geselliger Mensch, ich liebte das Alleinsein, ich liebte das einsame Träumen schon als Kind und bewegte mich gerne in meiner Fantasiewelt. Auf Störungen von aussen soll ich immer verärgert und schroff reagiert haben, so dass meine gleichaltrigen Kameraden mich mieden und bei ihren Spielen nur selten teilnehmen liessen.
Dazu kam noch, dass ich die bei uns üblichen Spiele meist langweilig und primitiv fand und sie zu verbessern suchte. Ich erreichte damit, dass alle Spiele am Schluss unspielbar und kompliziert wurden und ich am Ende als gemeiner Spielverderber weggejagt wurde.
Einzig beim „Völkerball“ wollte man mich dabei haben, weil ich sicher war im Fangen der Bälle und mein Wurf wegen seiner Härte und Schnelligkeit gefürchtet war und regelrechte Massaker verursachte.
Falls Hugo sich in der gegnerischen Mannschaft befand, war es mir ein Vergnügen ihn möglichst hart abzuschiessen. Zum Dank verleumdete er mich dann bei den Spielkameraden mit irgendwelchen abstrusen Behauptungen, bis ich vom Platz vertrieben wurde.
Schon mit etwa fünf Jahren lernte ich lesen und damit tat sich mir eine neue Welt auf. Was mir an Gedrucktem in die Hände kam musste ich lesen, obschon ich anfänglich das meiste davon gar nicht verstand, denn die Schriftsprache unterscheidet sich sehr stark von unserem Dialekt. Dass unser Wort „Anke“ dasselbe sein sollte wie „Butter“ oder „Nidel“ gleich „Rahm“, auf diese verrückte Idee musste man erst mal kommen. Allmählich eignete ich mir den nötigen Wortschatz an und das Gelesene wurde immer verständlicher und dadurch spannender.
Zu meinem grossen Leidwesen hatten sich nur wenige Bücher in unseren Haushalt verirrt, in Arbeiterhaushalten war das Lesen noch ein Luxus, den man sich weder finanziell noch kräftemässig leisten konnte. Kam mein Vater nach 10 Stunden (im Sommer waren es 12) schwerer körperlicher Arbeit nach Hause, hatte er kaum je Lust sich in ein Buch zu vertiefen. Er überflog im besten Fall rasch die Zeitung, die dreimal wöchentlich erschien, aber meistens hatte er noch anderes zu tun im Haus und im Garten.
Das dickste Buch in unserer „Bibliothek“ (sie bestand aus ein paar Büchern und einigen zerfledderten Zeitschriften) war die Familienbibel, also begann ich mit ihr, denn sie schien mir vielversprechend zu sein.
Eine meiner vielen Tanten, eine fromme Pietistin, half mir, mich in diesem Werk zurechtzufinden und ich hatte auch bald einige Geschichten im Alten Testament gefunden, die mich besonders interessierten und die ich auf meine Art interpretierte. Zum Beispiel die Schlacht um Sodom und Gomorra. Vom Jordantal aus griffen die deutschen Panzer an und aus der Luft kam ein amerikanisches Bombengeschwader und warf Bomben ab, Phosphorbomben und Granaten. Nach einer Stunde war alles vorbei, nur noch rauchende Trümmer waren übriggeblieben und auf einem weiten. leeren Feld stand eine Salzsäule, die Frau von Lot, die sich schadenfreudig umgedreht hatte obschon die Soldaten ihr das verboten hatten. Phantasievorstellungen eines Jungen im Winter 44 / 45.
Auch der Moses hatte mir imponiert mit seinen Zaubertricks, aber ich kannte noch einen Zauberer persönlich, er nannte sich Rico Peter und zog von Dorf zu Dorf und zeigte seine Zaubertricks mit Karten oder mit seinem Zylinderhut voller Tauben und Kaninchen. Ja, von dem hätte Moses noch einiges lernen können. Am Nachmittag vor der Vorstellung bezahlte mir der Zauberkünstler ein „Vivikola“ in der Gartenwirtschaft und zeigte mir ein paar einfache Tricks mit zwei weissen Seilen und dann redeten wir noch lange über die Leute des Dorfes. Ich gab ihm genaue Beschreibungen bestimmter Personen, verriet ihm verschwiegene Dorf– und Familiengeheimnisse. Da er Gedankenleser war, hätte er meine Angaben eigentlich nicht gebraucht, aber er wollte anscheinend auf Nummer Sicher gehen. Nach einer weiteren Flasche Kola schenkte er mir noch Freikarten für unsere ganze Familie. Es wurde ein toller Abend, nur beim Kapitel Gedankenlesen stutzte ich einige Male, denn mir kam plötzlich die Idee … aber dann durfte ich sogar noch auf die Bühne und konnte ihm helfen, die zwei Kaninchen wieder einzufangen.
Am folgenden Tag verkündete ich vor einer grossen Kinderschar, dass Moses, im Vergleich mit Rico Peter ein kläglicher Stümper gewesen sei, denn wenn der Patriarch hätte Gedankenlesen können, wäre das mit dem goldenen Kalb gar nicht passiert.
Die meisten Kinder begriffen nicht, wovon ich redete nur Hugo begehrte auf und nannte mich einen gottverdammten reformierten Ketzer, den man steinigen müsste und dann schmiss er einen faustgrossen Stein nach mir.
Ich fand den „Ketzer“ nicht ehrenrührig, im Gegenteil, es war ein neues und interessantes Wort aber den Stein nahm ich ernst, obschon er weit danebengegangen war. Meine Murmel hingegen traf genau zwischen seine Augen.
Das nachfolgende Strafgericht wühlte wieder in den alten Geschichten von damals, als ich ihn hatte „totmachen“ wollen. Die zwei erzieherisch wertvollen Ohrfeigen gab ich ihm am folgenden Tag kommentarlos weiter. Ebenso wortlos händigte er mir den Ersatz für die verlorene Murmel aus.
Mein Leseeifer war für den Aufbau eines sozialen Netzes nicht besonders förderlich, das heisst, ich hatte während meiner Schulzeit eigentlich nie einen Freund, schon gar nicht eine Freundin, denn bei der damaligen Sittenstrenge und Bigotterie war ein solches Verhältnis unmöglich. Wenn nur schon ein leiser Verdacht aufkam, wurde man von Lehrern, Eltern und Pfarrherren derart ins Gebet genommen, dass man es lieber bleiben liess.
Ich hatte einmal ein Mädchen vor dem Lehrer in Schutz genommen, weil er sie vor der ganzen Klasse so richtig fertiggemacht hatte. Wir nannten sie alle nur die „doofe Emma“, weil sie kein Licht der Wissenschaft zu werden drohte, sondern eher das Gegenteil, aber dass sie das Bruchrechnen nicht begriff und ihr sogar das kleine Einmaleins fremd war und blieb, dafür konnte sie nun mal nichts, sie war zu blöd dafür.
Dass sie der Lehrer aber tagtäglich deswegen blossstellte, beschimpfte oder gar schlug, konnte mein fanatisches Gerechtigkeitsgefühl nicht ertragen (auch Emmas verzweifeltes Weinen und Schniefen machten mich fertig).
Als es einmal gar zu arg wurde, stand ich auf und sagte zum Lehrer er sollte sich schämen für sein gemeines Benehmen. Zur allgemeinen Freude und Belustigung der Klasse erhielt ich ein Dutzend Schläge mit der Rute auf den blossen Hintern.
Der Schmerz war erträglich, die Schande nicht, sie schrie nach Vergeltung.
Am folgenden Tag brachte mir Emma ein selbstgebackenes „Bauernbrot“ (aus Weissmehl, Milch und Eiern).
Das gab natürlich zu reden, denn nun war allen (auch dem Lehrer) klar, dass wir „etwas hatten miteinander“. Nun war ich das Ziel von Spott und Hohn, aber ich war der Situation gewachsen.
Leider war es das letzte Kuchenbrot das ich von Emma erhalten hatte, denn sie wurde auf das Drängen ihrer Eltern schon wenige Tage später in eine andere Schule im Nachbardorf versetzt.
Kurz nach dem Krieg hatte der Nachbar einen neuen Knecht, einen bärenstarken Kerl, der auf seinem Kraushaar immer eine grüne Baskenmütze trug und seine Füsse steckten in Schaftstiefeln, wie sie von den Fallschirmspringern getragen wurden.
Vom ersten Tag an zeigte man ihm deutlich, dass er hier unwillkommen war, weil er direkt aus dem Gefängnis gekommen war. Das heisst, er kam vom „Zugerberg“, das war eine Strafkolonie der Schweizer Armee für „Landesverräter“. Das Militärgericht hatte ihn verurteilt, weil er in fremden Diensten gestanden hatte, er hatte in der Fremdenlegion gedient. Uns Kindern war der Umgang mit ihm strengstens verboten.
Ich beobachtete ihn eine Zeit lang und stellte dabei fest, dass er wohl kein Teufel in Menschengestalt sei, denn er war stets vergnügt bei seiner Arbeit und konnte laut und herzlich lachen. Ich mag Menschen, die lachen können, die anderen machen mir Angst.
Er heisse Jacques, stellte er sich mir vor, das töne viel besser als unser „Köbi“, sei aber dasselbe, einfach französisch. Der Typ gefiel mir. Er war stark, konnte arbeiten wie ein Pferd und wurde dabei scheinbar nie müde. Vor allem konnte er erzählen, denn er hatte einiges erlebt. Was ich aber am Anfang nicht gemerkt hatte, war seine grosse Liebe zum Alkohol. Zum Essen trank er Most (er sagte „cidre“) wie alle anderen, vielleicht ein paar Schlucke mehr, aber in der Zwischenzeit nahm er regelmässig einen Schluck aus seinem „Flachmann“ oder seiner „Wanze“ wie wir diese flachen Schnapsflaschen nennen, die so gut in die Rocktasche passen.
Am Abend, wenn die Stallarbeit beendet war, setzten wir uns auf die Bank vor dem Haus und Jacques erzählte von seinen Abenteuern in Indochina. Dabei hatte er nicht nur Krieg erlebt, er hatte fremdländische Tropenfrüchte gegessen, hatte schwitzend und keuchend den Dschungel durchquert, hatte Durst gelitten, hatte einen gefährlichen Tiger erlegt, war auf Elefanten geritten, war mit seinem Fallschirm in einem Baum hängengeblieben und hatte gute Kameradschaft erlebt.
Von Krieg und Schlachtengetümmel erzählte er wenig und wenn, dann offensichtlich ungern. Er meinte einmal, es gebe im Prinzip zwei Arten von Krieg, der schmutzige Krieg und der noch schmutzigere.
Oder einmal meinte er, die Soldaten seien keine Mörder sondern Opfer, Mörder seien jene, die den Krieg anzetteln und daran verdienten.
Meine Eltern sahen es nicht gerne wenn ich mit ihm zusammen war, sie befürchteten nämlich, dass er mir „einen Floh ins Ohr setzen werde“ mit seinen Schwärmereien von der Legion, die mich aber weit weniger lockte als fremde Welten, Dschungel, Tiger, andere Völker und ihre Kultur.
Leider waren das seltene Abende an denen er erzählte, meist zog es ihn ins Wirtshaus zu Bier und Schnaps, zu seinem Stumpen und zu Seline, der Kellnerin. Manchmal blieb er bei ihr bis zum Morgengrauen, aber meistens endete seine Sauftour mit einer handfesten Schlägerei. Seine Widersacher, alles junge Burschen aus dem Dorf, fielen oft zu dritt oder zu viert über ihn her, aber sie zogen immer schmählich den Kürzeren, denn Jacques war eine, im Nahkampf gut ausgebildete Mordmaschine, die er zum Glück für seine Gegner sicher beherrschte, so dass es immer ohne Totschlag ausging.
Aber der Schaden, den er anrichtete war trotzdem enorm. Der junge Bühl – Bauer verlor eine Ohrmuschel, ein Armbruch und zwei ausgekugelte Schultern gingen aufs Schadenkonto von Leuten aus dem Nachbardorf und schliesslich kam das gebrochene Nasenbein des Rössliwirtes noch dazu und führte zu einem generellen Wirtshausverbot für den Legionär in der ganzen Gemeinde.
Mir war das mehr als Recht, denn nun hatte er wieder mehr Zeit zum Erzählen.
Was mich nun auch interessierte war der Nahkampf, die Selbstverteidigung, denn ich war auch damals kein imposanter Muskelprotz und konnte mich bei tätlichen Auseinandersetzungen nur schwer behaupten, wenn überhaupt.
Das Karatetraining von Jacques brachte mir viel, vor allem weil es mir erst einmal half, die Angst vor dem Gegner zu überwinden. Ich bekam Selbstvertrauen und es gelang mir auch, meinen Jähzorn in bewusste und zielgerichtete Aktionen zu verwandeln. Ich lenkte meine „blinde“ Wut in die Bahnen des gezielten und wohlbedachten Angriffs. Es gelang mir bald ein geachteter Gegner auf dem Pausenplatz zu werden und schliesslich fürchteten selbst grössere Jungen sich mit mir anzulegen und ich begann meine Machtstellung aufzubauen.
Hugo seinerseits war etwas in meinen Schatten gerückt und versuchte nun wieder Boden zurück zu gewinnen mit Intrigen, Verleumdungen, Erpressungen und Drohungen.
Seine Gemeinheiten waren oft wirksamer als meine schnellen Schläge und gegen Lügen und Gerüchte hilft kein Karate.
Jacques hatte nun einige Mühe an den für ihn so wichtigen Schnaps heranzukommen. Er kaufte regelmässig im Konsum sein Kirschwasser oder eine Flasche Tresterschnaps aber er hatte keine Lust mehr am Saufen, weil ihm die Gesellschaft fehlte. Saufen um des Saufens Willen machte ihm keine Freude, aber sein süchtiger Körper wollte saufen, auch ohne Freude.
Nachdem er einige Male stockbetrunken randalierend durchs Dorf gezogen war durfte auch der Konsum keinen Alkohol mehr an ihn abgeben, doch das scherte ihn wenig, er musste noch andere versteckte Quellen haben.
In einer hellen Vollmondnacht sah ich Seline an unserm Haus vorbeischleichen mit einem Körbchen am Arm. Ihr Ziel war wohl das Nachbarhaus. Sie brachte Jacques Nachschub samt Gesellschaft in eigener Person. Das war also seine Nachschubtruppe.
In jenen Tagen erzählte mein Vater beim Abendessen, dass die Gemeinde diesen versoffenen Typen loswerden wolle, aber sie konnten ihn nicht einfach so wegschicken, weil er „ein Sohn“ dieses Gemeinwesens war, das heisst, er war ein Bürger des Dorfes und somit hatte dieses für ihn zu sorgen.
Man hatte zuerst überlegt, ob man ihn wieder in die Legion zurückschicken wolle, aber Jacques hatte derart die Schnauze voll vom Krieg, dass diese Lösung nicht in Betracht kam.
Eine Entziehungskur hätte Geld gekostet, also verwarfen die Gemeindeväter auch dieses Projekt.
Natürlich erzählte ich Jacques von den Umtrieben, die seinetwegen begonnen hatten, aber statt zu fluchen, grinste er nur und sagte mir, er wolle mir mal etwas zeigen, falls ich schweigen könne.
Er nahm mir den Schwur ab, zu schweigen wie ein Grab, ansonsten … hier machte er das gut verständliche Zeichen des Halsabschneidens.
In seiner Kammer zeigte er mir dann ein kleines graues Segeltuchsäcklein voller Goldmünzen. Noch nie im Leben hatte ich echtes Gold gesehen. Er gab mir eine Münze in die Hand und erklärte mir, dass das ein „Napoleon“ sei, eine französische Goldmünze, die sei etwa doppelt so viel wert wie ein Schweizer „Vreneli“.
Beim Wort Napoleon musste ich lachen, denn so hiess der Dackel des Försters und dieser „Näppi“ wie wir ihn nannten war ein arger Herumtreiber, Bettler und Vagabund.
Ich war ganz fasziniert vom seltsamen Glanz, der von diesem Geldstück ausging, ein warmes Leuchten, das wohl dem grossen Kaiser Napoleon galt.
Jacques erklärte mir dann, dass er im Grunde genommen ein reicher Mann sei und nicht auf die Almosen dieser Geizkrägen im Dorf angewiesen. Bevor er sich zurückziehe, wolle er die Schweinebande hier noch etwas ärgern. Er hatte geplant nach Frankreich zurückzukehren in eine Art von Altersheim speziell für Legionäre und dort mit andern Kameraden zusammen den Lebensabend zu geniessen.
Bevor er sein Leinenbeutelchen wieder verschloss, drückte er mir zwei Goldstücke in die Hand und sagte mir, dass er sie mir anvertraue bis zu seiner Abreise als eine Art von Notpfennig oder Versicherung, falls man ihm das andere Gold klauen würde. Einen dieser Goldvögel müsste ich ihm zurückgeben, den andern könnte ich behalten.
Mir schien es, dass Jacques immer mehr und stärker unter Alkoholeinfluss stehe, obschon ihm die Gemeindeväter alle Quellen verstopft hatten, ausser seinem letzten Brunnen, der Kellnerin Seline, die ihn noch versorgte. Bei der Menge, die seine gute Fee anschleppte, müsste das doch auffallen, aber niemand schien das zu interessieren.
Es war während der Heuernte als ich eines Morgens sah, wie Jacques seinen Flachmann auffüllte mit Brennspiritus. Ich glaubte, er hätte sich in der Flasche geirrt, doch er grinste nur und sagte, das sei auch Schnaps, halt mit einem schlechten Geschmack aber sonst OK.
Wir hatten Schulferien, damit wir beim „Heuet“ mithelfen konnten und ich hatte mich beim Nachbarn verdingt für diese Zeit. Ich bemerkte, dass Jacques nicht mehr viel taugte bei der strengen Arbeit. Er schwitzte schon beim Anblick der Arbeit und beim Mähen (damals noch von Hand mit der Sense) mussten wir ihm die letzte Reihe überlassen weil er so langsam war. Nach dem Mittagessen war er verschwunden und ich wurde ausgeschickt ihn zu suchen. Als ich am Stall vorbeiging hörte ich ein jämmerliches, klägliches Stöhnen im Stall. Ich vermutete sofort, dass jemand von der Heudiele heruntergefallen sei und nun im Stall liege mit gebrochenen Knochen.
Die Geräusche kamen aus der leeren Kälberbox.
Da lag Seline, den Rock hochgezogen und wurde von Jacques „besprungen“ und beide keuchten und stöhnten als ob sie Bauchgrimmen hätten.
Mich amüsierte die Szene und ich zog mich rasch wieder etwas zurück.
Als sie ihr Werk vollbracht hatten rollte Jacques grunzend wie ein Schwein in das Stroh. Seline reichte ihm die Schnapsflasche hinüber und er trank in vollen Zügen als ob es Wasser gewesen wäre.
Wenige Augenblicke später schnarchte Jacques und Seline machte sich an ihm zu schaffen. Sie drehte ihn um, damit sie besser an seine Geldtasche herankam. Ich sah nun wie sie eine rotgelbe, glänzende Münze herausklaubte und in ihr Portemonnaie steckte.
Na, der Freier hatte anscheinend gut getan, mir einen Notpfennig anzuvertrauen.
Ich betrat nun offiziell den Stall, betont lautstark um dem Liebespärchen einen ehrenvollen Abgang zu ermöglichen.
Die beiden Zugstiere mussten eingespannt werden. Am Nachmittag wurde das Heu hereingeholt und da mussten alle anpacken.
Ich hatte den ersten Stier angeredet, ihn am Hals gekrault, das mögen sie nämlich und dann habe ich die Kette vom Nasenring gelöst und das mächtige Tier am Strick hinausgeführt. Es folgte mir willig wie ein zahmes Hündchen an der Leine, dabei war es ein furchterregendes Tier mit spitzen Hörnern, schnaubenden Nüstern, einem schreckhaften Gemüt und tausend Kilo Eigengewicht, vor allem aus Muskeln bestehend.
Bevor ich mein Tier fertig angeschirrt hatte wurde es unruhig, warf den Kopf in die Luft und stiess ein heiseres Brüllen aus. Es musste irgendetwas los sein im Stall drüben. Ketten rasselten, Jacques rezitierte sein Repertoire an französischen Flüchen, immer lauter werdend, begleitet vom Klatschen der Stockschläge. Ich beruhigte mein Tier und dann eilte ich zum Stall hinüber.
Mich erwartete ein Bild des Schreckens. Jacques, an die Wand gepresst und vor ihm der Stier, dumpf brüllend, die weisse Spitze des Horns genau auf der Mitte des Hemdes, die weit aufgerissenen Augen des Knechtes und dann drang die Hornspitze in seine Brust, die mit knacken und splittern dem Druck nachgab.
Zuckend hing der Körper am langen Horn und belästigte den Stier, der sich nun zu befreien versuchte und brüllend den Kopf hin und herschwang.
Schliesslich klatschte der leblose Körper auf den Stallboden und der Stier lief ins Freie.
Ich starrte wie gebannt auf Jacques. Sein Körper zitterte noch leicht, aus der Brust sprudelte sein Blut wie Wasser aus einer Quelle und aus seinem Mund trat blutiger Schaum, die Augen starrten ins Nichts. In keinem Moment hatte er geschrien oder gestöhnt. Er hatte sich nicht mehr wehren können, dieser starke und mutige Krieger. Da war Kraft gegen Kraft angetreten und der andere war der Stärkere. Voilà.
Der Bauer meinte, dass Jacques nichts gespürt habe, besoffen wie er gewesen sei und dann das Horn, genau ins Herz, das sei sehr schnell gegangen, quasi schmerzlos.
Als ich ins Freie trat sah ich den Stier vor dem Haus wie er friedlich die Geranien der Bäuerin frass, aber niemand wagte es, ihn zu vertreiben. Ich ging zu ihm hin, redete ruhig mit ihm und dann trottete er friedlich hinter mir her und liess sich problemlos neben seinen Kumpel an den Wagen spannen.
Man schickte ein Kind ins Gemeindehaus um den Vorfall zu melden. Der Gemeindeschreiber solle bitte auch noch Arzt und Polizei benachrichtigen, damit alles seine Richtigkeit habe.
Die Stalltüre wurde abgeschlossen, die Bäuerin blieb zu Hause und wir fuhren aufs Feld um das Heu einzufahren, denn es war schlechtes Wetter vorausgesagt worden für die nächsten Tage.
Als wir uns an den Tisch setzten zum Abendessen, es ging schon gegen Mitternacht, war der Totenschein schon ausgestellt und der Tote lag, gewaschen und aufgebahrt in seinem Zimmer.
Bevor ich nach Hause ging, wollte ich den Toten nochmals sehen. Man gab mir den Zimmerschlüssel und ich eilte im Dunkeln die knarrende Treppe hoch. Plötzlich blieb ich stehen. Da war doch dieser üble Geruch nach verdorbenem Fisch in der Luft, da musste Seline, die Kellnerin irgendwo versteckt sein.
Was zum Teufel hatte die um diese Nachtzeit in einem fremden Haus zu suchen?
Ich horchte aufmerksam in die Dunkelheit. Da war nichts zu hören.
Mir schien, dass sich jemand am oberen Ende der Treppe befinde, aber das Licht vom Korridor genügte nicht, damit man etwas hätte sehen können.
Mir wurde ganz mulmig zu Mute. Wenn da oben Seline auf mich lauerte? Sie hatte es sicher auf die Goldvögel abgesehen, konnte aber ohne Schlüssel nicht in die Kammer.
Ich stellte mir vor, wie sie da oben stand und sich mit der linken Hand am Treppengeländer festhielt, in der Rechten ein grosses Küchenmesser mit dem sie mich abschlachten wollte … nun konnte ich meine Karatekünste anwenden … sie an beiden Beinen packen und dann schnell die Füsse wegziehen damit sie hintenüber fiel … und dann … ich war noch ein kleiner Knirps neben dieser stattlichen und starken Frau … sie konnte mich am Genick hochheben wie ein Kaninchen … mich mit ihrem Messer in kleine Stücke schneiden, bevor ich nur bis drei zählen konnte …
„Ist jemand da oben?“ rief ich ins Dunkel.
Da ging oben das Licht an. Seline stand heulend vor der Kammertüre des Toten.
Sie wollte Totenwache halten, sagte sie.
Wir kannten bei uns diesen Brauch nicht, aber Seline kam aus der katholischen Innerschweiz und da soll es scheinbar Sitte sein, bei einem Toten zu wachen und zu beten beim Kerzenschein.
Ich meinte, dass Jacques das wohl nicht gewollte hätte, aber nun konnte er sich nicht mehr wehren.
Sie beichtete mir nun, dass sie Jacques geliebt hätte, sie sei es ihm schuldig, denn sie seien wie Mann und Frau gewesen.
„Ja so wie heute in der Kälberbox,“ entfuhr es mir.
Wie von einer Wespe gestochen fuhr sie mich wütend an. Ich sei ein verdammter Spion und Fenstergucker, ein verdorbenes Schwein und noch so jung. Das werde ein böses Ende mit mir nehmen … und so weiter, (zum Glück war das Messer in ihrer rechten Hand nur Einbildung gewesen)
Einen Moment lang betrachtete ich das wachsbleiche Gesicht des Toten. Er machte einen friedlichen Eindruck, er war sauber rasiert und sein sonst so wirres Haar war akkurat gescheitelt.
Sein rechter Mundwinkel war leicht nach oben gebogen, als ob er sich über uns lustig machen wolle.
Am folgenden Tag wurde er eingesargt und der Totengräber hatte im Friedhof an einer entfernten Stelle das Grab ausgehoben und holte dann zusammen mit dem Sargschreiner den Sarg.
Sie fuhren den Toten mit ihrem Handkarren durchs Dorf, wurden dann aber von meinem Vater angehalten.
Er war ausser sich vor Zorn und befahl den beiden zum Gemeindehaus zu fahren. Dort machte er einen Riesenkrach, weil man einen Gemeindebürger einfach so klammheimlich verscharren wolle wie einen toten Hund. Mittlerweile hatten sich ihm noch andere Dörfler angeschlossen und eine Stunde später wurde der Sarg auf den damals üblichen Leichenwagen mit Pferdegespann umgeladen und dann unter feierlichem Glockengeläute zu seiner letzten Reiseetappe geführt. Ein Geistlicher war zwar nicht dabei, denn Jacques hatte ja auch nie eine Kirche besucht.
Wir waren etwa zehn Personen am Grab, darunter auch Seline mit ihrem geflochtenen Korb und einer Schnapsflasche unter einem Tuch versteckt. Sie betete so lange bis alle Leute weg waren und der Sarg unter der Erde lag, dann entkorkte sie die Flasche und goss den Inhalt über das Grab.
Am folgenden Tag kam Seline zu mir, den Schnapskorb am Arm und wollte mit mir sprechen.
Sie sagte sie hätte den Nachlass des Toten geordnet und dabei einiges gefunden, das mich vielleicht interessiere. Ein dickes Paket, grob verschnürt enthielt seine Papiere, wie Soldbuch, Ausweise, Entlassungspapiere, einen französischen Pass und einige kleine Notizbücher, eine Art von Tagebuch.
Dann gab sie mir noch eine nagelneue grüne Militärmütze als Andenken an ihn.
Ich erzählte ihr noch von den Goldmünzen, die er mir geschenkt hatte, wobei ich ihm die eine in den Sarg hätte legen sollen.
Seline fand, das wäre eine schlechte Idee Geld zu vergraben, aber man könnte damit eine schöne Grabplatte auf sein Grab legen, sie würde sich auch daran beteiligen, sie habe übrigens auch ein paar Goldvögel geerbt.
Auf einer Platte aus schwarzem Granit prangte die siebenflammige Granate der Fremdenlegion und darunter in schlichten Buchstaben JACQUES und die Jahreszahlen seiner knapp 40 Lebensjahre.
Die Friedhofkommission beanstandete anschliessend den Grabstein wegen der Granate aber schliesslich liess man es bei einem Brief bewenden in welchem Seline und ich gebeten wurden, in Zukunft eine genaue Beschreibung mit Zeichnung zur Bewilligung einzureichen.
Werden wir selbstverständlich tun, in Zukunft, hochgeehrte Friedhofs- und Bestattungskommission.
Der Tod des „Kriegers“ wie ihn meine Mutter genannt hatte liess meine Eltern aufatmen, denn sie waren um mich besorgt gewesen wegen dieser Bekanntschaft, denn mit seiner Sauferei war er wahrlich kein Vorbild gewesen und als er mir dann noch Anleitung gab in Kampfsport und Nahkampf, hatten sie Angst, ich werde ein übler Raufbold und Schlägertyp.
Meine geringe Körpergrösse und meine schwache Konstitution hatten mich aber frühzeitig gelehrt, allen Händeln und Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen, vielleicht hatte ich nun eine geringe Chance, mich im Notfall wehren zu können.
Immerhin hatte Hugo von nun an Respekt vor meinen Kniffen und harten Schlägen und er liess mich meist in Ruhe, obschon er grösser, stärker und viel schwerer war als ich und mir weit überlegen im Ringkampf.
Einige Tage nach der Bestattung wurde der „Fall Jacques“ von den Behörden offiziell untersucht. Man verlangte auch meine Anwesenheit. Ausser dem Tierarzt, dem Metzger und dem Gemeindeschreiber waren noch zwei uniformierte Kantonspolizisten am Tatort.
Wir mussten den Ablauf des Unglücks nochmals nachspielen.
Als ich in den Stall ging um den ersten Stier zu holen waren die Polizisten strikt dagegen, dass ein „kleines“ Kind (ich war immerhin schon Sekundarschüler !) allein eine solche wilde und bösartige Bestie aus dem Stall führe.
Schliesslich konnten wir sie überzeugen, dass es absolut ungefährliche Haustiere seien.
Als ich mit der ersten Tonne Fleisch und Muskeln aus dem Stall kam, wichen die Polizisten zurück und der eine hielt vorsorglich die Hand auf seiner Pistole.
Als dann der Bauer mit dem anderen Stier, dem „Mörder“ aus dem Stall kam, wichen alle Anwesenden ein Stück zurück, denn man konnte ja nie wissen, was im Kopf eines solchen Untiers vor sich ging.
Zu zweit spannten wir die Tiere vor den Karren, ich kraulte beide am Hals und sie leckten meine Hände (die ich vorher ins Salzfass getaucht hatte). Ein Bild des Friedens und der Eintracht.
Der Tierarzt trat nun hinzu und betastete die Tiere, schaute ihnen ins Maul und leuchtete in die Nüstern.
Die beiden Hüter der Ordnung kamen nun auch etwas näher und vergewisserten sich, dass es absolut zahme und harmlose Tiere seien.
Der Bauer erklärte nun, dass die meisten Hoftiere keine betrunkenen Menschen mögen, sie hätten wohl Angst vor ihrer Unberechenbarkeit. Wenn dann der Besoffene das Tier noch quäle, schlage, in den Bauch trete oder an einer empfindlichen Stelle reize, dann müsse sich das arme Vieh irgendwie wehren, Hornträger seien ja deshalb mit ihrem Kopfschmuck ausgestattet.
Die Tiere wurden wieder in den Stall gebracht und die Bäuerin komplimentierte die ganze Gesellschaft in die Küche, wo ich bei Most, Brot, Speck und Schinken den ganzen Hergang genau schildern musste. Einer der Polizisten notierte alles und nach einem Gläschen Schnaps verliess der obrigkeitliche Besuch den Hof, satt und zufrieden und der ( Mörder-) Stier blieb am Leben.
Etwa zwei Wochen nach dem Tod des Legionärs spürte ich eine seltsame Unruhe in mir, ich konnte mich kaum mehr konzentrieren und nachts schlief ich sehr unruhig, wenn überhaupt. In der Schule war ich müde und abgespannt und völlig unaufmerksam. Ich hatte das Bedürfnis mich zu bewegen, zappelte mit den Beinen und die Hände warfen auf dem Tisch alles durcheinander und immer wieder fiel etwas zu Boden, ein Buch, ein Bleistift oder gar meine Schultasche bis mich der Lehrer vor die Türe wies. Völlig unmotiviert begann ich die Kleider von den Haken zu nehmen um sie anschliessend wieder, neu gruppiert, aufzuhängen. Dann versuchte ich mit einem Bleistift ein Loch in die Türe zu bohren und schliesslich stellte ich mir vor, ich wäre der wütende Stier und knallte mit dem Kopf in die WC Türe.
Durch den Knall aufgeschreckt eilte der Lehrer herbei und schickte mich vor die Haustüre.
Ich setzte mich auf die Treppe und schlief sofort ein.
Am Ende der Stunde wurde ich geweckt. Ich fühlte mich wieder besser, war äusserlich absolut ruhig, nur tief in mir drinnen war ich aufgewühlt. Wenn ich die Augen schloss, sah ich immer diese scharfe weisse Spitze des Horns auf dem blauen Hemd und wie dieser Dolch zuerst den Stoff eindellte, wie der Stoff zerriss und wie das Horn blitzschnell tiefer drang, wie ein feiner Blutfaden am Horn erschien und ich hörte das Knacken brechender Rippen.
Ich erzählte dem Lehrer von dem Vorfall und wie mich diese Szene nun zu verfolgen begann.
Man schickte mich in Begleitung eines Schulkameraden nach Hause. Meine Mutter schickte mich ins Bett und brachte mir den obligaten Kamillentee und ein Beruhigungsmittel, das ihr der Arzt für ihre Depressionen verschrieben hatte. Ich versank in einen Halbschlaf und begann zu delirieren.
Am Morgen hatte ich sehr hohes Fieber und der Arzt liess mich ins Krankenhaus bringen, weil er den Verdacht hatte, ich könnte eine Hirnhautentzündung haben.
Ein paar Tage soll ich im Koma gelegen haben, dann ging es wieder aufwärts mit mir, ich erwachte aus der Schockstarre und man half mir in einer Spezialklinik diesen Schock zu überwinden. Der weisse Dolch, der mitten ins Herz meines Freundes eindrang, seine leeren Augen, der blutrote Schaum, der aus seinem Mund drang und die dunkelrote Quelle, die rhythmisch Blut pumpte verfolgten mich noch jahrelang aber nach und nach wurden diese Schreckensbilder ersetzt durch die Totenmaske mit ihrem zufriedenen Ausdruck und ihrem schelmischen Grinsen.
Die ganze Geschichte mit dem Unfall und meine, etwas verspätete Schockreaktion aber auch meine Heilung machten mich eine Zeit lang zum Tagesgespräch im Dorf, was mir Hugo irgendwie missgönnte und er begann nun das Gerücht zu verbreiten, ich sei nicht mehr ganz recht im Oberstübchen, etwa wie meine Mutter, die schon mehrmals wegen ihrer schweren Depressionen in einer Nervenheilklinik (Irrenhaus nannte man das damals) interniert werden musste.
Wer körperlich krank war, mochte es Masern oder Krebs sein, der hatte das Mitleid der Dörfler auf seiner Seite, wer aber seelisch krank war, der wurde verspottet, geächtet und gemieden. Man ging ihm aus dem Weg, man hatte sogar Angst vor ihm oder man bewarf ihn auf der Strasse mit Pferdeäpfeln und man machte faule Witze über ihn. Einen „Irren“ in der Familie zu haben war damals eine grosse Schande.
In einem Nachbarland hatte man genau in jenen Jahren „Geisteskranke“ als „unwertes Leben“ definiert und zu Hunderten umgebracht.
Wenn nun einer im Dorf herumgeht und erzählt, du seist geisteskrank, ist das eine unverzeihbare Gemeinheit, es mag nun Tatsache sein oder nicht, aber von diesem Moment an behandelt man dich anders, man nimmt dich nicht mehr für voll und dein Wort zählt nichts. Du bist ausgegrenzt, bist ein Aussätziger.
Ich hatte Hugos Verleumdungskampagne nicht verdauen können. Ich hatte eine Sauwut auf den Kerl und bedauerte ehrlich, dass ich damals als Dreijähriger mit der Schaufel nicht stärker zugeschlagen hatte um ihn wirklich „tot zu machen“.
Auch in der Schule (Sekundarschule) begann er mich als „Irrenhäusler“, „Webstübler“ oder „Burghölzler“ zu bezeichnen und verlachte mich in Gegenwart von Mädchen und das schmerzte besonders stark.
Dass er damit meinen Jähzorn entfachte, wusste er, dass ich inzwischen einige Kenntnisse von chinesischer Kampfkunst erworben hatte, wusste er nicht aber bekam es zu spüren.
Als ich ihm mit zwei gezielten Schlägen beide Vorderarmknochen gebrochen hatte gab es natürlich einen Riesenwirbel.
Meine „faulen Ausreden“ zogen nicht vor dem Lehrertribunal.
Man verlangte von mir dass ich vor der ganzen Schule um Verzeihung bitte.
Vor versammeltem Publikum spuckte ich ihm ins Gesicht.
Ich wurde an eine andere Schule versetzt, „auf Bewährung“ sozusagen. Bei der kleinsten Unregelmässigkeit würde ich von der Schule geschmissen und in ein Erziehungsheim gesteckt.
An der neuen Schule lief alles gut. Ich lernte feine Kerle kennen und auch ein Mädchen, mit dem mich bald eine kumpelhafte Freundschaft verband. Nach der Schule hatten wir ein Stück gemeinsamen Heimweg und dabei lernten wir uns kennen. Sie hiess Margrit, war gross (sogar einige cm grösser als ich) und hatte dunkle Augen wie ein Reh. Sie lebte mit ihren Eltern und einem kleinen Bruder auf einem grossen Bauernhof, weit entfernt vom nächsten Dorf.
Wir waren im letzten Schuljahr und es wurde Zeit, sich zu überlegen, welchen Beruf man ergreifen möchte.
Das Handwerk des „Hafners“ oder Ofenbauers, das mein Vater ausübte, kam für mich nicht in Frage. Ich habe ihm zwar in meiner Freizeit oft und gerne geholfen, aber ich hatte auch gesehen, dass man damit nicht genug Geld verdient um eine Familie ernähren zu können. Wir hätten all die Kriegsjahre hungern müssen ohne Mutters Beitrag, den sie mit Waschen und Putzen bei andern Leuten verdient hatte. Sie war aber auch eine ausgezeichnete Köchin, die mit sparsamen Mitteln ein wohlschmeckendes Essen auf den Tisch bringen konnte. Da wurde nie etwas weggeschmissen und die letzte Speckschwarte verfeinerte noch die Gemüsesuppe.
Meine Berufswünsche waren während meiner Schulzeit einem ständigen Wechsel unterworfen, je nach Alter, momentaner Lektüre und beeindruckenden Vorbildern. Das reichte vom Kampfpilot, dem Trapper, dem Legionär, dem Kapitän und dem Naturforscher bis zum Schriftsteller und dem Lehrer.
Und bei dem blieb es schliesslich, nicht zuletzt auch, weil es auch Margrits Berufswunsch war. Wir begannen uns gemeinsam auf die Aufnahmeprüfung am Gymnasium vorzubereiten. Es machte mir grossen Spass auf ein ganz bestimmtes Ziel hin zu arbeiten.
Wir kamen gut voran nur mit der Mathe kam Margrit nicht zurecht. Ich anerbot mich nun, am folgenden Samstag zu ihr nach Hause zu kommen um ihr einzelne Kapitel genauer zu erklären, aber sie lehnte den Vorschlag ziemlich brüsk ab. Ich war erstaunt, machte mir aber keine weiteren Gedanken.
Am Prüfungstag trafen wir uns am Bahnhof. Ich hatte mich „in die Schale“ gestürzt, das heisst ich war im besten Sonntagsstaat angerückt. Dunkle Hosen, einst Vaters Hochzeitsanzug, von der Mutter mir angepasst, waren nicht unbedingt im damaligen Modetrend und vor allen etwas kurz an den Beinen, sie gaben ein Stück meiner geringelten Strümpfe frei, dafür kamen die nagelneuen, etwas gross geratenen Schuhe besser zur Geltung.
Der Rock war etwas weit für meine Brust, dafür waren die Ärmel zu lang für meine Arme und die Manschettenknöpfe meines Opas kamen gar nicht zur Geltung. Umso auffälliger gebärdete sich mein faustdicker Krawattenknopf, der mich zu erwürgen drohte. Es war eine feuerrote Seidenkrawatte mit violetten Querstreifen drin. Den flachen „Fladenhut“ konnte ich den Eltern ausreden, denn ich fürchtete damit zum Gespött der anderen zu werden, wenn schon Kopfbedeckung, monierte ich, dann nur das grüne Barett, das mir Jacques vererbt hatte. „Bist du nun total verrückt geworden?“ war Vaters Kommentar.
Ich hatte mir vorgestellt mit Margrit allein am Bahnhof zu sein, aber da war eine ganze Menge von Mitschülern aus den Parallelklassen und von anderen Schulen, alle tadellos gekleidet, junge Herrchen und vornehme Dämchen, mit einem Wort, die geistige Elite des Landes.
Nachdem ich die Fahrkarte gekauft hatte benutzte ich den Hinterausgang des Bahnhofes und begab mich ans vordere Ende des Perrons und stellte mich hinter die Fahrradständer, damit mich die Meute nicht sehen konnte. Ich befürchtete mit Recht zum Gespött der anderen zu werden.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Aus den Reihen der Prüflinge löste sich plötzlich eine, mir nur zu bekannte Person und eilte auf mich zu.
Hugo.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er auch ans Gymnasium wollte, da wir das letzte Schuljahr an verschiedenen Schulen absolviert hatten.
Als ich ihn herankommen sah, hatte ich nur einen Gedanken: „Wann zum Teufel werde ich dieses Aas nur los? Ich hätte damals fester zuschlagen sollen.“
Er war geschniegelt und schick angezogen, es kam wohl alles direkt vom Schneider und passte perfekt. Seine roten Haare glänzten dank einer Paste dunkler Brillantine, „wie aus dem Fettnäpfchen“ , und an der goldenen Uhrkette an seinem Veston war sicher auch eine goldene Uhr angebracht.
Neben diesem Dandy kam ich mir vor wie eine hässliche Vogelscheuche.
Als der Zug einfuhr, zerrte er mich mit sich und ich folgte ihm, geduldig und blöd wie ein Opferlamm in den Zug, in ein Raucherabteil wo sich seine Kumpane schon breit gemacht hatten. An ihren Blicken war ihr Urteil über mich unschwer abzulesen und ihr blödes, hämisches Grinsen, wenn sie mich musterten, liess mich erahnen, was mich da erwarten würde.
Glücklicherweise war jeder von ihnen mit sich selbst beschäftigt, denn die Prüfungsangst steckte den meisten tief in den Gliedern. Um davon abzulenken prahlten sie, wie sie gut vorbereitet seien, einer behauptete sogar, er kenne schon die Aufgaben, war aber nicht bereit sein Geheimwissen mit uns zu teilen. Sie hatten alle in vielen teuren Privatstunden eine siegessichere Vorbereitung genossen und als ich dann nach meinem Pauker gefragt wurde und zugeben musste, dass ich mich, zusammen mit einer Mitschülerin allein vorbereitet hätte, machte ein hämisches Grinsen die Runde. Aus zwei Gründen. Erstens. wer keine Privatstunden sich leisten könne, gehöre nicht an so eine Eliteschule, das sei nichts für arme Hunde und zweitens gab mein zweiter Ausspruch „zusammen mit einer Mitschülerin“ Anlass zu Spott und blöden Anzüglichkeiten. Vor allem Hugo tat sich hervor, mich mit kleinen Anspielungen zu demütigen.
Ich war mir im Klaren, dass ich nicht in diese elitäre Aufschneiderbande gehörte und, einen schweren Hustenreiz, wegen des Rauches, vortäuschend verliess ich das Abteil.
Erst drei Wagen weiter hinten fand ich Margrit. Ich hatte sie fast nicht erkannt, denn sie hatte sich hübsch gemacht. Statt ihrer langen Zöpfe hatte sie die Haare aufgesteckt und mit einem silbrigen Kamm befestigt und ihr dunkles Kleid machte sie zu einer verdammt hübschen Dame. Sie war derart schön, dass ich mich fast nicht getraute sie anzusprechen. Der Platz ihr gegenüber war noch frei (weil sie ihre Mappe daraufgelegt hatte) und mit einem Kopfzeichen lud sie mich ein, mich hinzusetzen.
„Hast dich hübsch gemacht,“ wagte ich zu sagen und sie lachte.
Dann meinte sie, ich hätte mir ja auch Mühe gegeben, nur mein dicker (doppelter) Krawattenknopf sei eine Katastrophe. „Komm näher, ich weiss wie man‘s macht,“ und schon hatte sie die „Kartoffelknolle“, wie sie es nannte, aufgelöst und neu geknotet. Und die ganze Zeit war ihr Gesicht so nah, ich spürte ihre feinen Hände am Hals, ich roch den Duft frisch gewaschener Wäsche und dahinter ein leiser Hauch von Maiglöckchenduft. Ich war verwirrt, wusste nicht wohin schauen vor lauter Verlegenheit und ich spürte, wie mein Herz vor Aufregung eine schnellere Gangart einschaltete.
Endlich (oder : leider allzu schnell) sassen wir uns wieder gegenüber und versuchten nun ein normales und unbefangenes Gespräch zu führen aber ich merkte, dass Margrit nicht bei der Sache war, es musste die Prüfungsangst sein, die sie gepackt hatte. Ich wollte ihr Mut zusprechen aber sie winkte ab und sagte, sie hätte familiäre Probleme, ihre Mutter sei wieder einmal „unpässlich“, aber sie wolle jetzt nicht davon sprechen. „Bitte, nicht,“ sagte sie mit leiser Stimme und flehenden Augen.
Wir schwiegen und ich begann die anderen Fahrgäste im Abteil zu mustern und da fiel mir vor allem die vornehme Dame auf, die neben Margrit sass. Vor allem ihre Lesebrille war interessant, randlose Gläser an goldenen Ohrbügeln, die unter ihren rötlichen Locken verschwanden.
Ja, sie hatte fast die gleiche Haarfarbe wie Hugo, was aber bei ihm hässlich wirkte, hatte hier eine besondere Anziehungskraft und ihre Sommersprossen, die sie offensichtlich stolz zur Schau trug, waren bei Hugo ein endloser Kampf, denn er mit Salben und Cremen führte.
Sie hatte unser Krawattenduell aus den Augenwinkeln heraus verfolgt und sichtlich ihren Spass daran gehabt und als wir nun so schweigend dasassen, fragte sie uns, ob wir beide zur Aufnahmeprüfung an die „Kanti“ reisten. Wir bejahten. Sie betrachtete uns schmunzelnd und las dann in ihrem Buch weiter, aber ich musste sie immer wieder verstohlen betrachten und wenn sie meinen Blick erwiderte wurde mir ganz weh ums Herz. So mussten früher die Hexen ausgeschaut haben.
Am Bahnhof in Winterthur bestieg die rote Dame aus dem Zug ein Taxi und fuhr weg.
Wir mussten zu Fuss quer durch die Stadt zum „Rychenberg“ hinüber wandern, wo das imposante Schulgebäude der Kantonsschule hingeklotzt worden war. Hugo hatte sich nun uns beiden angeschlossen, weil ich der einzige war, der den Weg kannte (ich hatte ihn am vorherigen Sonntag ausgekundschaftet).
Er machte sich nun in seiner üblichen galanten Art an Margrit heran, machte faule Komplimente, wusste sich selber in den schönsten Farben darzustellen und mich mit kleinen Randbemerkungen herunterzutun.
Margrit fand ihn interessant, hörte aufmerksam auf sein dummes Geschwätz, lachte, wenn er seine faulen und abgestandenen Witze erzählte und bewunderte ihn, wenn er von seinen Heldentaten erzählte.
In Gedanken verloren betrachtete ich die blaue, eiserne Sandschaufel in meinen Händen … damals.
Wenn das Schulhaus (sieht aus wie eine römische Kaserne) in Sichtweite ist, quert eine wichtige Eisenbahnlinie die Strasse und eine Barriere sperrt die Strasse wenn Züge vorbeifahren, und es fahren immer Züge vorbei. Auch als wir da waren, standen wir vor geschlossener Schranke.
Ich wusste nun, dass etwa hundert Meter weiter oben eine Passerelle, eine Fussgängerbrücke die Geleise überquert und teilte es den beiden mit. Aber sie hörten gar nicht hin, derart waren sie in ihr Gespräch vertieft. Ich machte mich alleine auf den Weg. In mir drinnen spürte ich eine grosse Leere, Verlassenheit, Einsamkeit und Trauer, Enttäuschung und Wut.
Auf der Brücke schaute ich auf die Geleise runter als gerade ein Schnellzug vorbeidonnerte.
Springen?
Mich schauderte.
Wie hatte Jacques gesagt? Selbstmord ist Feigheit vor dem Leben.
Die Prüfung verlief wie in einem Traum.
Wir wurden in kleinen Gruppen geprüft.
Im mündlichen Französisch musste jeder drei, vier Sätze vorlesen und dann auf Deutsch übersetzen.
Schriftlich mussten wir ein Bild beschreiben. War alles kein Problem.
Deutsche Grammatik war mir ebenfalls kein fremdes Land und im Aufsatz gab ich mein Bestes.
Die letzten zwei Lektionen waren Geometrie und Mathematik, meine Lieblingsfächer.
Als die Glocke geläutet hatte betrat … betrat die „rote Dame“ aus dem Zug unser Zimmer.
Ich durfte (musste) dann auch als erster an die Wandtafel um eine schwierige Dreieckskonstruktion zu erklären was mir auch sehr gut gelang. Die anschliessende schriftliche Prüfung fand ich leicht und hatte sie auch schon nach der halben Zeit fertig, zweimal durchgerechnet.
Ich brachte die Blätter zum Lehrerpult, kassierte ein freundliches Lächeln und die geflüsterte Bemerkung, an dieser Schule herrsche kein Krawattenzwang. Ich nickte, schaute tief in ihre grünen Augen und verabschiedete mich.
Wie ein Schlafwandler gelangte ich zum Bahnhof, setzte mich dort auf ein Mäuerchen und versuchte im Chaos meiner Gedanken und Gefühle etwas Ordnung zu machen, doch es tauchten immer wieder die gleichen Bilder auf: zwei lächelnde grüne Augen, Hugo, der auf Margrit einredete, Margrit, die ihm an den Lippen hing, der Schnellzug unter der Brücke, die grünen Augen, die absolute Gewissheit, dass ich die Prüfung bestanden habe, die grünen Augen …
An einem Dienstag kamen die Resultate heraus und wurden in der Schule am schwarzen Brett angeschlagen und zugleich wurde die Klasseneinteilung bekanntgegeben.
Jeder Prüfling bekam das Ergebnis auch noch per Post zugeschickt aber erst etwa eine Woche später.
Am Anschlagbrett war ein dichtes Gedränge. Auch Hugo und Margrit waren im Gewimmel und versuchten vergeblich nach vorne zu kommen. Ich liess mich von der Seite her an der Tafel vorbeidriften und konnte schon aus der Ferne meinen Namen, ziemlich weit unten (weil alphabetisch geordnet) finden, dabei stand noch L1a, also in der ersten Lehramtsklasse A.
Ich wollte mich wieder entfernen, da winkte mir Hugo zu und rief, wir würden uns in der Eisdiele an der Stadthausstrasse treffen um zu feiern. Ich fuhr mit dem Fahrrad etwas später zur besagten Eisdiele, traf dort aber weder Hugo noch Margrit an, beide waren durchgefallen. Schadenfreude?
Auch Erleichterung.
Ich hatte mich rasch in der neuen Schule eingelebt. Es war eine neue Welt, eine neue Herausforderung und ein neues soziales Umfeld. Mit den Mitschülern und Mitschülerinnen verstand ich mich rasch und gut und die Lehrer schienen mir eine andere Kategorie zu sein als die, welche mir bisher untergekommen waren, vor allem war ich glücklich, dass die „rote Dame“ unsere Mathelehrerin war.
Die „rote Dame“ hatte auch einen Namen, Fräulein Doktor Barbara Meyer, aber in meinem Denken war es einfach „die Barbara“, die hübsche Barbarin oder vielleicht eine ferne, unerreichbare Fee, ein Engel aus dem Mathehimmel, ein faszinierendes Traumbild, das jeden Tag eine Stunde lang in meiner realen Welt erschien, eine Stunde des Glücks, eine Stunde algebraischen und analytischen Sonnenscheins.
Dass ihre Hausaufgaben Vorrang vor allen andern hatte, war klar, denn dann war ich in ihrer Welt, dass ich auch ihr bester und aufmerksamster Student war, (weil ich eben die Mathe so liebte) war auch nicht verwunderlich.
Zuhause lief es nicht so gut. Meine Mutter hatte immer häufiger ihre Depressionen und musste bei schweren Fällen interniert werden und fiel dann als Arbeitskraft aus, das heisst, dass der Haushalt nur auf Vaters kleines Einkommen angewiesen war und das reichte nirgendwohin.
Nun kam noch mein Studium hinzu, das im Ganzen betrachtet recht teuer war. Ich kaufte nun meine Schulbücher im Antiquariat, versuchte beim Essen zu sparen und fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zur Schule, statt mit dem Zug. Als man mich darauf aufmerksam machte, dass ich von der Schule ein Stipendium kriegen könnte, dass man mir zum Beispiel die Bahnfahrt bezahlen würde, winkte mein Vater energisch ab und meinte, so lange wir es selber machen könnten würden wir nicht betteln gehen und körperliche Betätigung sei übrigens gut für mich Stubenhocker.
Die Hinfahrt am Morgen war einfach, denn es ging, eine knappe Stunde vor allem abwärts bis zum Stadtrand, dann, zum Teil auf Schleichpfaden quer durch Winterthur.
Für die Rückfahrt musste ich zwei Stunden rechnen, aufwärts. Ein Stück der Hauptstrasse, die „Kempttaler - Kurven“ musste man sogar das Rad schieben oder sich an einen schweren LKW anhängen, die damals noch relativ langsam die Kurven hochgekrochen sind. Beim Bahnhof, dort wo die Steigung beginnt, mussten die schweren Brummer einen niedrigeren Gang einlegen, dabei verlangsamten sie die Fahrt (und stiessen eine schwarze Rauchwolke aus). Das war der Moment wo man mit einem kurzen Sprint das Fahrzeug einholen und sich daran festhalten konnte. Nach zwei oder drei Kilometern war die Talkante erreicht und dann musste man loslassen (Gangschaltung, schwarze Rauchwolke) wollte man sich nicht in Gefahr bringen, denn nun raste der Brummi davon.
Samstagnachmittag half ich meist meinem Vater bei Arbeiten , die er nicht alleine erledigen konnte und bekam eine leise Ahnung von der Kunst der Ofenbauerei. Wir bauten und renovierten Kaminfeuer, Kachelöfen und hatten vor allem Arbeit mit der damals beginnenden Mode der Gartengrill und Barbecues.
Eines Tages bemerkte ich, dass Vaters Unterarme rot und entzündet waren und machte ihn darauf aufmerksam. Ach das sei nichts, meinte er, das komme vom Zement und es werde gleich wieder vergehen.
Tat es aber nicht, sondern wurde schlimmer.
Der Arzt stufte es als typische Berufskrankheit ein, als Zementunverträglichkeit und riet ihm, den Beruf zu wechseln.
Er wollte ihn auch bei der damals neuen Invalidenversicherung melden , damit er eine kleine Rente erhalte, auf die er Anrecht habe.
„Wir sind keine Bettler,“ war die knappe und klare Antwort.
Dann solle er wenigstens bei der Arbeit Handschuhe tragen, riet der Arzt.
Seine Hände könnten viel ertragen, er sei doch kein Studierter, wehrte sich mein Vater.
Nein, kein Studierter, gab ihm der Arzt recht, aber deswegen müsse man auch nicht gleich ein sturer Dickschädel sein.
Ich lebte in zwei Welten. Zuhause die Armut, die Entbehrung, die Krankheit meiner Mutter und Vaters Hautprobleme, dazu kam die allgemein bedrückte Stimmung der trostlosen Hoffnungslosigkeit.
In der Schule, dieser Insel des Friedens herrschte Wohlstand, allgemeine Zufriedenheit, manchmal sogar Sattheit und Blasiertheit. Natürlich gab es da auch Probleme, Ärger und Enttäuschung, aber im Grunde genommen ging es um nichts Wichtiges. Manchmal wurde einer von der „Notenkeule“, von schlechten Zensuren getroffen, es gab Bestrafungen, die man sich aber selber eingebrockt hatte, es gab den ersten Liebeskummer und den ersten Kater, weil das Bier am Vorabend zu warm gewesen war.
Ich ärgerte mich oft, wenn so ein eingebildeter Affe von Lehrer vor der Klasse seine Weisheit und unseren Lehrstoff, gnädig und tröpfchenweise von sich gab und wir schlürften wissbegierig das Manna von seinen Lippen, aber wir kamen nicht vorwärts. Wir vertrödelten Stunden um Stunden für ein Kapitel, das man in zehn Minuten hätte abarbeiten können. Dabei ging mir durch den Kopf, dass sich jetzt meine Mutter mit schmerzenden, krummen Fingern am Waschtrog einer vornehmen Familie für mich, ihren Sohn, abrackerte und ich sass daumendrehend auf meiner Bank und hörte mir im Halbschlaf die inhaltslose Litanei des Geschichtslehrers an. Oder ich sah Vater, der mit wunden Armen mit seinem selber entwickelten Spezialmörtel die Schamottsteine eines Ofens aufschichtete und ich sass friedlich und schlaftrunken in meiner Bank, während unser Deutschlehrer, am offenen Fenster stehend, seine Weisheit auf den Schulplatz hinausplärrte, wo sich die Spatzen um Brotkrumen stritten. Aber jetzt wissen wenigstens alle Sperlinge der Stadt, weshalb die Judith im „Grünen Heinrich“ dunkle Augen hatte. Gibt es in Gottfried Kellers Werk auch eine Frau mit grünen Augen (und roten Haaren) so, wie Barbara? Das wäre doch eine Untersuchung wert.
In der Bio – Stunde dozierte ein angegrauter Lahmarsch monatelang über die Systematik der Insekten, seine halbleise, monotone Stimme wirkte wie ein Wiegenlied … Mundwerkzeuge beissend, saugend, stechend, leckend … ja leck mir …
Und wenn mich sechs Jahre später ein kleiner Schüler fragt, ob die Waschbären auch Fleisch fressen, weiss ich nicht einmal in welchem Buch ich nachschlagen kann.
(Statt der Wikipedia gab’s damals nur so riesige, mindestens sechsbändige Lexika.)
Die einzige spannende Stunde war Mathematik. Da war wenigstens die Lehrerin für mich ein Grund keine Lektion zu verpassen, aber auch der Stoff war spannend und faszinierend und wenn ich es einmal zu einfach fand, dann hatte mir die „rote Dame“ eine extra schwierige Hausaufgabe an der ich mir die Zähne ausbeissen konnte. Manchmal musste ich mich schon zusammenreissen um mich auf die Mathe zu konzentrieren, wenn sie da vor uns stand, vielleicht in ihrem gelbgrünen Kleid, grazil wie eine Antilope, mit ihrem schwebenden Gang, mit ihrem schlanken, mädchenhaften Körper … und wenn dich diese grünen Augen anblickten, wenn du ihre warme, weiche Stimme hörtest, da erstarrte man einfach wie das Kaninchen vor der Schlange mit dem einzigen Wunsch : gefressen zu werden …
Zuhause summierten sich inzwischen die Probleme. Auf dem Weg zur Arbeit auf dem Fahrrad wurde meine Mutter von einem Auto von der Strasse gedrängt und stürzte in den Seitengraben. Ausser Prellungen und einem Rippenbruch war die rechte Wade eine einzige riesige Fleischwunde. Da sich der Fahrer gleich davongemacht hatte blieb meiner Mutter ausser einer nie mehr heilenden Wunde auch noch die Arzt- und Spitalrechnung zu bezahlen.
Auch der Vater hatte immer mehr Probleme mit seiner Zementallergie, und er konnte immer weniger Aufträge annehmen.
Mir war klar, dass ich mithelfen musste, damit wir finanziell über die Runden kamen, meine Arbeit während der Ferien verschafften mir bestenfalls mein Taschengeld, das mir ein frugales Mittagsmahl erlaubte. Etwas Milch, Brot, vielleicht mal eine Wurst, die ich auf dem, der Schule angrenzenden alten Friedhof verzehrte.
Es war ein romantischer, ja geheimnisvoller Park mit riesigen alten Bäumen, grossen Rhododendronbüschen, bemoosten Grabsteinen und mit einer zerfallenden Grabkapelle mittendrin.
Im „Stadtanzeiger“ fiel mir ein kleines Inserat auf bei den Stellenangeboten, es war in der unverkennbar rührenden Rechtschreibung eines Italieners abgefasst. Er suchte jemanden, der ihm bei der Korrespondenz mit den Behörden half. Das schien mir der richtige Job für mich zu sein. In einer Freistunde am Morgen fuhr ich hin.
Es handelte sich um ein verrusstes, rauchiges Bierlokal an der Steinberggasse, also mitten in der Altstadt, wo noch ein Hauch von Echtheit geblieben ist.
Es war noch geschlossen aber auf mein Klopfen öffnete sich sofort die Türe. Eine echte Italienermamma musterte mich mit strengem Blick, doch als sie erfuhr, weswegen ich gekommen war, zog sie mich gleich in die Wirtsstube und rief ihrem Mann : „O, Giuseppe, vieni !“
Dann fragte sie mich, ob ich schon gefrühstückt habe und ohne meine Antwort abzuwarten machte sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen und schleppte Brötchen herbei. Sie fragte mich nach meinem Namen und meinte dann, sie werde mich Giovanni nennen, das sei einfacher für sie.
Ihr Name sei Maria und ihr Mann, der gerade hereinkam, sei Giuseppe und ihr Sohn, der Antonio sei in der Schule. Er sei Studente, drüben im Altstadtschulhaus, er sei bravo und lerne gut Deutsch. (Er war damals ein sechsjähriger Erstklässler, dieser „Studente“)
Ich begann meine Arbeit als Dolmetscher (und lernte dabei Italienisch), wenn Beppe auf ein Amt musste, erledigte seine Korrespondenz und den ganzen amtlichen Papierkrieg. Die Buchhaltung kam dann auch noch in mein Pflichtenheft, am Samstagabend bediente ich als Kellner und wenn es nötig war, half ich dem kleinen Toni bei seinen Hausaufgaben und trainierte ihn in der deutschen Sprache.
Über der Kneipe waren noch drei Wohnungen, die den altstädtischen Charme behalten hatten, das heisst sie waren total heruntergekommen und ohne jeglichen Komfort. Immerhin gab es ein Klosett und einen Kalt - Wasserhahn in der Küche.
Im ersten Stock wohnte die Wirtsfamilie, darüber hausten drei Studenten des Technikums und in der dunkeln Zweizimmer - Dachwohnung, mit ihren stilechten Abschrägungen, der wirksamen Dachheizung im Sommer und der eisigen Frischluftzufuhr im Winter zog ich schliesslich ein. Der bescheidene Zins von zwanzig Franken pro Monat war auch für meine Verhältnisse bezahlbar.
Für mich war das ein Glücksfall, denn mein täglicher Reiseweg hatte sich um Stunden verkürzt, meine Eltern wurden entlastet und ich hatte meine Autonomie gewonnen. Ich brauchte freilich auch wieder Zeit um mich in meine neue Arbeit einzuleben, denn das war alles Neuland für mich, dieser Papierkrieg, Buchhaltung und Steuererklärung , aber ich bekam unverhofft und zufällig Hilfe von kompetenter Seite, von einer Ex - Schulfreundin, von Margrit, die sich in dieser Materie ausbilden liess.
Wenn wir an scheinbar unlösbare Probleme stiessen, konnte sie ihre Lehrer um Hilfe bitten, die uns halfen. Mit der Zeit machte mir diese „Zahlenbeigerei“ sogar Freude und ich war auf die tadellose Buchführung der Kneipe mächtig stolz.
Den Friedhof neben der Schule besuchte ich fast täglich. Manchmal setzte ich mich für einige Zeit unter einen der mächtigen Bäume um auszuruhen und um neue Kraft zu schöpfen. Ich hatte das Gefühl, dass von den dicken Stämmen eine Kraft ausging, die man auf sich einwirken lassen konnte. Wenn ich die Stirne an die raue Borke drückte, fühlte ich als erstes die Beschaffenheit des Materials, ein schwacher Schmerz auf der Haut, dann kam die Kühle, die sich langsam in meiner Stirne ausbreitete und dann plötzlich ein Strom von Ruhe und Frieden und Entspannung. Nach einigen Minuten drang eine Kraft in mich ein, die mich glücklich machte, die mich stärkte und meine Gedanken wurden wieder klar, der Verstand wurde scharf, kritisch und analysierend.
Manchmal setzte ich mich ins Gras (oder den Schnee), lehnte mich an einen dieser Stämme, schloss die Augen und liess meinen Gedanken freien Lauf und gab mich dem Rauschen oder Geflüster des Laubes hin.
Meistens schlief ich dann ein und wachte, wenige Minuten später wieder auf und fühlte mich dann frisch und gestärkt und voller Lebenslust.
Einmal lag ich in einer dunkeln Taxus – Hecke und versuchte mich an einem mathematischen Problem, das mir „Barbara“ am Morgen zugesteckt hatte, aber ich wurde immer wieder abgelenkt durch Kindergeschrei.
Dann sah ich auf dem Kiesweg eine lustige Prozession. Vorneweg zwei kleine Jungen mit Blumenkränzen im Haar und jeder hatte eine Zeitung, die zu einer Tüte gedreht war vor dem Mund und mit lautem Tuten markierten sie die Trompeter. Hinter ihnen schritt ein kleines Mädchen mit einem Blatt des Riesenkerbels als Sonnenschirm und streute Blumen auf den Weg. Dann kam eine junge Frau mit einem Kinderwagen mit zwei ganz kleinen Kindern, die zufrieden in die Welt hinausträllerten. Es war eine Augenweide, es war wie ein Bild aus alten Kinderbüchern.
Schliesslich schwenkte der Zug auf den Weg ein, an dem ich sass und als die Truppe näher kam, schaute ich etwas genauer hin. Diese junge Frau, das war doch Josefine, eine Mitschülerin, still und fast unsichtbar, am Ende der dritten Bankreihe, ja, es war tatsächlich Josy.
Mit ihren Geschwistern war sie streng und sehr lieb. Sie hatte unendlich viele Ideen, wie sie die kleine Bande in Trab halten konnte. Da wurde ein Raupe auf einem Blatt beobachtet, ein morscher Baumstamm, der am Boden lag war mal eine Kutsche, dann ein Berg, den es zu besteigen galt und dann ein Elefantenrücken auf dem man reiten konnte und schliesslich noch das hohe Seil im Zirkus auf dem die Kleinen ihre Balanceakte aufführen konnten. Und so ging es durch den ganzen Park.
Ich gesellte mich zu der Kinderschar und wurde bald einmal als Reitkamel und dann als Springpferd gebraucht. Punkt vier Uhr kehrten sie nach Hause zurück, weil Josy um fünf Uhr zur Geigenstunde musste.
Ja, ich erinnerte mich, dass schon jemand in der Klasse ihr Können auf der Violine gelobt hatte.
Josy. Das stille Mauerblümchen, das sich immer scheu zurückhielt, bescheiden und genügsam.
Ob diese Lebensstrategie sich bewähren würde?
Eine Woche später teilte sie mir, auf meine Frage hin, mit, dass sie an diesem Tag keine Kinder hüten werde, weil sie schon um vier Uhr in der Musikschule sein müsse. Ich sagte ihr, dann würde ich, so um drei Uhr ungefähr, alleine mit dem Elefanten ausreiten.
Um halb vier trafen wir uns „zufällig“ im Friedhof vor der Kapelle. Sie war mit einer Pianistin verabredet zum Zusammenspiel, denn in zwei Wochen musste sie in einem Konzert auftreten.
Sie hatte eine Romanze von Beethoven auf dem Programm und da ich das Stück nicht kannte, packte sie ihre Geige aus und spielte es mir vor.
Ich war von ihrem Spiel völlig überwältigt, ich war gerührt, aufgewühlt und musste immer wieder Tränen auffangen, damit sie nicht sichtbar wurden. Aber auch die Musikerin faszinierte mich.
Diese kleine, leicht rundliche, einfache Person war eine Zauberin. Was die alles aus ihrer Geige hervorzaubern konnte an Tönen, an Farben, an Bildern, an Gefühlen und innerem Aufruhr, das war meisterhaft.
Ich hatte zwar auch einmal Geigenunterricht erlitten aber was da am Ende herausgekommen war, eignete sich kaum für empfindliche Ohren, daher war ich erstaunt, was man aus diesem Instrument machen konnte, wenn man es beherrschte.
Als Josy das Spiel beendet hatte, packte sie ihre Geige wieder in seinen Kasten und ich stand daneben und wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie schaute mich an, ich blickte in ihre Augen und stammelte leise: „Danke … danke … das war so schön … danke.“
Ich sah wie sie errötete, ihre Sachen packte und zur Musikschule hinüberlief.
Ganz versunken, noch im Banne der Musik, setzte ich mich auf die nächste Bank und wollte mich in Träumen verlieren aber da bemerkte ich, dass ich nicht der einzige Zuhörer gewesen war, denn aus dem Schatten der Kapelle trat eine hellgekleidete Gestalt, fast hätte ich gesagt „Lichtgestalt“ mit ihrer Aura von hellroten Haaren. Sie setzte sich einen Moment neben mich und meinte, das sei ein Erlebnis gewesen, das sie nie im Leben mehr vergessen werde. Musik, gespielt mit so viel Liebe und Hingabe, sei schön wie, wie …
… „wie eine mathematische Formel,“ fiel ich ihr ins Wort.
Marias Kneipe lief nicht besonders gut und es kamen sogar Monatsenden vor, an denen wir in die roten Zahlen rutschten. Meines Erachtens hätte man bedeutend mehr herausholen können, man musste sich nur etwas einfallen lassen.
Ein Italiener, der eine Bierkneipe führt, schien mir eh schon absurd.
Ich beriet mich lange mit den beiden, denn ich fand, dass man aus der Kneipe eine Goldgrube machen könnte. Ein schickes Italiener - Restaurant mit guter Küche, die Köchin hatten wir ja, mit guten Italienischen Weinen, statt dem billigen „Pferdebrunz“, vielleicht noch mit einem Pizzaofen, den Ofenbauer hatte ich auch unter der Hand und einer Renovation der Gaststube, also ein sauberes, gemütliches Lokal statt dieser aktuellen rauchigen Räuberhöhle.
Maria war gleich Feuer und Flamme und kochte vor ihrem geistigen Auge bereits alle italienischen Spezialitäten, rieb Parmesankäse über die Teigwaren, tischte ihren hausgemachten Pesto auf … und Beppe fragte nur: „Und das Geld?“
Ich gab ihm Recht, dass diese Investition ziemlich teuer werden konnte, sich aber später auszahlen werde.
„Mit der Bierkneipe bist du auch in hundert Jahren noch kein reicher Mann,“ gab ich ihm zu bedenken, „aber mit einem bekannten und beliebten Italiener Restaurant kannst du dir in zwanzig Jahren deinen Hof im Piemont kaufen, dich geruhsam zurücklehnen und deinen eigenen Wein trinken und auf dem Dorfplatz mit deinen Freunden Boccia spielen.“
Giuseppe lachte und sagte, dass ihm meine jugendliche Begeisterung gefalle und er mir in allen Teilen zustimme, nur, die Jugend sei nicht mehr seine Sache, aber wir würden das Projekt einmal genau miteinander durchdenken. Da seien freilich noch einige Probleme zu lösen, ausser dem Geld. Zum Beispiel war er nicht der Besitzer des Hauses, er hatte nur den ganzen Kram gemietet von einer bekannten, lokalen Immobiliengesellschaft, dann musste man mit der Bierbrauerei klarkommen mit denen er einen langfristigen Vertrag abgeschlossen hatte, dann kam die Heimatschutzbehörde, das Bauamt und, und, und mir begann zu grausen.
Wir beschlossen noch am selben Abend den Hindernislauf zu wagen.
Die Beethoven Romanze hatte mich irgendwie getroffen, sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf und mit ihr eng verbunden Josy. Meine grosse Liebe, die sich anzubahnen schien.
Aber da war auch noch meine andere, sagen wir einmal, grosse Leidenschaft, meine Partnerin in meinen Träumen, dieses sommersprossige Gesicht, diese roten Haare, dieser geheimnisvolle Blick und diese warme Stimme, die ich über alles liebte. Ich war mir absolut im Klaren, dass diese „Liebe“ völlig absurd war, dieses Wesen, das ich anbetete und vergötterte gehörte nicht in meine armselige Studentenwelt, sie war eine unerreichbare Göttin, aber wenn sie mich ansah, hatte ich immer das Gefühl, wir seien uns näher, als es der Kodex erlaube. Sie war schliesslich Lehrerin und ich war nur ein Schüler und zwischen uns war eine unüberwindbare Mauer, die uns trennte. Der Altersunterschied zwischen uns betrug lediglich acht Jahre, aber das waren alles Dinge, über die ich nicht nachdachte. Ich genoss jede Mathestunde wie ein heimliches Treffen mit einer Geliebten und Mathematik erschien mir wie eine Geheimsprache von Verliebten.
Sie war schon im ersten (gemeinsamen) Schuljahr nach Winterthur gezogen und so konnte es geschehen, dass man sich auch ausserhalb der Schule mal zufällig traf. Stadtbibliothek, Buchhandlung, Konzerte des Stadtorchesters und der Migros Laden am Oberen Graben erhöhten die Wahrscheinlichkeitsrate des Zufalls wesentlich. Ich verlor allmählich meine Blödheit, wagte es, sie anzusprechen, mit ihr zusammen ein paar gemeinsame Schritte zu tun und über Alltägliches zu sprechen und gemeinsam zu lachen.
Als sie dann in eine andere Wohnung umzog, half ich Barbara beim Einzug und wir bauten zusammen mit mathematischen Überlegungen diese neumodischen und praktischen Möbel zusammen, die irgendwie matheresistent sind und einer eigenen Logik gehorchend, kurz vor dem letzten Nagel in sich zusammenbrechen. Implodieren nennt man das. Der Verbrauch an Heftpflastern war übrigens enorm.
So gegen Mitternacht war so weit eingerichtet, dass man in der Wohnung leben konnte. Ich war hundemüde, aber der verräterische Duft von gebratenem Steak, der aus der Küche kam, hielt mich noch am Leben. Ich erinnere mich noch gut an den schweren Wein, das saftige Steak und etwas weniger gut an den Brandy und von der langen unruhigen Nacht blieb mir nur eine süsse Erinnerung, die warm und wohlig meinen Körper durchdrang.
Mit dem Bierbrauer verhandelten wir in der Kneipe. Er hatte einen Notar, den er als seinen Anwalt bezeichnete, mitgebracht und mit dem Winkeladvokaten war auch sein Assistent Hugo gekommen, den er mir nicht vorzustellen brauchte. Der Bierbrauer zeigte sich grosszügig, ja er unterstützte sogar unsere Idee, bot uns sogar Geld zu guten Bedingungen falls wir weiterhin exklusiv sein Bier ausschenken würden, die anderen Getränke waren unsere Sache.
Einmal ins Rollen gebracht lief alles ziemlich reibungslos und wenn irgendwo Sand ins Getriebe kam, fanden wir immer eine Lösung, sehr häufig dank Hugo, der ein abgefeimter, durchtriebener Kerl war und alle Kniffe kannte und auf allen Ämtern sich durchsetzen konnte. Ich habe nie begriffen was er an Ausbildung gemacht hatte. Er redete wie ein Jurist, kannte sich gut aus im Strafgesetzbuch und im Obligationenrecht und beeindruckte jeden Laien, wenn er Paragrafen zitierte oder auf Präzedenzfälle hinwies. Mir kam er immer wie ein gerissener Gauner vor aber die Gesellschaft hielt ihn in hohen Ehren, man vertraute ihm, man glaubte alles was er von sich gab.
Uns war er auf jeden Fall eine grosse (und uneigennützige) Hilfe und ich begann langsam ihn mit anderen Augen anzusehen. Mir missfiel zwar seine grosse Schnauze und sein wichtiges Getue aber mir schien auch, dass er ein ganz patenter Kerl sei. Immer wieder pochte er auf unsere Freundschaft, zeigte mit dem Daumen auf seine hässliche Narbe an der Stirn und meinte dann, dass so etwas verbindend wirke.
Offiziell gab er den Schmiss als Zeichen seiner Zugehörigkeit zu einer schlagenden Burschenschaft aus und rankte dann irgendwelche verrückte Geschichte um sein „Duell“.
Manchmal kam er mit Freunden in die Kneipe oder sie besuchten mich in meiner Wohnung.
Mit diesen Typen hingegen hatte ich immer grosse Mühe, vor allen zwei waren da, Freddy und Armin, scheinbar Brüder, denn sie glichen sich sehr. Beide hatten schmale Augenschlitze, kurze Nasen über einem kleinen schmalen Mund voller kleiner Zähne. „Frettchengesichter“ nannte ich sie.
Sie waren zwei feige Hunde, die sich auf jede erdenkliche Art bei mir einschleimen wollten, vor allem mit Bewunderung und Verehrung. Die widerlichen Kerle krochen förmlich vor mir im Dreck und wollten meine Füsse lecken. Aber wer sie waren, woher sie kamen und was sie machten, blieb mir immer ein Rätsel.
Sie kamen meist zu dritt, also mit Hugo, kurz vor der Sperrstunde um elf Uhr nachts. tranken noch ein Bier und einen Schnaps (oder zwei) und warteten, bis mein Dienst als Kellner zu Ende war. Sie verliessen dann das Lokal, weil ich sie dazu auffordert und warteten draussen auf der Strasse bis ich kam, denn ich wollte nicht, dass jemand beim Abrechnen dabei war, vor allem Leute dieser Gattung.
Das letzte Aufräumen nach dem Abrechnen besorgte Maria.
Die drei folgten mir dann in meine Wohnung und man quatschte noch eine Weile über dies und das bei einem Glas Grappa und dann verzogen sich die Gäste, unheimliche Gäste, die irgendetwas im Schilde zu führen schienen.
Eines Tages kam ich vom Stadtpark her an die Hinterseite der Kantonalbank und sah, dass ein Geldtransport angekommen war. Ich beobachtete die Szene einen Moment lang und war entsetzt mit welcher Unbefangenheit, ja sträflichen Liederlichkeit die Geldkoffern angeliefert wurden.
Der Fahrer hatte das Auto verlassen und war ins Innere der Bank verschwunden, der Beifahrer schloss die Hintertüre des Lieferwagens auf, ging dann zur Bank, wo sich eine kleine Stahltüre öffnete, dann kam er zum Auto zurück holte zwei Geldkoffern und schob sie durch die Schaltertüre, dann holte er noch eine dicke Ledermappe und verschwand damit in der Bank. Die Szene irritierte mich. Waren diese Leute blöd oder leichtsinnig oder alles zusammen? Wieviel Geld mochte in den Koffern gewesen sein?
Woher kam dieses Geld und wozu wurde es zur Bank gebracht? Lohngelder vielleicht, da morgen in vielen Betrieben Zahltag war und damals gab es noch Bargeld in der Lohntüte, je nach Beruf, ein bis zweimal monatlich.
Arglos und leichtsinnig erzählte ich meine Beobachtung am Abend meinen Gästen. Ich bemerkte nicht, dass die beiden Frettchen Armin und Freddy sich Blicke zuwarfen und mir gespannt zuhörten. Als ich den Espresso auf den Tisch stellte meinte Hugo, dass man sich jetzt einen Raubüberfall vorstellen könnte als Kinderspiel sozusagen, aber da wären tausend Kleinigkeiten an die man nicht denke, die den Raub verunmöglichten.
Man müsste halt alles genauestens planen, beobachten ohne selber aufzufallen, dann eine Skizze erstellen (ich holte ein Stück Papier) und dann den Ablauf x-mal durchspielen mit allen Möglichkeiten, eventuellen Hindernissen und unvorhersehbaren Zwischenfällen.
Auf dem Papier planten wir nun den perfekten, idiotensicheren Bankraub und amüsierten uns dabei köstlich. Sogar den Abgang, mit den zwei gefesselten Kurieren im Auto, dem Wechsel des Autos an der Fussgängerbrücke über die Töss und dem Verstecken der Beute bis man die Geschichte vergessen hatte, alles wurde geplant und von den Anwesenden als gut befunden.
Bevor die Gäste aufbrachen zerknüllte ich noch das Papier mit dem Planspiel und warf es vor den Ofen.
Einem traumlosen Schlaf folgte ein schweres Erwachen und ein ungutes Gefühl.
Das zerknüllte Papier vor dem Ofen war verschwunden.
Unklar erinnerte ich mich an den gestrigen Abend, aber mir schwante Böses.
Die folgende Zeit liessen sich die drei nicht mehr blicken und ich atmete auf.
Es kamen nun andere Probleme auf mich zu, die mich die „Verschwörung“ vergessen liessen.
Meine Beziehung zu Josefine wurde immer enger und intensiver und wir machten kein Geheimnis mehr draus. Wir teilten in der Schule sogar die gleiche Bank, obschon Barbara mir davon abgeraten hatte, denn man solle keine schlafenden Hunde wecken … (war sie eifersüchtig?)
Wenn niemand im Haus war, kam Josy manchmal in meine Wohnung zum Üben, es ergab sich auch hie und da, dass sie bei mir übernachtete. Manchmal half sie mir in der Gaststube und manchmal war sie bei Maria in der Küche und lernte italienisch kochen. Das Essen sei das Wichtigste in der Ehe, erklärte die Wirtin, vor allem das gute Essen, denn der Mann, er möge ein noch so wilder Herumtreiber sein, so habe er von Zeit zu Zeit Hunger und dann kehre er immer wieder an die heimischen Kochtöpfe zurück, wenn das Essen gut sei.
Josys Eltern verboten ihrer Tochter den Umgang mit mir und drohten mir, mich zu verklagen, weil Josy noch minderjährig sei. Wir überlegten ob wir heiraten könnten, auch gegen den Willen ihrer Eltern, da wurde Josy schwanger. Wir freuten uns und waren glücklich, aber das Unwetter, das nun über uns hereinbrach war gewaltig. Josy wurde sofort von der Schule verwiesen, kurz vor der Matura, erstens wegen unzüchtigen Verhaltens und zweitens hatten ihr alle Lehrer eine ungenügende Note erteilt, auch in Mathe, obschon sie in allen Fächern eine gute Schülerin gewesen war. Dann wurde sie in einer Polizeiaktion bei mir abgeholt, damit sie in ein Heim für gefallene Mädchen eingewiesen werden konnte. Leider war ich in jenem Moment nicht zugegen und als ich nach Hause kam, erzählte mir Maria heulend vom schrecklichen Vorgang.
Auf dem Tisch lag eine polizeiliche Vorladung für mich.
Ich fuhr nun zu Josys Eltern um die Herausgabe meiner Verlobten zu fordern, aber die hatte man schon weggebracht. Der Vater stand vor der Türe, in Boxerstellung wie mir schien und als ich ihm friedlich die Hand reichen wollte, knallte seine Faust auf mein linkes Auge. Ich blieb ruhig stehen, atmete tief durch und im nächsten Augenblick lag er bewusstlos auf dem Boden. Karate.
Am folgenden Morgen holte mich die Polizei aus der Klasse heraus und brachte mich zum Posten.
Zum sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen hatte sich nun noch die Beschädigung ihres Papas gesellt und der Polizeichef meinte, da käme was auf mich zu, ich müsse mich auf eine Gefängnisstrafe gefasst machen.
Nun wurde ein Rapport aufgenommen. Dass ich den Alten k.o. geschlagen hatte gab ich freimütig zu, denn ich hätte aus Notwehr gehandelt. Die Gegenpartei behauptete nun, dass ich den ersten Schlag ausgeführt habe. Ich wollte nun wissen, wie ich zu meinem Veilchen gekommen sei, nachdem ich den Gegner mit dem ersten Schlag auf die Matte gelegt hatte, und „ausgezählt“ fügte ich noch hinzu.
Ich erwog, ob ich meinerseits den Gegner verklagen solle, weil er mich ins Gesicht geschlagen hatte, aber der Beamte riet mir davon ab und empfahl mir, die Schlägerei für eventuelle weitere Verfahren als Trumpfkarte im Ärmel zu behalten.
Man behielt mich zwei Tage in Untersuchungshaft und liess mich dann wieder laufen bis zur Gerichtsverhandlung.
Zuhause fand ich ein Schreiben der Schulleitung, dass man sich gezwungen sehe mich, angesichts der Umstände vom Unterricht auszuschliessen. Über meine eventuelle Wegweisung vom Institut werde das Lehrerkollegium nächste Woche entscheiden.
Ich muss gestehen, dass ich beim Lesen dieses Schreibens einen Moment lang meine Gelassenheit und meine Fassung verloren habe. Weil ich ein Mädchen liebte, mit ihr zusammen eine Familie gründen wollte und das Baby etwas zu früh geliefert wurde, zerstörte man mir jetzt meine Karriere. Statt uns zu helfen machte man uns kaputt. Ich hatte eine Stinkwut auf diese heuchlerische, verrottete, konservative Bande im Lehrerzimmer. Ich glaube ich wäre damals zu jedem blutigen Attentat bereit gewesen.
Aber am Abend servierte ich im Lokal als ob nichts geschehen wäre.
Mein Rausschmiss war triumphal, mit einer einzigen Gegenstimme siegte Tugend, Moral, Anständigkeit und Keuschheit über die unzüchtige, verdorbene, ungezügelte Fleischeslust von zwei jungen, minderjährigen Menschen, die sich liebten.
Am folgenden Morgen kam Barbara vorbei und lud mich ein, mit ihr zusammen einen Ausflug zu machen.
Mit ihrem kleinen Fiat fuhren wir auf die Schwägalp und wanderten dann gemeinsam auf den Säntis, genossen das schöne Wetter, die Aussicht und das Zusammensein.
Sie versprach mir, uns zu helfen. Sie hatte bereits mit Josys Vater Kontakt aufgenommen und ein Gespräch geführt und meinte, der Typ sei hart wie Granit, aber sie habe bereits eine schwache Stelle bei ihm gefunden.
Aber ein anderes Problem brannte auf meiner Zunge, doch wusste ich nicht, wie ich es vorbringen sollte.
Wir wanderten wieder ins Tal hinunter und in einem Restaurant in Appenzell liessen wir uns ein üppiges Abendessen schmecken. Ich blieb die Nacht bei Barbara und da gelang es mir, über „unser“ Problem zu sprechen mit ihr. Zwei Frauen aufs Mal wobei ich im Begriff war, die eine zu heiraten und die andere half mir noch dabei … meine Gefühle begannen sich zu verwirren.
Barbara sprach von ihrer Liebe zu mir, verrückt und wider alle Vernunft aber da war noch ein anderes Problem, das ebenso stark an ihr nagte, dass sie nämlich keine Kinder kriegen konnte wegen einer Erkrankung als sie 15 war und dem Pfusch eines renommierten Arztes.
Da sie sah und wusste, wie ich von einer Familie mit Kindern träumte, verzichtete sie auf mich als Ehemann aber sie wollte mich als Freund und Geliebten behalten.
Dann meinte sie noch, dass meine Bestimmung eine ganz andere sein werde, dabei wies sie auf eine schön gerahmte Pastellzeichnung hin, ein Portrait das ich kürzlich von ihr gemacht hatte.
„Wer so etwas kann, der kann noch mehr,“ meinte sie und sagte dann, dass der Herr Schad vom Einrahmungsgeschäft ihr das Bild habe abkaufen wollen, weil es ihm so gut gefallen hätte.
„Das Bild oder das Bildmotiv?“ fragte ich belustigt.
Sie hatte auch meinen (ehemaligen) Zeichenlehrer gefragt und der soll mir eine grosse Begabung aber auch eine nerventötende Eigenwilligkeit attestiert haben.
Am nächsten Morgen erwartete mich die Polizei vor meiner Wohnung. Wer Beine hatte in der Steinberggasse stand herum um das einmalige (oder eher seltene) Schauspiel einer Verhaftung eines schweren Jungen miterleben zu dürfen. Als ein Polizist mir die Arme nach hinten biegen wollte, eine elementare Übung im Kampfsport, knickten seine Knie ein und er kniete vor mir und ich hatte ihm schon die Handschellen angelegt. Ich erklärte, dass ich auch ungefesselt mitkommen werde und half dem verdutzten Polizisten auf die Beine. Ich entschuldigte mich, dass das für Kampfsportler reine Reflexe seien, Verteidigungsreflexe. Der wütende Blick des Bullen verhiess nichts Gutes.
Ich folgte den Polizisten auf die nahegelegene Hauptwache wo man mir eröffnete, dass man mich festnehme wegen des Bankraubs vom Vortag. Ich war ganz baff, denn ich hatte geglaubt es handle sich wieder einmal um Josy, aber ich ahnte nun plötzlich grosses Unheil. Vor meinem geistigen Auge sah ich die beiden Frettchengesichter.
Man brachte mich in den Verhörraum.
Ausser dem Polizeichef, den ich persönlich (in Zivil) kannte war noch ein kleiner, mickriger Typ da, der nervös mit einem Bleistift spielte. Vor dem musste ich mich in Acht nehmen, kleine Köter spielen gerne den grossen Hund.
Man wollte wissen, wo ich mich am Vortage aufgehalten habe.
Ich erzählte, dass ich von der Schwägalp aus den Säntis bestiegen habe, dann wieder runter, zu Fuss und dann Abendessen im Restaurant „Taube“ in Appenzell.
Der Kleine knurrte nun, er hätte noch nie ein so saublödes Alibi vernommen, ob jemand meine Aussage bestätigen könne.
Ja, die Wirtin im „Tüübli“ und noch eine Kellnerin, die uns das Nachtessen serviert habe.
Ob ich nun in der „Taube“ oder im „Tüübli“ gewesen sei, wollte das Spürhündchen wissen.
Auf so eine dumme Frage erübrige sich eine Antwort, meinte ich.
Wenn ich frech werden wolle, könne er auch andere Saiten aufziehen bellte er los.
Zum Glück griff hier der Chef ein.
Er erklärte mir, dass am Vortag um vier Uhr nachmittags der Geldtransport zur Kantonalbank überfallen und ausgeraubt worden sei.
Mein Alibi wurde von der Tüübliwirtin bestätigt, ja ich sei dagewesen mit einer wunderschönen Dame. Rothaarig und sehr vornehm.
Ich wollte keine Angabe über die Dame machen und der Chef liess es dabei bewenden.
Aber er hatte da noch etwas anderes, ein Stück Papier, A4, arg zerknittert, mit einer Zeichnung, mit Pfeilen, Ausrufezeichen und dem Vermerk : Keine Waffen!
Ich kannte das Papier, ich kannte es nur allzu gut und es würde meine Fingerabdrücke tragen und mir die Schuld, wenigstens teilweise in die Schuhe schieben.
Die Scheisskerle hatte das wohl mit Absicht am Tatort zurückgelassen um mir einen Strick zu drehen.
Ich erklärte nun genau, wie sich alles zugetragen hatte, wie ich den Kerlen auf den Leim gegangen sei und machte dann Angaben über die betreffenden Personen, soweit ich Bescheid wusste und ich wusste, ausser den Vornamen Freddy und Armin nichts. Ich hatte bewusst Hugo aus dem Spiel gelassen, weil ich nicht glaubte, dass er am Raubzug teilgenommen hatte oder höchstens hinter der Tössbrücke.
Der Chef grinste nur und sagte: „Also die zwei haben wieder einmal gearbeitet, diesmal hat es sich aber gelohnt. Fünf Millionen sind ein rechter Batzen Geld.“
Man wollte noch wissen, wie hoch mein Anteil an der Beute sei und ob ausser mir noch andere Hintermänner mitgemischt hätten und dann kam ich in U – Haft im Bezirksgefängnis.
Das Gefängnis ist in verschiedener Hinsicht kein angenehmer Aufenthaltsort, aber ich war dann doch erstaunt, dass es weniger schlimm war als ich mir vorgestellt hatte.
Etwas kahl und trostlos, aber wer aus einer Fabrikarbeiter – Wohnkaserne kommt ist sich schlechteres Wohnen gewöhnt. Ich wurde kurz informiert was ich noch durfte und was nicht, wer mich besuchen durfte, was ich von aussen mir bringen lassen konnte, wie der Tagesablauf organisiert war und so weiter.
Ich konnte sicher damit klarkommen bis man mich wieder freilassen würde, woran ich in meiner Naivität nicht zweifelte, denn ich hatte ja mit dem Raub nichts oder nur ganz wenig zu tun.
Auf das Mittagessen verzichtete ich, es schmeckte mir irgendwie nicht, dafür verlangte ich Schreibmaterialien, denn ich wollte die ganze Geschichte genau aufschreiben, bis ins Detail.
Aus irgend einem unerklärlichen Grund schrieb ich kein Wort von oder über Hugo, obschon mit klar war, dass er der Anführer sein musste, der alles ausführen liess von den zwei Frettchen, sich selber aber im Hintergrund gehalten hatte, denn der Raub wurde von nur zwei Gangstern ausgeführt.
Von Armin und Freddy kannte ich nur die Vornamen, falls sie es gewesen waren konnte ich nicht viel über sie aussagen. Auf Geheiss des Untersuchungsrichters fertigte ich von den Typen zwei Zeichnungen an.
Man bestätigte mir, dass die beiden zum engeren Bekanntenkreis der Polizei gehörten und dass man sie rasch haben werde, denn die seien zu blöd für ihr Metier.
Mein „Bekenntnisschreiben“ hatte ich auf Anraten von Barbara fotokopieren lassen damit ich alle Interessenten bedienen konnte. Sie hatte mir auch einen Anwalt mitgebracht zu dem ich aber kein Vertrauen fassen konnte, denn er konnte so überheblich tun, war aber unfähig zuzuhören. Er war ein eingebildeter Affe, aber falls er mir helfen konnte da heraus zu kommen war er mir schon recht.
Zwei Tage später kam Barbara in Begleitung von Josy, die sie im Spital von Rüti gefunden hatte, wohin man sie als Putzmädchen verbannt hatte. Josy war immer noch bereit mich zu heiraten, (einen „Verbrecher“), ihre Eltern hatten ihre Einwilligung gegeben und wir zwei würden die nächsten Tage das Aufgebot bestellen und in 14 Tagen konnten wir heiraten. Josy zog sofort in meine Wohnung ein. Ich blieb vorläufig noch im staatlichen Gewahrsam. Die Eltern hatten aber die Bedingung gestellt, dass wir die Stadt Winterthur verlassen müssten. Mit zunehmender Distanz verkleinert sich die Schande.
Man liess mich noch eine Weile im Knast schmoren in der Hoffnung noch etwas aus mir herausbringen zu können, aber da ich nicht der Anführer der Räuberbande war, konnte ich nichts wissen. Eine aktive Mittäterschaft konnte mir auch nicht nachgewiesen werden, es sei denn man lege mir den Organisationsplan zur Last. Man hatte auch kein Geld in meiner Bude gefunden und konnte mir auch keinerlei Kontakt mit den Dieben nachweisen aber man hatte wenigstens einen Verdächtigen festgenommen. So konnte man der Bevölkerung zeigen, wie tüchtig der Polizeiapparat sei.
In Begleitung von zwei Beamten meldeten wir unsere Heirat im Zivilstandsamt an und etwas später bekamen wir auch noch den Segen des Staates zu unserer Heirat. Als Trauzeugen hatte ich meine zwei Wärter mitgenommen, zwei feine Typen, die Herren Feusi und Frauenfelder.
Eine Eheschliessung aus dem Knast heraus ist ja nicht der Alltag, aber diese Ehe hat ein Leben lang gehalten, bis der Tod uns geschieden hat …
Schliesslich wurde ich eines Tages provisorisch freigelassen mit der Auflage, mich jeden Morgen um 10 Uhr auf dem Polizeiposten zu melden bis ein Gerichtsentscheid gefasst werde. Die Stadt dürfe ich so lange nicht verlassen. So konnten wir auch dem Wunsch des Schwiegervaters nicht nachkommen, hier wegzuziehen.
An Weihnachten erhielten wir per Post eine nagelneue Tausendernote zugeschickt. Als Absender war Barbara angegeben, aber diese wusste nichts davon
Wir hatten alle drei denselben Gedanken: Raubgut.
Was sollte ich tun, zur Polizei gehen und es melden?
Die beiden Frauen lachten mich aus und Barbara meinte es wäre nur recht und gut, wenn ich etwas von dem Kuchen bekomme, für den ich so lange unschuldig gesessen habe.
Bevor ich den leeren Umschlag in den Ofen warf schaute ich noch nach dem Poststempel. Zürich HBf.
Drei Wochen später kam unser Sohn Josef zur Welt.
Zwei Tage später schickte uns der Hauptbahnhof in Zürich wieder eine druckfrische Tausendernote.
Barbara eröffnete mit dem Geld unauffällig für ihr Patenkind ein Sparkonto bei der Bank.
Ich war mir sicher, dass Hugo in der Gegend war, das Geld konnte nur von ihm stammen, aber ich war ehrlich erstaunt, dass er sich erkenntlich zeigte für mein Schweigen.
Ich bezahlte auch schwer dafür mit zwei Jahren bedingt, also verurteilt, vorbestraft oder wie es auch heissen mag, für mich bedeutete es Ausschluss aus der Gesellschaft. Ich würde keine Ausbildung mehr machen können, keine gute Arbeitsstelle finden, kein Geld auf ehrliche Weise verdienen und so auch keine Familie ernähren können. Das war eine verdammt harte Strafe für mich aber ich hatte auch keine Lust, das Verfahren weiterzuziehen, mein Glaube an eine gerechte Justiz war erloschen.
Wäre da nicht Josy und Seppli gewesen, wäre ich jetzt zu den grünen Baretts in der Fremdenlegion gegangen. Ich hatte es mir auch eine Zeit lang überlegt, denn es würde doch für meine Frau auch nicht einfach werden mit einem Ex – Sträfling zusammenzuleben. Und erst der Kleine, wenn der mal zur Schule musste. Als ich mit Josy darüber sprach meinte sie, wir würden mit allen Problemen fertig werden, wenn wir nur zusammenhielten.
Wir versuchten uns einzurichten. Wir blieben erst einmal noch einige Zeit in der Stadt, denn wir hatten da eine Wohnung und ich konnte als Kellner etwas Weniges verdienen, das aber nie reichen würde unsere kleine Familie zu erhalten. Verhungern mussten wir nicht, das hätte die gute Maria nicht zugelassen, aber man braucht zum Leben mehr als nur das tägliche Brot.
Am Wochenende half Josy in der Küche des Gasthauses und der Wochenmarkt, der direkt vor unserer Haustüre stattfand verhalf uns zu noch essbaren Gemüseabfällen und billigem Ausschussobst.
Aber alle meine Anstrengungen, eine gutbezahlte Arbeit zu finden, waren nutzlos und keine gutgemeinte Fürsprache konnte daran etwas ändern.
Einzig in einer Gruppe von Judo und Karatekämpfern fand ich Anschluss und konnte mit Lektionen für Anfänger, der Reinigung des Clublokals und der Verwaltung des Vereins etwas Geld verdienen. Mir war aber auch der soziale Anschluss wichtig, denn hier wich mir niemand aus wegen meiner Vorstrafe, hier waren viele Mitglieder dem Gericht weit besser bekannt als ich, aber davon sprach man nie. Wir waren eine harte Bande, aber wir duldeten nur loyale, aufrichtige und verantwortungsbewusste Leute unter uns.
Fairplay und grosse Selbstbeherrschung sind bei allen Kampfsportarten sehr wichtig, denn ein gut ausgebildeter und durchtrainierter Kämpfer ist eine Mordmaschine, wenn er die Selbstkontrolle verliert.
Ich hatte dabei jedenfalls meinen Jähzorn beherrschen gelernt.
In dieser Gruppe wurde ich als Kumpel geschätzt und als Kampfpartner gefürchtet, weil ich scheinbar eine überaus schnelle Reaktion hatte, zudem erahnte ich die Griffe meiner Gegner einen Sekundenbruchteil bevor sie zupackten.
In dieser Gruppe wurde Hugo mehrmals erwähnt und zwar als junger Rechtsanwalt, der voll auf der Seite der Gesetzlosen stehe. Ich wunderte mich, wie er, zeitmässig, seinen akademischen Titel hatte erwerben können.
Seppli feierte seinen zweiten Geburtstag (das nächste Kind war auch schon unterwegs) als Hugo bei uns auftauchte. Ich hatte ihn kaum wiedererkannt, denn er hatte nun dunkle Haare, trug eine schwarze Brille und steckte in einem schicken Anzug. Der Mafiaboss wie man ihn aus Filmen kennt. Aber was mich am meisten irritierte war seine Narbe, sie war unsichtbar geworden, das heisst, wenn man ganz genau hinschaute konnte man sie noch erahnen.
Auf meinen fragenden Blick meinte er, dass er „das Ding“ habe wegmachen lassen, es hätte sich schlecht gemacht in seiner Stellung. Ja, er sei nun Doktor der Jurisprudenz, grinste er und fügte bei : „ohne je eine Uni betreten zu haben.“ Ein Spezialist an einer italienischen Uni hatte ihm die Doktorarbeit geschrieben, sie für ihn eingereicht und schliesslich hatte die Hochschule, für viel Geld, den guten Hugo zum Doktor Jur gemacht. Es geht auch so. Hauptsache ist das Ziel, der Weg dazu ist Nebensache.
Er überreichte Josy einen dicken Umschlag und einen Zettel, dazu meinte er, das sei die Quittung von der Bank, er hätte dem Kleinen etwas auf sein Sparkonto einbezahlt, es sei so unauffälliger, als wenn ich es gemacht hätte. Im Umschlag sei noch eine kleine Finanzhilfe.
Als ich protestieren wollte meinte er, wir hätten eh noch etwas zu besprechen.
Er eröffnete uns, dass wir reiche Leute seien, denn wir bekämen noch unseren Anteil vom Bankraub, das sei doch selbstverständlich und gerecht, denn ich hätte ja die Quittung vom Gericht bereits erhalten.
Mein Anteil belaufe sich auf 1,3 Millionen und sei sicher verwahrt und gelagert.
Josy war dagegen, dass wir das Geld annehmen, aber ich fand es verlockend, denn so kämen wir einen Schritt vorwärts und hätten den Kindern eine Zukunft zu bieten, die mehr als nur gestopfte Strümpfe und leere Mägen versprach. Zudem hatte mich das Gericht als Mittäter verurteilt, also hatte ich Anrecht auf meinen Teil der Beute. Die Versicherung hatte den Schaden der Bank vergütet, mir hatte das Gericht meine Zukunft versaut und jetzt bekam ich das Schmerzensgeld also war die Welt wieder in Ordnung.
Josy konnte Musik studieren und wenn die 5 Jahre Bewährungsfrist abgelaufen war, würden wir uns irgendwo ins Ausland absetzen und uns und den Kindern eine sichere Zukunft aufbauen.
Ich akzeptierte das Geld und spürte in mir, statt geheimer Schuldgefühle, eine tiefe Ruhe und grosse Befriedigung.
Ein dickes Bankkonto wirkt beruhigender aufs Gewissen als Baldriantropfem.
Ich erkundigte mich noch nach den beiden Brüdern Freddy und Armin, aber Hugo konnte mir keine befriedigende Antwort geben, er wirkte verlegen und unwohl bei diesem Thema und mit einer wegwischenden Handbewegung meinte er nur, sie seien verschwunden, verschollen, abgetaucht.
Josy betrieb ihre Vorbereitungen voran für den Eintritt ins Musikkonservatorium und ich war tagsüber Kindermädchen, Hausmann und Kunstmaler und abends kellnerte ich im neuen Nobelrestaurant „Bella Italia“ an der Steinberggasse. Freitag und Sonntagabend gab es Pizza zum Mitnehmen und dann schwitzte ich ein paar zusätzliche Stunden am Pizzaofen.
An einem nebligen Dezembermorgen war Josy mit dem Fahrrad unterwegs. In einer kleinen Nebenstrasse geriet sie auf Glatteis und stürzte so unglücklich, dass sie mit dem Kopf auf eine Gartenmauer aufschlug.
Mit einem Schädelbruch und einem schweren Gehirntrauma lag sie lange Zeit im Spital, zudem hatte sie das ungeborene Kind verloren. Wir unternahmen alles, was in unserer Macht stand, um Josy wieder gesund zu kriegen, aber sie brauchte viel Zeit, um diesen Unfall verkraften zu können. Manchmal flüsterte sie mir nachts ins Ohr, ob das wohl die Strafe sei für unser gestohlenes Geld und ich versuchte ihr dann diesen Unsinn auszureden.
Als Barbara, hinter unserm Rücken die Spitalkosten bezahlen wollte, sagte man ihr, dass das schon geschehen sei, das hätte ein Freund von mir erledigt. Einen Namen hatte dieser Freund nicht. Hugo?
Ich begann mich zu wundern, weshalb Hugo bei uns immer wieder den Weihnachtsmann spielte. Er hätte uns ja vergessen können, er war mir gar nichts schuldig und unsere Freundschaft hatte oftmals einen feindseligen Charakter gehabt. Ich bin ihm immer ausgewichen, habe seine Annäherungsversuche immer brüsk zurückgewiesen und habe ihm eigentlich nie etwas Gutes zugetraut und mich immer vor seinem Psychoterror gefürchtet. Dass er uns hie und da einen grossen Riesen zukommen liess, war mir kein Rätsel, das war Geld aus dem Raub, eine Kiste nagelneuer Tausenderscheine, gebündelt und auch nummeriert, die musste man einzeln und unverdächtig in den Umlauf bringen. Auch sein übriges Verhalten machte ,mich unruhig. Steckte da eine Falle dahinter oder hatte er eine neue „Arbeit“ für mich?
Nach Ablauf der fünf Bewährungsjahre, beschlossen wir, wegzuziehen, wie wir es mit dem Schwiegervater einst ausgemacht hatten, aber nun hatte der es plötzlich nicht mehr eilig, denn er hatte sich inzwischen mit Josy versöhnt und vor allem mit dem Enkel angefreundet. Er anerbot sich sogar das teure Musikstudium seiner Tochter zu bezahlen und bat uns schliesslich in der Stadt zu bleiben.
Aber ich wollte hinaus, ich fühlte mich nicht mehr wohl, ich hatte häufig schlechte Laune und hatte Momente totaler Erschöpfung. Nachts schlief ich schlecht und unruhig und jeden Morgen hatte ich Fieber, das dann im Laufe des Morgens verschwand. Manchmal wurde mir schwindlig, dass ich mich festhalten musste und als ich in einem Einkaufszentrum zusammengebrochen war und zur Notaufnahme gebracht wurde, war mir klar, dass irgendetwas in mir nicht mehr stimmte.
Man stellte Tuberkulose fest, Anfangsstadium, relativ leicht zu behandeln und man brachte mich in die Höhenklinik „Faltigberg“, oberhalb von Wald.
Während des Krieges war die Diagnose : TB noch ein Todesurteil aber dank der Entwicklung der Antibiotika und der Sulfonamide konnte man zehn Jahre später mit der ziemlich sicheren Heilung rechnen, Pechvögel, die es immer gibt, ausgeschlossen.
Ich hatte viel Besuch. Jeden Mittwoch kam Barbara. Wir machten Spaziergänge, waren dann zum Mittagessen im „Lauf“ einem Ausflugsrestaurant mit einer einmaligen spektakulären Aussicht auf die Linthebene, dem Gebiet zwischen Walensee und Zürichsee. Am Wochenende kam Josy mit dem Kleinen und zwischendurch, sehr sporadisch kam Hugo mit Problemen des reichen Mannes.
Er hatte damals ein Patent gekauft für die Herstellung von Wellplatten aus Kunstharz und wollte nun sofort in die Produktion einsteigen. Mir schien, es handle sich um eine seriöse Geschichte, jedenfalls vom Standpunkt der Chemie aus war es durchaus machbar. Die praktische Ausführung konnte ich nicht beurteilen, da musste er sich an einen Ingenieur wenden, der sich in der Verfahrenstechnik auskannte.
Er bot mir die Stelle des leitenden Direktors an und ich sagte provisorisch zu, aber ich wollte mich vorher noch in die Materie einarbeiten.
Er hatte auch schon ein Stück Land erworben, eine grosse ausgebeutete Kiesgrube und nachdem er alle nötigen Bewilligungen hatte, wurde die Produktionsanlage gebaut. Das war ein grosses Gebäude für die Verwaltung, das Forschungslabor, die Arbeiterkantine und Umkleideräume mit Duschen.
Die eigentliche Fertigung der Platten fand in grossen freistehenden Holzbaracken statt.
Bei der Produktion werden Dämpfe des Lösungsmittels frei, die leicht entzündlich sind, das heisst, sie konnten eine Explosion auslösen, von der man noch Generationen später sprechen würde. Zudem war das Kunstharz ebenfalls brennbar, das heisst, nach dem Riesenknall würde ein Grossbrand toben mit einer schwarzen Wolke darüber, die man noch vom Mond aus mit blossem Auge sehen könnte.
Auf meine Mahnung reagierte Hugo sehr gelassen und meinte, es sei alles gut versichert.
Und die Arbeiter und ihr Leben?
Wenn die Arbeiter gut aufpassten würde nichts geschehen, wenn nicht, würde es für sie eine nützliche Lehre sein.
Ich war in der sicheren Annahme, dass weder die Gemeinde noch die Feuerwehr grünes Licht für den Bau dieser Fabrik erteilen würden.
Aber „Arbeitsplätze“, Gewerbesteuer, Pralinen und Parfumflaschen für die Gemahlinnen der Macher und knisternde Briefumschläge für die Verantwortlichen der Gemeinde, Parteispenden, grosszügige Weihnachtsgeschenke und ein „Schoggistängeli“ für jedes Schulkind am Examen sind die geheimen Motoren der Wirtschaft.
Als ich meinen Dienst als Direktor antrat war die Produktion schon im vollen Gange und die fertigen Platten stapelten sich hinter den Baracken.
Die kühle Frühlingsluft in der Kiesgrube war derart mit Azetondämpfen geschwängert, dass die Nase andere Gerüche wie Toluol, Xylol und Acryl gar nicht mehr wahrnehmen konnte. Man gewöhne sich daran, meinten die Arbeiter, es sei alles nur halb so schlimm wie man es am Anfang empfinde.
Das Bürogebäude überragte die Grubenwände und wenn ein leichter Wind wehte, hatte ich ziemlich frische Luft in meinem Reich im obersten Stockwerk, aber mir war immer bewusst, dass im Kessel der Grube Gase waberten, die bei richtiger Mischung und Konzentration auf das kleinste Fünklein Feuer reagieren konnten und eine gewaltige Explosion erzeugen würden.
Hugo lachte mich aus und nannte mich „Paranoiker“, denn der ganze Betrieb sei von der Feuerwehr akribisch untersucht und schliesslich als ungefährlich begutachtet worden. Um mich zu beruhigen, brachte mir ein Arbeiter einen zweiten Feuerlöscher auf mein Büro.
Auf der einen Seite waren die Grubenwände eingeebnet worden für die Zufahrtsstrasse und dort konnten auch eventuell entstehende Gase oder Dämpfe abfliessen.
Ich stürzte mich gleich in die Arbeit um den Betrieb, seine Abläufe und die Organisation kennen zu lernen.
Aber da war noch nichts organisiert, da herrschte das Chaos und die freie Meinungsäusserung und jeder meinte, er müsse zu allem und jedem seinen Senf dazugeben und das führte zu Ausschussarbeit und schlechter Arbeitsleistung. Dabei waren unsere Auftragsbücher voll, die Kunden rissen sich unsere Platten förmlich aus der Hand und die Lieferwagen der Baumärkte mussten leer und unverrichteter Dinge wegfahren.
Die Arbeiter waren eine polyglotte Bande von Leuten, die keine Berufslehre hinter sich hatten, sondern immer von Gelegenheitsarbeit zu Gelegenheitsarbeit getingelt waren. Sie hatten keine Materialkenntnis, keine Arbeitsmoral und häufig keine Lust zum Arbeiten.
Ich organisierte nun Anleitungskurse, setzte jeden an seinen Platz und Arbeitsbereich innerhalb einer festen Gruppe. In jeder Baracke setzte ich einen Vorarbeiter ein, wenn möglich Leute, die Militär geleistet hatten mit Vorliebe Korporale oder Wachmeister.
Wir bezahlten die Leute gut, sogar sehr gut, aber wer nichts leistete wurde erbarmungslos gefeuert. Für diese war ich dann ein erbarmungsloser Leuteschinder.
Die Nachfrage nach unsern Kunstharzplatten überstieg unsere Produktionskapazität bei weitem und wir mussten die Schichtarbeit einführen. Hugo hatte etwas gegen die „blödsinnige Krampferei“ doch er begriff, dass wir jetzt loslegen mussten auf Teufel komm raus, denn sobald der Patentschutz erloschen sein würde, erwachte die Konkurrenz und dann hatten wir einen harten Kampf zu erwarten.
Hugo klapperte die ganze Schweiz ab mit seinem riesigen Amerikaner Auto und fand immer mehr Kunden.
Dass ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr, duldete er nicht, denn als Direktor einer florierenden Firma schickte sich das nicht. Eines Tages lag mein Fahrrad als jämmerliches Wrack neben einem fabrikneuen Citroen ID, dessen Papiere auf mich ausgestellt waren. Auf diese Art pflegte mich Hugo zu überraschen.
Unsere Firma florierte, wir waren beliebte Arbeitgeber (180 Angestellte), waren gute und brave Steuerzahler und daher hoch verehrte Mitglieder der Gesellschaft. Man suchte unsere Freundschaft oder wenigstens Bekanntschaft, man pumpte uns an von allen Seiten und wir spendeten für das neue Mobiliar des Kindergartens, für Krebskranke und die Rheumahilfe, waren Passivmitglieder des Turnvereins, des Männerchors, der Kleintierzüchter und der Damenriege, wir gaben Geld für den Kampf gegen den Alkoholismus. für die Heilsarmee und für die Bergbauern …
Wenn ich zurückdachte an die Zeit nachdem ich aus dem Knast entlassen worden war und mich nicht wagte jemandem in die Augen zu schauen, wie ich als Arbeitssuchender kritisch gemustert und schliesslich abgewiesen wurde, weil man in meinem Blick die Gitterstäbe noch erkennen konnte, dann wurde ich immer sehr nachdenklich.
Auch mir selber gönnte ich ein stattliches Salär, denn meine Familie wollte auch leben.
Eines Tages stellte sich ein älterer Mann als Arbeitssuchender vor. Ich wusste auf den ersten Blick, dass er ungeeignet war, denn er würde das Arbeitstempo und den Kraftaufwand nicht schaffen, aber irgendwie interessierte mich der Mann, es war da etwas an ihm … „der kommt aus dem Knast“, schoss es mir durch den Kopf. Ich suchte Blickkontakt, er wich aus, ich stand auf und ging zwei Schritte auf ihn zu, sofort senkte er sein Haupt, nahm eine Demutshaltung ein, die ich nur allzu gut kannte.
Ich hielt ihn an einer Schulter und fragte halblaut: „Wie lange?“
„Elf Jahre und sechs Monate, den Rest auf Bewährung “ sagte er grinsend.
Ich teilte ihm mit, dass man ihn in der Produktion nicht brauchen könne, aber ich würde ihn einstellen als mein Faktotum, meinen Leibdiener für kleine Handreichungen, die Post abholen und heraufbringen, mein Büro sauber halten, Hausplatz wischen und so weiter. Er war einverstanden und schien zufrieden zu sein.
Er verriet mir, dass er noch unter Polizeiaufsicht stehe und sich täglich auf dem Polizeiposten zu melden habe. Ich versprach ihm, dass ich das regeln würde. Die Polizei war froh, dass sie diese Kontrolle mir überlassen konnte. Er musste nur am Samstagnachmittag auf dem Posten erscheinen.
Als Personalchef war ich allein für Neueinstellungen und Entlassungen zuständig, Hugo war noch so froh, wenn er damit nichts zu tun hatte, er unterschrieb die entsprechenden Verträge und Kündigungen und damit hatte es sich. Als ich ihm den Anstellungsvertrag für meinen „Diener“, den Emil Kromer vorlegte, stutzte er. Etwas beunruhigt fragte er, was ich über den Kerl wisse.
Für den Moment wusste ich nur, dass er aus dem Knast kam, wo er einen Teil seiner Strafe für zweifachen Mord abgesessen hatte und nun nicht die geringste Chance hatte, eine Anstellung zu finden.
„Ja, du mit deinem geschissenen Altruismus bringst uns Mord und Totschlag ins Haus,“ knurrte Hugo verärgert. Ich solle den „lieben“ Emil ausquetschen, vor allem, weshalb er ausgerechnet hierhergekommen sei. Dann musste der ständig pressante Hugo „ein Haus weiter“, wohl ein Haus mit roter Laterne davor.
An einem Morgen erwartete mich ein Arbeiter der Nachtschicht, Er war sehr verlegen und schien nicht zu wissen, wie er anfangen sollte. Ich fragte ihn nach seinem Problem, da krempelte er wortlos seine Hemdärmel hoch. Ich erschrak. Ich kannte das. Das war eine Allergie auf einen Reizstoff, die zu einem bösen Krebsgeschwür ausarten konnte. Bei meinem Vater war es Zement gewesen und es hatte ihn den Arm gekostet. Er habe noch Glück gehabt, meinte der Arzt, dass es nicht schon den ganzen Körper verseucht habe. Hier war es eines dieser vielen Kunstharze oder Lösungsmittel mit denen wir arbeiteten.
Er war der erste Fall. Berufskrankheiten, das gibt es nun einmal, die Frage stellte sich nun, wie weit unsere Haftung ging. Die Unfall und Krankenversicherung würde sich ein Bild über die Arbeitsverhältnisse machen wollen, dann kam die Aufsichtsbehörde, das Gesundheitsamt, die staatliche Invalidenversicherung und dann der grosse Krach mit einer Gewerkschaft, eventuelle Nebenklagen der Familie ….
Es kam auf jeden Fall „etwas“ auf uns zu.
Hugo wollte den Arbeiter einfach entlassen mit gutem Arbeitszeugnis und einer grosszügigen Abfindung.
Ich schickte den Arbeiter zu jenem Arzt, der auch meinen Vater behandelt hatte und der teilte uns schliesslich mit, dass der Ausschlag behandelbar sei und keine Anzeichen von Hautkrebs zu finden seien.
Hugo machte sich wieder einmal über meine Paranoia lustig und wollte wieder abreisen, drei Tage Monte Carlo mit irgend einer seiner Edelnutten, aber vorher musste er sich den Bericht über den seltsamen Vogel Emil Kromer anhören. Ich hatte von der Polizei erfahren, dass er seine Frau und ihren Liebhaber auf sehr grausame Weise umgebracht hatte, die Details wollen wir uns ersparen. Zwei seiner Söhne, Armin und Freddy, weit herum bekannte Ganoven, Zuhälter, Bankräuber und Scheckfälscher seien seit ihrem letzten Bankraub in Winterthur untergetaucht und seither nie mehr in Erscheinung getreten.
Hugo grinste verlegen und meinte dann, die werden wohl wieder zum Vorschein kommen, wenn sie die fünf Millionen aufgefressen hätten. „Zweieinhalb,“ korrigierte ich ihn.
Hugo mutmasste, dass die beiden vielleicht ihr Geld vermehrt hätten, etwa so wie wir beide.
Ich stellte mich vor meinen Geschäftspartner, rieb meine Handgelenke als ob ich im nächsten Augenblick losschlagen würde.
Mein Gegner erbleichte, obschon er grösser und gewichtiger war als ich, wusste er , dass ich ihn mit einer einzigen schnellen Bewegung auf den Boden schmettern würde.
Er schlug vor, dass wir uns setzten und er begann zu erzählen.
Der Bankraub hatte, wie ich ja wusste (dank deiner Hilfe) bestens geklappt.
Fünf Millionen, das meiste in brandneuen Scheinen (vor allem die Tausender, die man kaum unbemerkt losbringt), dann noch etwas fremdes Geld und drei Goldbarren. Eigentlich nicht schlecht, wenn man den kleinen Aufwand bedenkt.
Die beiden Räuber fuhren dann zum Steg, der über den Fluss führt, liessen den Lieferwagen dort stehen und stiegen, samt Raubgut in Hugos Auto auf der andern Seite der Töss. Auf dem Rücksitz waren zwei Kisten Whisky, die man zur Feier des gelungenen Coups leeren wollte.
Während Hugo noch etwas kreuz und quer durch die Gegend fuhr machten sich die zwei Frettchen über den Schnaps her. Es war eine gute Marke und schien den beiden zu munden.
Als die Nacht hereinbrach waren die beiden voll betrunken und schnarchten auf dem Hintersitz.
Hugo fuhr dann mit ihnen in diese Kiesgrube, die er vor kurzem gekauft hatte und weckte die beiden, damit sie aus dem Auto ausstiegen. Nach ein paar Schluck Schnaps seien die zwei halbtot gewesen und dann … ja dann … habe ich sie mit dem Spaten noch ganz „tot gemacht“.
Er seufzte und hatte sogar Tränen in den Augen und meinte dann, dass es ihm schwer gefallen sei, die Tat auszuführen. Als er die beiden Halunken begraben habe, hätte er geheult wie ein schwaches Weib.
„Aber wenn ich es nicht getan hätte, sässen wir alle noch im Knast, denn diese Typen waren ein grosser Risikofaktor, das heisst, die hätten bestimmt mal geplaudert, blöd wie die waren,“ seufzte er.
Sie verfolgten ihn, manchmal, im Traum, er sehe sie, vor allem als sie schon tot waren, diese Augen, wie sie da lagen, das Blut. Es musste schrecklich gewesen sein, doch wie mir schien, hatte ihn dann die gesamte Beute, die nun ihm gehörte, wieder beruhigen und trösten können. Trostgeld-
Nun, ich weinte den beiden auch keine Träne nach, aber ich ahnte, dass sich mit der Anwesenheit des Vaters der beiden die Sache nicht vereinfachen werde.
Ich wollte noch wissen, wo die Zwei begraben worden seien, da zeigte Hugo zum Boden und sagte leise: „Etwa zwei Meter unter dem Fundament in Beton eingegossen. War eine verdammt strenge Arbeit.“
„Aber eine gut bezahlte,“ sagte ich grimmig.
Mir war klar, dass der alte Emil etwas ahnte und einiges wusste, aber er schien Klarheit darüber erhalten zu wollen, wo seine Söhne waren, tot oder lebendig. Er würde nie locker lassen, denn Geduld hatte er in einer einschlägigen Institution gelernt, er würde aber auch vor keinem Mittel zurückschrecken, das ihn dem Ziele näher brachte.
Ich musste herausfinden wie weit ich in Gefahr war. Ich wollte ihn direkt mit der Frage konfrontieren und so rief ich ihn in mein Büro.
Es war ein heisser Augustnachmittag. Ich bot meinem Gast einen Stuhl an und dann holte ich im Kühlschrank zwei eisgekühlte Flaschen Bier. Er nahm einen langen Zug, rülpste dann laut und wischte sich den Mund. „Sorry,“ sagte er grinsend, „aber wir sind ja nicht im Mädcheninternat. Also, Chef, was gibt es Neues?“
„Also Emil, reden wir gleich Tacheles, wir kennen ja beide den Laden und ich weiss wer du bist und weshalb du hier bist. Was hast du im Sinn?“ fragte ich ihn frei heraus.
„Chef, du bist ein feiner Kerl, mit dir zusammen würde ich es wagen die Amerikanische Zentralbank auszurauben, aber darum geht es ja nicht, sondern um meine Söhne,“ sagte er leise.
Er begann zu erzählen.
Von seiner Frau zuerst. Eine rassige, vollbusige und heissblütige Dame muss sie gewesen sein. Kellnerin, mit einem unehelichen Kind in einem Heim in der Ostschweiz. Sie verstand, ihre „Schande“ geheim zu halten.
Er hatte sich in die schöne Heidi verliebt, sie erwiderte seine Liebe und wurde seine Frau. Am Hochzeitstag erfuhr er von ihrer Entgleisung. Er holte das Kind aus dem Heim und dann kamen nach und nach zwei weitere hinzu, zwei Buben, Armin und Freddy, zwei wackere Burschen-
Emil war Mechaniker in einer Maschinenfabrik in Winterthur und verdiente genug Geld um seine Familie durchzubringen.
An den Wochenenden arbeitete Heidi als Kellnerin obwohl es Emil missfiel (man weiss ja, wie gewisse Männer sich den Serviertöchtern gegenüber benehmen).
Als ruchbar wurde, dass sie es mit einem Vertreter habe, verprügelte Emil beide tüchtig und nahm seine Frau wieder nach Hause. Seinem Widersacher hätte er zweihundert Franken Schmerzensgeld bezahlen müssen. Emil weigerte sich und blieb hart.
Von einer Nachbarin erfuhr er dann, dass Heidi jeden Mittwochnachmittag von eben diesem Vertreter besucht werde.
Er sagte nichts.
Am Sonntag reinigte er seine Armeepistole gründlich und liebevoll.
Am Mittwoch fuhr er wie gewohnt zu Hause weg um sechs Uhr morgens.
Am Nachmittag hörte die Nachbarin zwei Schüsse, dann trat Emil vor das Haus und wartete auf die Polizei.
18 Jahre für kaltblütig geplanten und ausgeführten Doppelmord, war das Gerichtsurteil.
Die drei Kinder kamen in ein Kinderheim und bekamen eine streng christliche, moralische Erziehung, die sie zu ehrlichen, frommen und guten Menschen erziehen wollte.
Die Tochter verkam bald einmal in der Prostitution, sicher schon gut vorbereitet im Kinderheim und die Jungen bildeten von Anfang an ein Ganovenduo, die „Gebrüder Kromer“, die schon im Heim erfolgreich zusammengearbeitet hatten.
Und jetzt? Wollte er Hugo umlegen, bestrafen für den Mord an Armin und Freddy?
Wollte er an die Beute seiner Söhne herankommen durch Erpressung?
Erpresser haben denkbar schlechte Überlebenschancen.
Und wenn ihm Hugo zuvor kam?
Wer zuerst die Pistole zieht ist im Vorteil und Hugo hatte bereits bewiesen, dass er zu allem fähig war.
Es war eine verdammt heikle Situation, auch für mich. Ich riskierte viel, wenn ich Partei ergriff, aber wenn ich nichts unternahm würde es auch ohne mich zu einer Entscheidung kommen, deren Ausgang sehr ungewiss war.
Ich stellte Hugo nochmals zur Rede und versuchte ihn zu überzeugen, dass eine einvernehmliche friedliche Lösung das Beste war, was er tun konnte. Aber er machte plötzlich auf stur. Den Alten da an der Beute beteiligen kam nicht in Frage, denn das wäre ein Schuldgeständnis und Hugo müsste in den Knast.
An dieser Stelle erwähnte ich, dass ich übrigens meinen Anteil auch noch nicht erhalten hätte.
Mir schien, dass in diesem Moment Hugos Augen einen gefährlichen gelblichen Schimmer bekamen und ich begriff schlagartig, dass er mich die ganze Zeit nur hinausgehalten hatte, weil ich ein gefährlicher Zeuge und Mitwisser war. Seine Grosszügigkeit, seine Offenheit und seine Freundschaft hatten nur den Zweck, mich an sich zu binden, damit ich nicht begehrlich werden konnte oder ihn sogar bei der Polizei anzeigte.
Ich hatte sein Spiel durchschaut, liess mir aber nichts anmerken, sondern tat so, als ob ich für ihn und gegen Emil Partei ergreifen würde, denn ich hatte keine Lust im Fundament eines geplanten Erweiterungsbaus einbetoniert zu werden.
Er fand, dass wir Emil loswerden müssten, schnell und spurenfrei. Er überliess es mir, etwas Perfektes und Feines herauszufinden. Was meinen Anteil betreffe sei es etwas kompliziert, da er alles Geld auf die Caimaninseln gebracht habe, aber er werde meinen Teil „tröpfchenweise“ zurückholen und mir auszahlen. Damit ich an seine Ehrlichkeit glauben könne, werde er mir eine Immobilie in Italien überschreiben lassen, ein kleines Weingut im Piemont, das gut und gern eine Million wert sei, aber wir würden nur die Hälfte berechnen, schon wegen der Steuern und so.
Ohne dass ich das millionenschwere Weingut vorher hatte besichtigen können, wurde es von einem Notar in Asti an mich und meine Familie überschrieben.
An einem Herbstabend kam Hugo bei uns zuhause vorbei. Josy übte im Zimmer nebenan ihr Prüfungsstück auf der Geige und Hugo meinte, das klinge ja ganz gut, aber auf einem besseren Instrument könnte man viel mehr aus dem Stück herausholen.
Am Abend verwickelte er Josy noch in ein Gespräch über Geigen. Er schien sich dabei auszukennen, jedenfalls kannte er alle alten „Geigenschreiner“, wie er sie nannte, aus Cremona. Dann fragte er so nebenbei, ob sie Lust hätte auf so einem altehrwürdigen Instrument herum zu fiedeln.
Etwa eine Woche später kam er in mein Büro, sichtlich verlegen, denn er schien wieder einmal etwas auf dem Herzen zu haben und brauchte meine Hilfe. Als ich ihn fragte, meinte er, es seien zwei Probleme.
Als erstes habe er eine „Amati“ auf einer Auktion ersteigert. Ich nahm an, dass es sich um ein Motorrad handle, da er zu jenem Zeitpunkt den „Easy Riders“ verfallen war. Er lachte sein hochmütiges Lächeln, das mich zum Deppen stempelte, und meinte dann, ich sei wirklich der richtige Partner für eine Geigerin.
Er klärte mich auf und fragte mich, ob ich das Instrument wolle als Abgeltung für meinen Anteil.
Die Geige sei mehrere Millionen wert, sie sei echt, mit mehreren Gutachten versehen und in einem internationalen Verzeichnis registriert. Quittungen und eine notariell beglaubigte Schenkungsurkunde sei auch noch dabei.
Ich musste mir das erst einmal durch den Kopf gehen lassen, aber Hugo hatte das Instrument schon bei sich und ich durfte es bewundern, ja nicht berühren, denn, so erklärte er mir, dass jede Geige Schaden nehme, wenn sie von Laienspielern nur schon berührt werden.
Danke für die Blumen, meine ehemalige Geigenlehrerin würde ihm beipflichten.
Ich war mit dem Deal einverstanden, fragte ihn dann noch, ob er die Violine selber überreichen wolle, aber da bekam der alte Gauner einen roten Kopf und meinte, das wäre mir gegenüber nicht gerecht.
Seit wann nimmt der Typ Rücksicht auf mich?
Ich zuckte die Schultern und meinte, da verpasse er einen innigen Kuss von der Beschenkten.
„Eben …“
„Du bist in Josy verknallt?“ lachte ich, und das sei gut zu wissen, damit ich sie wegsperren könne, wenn er wieder einmal bei uns auftauche.
Er versicherte mir, dass ich nichts zu befürchten habe. Er hätte mir ja in meinem Leben schon vieles kaputt gemacht, angefangen bei den Sandburgen, aber diese Liebe wolle er mir nicht zerstören.
Was war nur mit Hugo los? Ehrliche Reue, Grossmut ohne Hintergedanken und Selbstlosigkeit waren neue Charakterzüge an ihm. In mir stieg wieder eine Welle des Misstrauens auf.
Er musste irgendetwas im Schilde führen. Aber was?
Hugos zweites Problem liess mich aufhorchen. Er hatte erfahren, dass Emil vor zwei Tagen auf dem Schwarzmarkt eine Pistole mit 20 Schuss Munition gekauft hatte. Die Absicht konnte leicht erraten werden, jedenfalls musste die Waffe wohl nicht zum Vertreiben nächtlich maunzender Kater dienen. Es galt einem grösseren Kater.
Es wurde eng für Hugo, sehr eng sogar.
Ich riet ihm, die Sache mit Geld zu regeln, grosszügige Geldspende wirkt Wunder und verhindert Schusswunden.
Es war Zeit, die ganze Scheisse in Ordnung zu bringen.
Ich rief Emil herbei, der draussen herumlungerte. Als er in der Tür stand, konnte man die Ausbuchtung der rechten Manteltasche gut erkennen. Er schien aufgeregt zu sein, nervös.
Ich ging auf ihn zu und nahm ihm das „Ding“ aus der Tasche und beruhigte ihn erst mal: „Emil, lass das, es lohnt sich nicht dieses Aas abzuknallen. Es bringt nichts. Du machst damit weder deine Söhne wieder lebendig, noch bringt es dir den Frieden, im Gegenteil, du wanderst für den Rest deines Lebens in den Knast, Zuchthaus. Aber wenn du schlau bist, dann zockst du den Hugo ab, damit du für den Rest deines Lebens keine finanziellen Sorgen mehr zu haben brauchst.
Zu Hugo gewandt sagte ich, er brauche mir seine Waffe aus dem Stahlschrank nicht zu holen, die hätte ich schon am frühen Morgen an mich genommen. Und jetzt würden wir reinen Tisch machen.
Wir kamen überein die Firma zu verkaufen und den Erlös unter uns drei aufzuteilen. Die Firma war auf ihrem Höhepunkt angelangt, die Tendenz bei den Aufträgen war schon leicht rückläufig und die Konkurrenz begann zu erwachen. Ich hatte einen ernsthaften Interessenten an der Hand, der bereit war eine runde Summe hinzublättern für die Firma, die neusten Forschungsergebnisse unseres Labors inbegriffen.
Der Käufer, ein reicher Russe, war daran interessiert, das Geschäft möglichst rasch abzuwickeln.
Hugo war vorerst entsetzt und sagte entrüstet, dass er diesen Kuhhandel nicht unterschreiben werde, jetzt zu verkaufen wann das Geschäft so gut lief und die Gewinne sprudelten.
Ich gab ihm zu bedenken, dass das Geldbrünnelein bald einmal versiegen werde, dass wir eine Pleite riskierten und dass uns die Aufräumarbeiten in dieser Giftgrube völlig ruinieren würden, denn die Politik hatte neuerlich den Umweltschutzgedanken sich zu eigen gemacht und das werde allgemein ein teurer Spass. Also schleunigst raus aus dem Dreckloch und rein in sauberes Geld.
Hugo sagte uns, dass er nach der Abwicklung des Geschäfts verschwinden werde, in die Karibik, wo er schon seine Jacht liegen hatte.
Ich bot Emil an, die Verwaltung meines etwas „heruntergekommenen“ (wie mich Hugo warnte) Weingutes im Piemont zu übernehmen ohne zu ahnen was mich dort erwarten würde.
Josy und ich wollten uns von ihm am Flughafen verabschieden, aber Hugo war nicht erschienen, sein Platz im Flugzeug blieb leer. Vielleicht war er schon mit einer früheren Maschine geflogen, vielleicht würde er erst am folgenden Tag fliegen.
Wir haben auch in der Folge nie wieder etwas von Hugo gehört und alle Nachforschungen blieben ergebnislos, mag sein, dass er seinen Namen gewechselt hat.
Um es vorwegzunehmen: er hatte …
… als ob ein neuer Name, eine neue Identität den alten Hugo verschwinden lassen könnte.
Immer wenn Josy ihre kostbare Geige hervornimmt sehe ich im rötlichen Schimmer des Lacks die roten Haare von Hugo, bevor er auf schwarz umgestellt hatte.
Und immer wenn Josy ihr Instrument liebevoll in den Kasten legt, weht ein wenig Eifersucht durch meine Seele.