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Ida

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Meine Erinnerungen an meine früheste Kindheit sind meist von einem leichten weissen Schleier bedeckt oder sie liegen irgendwie im Schatten, wo die Farben dunkler und die Umrisse unklar und undeutlich sind. Erinnerungssplitter mit leeren Zwischenräumen.

Wertungen kamen erst später hinzu und die Bewertung jener Zeit ist immer ein Akt der Gegenwart.

Ich war ein Einzelkind, meine Umgebung war eine enge Wohnung mit vielen dunkeln Ecken und da war meine Mutter, eine dicke, schwer schnaufende Frau, ein leeres Gesicht mit zwei funkelnden Augen, die alles sahen und alles wussten und alles regierten.

Und da war Vater, diese leicht gekrümmte Figur mit krausem Haar und zu weiten Kleidern. Er „schlotterte“ in seinen Kleidern, sass vornübergebeugt am Tisch und löffelte schlürfend seine Suppe. Man sah nur seinen wirren Haarschopf und den glänzenden Löffel, der regelmässig wie eine Maschine in der Suppe untertauchte, dann wieder hervorkam, tropfend und manchmal mit Gemüsefetzen behangen hochstieg, dann dieses einsaugende schlürfende Geräusch verursachte um dann wieder in der Brühe unterzutauchen.

Wenn ich einmal zu schlürfen versuchte, schlug mich Mutters Löffel schmerzhaft auf meine Finger.

„Iss anständig“ oder „man schlürft nicht beim Essen“ oder gar „nur Schweine schlürfen“ war die Begleitmusik dazu, aber es wäre mir nie eingefallen den Faden weiterzuspinnen oder gar Schlüsse aus den Ermahnungen zu ziehen.

Dass das Essen karg und eintönig war, ist mir erst viel später bewusst geworden. Es gab eigentlich immer Kartoffeln auf die eine oder andere Art, denn Kartoffeln bekam man ohne Lebensmittelmarken und Kartoffeln waren billig. Mutter verstand es unser Essen abwechslungsreich zu machen, mal gab es Pellkartoffeln (die Schalen mussten mitgegessen werden), mal Bratkartoffeln, mal Kartoffelsuppe, mal Salzkartoffeln, mal Kartoffelsalat (meine Leibspeise), mal Kartoffelstock und meistens gab es „Rösti“ das Nationalgericht in der deutschem Schweiz. Sogar im Brot waren Kartoffeln mit drin.

In der Rösti wurde oft ein Stück Speckschwarte mit-gebraten und das machte die Speise so fein und lecker.

Beim Mittagessen war meistens noch Gemüse dabei. Je nachdem was unser Garten hergab, aber Vater ass nur gekochtes Grünzeug und so verschwand der Kopfsalat wie der Weisskohl und die Karotten in der Suppe. Fleisch war höchstens einmal an einem Sonntag auf dem Teller, meist als Wurst oder Siedefleisch, alles andere war zu teuer.

Mutter tauschte die Fleischmarken mit einer Nachbarin gegen Milchmarken, damit ich regelmässig meine Tasse Milch kriegte.

Dass in den Nachbarhäusern ganz andere Lebensumstände herrschten, erfuhr ich erst viel später. Meine Welt beschränkte sich vor allem auf unser Wohnzimmer und die Aussenwelt bestand vor allem aus den Bildern, die mich durch die Fenster erreichten.

Unsere Wohnung lag im ersten Stock, direkt über der Schreinerei, wo mein Vater arbeitete. Eine steile Holztreppe führte auf der Nordseite des Hauses an der Wand hoch zu einem Laubengang, von dem aus man unsere Wohnung betreten konnte. Eine weitere Türe etwas weiter hinten führte ins Holzlager und am Ende der Laube befand sich das „Häuschen“, dessen Türe mit einem ausgesägten Herz verziert war. Ein eindeutiger Geruch verriet den Zweck dieser Anlage.

Der „Gang aufs Häuschen“ war im Winter, vor allem nachts, ein Abenteuer und eine Mutprobe. Auf der Laube herrschte Dunkelheit und eisige Kälte, manchmal fegte sogar ein Schneesturm ums Haus. Am Boden lag Schnee, manchmal so hoch, dass man die Türe nicht aufmachen konnte und Hilfe holen musste.

Schlimm war auch das steife und harte Klopapier mit dem man sich am Hintern verletzen konnte. Immerhin hatte es auch seine guten Seiten: Man konnte auf dem Klo Zeitung lesen weil das Papier aus der Zeitung geschnitten wurde. Dadurch wurden die Texte verstümmelt und es machte mir Spass, das Fehlende „hinzu zu denken“.

Vom Wohnzimmer aus konnte man auf drei Seiten hinausschauen. Gegen Norden sah man den grossen Baumgarten des Nachbarn und dahinter einen, ebenfalls mit Obstbäumen bewachsenen Hügel, im Fenster der Ostseite sah man eine kleine Wiese mit einem Birnbaum mittendrin und dahinter das Nachbarhaus. Es war eine kahle Fensterfront und unten eine Türe, die direkt in die Küche führte.

Manchmal war diese Türe geöffnet und ein kleines Mädchen, Ida, sass auf der Schwelle.

Sie gehörte einfach in dieses Bild und wenn sie nicht da war fehlte mir etwas.

Manchmal winkte ich ihr zu durch die geschlossenen Fenster, aber sie sah mich nie, sie war in ihr eigenes Spiel vertieft, das ich aber nicht nachvollziehen konnte. Manchmal spielte sie mit einer Holzkelle, manchmal war es ein grosser Schöpflöffel einmal war es sogar eine junge Katze.

Ich hatte anderes Spielzeug. Ich hatte eine Riesenkiste voll bunter, hölzerner Bauklötze, die mir mein Vater gemacht hatte. Ich konnte damit Türme bauen, die grösser waren als ich selber. Und dann liess ich sie mit Getöse und gleichzeitig wundem Herzen, wieder einstürzen.

Zwischen Ida und mir lag aber die Treppe, diese unendlich lange, steile und hohe Treppe, vor der ich mich fürchtete. Wenn ich hinuntersah wurde mir schwindlig.

Manchmal nahm mich die Mutter mit, wenn sie im Dorf einkaufen ging. Dann hielt sie mich an der einen Hand fest und mit der andern konnte ich den Handlauf an der Wand knapp erreichen und dann ging es Stufe um Stufe in die Tiefe, dabei hielt ich meine Augen krampfhaft verschlossen bis wir unten waren.

An einem Tag war das Ostfenster versehentlich offen. Eine herrlich frische Luft drang herein und verdrängte den Geruch von Holzstaub, Sägemehl und Tischlerleim der in unserer Wohnung immer gegenwärtig war.

Als ich durch die Fensteröffnung schaute, sah ich Ida auf der Türschwelle sitzen.

Ich winkte ihr verstohlen zu.

Keine Reaktion.

Ein zweiter Versuch war ebenso erfolglos.

Dann begann ich zu miauen wie eine Katze.

Jetzt schaute sie hoch und winkte mir zu und rief: „Komm herunter.“

Ich zuckte die Achsel und miaute wieder.

„So komm doch endlich,“ lockte sie weiter, dann zeigte sie mir ihr Butterbrot und rief, ob ich auch eins möchte.

Das half. Ich lief zur Treppe und kroch auf dem Bauch liegend, Beine voran Stufe um Stufe hinunter.

Als ich bei Ida war, wurde ich plötzlich verlegen, aber sie bot mir gleich ihr Butterbrot an und sagte sie hätte keinen Hunger.

Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder etwas so Köstliches gegessen, wie damals dieses Stück Brot, würzig duftendes Bauernbrot mit richtiger Butter bestrichen und mit einem hellgelben Schimmer von Honig überzogen. Das schmeckte so gut und weckte eine animalische Fresslust in mir, dass ich das Brot so gierig und schnell verschlang, dass ich dabei fast erstickt wäre.

Ida amüsierte sich köstlich über mein sonderbares Verhalten und sagte mir dann im Vertrauen, wenn sie so gierig „fressen“ täte am Tisch, so kriegte sie eins hinter die Ohren vom Vater.

Ich erinnere mich nicht mehr, was so kleine Knirpse sich zu sagen und zu erzählen haben, ich weiss nur noch, dass mir plötzlich übel wurde und ich nach Hause wollte.

Ich höre nur noch wie sie mir im Weglaufen fragend zurief, weshalb ich so dünne Beine hätte.

„Tschüss Spatzenbein, Spatzenbein,“ lachte sie hinter mir her.

Bevor ich unsere Treppe verkotzte, schwor ich, dass ich diese blöde „Babe“ nie, nie, nie wieder besuchen werde.

Die Strafpredigt meiner Mutter hatte etwa den Inhalt, dass ich nun gesehen hätte, dass so fette und süsse Nahrung schädlich sei und dass ich von niemanden etwas zu essen annehmen sollte, die meinten sonst noch wir seien Hungerleider.

Von diesem Tag an war die Haustüre immer verschlossen, wenn Mutter weg war und ich blieb in der Wohnung eingeschlossen mit meinen Bauklötzen, allein.

Abwechslung bot aber auch der Blick aus der breiten Fensterfront nach Süden.

Unter mir lag der grosse Hofplatz mit seinen Bretterstapeln, Balken und den Silos für die Hobelspäne und dem Sägemehl. Auf diesem Platz war immer etwas los.

Spannend war zum Beispiel, wenn im Raum neben unserer Wohnung neues Holz eingelagert wurde. Die Bretter oder Balken wurden dann mit einem Flaschenzug heraufgezogen und dann lehnte sich ein Arbeiter aus der Luke und packte die Holzbeige und zog sie in den Lagerraum.

Bei der ganzen Prozedur faszinierte mich vor allem der Flaschenzug mit seinen Rollen und mit dem Seil das durch die Rollen lief. Ich versuchte das Prinzip auf einem Stück Papier aufzuzeichnen und scheinbar war es mir gelungen, denn als mein Vater am Abend die Zeichnung betrachtete strich er mir mit seiner rauen Hand über meine Haare und lobte mich. Ich muss damals etwa vier Jahre alt gewesen sein, aber die Szene hat sich in meine Seele eingeprägt.

Mein Vater war keine imposante oder eindrückliche Erscheinung und meine Erinnerung an ihn sieht ihn nur als kleinen unbedeutenden Schatten, der weder Gesicht noch Stimme hatte. Meine einzige Erinnerung war der dichte Schnauzbart, der über die Mundwinkel hing.

Gestalt und Stimme hatte nur meine Mutter. Sie war eine liebe Frau und fürsorglich aber sie brauchte Härte und eiserne Durchsetzungskraft um ihren Mann vor grösseren Schäden zu beschützen, denn er war sehr willensschwach wenn es um Alkohol ging. Das war sein grosses Problem, das ihn auch vor Jahren erledigt hatte. Die Schreinerei war einst in seinem Besitz gewesen und er war damals ein allseitig geachteter Mann, wohlhabend und auch fachlich kompetent.

Aber zur Zeit der Weltwirtschaftskrise ging es mit der Firma abwärts. Es kamen nur noch wenige Aufträge herein, die Kunden bezahlten ihn nicht mehr und schliesslich musste er seine Arbeiter entlassen und Konkurs anmelden.

Sein Bruder, ein kaufmännischer Angestellter in der Suppenfabrik kaufte die Schreinerei für ein „Butterbrot“, stellte wieder Leute ein, auch meinen Vater als Schreinermeister und Leiter des Betriebes und übernahm Grossaufträge ( meistens sogenannte „Spekulationsaufträge“), lebte selber auf grossem Fuss und mit grossen Bankkrediten. Aber die Rechnung ging auf.

Im Geldeintreiben bei Kunden war er knallhart und daher auch erfolgreich, beim Bezahlen der Löhne war er ein Schuft. Stets war er im Verzug, mal ein paar Wochen manchmal sogar zwei drei Monate. Kam eine Reklamation eines Kunden, bestrafte er die Arbeiter mit Lohnabzügen, die er als „Konventionalstrafe“ bezeichnete und bei Krankheit stellte er die Zahlungen ganz ein, obschon die Krankenversicherung ihm einen Teil des Lohnes vergütete.

In der Werkstatt war mein Vater ein ruhiger, besonnener Mensch und geachteter Meister. Er kannte sein Metier und die Kunden waren mit den Arbeiten die er ausführte sehr zufrieden.

Manchmal, leider nur zu oft, machte er Arbeit „ausser Haus“ bei Kunden, er nannte es „Störarbeit“. Und dann hatte er die schlechte Angewohnheit auf dem Heimweg noch rasch im „Rössli“ oder in der „Linde“, der zweiten Kneipe im Dorf einzukehren um mit einem kleinen Bierchen den „Holzstaub wegzuwaschen“.

Aus dem kleinen Bier wurde immer ein grosses, vielleicht kam sogar noch eine Flasche Wein dazu aber immer wurde die Halswäsche mit ein paar Schnäpsen beendigt. Hatte er zu wenig Geld bei sich, so konnte er problemlos „anschreiben“ und später bezahlen.

Schwankend und torkelnd schob er sein Fahrrad neben sich her und wenn er endlich unten an der Treppe war, verliessen ihn die Kräfte und er setzte sich singend oder grölend auf die untersten Stufen und wartete bis Mutter ihn heraufholte. Ich habe diese Szenen nur selten mitbekommen, weil sie sich immer nach Mitternacht abgespielt haben, aber ich bin häufig erwacht, wenn im Zimmer nebenan meine Mutter ihn heulend bat, doch endlich diese verdammte Sauferei aufzugeben. Meistens heulte er mit und versprach dann feierlich, dass es das letzte Mal gewesen sei. Aber wenn er am folgenden Tag wieder auf „Stör“ musste hatte er schon wieder alle Schwüre und Beteuerungen vergessen.

Aber da ist noch eine andere Erinnerung an meinen Vater, die ich immer gerne verdränge.

Im Winter zog eine fahrbare Schnapsbrennerei von Hof zu Hof und jeder Bauer liess sich dann seinen Schnaps brennen aus dem Obsttrester oder auch aus einer Pflaumen– oder Zwetschgenmaische. Das hatte immer etwas Geheimnisvolles an sich. Unter einem grossen Leinendach stand eine Art von Dampfmaschine mit rauchendem Kamin und dampfenden Kupferkesseln und irgendwo am Ende der Maschine tröpfelte der glasklare Schnaps aus einem Kupferröhrchen in einen grossen Kupferkessel.

Hinter der Destille türmte sich ein dampfender Haufen ausgekochter Maische.

Wenn die „Schnapserei“ irgendwo im Dorf vor einem Bauernhof stand, zog sie immer eine Gruppe von Schaulustigen an, die gerne immer wieder ein Pröbchen des edlen Wässerchens verkosteten um dann fachmännisch über Alkoholgehalt, Geschmack und Geruch zu diskutieren.

Wir Kinder durften nur aus der Ferne die Höllenmaschine bestaunen. Ich stand, mit Ida an der Hand an einer fernen Hausecke und wir bewunderten diese Fabrik auf Rädern als ich meinen Vater sah, der, sein Fahrrad vor sich her schiebend, wahrscheinlich aus der Kneipe kam, denn er schien angetrunken zu sein.

Die Männer, die da vor der Brennerei herumstanden riefen ihn nun zu sich heran.

Mit einem kleinen Glas gaben sie ihm Proben von den verschiedenen Destillationsvorgängen des Tages, das Glas immer schön voll. Sie schienen angeregt zu diskutieren und mir fiel dabei auf, dass sich die anderen immer wieder mit den Ellenbogen anstiessen, wenn sie meinem Vater ein neues Gläslein vor die Nase hielten, aber selber tranken sie nicht. Mir war sofort klar, was da gespielt wurde und ich überlegte mir, ob ich hingehen und meinen Vater warnen sollte. Aber ich wagte mich nicht. Auch als Ida mich anstiess und mir sagte, ich solle meinen Vater holen, schüttelte ich nur den Kopf. Daraufhin sagte das Mädchen zu mir ein Wort, das sich mir in die Seele gebrannt hatte, sie sagte „Feigling“ zu mir und rannte dann nach Hause.

Ich aber stand an der Hausecke und starrte gebannt wie das Kaninchen vor der Schlange zur Brennerei hinüber und musste nun mit ansehen, wie mein Vater plötzlich sein Gleichgewicht verlor und rücklings in die heisse Maische stürzte. Einer der Männer, ich kannte ihn gut, er war ein reicher Bauernsohn, reichte ihm hilfreich die Hand und zog ihn auf und liess ihn aber im letzten Moment los und mein Vater stürzte unter grossem Gelächter der Anwesenden ein zweites Mal in diese zerkochte, widerlich aussehende Masse.

Beim nächsten Versuch auf die Beine zu kommen stiess ihn der junge Sonnenhöfler kopfvoran in den warmen Brei und die anderen begannen seine Manteltaschen und Hosensäcke mit Maische zu füllen.

Schliesslich zogen sie ihn heraus, bewarfen ihn mit dem Dreckszeug und gaben ihm das Fahrrad, das vorher auch noch mit Unrat „getauft“ worden war, wie sie es nannten, in die Hand und schickten ihn nach Hause

Ich schlich weg, machte einen grossen Umweg durch die Baumgärten, völlig verzweifelt und angeekelt von mir selber, weil ich nicht den Mut gehabt hatte im rechten Moment einzugreifen.

Immer noch hörte ich das Wort „Feigling“ als ich schon bei unserm Haus angelangt war.

Und dann kam diese grosse dunkle Wolke mit den kreischenden blauschwarzen Raben und nachher war alles anders. Wenn ich die Zeit nachrechne war ich noch nicht fünf Jahre alt als das Unglück hereinbrach.

Eines Nachts erwachte ich, geweckt durch einen Schrei, den kein menschliches Wesen ausstossen kann.

Ein grauenhafter Schmerz hatte sich in Geschrei und Gestöhne verwandelt. Ich sah im matten Lampenlicht wie Gestalten vorbeihuschten, dann kam der Viehdoktor, der zwei Häuser weiter weg wohnte, die Treppe hochgepoltert, dann kam ein Arzt, dann wieder dieser Schrei, der aber plötzlich verstummte und einem langgezogenen Stöhnen Platz machte.

Ich hatte mich in meine Bettdecke gewickelt und beobachtete stumm und erschreckt das Geschehen.

Irgendwann fuhr dann eine Militärambulanz an den Fuss unserer Treppe und zwei Soldaten trugen ein längliches Paket die Treppe hinunter, verstauten es im Krankenwagen und fuhren dann los.

Es war das letzte Bild das ich von Vater habe.

Man brachte ihn nach Winterthur ins Kantonsspital.

Man hatte den Krankenwagen des Militärs benutzt, das in jenen Kriegsjahren im Dorf stationiert war, denn für Privatfahrzeuge war damals kein Benzin da.

Als Vater weggebracht worden war, begann meine Mutter plötzlich zu schreien und zu toben, kreischte und heulte, dass ich mich vor Angst in einem Kasten versteckte und mir die Ohren zuhielt.

Der Militärarzt der bei ihr war, versuchte sie zu beruhigen, aber sie begann nun zu toben und Sachen zu zerstören. Wieder aus dem Kasten befreit sah ich, wie ihr der Arzt eine Spritze machte. Daraufhin schlief sie friedlich ein.

Am nächsten Tag kamen die schwarzen Krähen.

Alle möglichen Tanten und andere weibliche, mir unbekannte Verwandte füllten unsre Stube. Ein widerlicher Geruch von Fisch und Mottenkugeln breitete sich aus.

Mutter sass heulend am Tisch von den Raben umlagert.

Als sie mich erblickten stürzten sich alle auf mich, umarmten, küssten mich und machten mich nass mit ihren Tränen. Es war ekelhaft.

Alle waren schwarz gekleidet, trugen schwarze Hütchen mit einem schwarzen Schleier über dem Gesicht und jede drückte mich an ihre Brüste, meist so dicke schwammige Ungetüme, die mich zu ersticken drohten. Aber das Schlimmste waren die verschiedenen Gerüche der verschiedenen Tantenbrüste. Olga stank nach Mottenkugeln und die machten mich niesen, Berta roch nach muffigem Keller, wenn die Kartoffeln faulen, Marta roch nach Käse, Inge nach Fisch und Bea nach altem Schweiss und Rosa nach kaltem Tabaksrauch. Man nannte mich „armen Jungen“ und „arme Waise“ und schliesslich liessen mich die bösen Vögel plötzlich los und flatterten zum Stubentisch, wohl um sich nun gegenseitig die Augen auszuhacken.

In einem günstigen Augenblick huschte ich durch die Türe hinaus und eilte hinunter zu Ida.

Sie sass auf der Treppe wie immer und hielt mir ein wunderbar duftendes Butterbrot entgegen und da erinnerte ich mich, dass ich schon längere Zeit nichts mehr zu essen gekriegt hatte.

Aber bevor ich ins Brot biss, roch ich noch an Idas Brust.

Sie roch nach frischer Seife.

An diese eigenartige Geste hatte auch sie sich noch viele Jahre später erinnert und dazu gelacht, aber, sie meinte dann, es hätte sie damals nicht besonders erstaunt, denn ich sei von Anfang an ein verrückter Kerl gewesen.

Dass mein Vater nun tot sei, berührte mich überhaupt nicht. Er war nicht mehr da, aber er fehlte mir nicht.

Was mich aber sehr interessierte war das seltsame Wort „Starrkrampf“.

Das soll die Todesursache gewesen sein.

Am folgenden Morgen wurde ich sonntäglich gekleidet, erhielt ein schwarzes Band an den linken Ärmel meines Mäntelchens geheftet und fuhr mit der Tante „Mottenkugel“ nach Wiesendangen zu meinen Grosseltern.

Ich freute mich mächtig auf die Reise und vor allem auf „Wiesendangen“, denn das Wort erschien mir so friedlich, so verheissungsvoll. Es war ein schönes Wort und es roch nach Wiese und man sah die Schmetterlinge und man spürte einen angenehmen Windhauch.

An die Grosseltern hatte ich keine Erinnerung aber auch dieses Wort hörte sich vielversprechend an.

Am Bahnhof erwartete uns ein älterer Herr in einer eigenartigen Kleidung. Schwarze Hosen, die gegen unten sich erweiterten, eine farbige Weste mit goldener Uhrkette und zuoberst ein imposanter Hut.

Ich hoffte gleich, dass dies mein Opa sein würde, und er war es auch.

Er begrüsste mich mit einem kräftigen Händedruck und ich drückte zurück, so kräftig ich nur konnte.

Die Tante Mottenkugel fuhr mit dem nächsten Zug zurück und wir wanderten nach Wiesendangen, ja wir machten einen langen Fussmarsch bis ins Dorf, das weitab vom Bahnhof lag.

Oma war eine grosse, stattliche Frau mit grauen Haaren und feinen Falten im Gesicht und zwei Augen, die so warm blicken konnten. Sie gefiel mir auf den ersten Blick.

Am Abend dann, allein in einem fremden Bett, an einem fremden Ort, in einem Haus das ganz andere Geräusche hatte als das Unsrige, wurde mir dann doch etwas bange und ich begann leise vor mich hin zu weinen. Aber dann spürte ich plötzlich Omas warme Hand, hörte ihre tiefe Stimme, die mir eine Geschichte zu erzählen begann.

Am folgenden Tag fand ich Opa am Stubentisch in seine Zeitung vertieft und fragte mich, was er da sehen mochte in diesen schwarzen Linien. Dann fragte er mich unversehens, scherzhaft, ob ich auch lesen möchte.

Ja, das hätte ich ja noch so gerne getan, aber wie das von sich gehen mochte, das war mir unklar.

Er zeigte mir die Titelseite und sagte, dass die grossgedruckten Wörter, den Namen der Zeitung verrieten, nämlich „Der Landbote“ aber da musste ich ihn gleich korrigieren, denn diese Zeitung war „Delampott“

Dann zeigte er mir den Buchstaben „o“. Ja der schien mir den rechten Namen zu haben, aber da war noch ein kaputtes „O“ ganz hinten. Das sei eben ein „e“ wurde ich belehrt. Ich akzeptierte, denn Grossvater musste es ja wissen, aber ich hätte das „e“ lieber andersherum gehabt. Ich suchte nun ein ganzes Zeitungsblatt ab um noch mehr von diesen o und e zu finden, dabei fand ich ein Wort, es war auf einer Todesanzeige, das hinten und vorne ein O hatte.

Das sei der „OTTO“ wurde ich belehrt, das war einleuchtend, aber die zwei Stangen dazwischen. Das seien zwei T, gleich deren zwei, weil der Otto ein so starker Kerl sei.

Auf diese Weise ungefähr wurde ich in den Zauber der Schrift eingeführt und weil ich eine sehr gute Auffassungsgabe habe, konnte ich nach den zwei Wochen Urlaub bei den Grosseltern schon alles Mögliche entziffern.

Ich war die folgende Zeit völlig versessen auf geschriebene Wörter und sie waren überall.

Da war die „BÄCKEREI TRUNINGER“, etwas schwieriger war das „GASTHAUS ZUM STORCHEN“ aber es wies auf das Storchennest auf dem Kirchturm hin (leider ohne Störche) oder in der Küche war Salz und Zucker, Mehl und Mais angeschrieben. Die Welt hatte für mich eine neue Faszination bereitgestellt.

Beim Abschied am Bahnhof konnte ich dem Opa sogar zeigen, dass da WIESENDANGEN angeschrieben sei, leider nicht ganz richtig. Da sei ein völlig unnötiges „E“, und gleich zwei überflüssige „N“, denn man sage doch WISEDANGE.

Ich habe immer noch das Lachen meines Opas in den Ohren als er sagte: „Na ja, du Besserwisser, du weisst halt noch nicht alles.“

Nach zwei eindrücklichen und glücklichen Wochen musste ich wieder zu meiner Mutter zurückkehren.

Als sie mich am Bahnhof abholte, glaubte ich im ersten Augenblick, es sei die Oma, denn Mutter trug das gleiche schwarze Kopftuch wie Oma. Auch im Gesicht war sie ähnlich, sie war nicht mehr so schwammig wie vorher, ihr Gesicht war hart und scharf gezeichnet und ihr Blick war klar und sicher geworden.

Auch ihre Stimme schien mir verändert.

Dass der Vater nicht mehr hier war merkte ich kaum, ich vermisste ihn nicht.

Aber ich brannte darauf, am folgenden Morgen „meine“ Ida wiederzusehen, denn sie sollte die erste sein, die von meinen Lesekünsten erfuhr.

Sie vernahm die Neuigkeit ohne irgend eine Reaktion zu zeigen. Es interessierte sie nicht.

Ich erklärte ihr, dass ich wisse, dass in jener Büchse auf dem Küchentisch Zucker sei, weil es so angeschrieben sei.

Na ja, das hatte sie auch gewusst, auch ohne lesen zu können.

Sie zeigte auf eine andere Büchse und wollte wissen, was da drin sei.

Ich las ihr so richtig wichtigtuerisch vor: M und das ist ein A und das ein I und zuletzt ein S, also hat es Mais drin.

Da begann sie mich auszulachen und nannte mich einen „Blagöri“, einen Angeber, weil sich nämlich Griess in der Büchse befinde. Sie fand das so lustig und lachte weiter und neckte mich, wegen meiner Leserei, die eh nichts tauge, wenn man Mais von Griess nicht unterscheiden könne.

Ich war so richtig sauer und fühlte mich schwer beleidigt von dieser blöden „Babe“ und schwor mir im Inneren, nie wieder ein Wort an dieses einfältige Ding zu verschwenden. Diese Demütigung erniedrigte mich derart, dass ich etwa eine Woche lang auf mein Honigbrot verzichtete.

Am Samstagabend erschien der Onkel, der eigentliche Besitzer der Schreinerei bei uns und eröffnete uns, dass er mein Vormund sei, also so quasi mein Ersatzvater. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, ich hatte nichts dagegen, denn mein neuer „Vater“ war reich und das konnte zur Abwechslung auch nicht schlecht sein. Meine Mutter hatte vorerst Einwände, aber als er ihr versicherte, sich nicht in meine Erziehung einmischen zu wollen, es sei denn es käme nicht gut, dann könnte sie auf seine Hilfe zählen.

Und in meine Richtung sagte er, dass ich es gut haben werde, wenn ich pariere aber wenn ich Mist bauen täte, dann würde ich in ein Erziehungsheim gesteckt. Aber ich werde schon noch merken, was meine Aufgabe sei, nämlich unsere Schreinerei einst zu übernehmen und das willst du doch?

Ich zuckte nur die Achseln, denn das war wirklich nicht mein Problem.

Da sagte er mit strenger Stimme, dass ich ihm gefälligst antworten solle mit „Ja, oder Nein, Onkel Otto.“

Da war es wieder dieses magische Wort OTTO und ich sagte dem Onkel, dass ich seinen Namen schreiben könne, nahm einen Fetzen Papier vom Tisch und krakelte den Namen OTTO drauf.

Dann erklärte ich ihm, was es auf sich habe mit den zwei T, die nämlich zeigten, dass er ein starker Mann sei.

Der Onkel war sichtlich geschmeichelt und gerührt, aber dann fragte er etwas unwirsch meine Mutter, ob sie mir dieses „Lölizeug“ beibringe. Sie konnte ja nichts wissen und schüttelte verärgert den Kopf.

Aber da hatte ich schon wieder die Initiative ergriffen und fragte meinen Onkel, was das Wort „hört“ bedeute, denn an der Wagenremise unserm Haus gegenüber hing ein graubraunes Plakat mit einem grossen Ohr drauf und quer darüber war geschrieben „Achtung! Feind hört mit!“

Er erklärte mir dann, dass wir anders reden als wir schreiben, wir sagen in unserer Sprache „lose“ aber richtig Deutsch heisse es „hören“. Das war mir etwas zu hoch, aber ich liess es gelten.

Onkel Otto sprach noch eine Weile mit Mutter und, wie ich dem Gespräch hatte entnehmen können, wollte er den Lehrer fragen, ob man mir meine Flausen austreiben solle oder ob man mich fördern müsse.

Die beiden hatten noch einiges zu besprechen als meine Mutter plötzlich auffuhr und schrie: „Der kommt mir gerade Recht, dieser Lindenwirt, dieser verdammte Halunke bekommt jetzt aber etwas von mir zu hören!“

Onkel Otto versuchte sie zu beruhigen aber ohne Erfolg. Schliesslich ging er und sagte beim Abschied, sie solle keinen Blödsinn anstellen.

Am nächsten Morgen zog Mutter ihre „schönen Kleider“ an und auch ich musste mich sauber anziehen. Als die Kirchenglocken zu läuten begannen nahm sie mich bei der Hand und wir gingen mit den andern Kirchgängern Richtung Kirche. Ich war erstaunt, ja sogar fast erschrocken, denn weder sie noch mein Vater haben je die Kirche besucht. Mir ahnte Schlimmes.

Vor der grossen Kirchentreppe machte sie Halt und wartete bis sie im Gedränge den dicken Lindenwirt ausgemacht hatte. Sie steuerte, mit mir an der Hand, direkt auf ihn zu, verstellte ihm dann den Weg und fragte ihn mit überlauter Stimme: „So Lindenwirt, jetzt sagst du mir vor allen Leuten wieviel ich dir schuldig bin.“

Der Dicke stotterte verlegen, das sei doch nicht der Moment … aber meine Mutter blieb hartnäckig vor ihm stehen und wollte, dass er ihr vor all den Leuten Auskunft gebe, denn sie wollte, dass es alle hörten.

Mittlerweile hatte der Wirt sich gefasst und wollte sie beiseiteschieben aber sie wich keinen Schritt zur Seite. Er musste etwas sagen, denn diese Furie war zu allem fähig und so sagte er beschwichtigend: „Na ja, du bist mir eigentlich nichts schuldig „

Hier unterbrach ihn meine Mutter und sagte zu den vielen Leuten die dastanden, sie hätten es alle gehört, dass sie ihm nichts schulde. Aber da fuhr der Lindenwirt weiter und sagte, dass dafür ihr Mann einen mächtigen Schuldenberg zurückgelassen hätte.

Sie erwiderte gereizt lachend, dass er das bitte selber mit ihrem Mann ausrichte, er wisse ja, wo der liege.

Als dann der Lindenwirt zu klagen begann, dass sich die „Leute“ bei ihm besaufen und dann nicht bezahlen wollen, schrie sie ihm ins Gesicht:

„Und du weisst ganz genau wie das geschieht, du lässt sie saufen, ermunterst sie sogar noch mit dem Spruch, dass er anschreiben könne, und dabei weisst du ganz genau, dass sie dann mehr saufen als sie bezahlen können, du verdammter Halunke. Aber der da oben wird dir dann einmal einen Prügel zwischen die Beine knallen. Und jetzt geh da in die Kirche rein, du hast es am nötigsten von uns allen.“

Dann zog sie mich mit sich und wir traten den Heimweg an.

Ich hatte den Vorgang nicht ganz verstanden, aber mir war eines klar geworden, dass meine Mutter eine starke und mutige Frau war und ich war mächtig stolz auf sie.

Dass an jenem Sonntag kein Mensch die Kneipe des Lindenwirts betreten hatte, auch die notorischen Jasser nicht und dass in der folgenden Nacht die „Nachtbuben“, das heisst ein paar junge Leute des Dorfes alle Fenster der Kneipe eingeworfen hatten, vernahm ich erst später von einem, der dabei gewesen war und dabei, als einziger übrigens, ein Schrotkorn in den Oberarm erwischt hatte, weil der Wirt auf die jungen Leute geschossen hatte.

Der „Rössliwirt“ hatte ihr übrigens per Einschreibebrief mitgeteilt, dass er keinerlei Forderungen an sie stellen werde, selbst wenn ihr Mann bei ihm Schulden gehabt hätte, würde er nie der Witwe eines lieben verstorbenen Freundes dafür eine Rechnung stellen, hochachtungsvoll unterzeichnet …

Als sie den Brief gelesen hatte lächelte sie vor sich hin und sagte die geheimnisvollen Worte „Schau, schau.“

Als ich Ida das nächste Mal sah, hatte sie eine speziell grosse Butterstulle auf ihren Knien und man sah, dass auch mit Honig nicht gespart worden war. Agnes, die Magd hatte sogar noch eine Semmel beigelegt „zum Mitnehmen“

Ida hatte auch noch eine Zeitung bei sich und bat mich ihr daraus vorzulesen, aber mit vollem Mund redet man nicht und zudem hatte ich alle Mühe mit dem herabtropfenden Honig fertig zu werden.

Und nach dem Honigbrot hatte ich einfach keine Lust mehr zu lesen (soll sie es doch selber lernen).

Meine Mutter war nun fast jeden Tag weg, aber sie schloss mich nicht mehr im Haus ein, sie liess die Türe geöffnet und ich konnte ein und ausgehen wie ich wollte, aber sie hatte mir auch jeden Tag eine kleine Arbeit übertragen. Ich machte den Abwasch, wischte die Wohnung, durfte hinter dem Haus die Teppiche klopfen und sogar die Treppe fegen, eine wichtige Arbeit, denn „die saubere Treppe ist die Visitenkarte des Hauses“.

Auch in Idas Haus ging ich bald ein und aus wie ein Familienmitglied und wenn Ida eine Arbeit zugewiesen bekam, durfte ich ihr dabei helfen. Schliesslich fragte mich Idas Vater, ob ich mithelfen wolle auf dem Bauernhof. Da ging mir ein Traum in Erfüllung. Ich durfte arbeiten, ich konnte mich nützlich machen.

In den folgenden Jahren lernte ich Kartoffeln sortieren, Obst auflesen, den Kühen Futter in die Krippe geben, Hühnereier waschen für den Verkauf, sogar beim Ausmisten durfte ich mithelfen sobald ich stark genug war. Ich arbeitete viele Jahre an der Seite von Ida oder einem ihrer Brüder und durfte jeden Abend mit der Familie am Abendessen teilnehmen.

Ich hatte ein zweites Zuhause gefunden, eine neue Familie und Ida war mir eine Schwester geworden, mit der ich alle Freuden und Leiden teilen konnte.

In der Schule war ich immer der Klassenbeste und wenn ich dem Otto das Zeugnis zum Unterschreiben brachte, gab er mir jedes Mal einen prächtigen, nagelneuen Fünfliber als Belohnung.

Aber die Schule war auch mein grosses Leiden, weil ich mich irgendwie nicht integrieren konnte. Ich war immer ein Aussenseiter, ich war der Prügelknabe, mir wurden immer die übelsten Streiche gespielt, bei jeder Untat war ich der erste Verdächtige, wenn irgendwo einer im Zimmer laut furzte schlug der Lehrer mich, sei es weil er den Schuldigen nicht finden konnte, sei es der Schuldige war der Sohn eines reichen Bauern. Obschon ich der beste Schüler war mochte der Lehrer mich nicht leiden und er war immer sehr ungerecht mit mir und nie, gar nie kam ein Wort des Lobes oder der Anerkennung für meine Leistungen über seine Lippen.

Gut, meine Mutter hatte deswegen einen Dauerkrach mit ihm, denn wenn sie Ungerechtigkeiten oder Unrecht witterte wurde sie unangenehm. Obschon ich mich hütete mich über den Lehrer zu beklagen, sie vernahm alles irgendwie von irgendwoher und dann war sie nicht mehr zu bremsen. Nicht nur wenn ihrem „Söhnchen“ Unrecht geschah griff sie ein, sondern auch bei anderen Kindern.

Und immer mit der gleichen Methode in aller Öffentlichkeit.

Ihre Wertschätzung im Dorf beruhte vor allem auf der Angst einmal ihr in die Quere zu kommen. Sie fürchtete niemanden und kein Titel oder Reichtum machte ihr Eindruck.

Sie war im Dorf akzeptiert obschon sie eine „Fremde“ war, ihre Eltern stammten aus dem Wallis und dort lebt ein furchtloses und eigenwilliges Völklein, das sich von nichts und niemandem unterkriegen lässt.

Meine Oma sagte mir einmal, dass sie, die Oberwalliser, mit dem Herrgott auf du und du ständen und nur ihn als „Herrn“ anerkennen würden.

Meine innige Beziehung zu Ida war auch ein Grund, der mir viele Prügel und Spöttereien einbrachten, vor allem von zwei Mitschülern, die ihr immer den Hof zu machen versuchten, der „Sonnenhöfler“ und ein Sohn des Bauern vom Eichhof, den wir „Eicheliunder“ (das ist eine Spielkarte im Jass) nannten.

Letzteren hätte sie übrigens später beinahe geheiratet.

Während meiner Schulzeit sorgte ich immer wieder, unbeabsichtigt, für Skandal und Aufregung in unserer bigotten Gesellschaft.

Einmal ging ich mit Ida, nach einem strengen Tag während der Heuernte, auf dem Nachhauseweg in einem Baggersee baden. Wie wir es uns gewohnt waren, zogen wir uns aus und sprangen nackt ins Wasser. Dabei muss uns jemand beobachtet haben, denn am nächsten Tag war schon das ganze Dorf unterrichtet über unser schändliches Tun. Der erste, der uns zur Rede stellte, war der Lehrer. Er wollte genau Bescheid wissen, was wir genau getan hätten. Nun, wir erzählten ihm, dass wir gebadet hätten. Aber er wollte noch mehr wissen.

Aber da war nicht „mehr“ und das Nacktbaden hatte uns nicht gestört, denn wie oft hatte uns Idas Mutter zusammen in die Badewanne gesteckt, wenn wir dreckig waren wie Schweinchen.

Weil er mit uns zwei verstockten Verbrechern nicht weiter kam, verbot er uns unter Androhungen der fürchterlichsten Strafen, je wieder miteinander nackt zu baden.

Wir waren damals sieben Jahre alt.

Als ich, in allem Ernst dem Lehrer sagte, dass man mit den Schuhen an den Füssen gar nicht schwimmen könne, fasste ich eine saftige Ohrfeige mit dem Hinweis, ich hätte ihn ganz gut verstanden.

Ich hatte die Welt nicht verstanden, aber ich hatte schon vorher begriffen, dass man Schläge kriegt, wenn dem Lehrer die Argumente ausgehen.

Zum Abschied hörte ich dann auch noch den altbekannten Refrain: „Wart nur Bürschchen, du landest demnächst im Erziehungsheim.“ Ich kannte den Spruch und machte mir nichts daraus.

In der Folge achteten wir darauf, dass uns niemand beim Baden beobachtete weil wir unsichtbare Badekleider trugen.

Dass ich von den Mitschülern verspottet und verlacht wurde machte mir nichts aus, ich war mich daran gewöhnt, aber wenn sich der Spott gegen Ida richtete, dann schwor ich Rache.

Ich hatte damals viele Racheschwüre aufs Eis legen müssen, denn meine Muskeln beeindruckten niemand, ich war neben den vierschrötigen Bauernjungen ein „spatzenbeiniger Brezelbub“, den niemand ernst nahm.

Aber ich begann damals mit gemeinen und hinterhältigen Racheakten, die mir niemand nachweisen konnte und ich wurde darin mit der Zeit sehr geschickt. Ich konnte Zwietracht säen, Ärger bereiten, Leute blossstellen, sogar den Lehrer ohne dass man merkte, wer der eigentliche Urheber des Übels gewesen war.

Es war das einzige Stratagem, das mir half alle Demütigung und alle Verfolgung der anderen zu ertragen, ich konnte mich wehren, auf meine Art.

In der sechsten Klasse fand ein Schulpfleger, dass ein so helles Köpfchen wie ich es sei, eigentlich ans Gymnasium gehöre, aber da wehrten sich der Lehrer und mein Onkel/Vormund dagegen.

Der Lehrer fand, dass ich wegen meines Herkommens keine Chance hätte an einer höheren Schule und mein Onkel fand es eine ausgemachte Sache, dass ich eine Schreinerlehre mache um seinen Betrieb zu führen, der ja auch der Meinige sei, denn da er kinderlos war, würde ich dann sein Geschäft erben.

Meine Zukunft war gesichert und das zählt schliesslich allein.

In der Sekundarschule wurde ich von Ida getrennt, denn sie hatte die Aufnahmeprüfung nicht bestanden und musste deshalb noch ein Zwischenjahr an der Oberschule absitzen.

Mein Onkel, ich nannte ihn scherzweise „Otto der Starke“, hatte mir befohlen an der Schule den Religionsunterricht zu besuchen, damit ich konfirmiert werden könne und alle meine Ausflüchte und Weigerungen waren wirkungslos. Das gehöre sich nun einmal und es sei schon schlimm genug gewesen, dass mein Vater kein kirchliches Begräbnis bekommen habe und meine Mutter sei auch noch nie in der Kirche gesehen worden, womöglich sei sie sogar eine versteckte Katholikin und so weiter.

Den Hauptgrund, dass er nämlich in den Kirchenrat gewählt werden wollte, erwähnte er freilich nie.

Ich fand es beschissen aber ich gehorchte. Die Geschichte kannte ich schon ein wenig, denn ich hatte mit etwa acht Jahren die Bibel zum zweiten Mal gelesen, aus Mangel an anderer Literatur und war vor allem beeindruckt von der altmodischen aber feierlichen Sprache Zwinglis.

Otto der Starke hätte den Religionslehrern und den Pfarrherren viel Ärger erspart, wenn er nicht darauf bestanden hätte, dass ich bei ihnen ein guter Christ und edler Mensch werde.

Der Herrgott der Juden imponierte mir, das war ein ganzer Kerl mit dem man sich raufen und herumbalgen konnte, aber das ganze Christentheater war mir zuwider. Angefangen von Weihnachten, dem Umsatzhoch des Kleinhandels und dem Fest der kitschigen Lieder, dann dieser arbeitsscheue Typ, dieser Wundermann und billige Jakob der da predigend im Land herumzog und schliesslich war da sein schmählicher Tod mit dem er alle unsere Sünden auf sich genommen habe, bis zu seiner Auferstehung die uns falsche Hoffnung machen soll. Wenn sich dann der Herr Pfarrer ereiferte musste ich oft lächeln, wenn ich mir jetzt meinen Vater vorstellte wie er da oben auf einer Wolke hockt mit einer Flasche Bier um den Hals zu entstauben …

Ich war kein beliebter Gast im Religionsunterricht aber ich ging ziemlich regelmässig hin um den frommen Mann zu ärgern. Das machte mir Spass, denn er verkörperte für mich die heuchlerische Gesellschaft der Braven und der hinterhältigen Schleimscheisser mit ihrer kranken Morallehre und hier hatte ich endlich eine Arena in der ich mich wehren konnte, auch ohne starke Arme und harte Fäuste. Ich war gemein und brutal bei meiner Abrechnung.

Im Konfirmandenunterricht, den auch Ida besuchte, war schon die Rede, dass man mich nicht konfirmieren werde, vor allem, weil ich mich weigerte, öffentlich ein Glaubensbekenntnis abzulegen. Ich glaubte weder an diese Kirche noch an die Auferstehung und die Kirche hätte mich so nicht in ihrem Schoss aufnehmen dürfen, aber sie war grosszügig und fand ein Hintertürchen. Statt einzeln das Glaubensbekenntnis abzulegen, wurde es vom Pfarrer vorgelesen und wir mussten im Chor „Ja“ sagen, ein einzelnes „Nein“ würde niemand hören. Das war mir eigentlich alles egal, wichtig war ja lediglich, dass Onkel Otto in den Kirchenrat gewählt wurde. Und siehe da, also geschah es auch.

Das einzig Schöne am Konfirmandenunterricht war, dass Ida auch dabei war und wir nach der Stunde, gemeinsam nach Hause gingen. Es machte mir Freude neben Ida, diesem hübschen Mädchen zu gehen, die so etwas wie meine Schwester gewesen war und nun plötzlich ein fremdes, geheimnisvolles Wesen geworden war. Wenn sich beim Nebeneinandergehen unsere Hände zufällig berührten, stieg eine angenehme Wärme in mir auf und führte dazu, dass sich die Zufälle mehrten und schliesslich kam der Abend, an dem sie meine Hand fasste und nicht mehr los liess bis wir vor ihrem Haus standen.

Ich war im siebten Himmel, ich war von Glück und einer seltsamen Freude durchdrungen, die mir neu war.

Umso schlimmer war dann für mich die Enttäuschung und der Absturz in die Höllengründe meiner Seele, als sie am nächsten Unterrichtsabend unter den Regenschirm des „Eicheliunder“ schlüpfte, ihn lachend am Arm nahm und sich von ihm nach Hause begleiten liess.

Nun es mochte ja nichts Ernsthaftes sein zwischen den Beiden, sie besuchten die gleiche Schule, gleiche Klasse und dass es ausgerechnet an diesem Abend regnen musste und ich keinen Schirm bei mir hatte, konnte ich von ihr nicht verlangen, dass sie an meiner Seite im strömenden Regen sich durchnässen liess.

Ich spazierte langsam nach Hause voller trüber Gedanken, die ich nicht einordnen konnte.. Ich fühlte mich krank und elend, mit wachsendem Selbstbedauern als ich spürte wie das Wasser durch mein Hemd drang und an meinem Körper herunterrieselte.

Dass ich die beiden beobachten musste, etwa drei Tage später, wie sie auf ihren Velos von der Schule kamen, eifrig diskutierend und lachend, das erfüllte mich mit Wut und Trauer. Ich glaubte, noch Stunden später ihr fröhliches und glückliches Lachen zu hören.

Schon in den ersten Tagen in der Sekundarschule fiel mir ein Schüler auf, der mir wohl den Platz als Klassenbester streitig machen würde. Er war ein ruhiger, keineswegs arroganter Typ, der sich bewusst zu sein schien, dass er nichts dafür konnte, dass er so gescheit war. Bei mir hatte sich in der letzten Zeit eine Tendenz bemerkbar gemacht, vor allem gegen das Ende der Primarschulzeit, dem Lehrer zu beweisen, dass er nicht allwissend war. Wehe er machte einen Fehler auf der Wandtafel oder einen Versprecher. Dann wurde er gleich von mir korrigiert und zwar auf eine Art, die ihn ins Lächerliche zog. Und die Mitschüler, eine Bande von Halbwilden und Holzköpfen spielte mit, indem alle lauthals zu lachen begannen und so den Lehrer richtig zur Sau machten. Ich genoss diese Augenblicke der Rache. Rache, wofür denn eigentlich?

Dass er mich nicht ans Gymnasium lassen wollte? Eigentlich störte mich das wenig. Dass er mich die ganze Schulzeit ungerecht, oft sadistisch und bösartig behandelt hatte? Ich weiss es nicht.

Mindestens drei Mal brachte ich den alten Mann zum Heulen, man sah die Tränen glänzen unter seiner grossen Brille, seine Stimme wurde leiser, rauer und schliesslich begann er zu husten und sich zu räuspern.

Meist verliess er an dieser Stelle das Zimmer fluchtartig unter dem Gebrüll der Wilden oder er haute mir eine runter, dass es klatschte. Auch diese Entgleisung war ein Triumph für mich und ich sonnte mich in der Woge der Bewunderung der Mitschüler.

Aber mir war nicht wohl dabei. Innerlich heulte ich vor Verzweiflung und ich schämte mich in Wirklichkeit in Grund und Boden. Was war ich denn für ein elender Mistkerl wie ich mit dem alten Mann (er war 65) umging.

Aber sobald er mir wieder Gelegenheit bot, machte ich ihn aufs Neue fertig. Er möge mir verzeihen, aber ihn damals um Verzeihung zu bitten wäre mir niemals eingefallen.

Damit ich ein bisschen unter die Leute komme (statt immer nur zu lesen) empfahl mir mein Onkel einer Jugendorganisation beizutreten, zum Beispiel bei den Pfadfindern.

Ich fand das toll und fragte gleich bei der „Pfadi“ an. So probehalber durfte ich dann dort mitmachen und ich fand vieles sehr spannend, vor allem das echt Pfadfinderische. Ich gab mir grosse Mühe mich einzupassen aber irgendwie war mir das Militärische, das in jenen Nachkriegsjahren noch im Zentrum stand richtig zuwider, diese Hierarchien, die was weiss ich wie begründet waren, dieser Kasernenhofton und diese Art von Freundschaft, die da gepflegt wurde, passten mir nicht. Zudem merkte ich, dass auch hier ein Klassendenken, ein Klassenvorurteil herrschte, der mich meiner Herkunft wegen ausschloss. Ich war grossmütig geduldet aber man liess mich merken, dass ich eigentlich nicht zu ihnen gehörte.

Der Turnverein hatte kein grosses Interesse an mir, zum Glück, denn gewisse Turngeräte, wie zum Beispiel der „Bock“ und der „Barren“ bereiten mir heute noch Angst und Unbehagen.

Bei den Jungschützen war ich mit Vaters Armeekarabiner nicht unbedingt eine Medaillenhoffnung, da ich immer beim Abdrücken die Augen schliesse, das hängt bei mir irgendwie zusammen ist aber der Treffsicherheit im Wege.

Da war noch die „Junge Kirche“ bei der Ida mitmachte. Sie versuchte mich immer wieder für diesen Verein anzuwerben, aber da war mein Vorurteil stärker. Ich hasste schon im Konfirmandenunterricht diese endlosen und sinnlosen Diskussionen über irgend eine Bibelstelle und da war es mir unvorstellbar dieses zweifelhafte Vergnügen zu meiner Freizeitbeschäftigung zu machen.

Als ich einmal mit Paul, meinem neuen Freund über dieses Problem sprach, meinte er, dass er das Richtige für mich wüsste, nämlich die Gruppe der „roten Pioniere“.

Ich musste gestehen, dass ich von der Existenz dieser politischen Gruppe noch nie etwas gehört hatte, aber es interessierte mich.

Von Politik war zuhause eigentlich nie die Rede. Meine Mutter vertrat die Armen, die Unterprivilegierten und die einfachen Arbeiter und sie hasste und verachtete die reichen Bauern, die Fabrikherren und die Unternehmer vom Typ des Onkels. Aber da die Frauen damals in der Schweiz kein Mitspracherecht hatten interessierte sie sich nicht für den Politkram.

Onkel Otto war einer der Unternehmer, der sich nur für den Profit interessierte. Die Arbeiter hatten gute Arbeit zu leisten, das Maul zu halten und mit dem Lohn zufrieden zu sein. Wer anderer Meinung war, wurde gefeuert. Da er sehr schlechte Löhne bezahlte, hatte er auch entsprechend schlechte Arbeiter, das heisst, dass ausser dem Vorarbeiter niemand vom Fach war. Um die Rendite möglichst gross zu halten, waren seine Forderungen an die Kunden meist übertrieben hoch. Er nannte das stolz: „Meine liberale Haltung.“

Dass so eine Firma keine grosse Überlebenschance hat, war sogar mir klar, aber mein Onkel schwamm immer obenauf (mit seinem Leibesumfang erklärbar).

Er bekam vor allem die Aufträge der öffentlichen Hand, also von Kirche, Gemeinde und Schule, da er politisch am rechten Ort war, bei der „Bauern und Gewerbepartei“, die in der Gemeinde das Sagen hatte. Von „Liberalismus“ war da wohl kaum die Rede.

Er sass im Gemeinderat, im Kirchenrat und in der Schulpflege und hatte zudem überall auch noch seine Spezialfreunde, die er mit guten Worten, mit Geschenken und vor allem mit Erpressung auf seine Seite zu bringen wusste, wenn es nötig war.

Er war gewissermassen einer der ganz Grossen im Dorf neben den grossen Bauernfürsten. Er beeinflusste die politische Wetterlage im Dorf, die Lehrerwahl, das Armenwesen, die Beamtenlöhne, das Steueramt und kontrollierte auf seine Art die Gemeindekasse.

Seine Frau war sein Aushängeschild, eine stattliche (dicke) Frau, gut (teuer) gekleidet und immer mit irgendetwas Glitzerigem behängt (Perlenkette, goldener Armreif, goldene Ohrringe mit Diamanten, schwere, plumpe Fingerringe, die ihre dicken Wurstfinger so richtig zur Geltung brachten.

Ich nannte sie damals „Onkel Ottos glitzernder Weihnachtsbaum“, was sie mir sehr übel nahm, weil ich es im Dorf in Umlauf gebracht hatte und sie nun, hinter ihrem Rücken „Ottos Weihnachtsbaum“ genannt wurde. Sie machte auch sonst auf „Vornehm“. In ihrer Wohnung stapelte sie glitzernden Kitsch in rauen Mengen, als ob sie eine Elster wäre.

Ihrem Stand entsprechend begann sie sich auch einer gepflegten Redeweise zu befleissigen, gespickt mit Fremdwörtern die sie sehr fremdartig verwenden konnte. Zu ihrem Glück war sie so dumm und einfältig, dass sie nicht merkte, dass sich alle über sie lustig machten.

Wie man wohl merkt, war sie nicht meine Freundin, die Antipathie war gegenseitig.

Als der Onkel erfahren hatte, dass ich mit den „Roten“ verkehre, wohl gar schon einer der ihren sei, zitierte er mich in seine Wohnung wo ich eine Lektion in Staats – und Bürgerkunde erhielt, die sich gewaschen hatte.

Er begann gleich einmal mit Drohungen, sprach vom mich enterben (er hatte keine Kinder mit dem Christbaum), mich in den Knast zu bringen, mich aus der Gemeinde ausweisen zu lassen samt meiner Mutter, die mich zum roten Halunken gemacht habe. Dann kam eine detaillierte Aufzählung der Gräueltaten der Roten von Julius Cäsar, über Blum und Liebknecht (der seiner Meinung nach den deutschen Reichstag abgefackelt hatte) bis zu einem amtierenden sozialdemokratischen Bundesrat und Stalin. Alle dieselben Schweine und Mörder und Landesverräter.

Als ich ihn hier unterbrach und ihm empfahl einmal mit Hilfe eines Geschichtsbuches seine Irrtümer zu korrigieren, wollte er auf mich losgehen, besann sich aber einen Augenblick lang und schmetterte dann voller Wut eine Porzellanfigur zu Boden.

Als er dann die Tonart wechselte und mir einen salbungsvollen Vortrag hielt, was er und was die Welt und was mein verstorbener Vater von mir erwarteten, nämlich, dass ich mit ehrlicher Arbeit und guter, patriotischer Gesinnung ein angesehener Bürger des Ortes werde und einst diesen Betrieb wieder zum Florieren bringe …

… damit du dich weiterhin daran bereichern kannst … unterbrach ich ihn.

Nun wurde ich ein saufrecher Rotzbengel genannt, der keine Ehrfurcht und keinen Anstand besitze.

Dabei ging der zweite Porzellanzwerg in Scherben.

Jetzt wurde er plötzlich leise und meinte, ich sei offensichtlich von dieser roten Brut bereits verdorben und gegen ihn aufgehetzt worden, aber er werde dafür sorgen, dass dieses Übel mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde. In unserer Gemeinde sei kein Platz für dieses Gesindel, da werde er dafür sorgen. Da müsse endlich die Kantonspolizei her oder das Militär und mit eisernem Besen ausmisten, diesen Austernstall.

„Augiasstall“ korrigierte ich ihn und brachte ihn aus dem Konzept.

Eine Porzellangruppe flog an die Wand und brach in zwei Stücke, statt in tausend Scherben zu zerspringen. Er stutzte einen Moment und ich sagte ihm: „Steingut aus Langenthal und kein Porzellan aus Meissen, nicht schade drum.“

Jetzt war auch der starke Otto am Ende und er sagte in friedlichem Ton: „Ach du verdammter Klugscheisser hast doch immer das letzte Wort. Aber jetzt hol einen Besen und eine Schaufel und wisch diese Scherben weg. Das Scheisszeugs hält auch gar nichts aus. Aber schau, dass kein Splitter übrig bleibt, der Christbaum würde es uns sonst noch übelnehmen.“

Beim Wort Christbaum fielen wir beide in ein schallendes Gelächter und dann meinte er: „Komm, wir trinken noch ein kühles Bierchen zusammen.“

„Gerne, aber noch bevor die Weihnachtszeit anbricht“ …

Er verbot mir nun einfach und rundweg mit diesen Leuten Umgang zu haben und ich erklärte ihm ebenso bestimmt, dass ich mich nicht daran halten werde, möge er noch so viele Porzellanungeheuer zersch(Meissen). Ich wisse was ich tue und werde auch selber die Verantwortung dafür tragen, was auch immer draus werden möge.

Er schaute mich an, gab mir die Hand und sagte: „Das mag ich, das ist ein Wort eines Mannes, und nun das kühle Bier und die Friedenszigarre.“

Dabei kramte er aus seiner Zigarrenschachtel zwei dicke Havannas und zeigte mir, wie man die Dinger präpariert vor dem Anzünden, wie man den Prügel vorsichtig aber bestimmt in Brand steckt und wie man den Rauch in den Mund zieht und ihn geniesst wie eine gute Speise.

Wir hatten während der Schulzeit immer wieder im Versteckten geraucht um uns auf unser Männerdasein vorzubereiten aber dies war meine erste Zigarre kurz vor meinem Schulabschluss und sollte nicht die letzte sein, aber es war das einzige Mal, dass ich nach dem Hochgenuss kotzen musste wie ein Gerberhund und mit rasendem Puls nach Luft schnappte (im Geheimen natürlich)

Während der Sekundarschulzeit war mir Ida langsam und unmerklich entglitten. Sie war nicht in meiner Klasse und ich zog anderen Umgang vor. Das war vor allem Paul und später auch sein Vater Alfred mit seiner Riesenbibliothek mit Büchern über die Arbeiterbewegung, über die Weltkriege, vor allem über den ersten, denn der zweite war ja kaum recht vorbei und über den Spanienkrieg. Da waren Bücher und Schriften von Marx, Engels, Lenin, Rosa von Luxemburg, von Platten, und dann vieles über die russische Revolution und über Russland im Allgemeinen.

Unter der kundigen Hand von Alfred las ich mich in diese Literatur ein und nach jedem Buch diskutierte er mit mir darüber. Es war eine faszinierende Welt und Alfred war ein faszinierender Mann.

Wenn er erzählte, dann konnte man nur gebannt zuhören.

Er hatte im Spanienkrieg gekämpft, war vorher in der Sowjetunion ein Politkommissar in der Roten Armee, seine Frau, Pauls Mutter war Parteivorsitzende gewesen in einem Gebiet an der Wolga, bis sie in einer der brutalen Säuberungen unter Stalin ermordet wurde.

Jetzt war Alfred, ein gelernter Tischler, der Vorsitzende der Gewerkschaft Bau und Holz und kämpfte für die Rechte der Arbeiter und Arbeiterinnen im Baugewerbe.

Ich hatte bald einmal begriffen, dass ich da mitten im (roten) Wespennest der Schweizer Politik sass.

Meine Berufswahl, die gar keine Wahl war, wurde nie in Frage gestellt oder diskutiert, denn alle anderen waren sich einig, dass ich den Beruf meines verstorbenen Vaters ergreifen werde und einst seine ehemalige Schreinerei leiten werde bis mein Onkel das Ruder aus der Hand gab. Ich war mit alledem nicht einverstanden, ich wollte nicht Bauschreiner werden, ich wollte einen intellektuellen Beruf erlernen, ich wollte studieren ich wollte … aber ich hatte nichts zu wollen, denn die letzte Entscheidung lag bei meinem Vormund, Onkel Otto. Ich musste mich ins Schicksal ergeben, wenigsten solange, bis ich volljährig war, bis ich 20 Jahre alt war.

Dass Paul studieren werde war nie in Frage gestellt worden und ich gönnte es ihm auch, er war wirklich ein kluges Köpfchen, aber da waren andere Mitschüler, zum Teil echte Dummköpfe, die sich schon als Lehrer oder Ingenieur sahen. Dass ich denen einst ihre neue Küche in ihrer Villa einbauen sollte, den Fussboden legen in ihrem Tessiner Ferienhaus das machte mich nachdenklich. War die Welt so ungerecht?

Andererseits war mir klar, dass man auch in Zukunft gute Handwerker brauchen würde, tüchtige Kleinunternehmer, ideenreiche Tüftler und Erfinder. Zudem liebte ich den Umgang mit Holz.

Meine Mutter meinte, dass ich mit „meinem“ Betrieb doch schon eine solide Grundlage habe, aber das Geschäft gehörte meinem Onkel, einem angeberischen und äusserst verschwenderischen Typ, in den ich nun mal kein Vertrauen hatte. Oder sollte ich ihn jahrelang mästen und vor ihm kriechen, bis er mir den Betrieb überliess? Er würde nie abgeben, nicht bevor er unter dem Rasen lag und das konnte noch lange dauern.

Sollte ich dann auch noch für die Lametta seines Christbaums aufkommen?

Ich beschloss, eine Lehrstelle anzutreten und zwar eine, die ich mir selber ausgesucht hatte und würde mich dort einsetzen und mein Bestes geben.

Mit Ida lief es nicht so rund während meiner

Sekundarschulzeit. Obschon ich das Mädchen sehr gut mochte, obschon wir uns oft trafen und obschon ich sehr gerne mit ihr zusammen war, hatte ich sie richtiggehend vernachlässigt. Von meinen politischen Ideen und auch von meinen Ansichten des Lebens hielt sie nicht viel, da schwieg ich mich besser aus, aber ihre Probleme mit „Tanzkurs besuchen im Rahmen der Jungen Kirche“ oder einer „Rezeptsammlung der Oma“ oder dem Dorfklatsch und dem „Wer mit wem“ langweilten mich richtiggehend. Am meisten störte mich aber, wenn sie erzählte, was der Eicheliunder oder der Sonnenhöfler gesagt oder getan hatten, dann kam in mir eine Welle der Eifersucht hoch, was zur Folge hatte, dass ich, anstatt um sie zu werben, sie stehen liess. Sie hatte mein Ego beleidigt.

Nach dem (fast hätte ich gesagt „Abbüssen“) Absitzen meiner Schulpflicht begann ich meine Lehre bei einem Schreiner in F. etwa 30 Kilometer von zuhause weg. Der Lehrmeister war ein junger Typ, ruhig und fachlich kompetent und wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Otto der Starke konnte nichts dagegen haben, ich war in guten Händen.

Um die lange Anfahrt zu bewältigen kaufte ich mir ein echtes Rennrad der Marke „Tebag“, damals ein Kultobjekt weil der grosse Rennfahrer Ferdi Kübler mit einem solchen Rad von Sieg zu Sieg fuhr.

Die Lehrzeit war eine glückliche Zeit. Ich konnte mein handwerkliches Geschick einbringen und wirklich viel lernen, sei es als Bauschreiner oder als Möbelschreiner. Da mein Meister auch noch ein bekannter Restaurateur antiker Möbel war, erschloss sich mir ein neues und sehr interessantes Fachgebiet.

Ida besuchte eine Bäuerinnenschule in einem Schloss, ganz in der Nähe meines Lehrplatzes und manchmal kam sie am Samstagmittag dort vorbei und wir radelten gemeinsam nach Hause. Sie hatte immer viel zu erzählen von ihrer Arbeit, von den Kolleginnen, von den Lehrerinnen und dem alten Spukschloss in dem die Schule untergebracht war. Ich genoss es neben ihr zu fahren und ihre Stimme zu hören und fragte mich damals oft, ob ich sie liebte.

Ich wusste es nicht. Sie war mir mit ihrem Wesen und Dasein, sogar mit ihrem Körper so nah, dass mir immer ganz warm wurde, aber sie war doch so etwas wie meine Schwester und die begehrt man nicht zur Frau. Warum denn? Weil man sie so gut kennt?

Am Samstag vor der Kirchweih im Dorf fragte sie mich, ob ich sie zum Fest einlade, oder wenigstens zum Tanz. Da ich die darauffolgende Woche Ferien hatte, konnte ich mir eine durchtanzte Nacht gut leisten und willigte ein, mit dem Vorbehalt, dass ich ein gnadenlos schlechter Tänzer und Unterhalter sei, aber sie könne ja zum Tanz mit mir die Stallstiefel anziehen um ihre Zehen zu schonen.

Kirchweih begann immer am Sonntag nach der Predigt, mit Karussell, Schiffschaukel, Schiessbude und Verkaufsständen mit Magenbrot, gebrannten Mandeln, Zuckerwatte und Eiswaffeln im Angebot.

Vor dem Rössli, der Dorfkneipe war eine grosse Gartenwirtschaft und daneben war eine Tanzbühne aufgebaut. Der Nachmittag war den Kindern und den „Fremden“, den Schaulustigen aus andern Dörfern zugedacht. Nach dem „Betzeitläuten“ der Kirche, also nach etwa sechs Uhr, hatten die Kinder nichts mehr zu suchen auf dem Platz. In der Gartenwirtschaft wurde nun gebraten und gebrutzelt, bis niemand mehr den feinen Bratendüften widerstehen konnte. Nach dem Abendessen stellte man sich vom Bier auf den Wein um, denn der „Boden“ war belegt. Um etwa acht Uhr kam dann die Musik und die Jugend strömte herbei, die jungen Paare, die sich kürzlich gefunden hatten und dann kamen die vielen, die hofften an diesem Abend die oder den Richtigen zu finden. Die Mädchen kamen immer in schnatternden und kichernden Gruppen an, die Burschen allein oder zu zweit, alle die rauen Hände tief in den Hosentaschen geborgen.

Den Tanz eröffneten die jungen Paare, die erstmal in dieser Formation auftraten und dann kamen nach und nach die Tänzer, die den Mut aufgebracht hatten, ein bekanntes oder sogar unbekanntes Mädchen zum Tanz zu bitten. In der Gartenwirtschaft wurde das ganze Tun genauestens beobachtet und dann wurde gewerweisst, gehofft, gebangt und mancher Ärger mit einem tüchtigen Schluck Wein hinuntergespült.

Gegen Mitternacht verliessen dann die alten Auguren die Gartenwirtschaft und schwankten, meist gestützt von der lieben Gattin, die noch etwas nüchterner war, dem heimischen Herd und Bett zu.

Nach Mitternacht waren die Jungen unter sich. Das heisst die festen und halbfesten Paare gingen dann meist zusammen „Luft schnappen“ in dunkeln Ecken oder in den Baumgärten hinter dem Dorf.

Ich wollte eigentlich Ida nach Hause begleiten um jene Zeit, aber sie bat mich, noch etwas zu bleiben, also blieb ich, aber mit ungutem Gefühl.

Schon vorher hatten sich der Sonnenhöfler und der Eicheliunder immer wieder an Ida herangemacht und sie zum Tanz aufgefordert und sie tanzte mal mit dem einen mal mit dem anderen, aber die beiden wurden immer aufdringlicher und als Ida den beiden mitteilte, dass sie eigentlich mit mir da sei und auch einmal mit mir tanzen möchte, da sah ich in den Augen der beiden ein gefährliches bösartiges Feuer aufflackern.

Sie begannen auch gleich mich zu provozieren und vor Ida herunterzumachen, „diesen Holzwurm, der wohl nur zwei Holzkühe im Stall habe und sein Brot aus Sägemehl mache.“

Ich lachte mit und dann zog ich Ida zur Tanzfläche und versuchte mich mit einer Polka, die ganz leidlich über die Bühne ging, dank der führenden Hand meiner Partnerin.

Als wir an unsern Tisch zurückkamen , hatten sich die beiden bereits häuslich niedergelassen, hatten Wein und kalten Braten für alle bestellt und versuchten das Heft in ihre Hand zu bekommen.

Schon beim nächsten Tanz sagte der Sonnenhöfler zu mir, dass er mich ja eigentlich nicht um Erlaubnis bitten müsse, denn ich sei ja noch nicht Idas Verlobter und dann zog er das Mädchen ziemlich derb mit sich auf die Bühne. Ich nickte Ida zwinkernd zu und liess die beiden gehen.

Ich hatte begriffen, dass die zwei sich abgesprochen hatten mir Ida auszuspannen und mich zu zweit gnadenlos zu verdreschen, damit ich sie laufen lasse.

Nun allein mit dem anderen, begann ich den gegen den Sonnenhöfler aufzuhetzen und setzte ihm manchen Floh ins Ohr, der ihn kränkte oder schwer beleidigte.

Als Ida zurück war stürmte der Eicheliunder mit ihr auf die Tanzfläche, weil ich ihm verraten hatte, dass Ida ihn ganz gut möge und immer gut von ihm gesprochen habe.

Ich nahm nun den anderen in die Kur, verschlang dabei noch die zweite Hälfte des Bratens und verleitete den schmucken Bauernsohn zum Trinken. Dazu erzählte ich ihm allerlei über seinen sauberen Freund und brachte ihn so allmählich in Fahrt.

Bevor der Tanz vorbei war, kamen die zwei Tänzer zurück. Der Bursche etwas verlegen und mit einer eindeutigen Marke von Idas Hand im Gesicht.

Idas Augen leuchteten verräterisch, sie hatte meinen Plan durchschaut und unterstützte ihn.

Wir liessen noch zwei Tänze lang unser Spiel laufen als der Sonnenhöfler mitten im Tanz herbeistürmte und über seinen Freund herfiel.

Ich nahm Ida an der Hand und wir verliessen fluchtartig die Szene, denn nun begann die eigentliche grosse Kirchweihschlägerei, in der jeder gegen jeden kämpft und am Ende keiner als Sieger dasteht, aber jeder mit einem deutlichen Zeichen seiner Teilnahme am grossen Krieg nach Hause wankt.

Am Montagmorgen wurden dann die Beulen gepflegt, der Arzt nähte die Schrammen und Risse, die allzu sichtbar gewesen wären, Hausmittel und Hexensalben fanden reichliche Anwendung. Einige etwas weniger lädierte Kämpfer halfen dem Rössliwirt den Kampfplatz aufzuräumen, denn am Abend gehörte die Tanzfläche ausschliesslich der einheimischen Bevölkerung auch in der Gartenwirtschaft wurden kein Fremder geduldet. Wer da Rang und Namen hatte, musste dabei sein und so seine Volksverbundenheit demonstrieren, der Pfarrer, der Arzt und auch der Lehrer wurden da erwartet, aber auch der Gemeindeschreiber und der Gemeindepräsident durften nicht fehlen, wenn sie im Amt bleiben wollten.

Auf der Tanzfläche waren eigentlich nur verheiratete Paare, ausser denjenigen jungen Pärchen, die in der nächsten Zeit ihr Aufgebot bestellten.

Da ich noch Ferien hatte, fragte ich Ida, ob ich sie zum „Montagstanz“ einladen dürfe. Sie schaute mir lange in die Augen und meinte dann, wir sollten vielleicht noch ein paar Jährchen warten, wir seien ja beide noch „Stifte“, also Lehrlinge, zudem habe sie keine Ferien mehr am Montag. Ich gab mich fürs Erste geschlagen und las an jenem Abend einen Roman von Dostojewski.

Ich war schon im dritten Lehrjahr, als mich mein Onkel an einem Samstagnachmittag aufsuchte.

Da musste etwas Wichtiges im Gange sein, dass er zu mir kam, statt wie üblich mich herzubestellen.

Er war (wieder einmal) in der Klemme, weil seine Sekretärin Knall auf Fall gekündigt hatte, einfach so, unverständlicherweise …

„Du wirst ihr an die Wäsche gegangen sein, wie üblich“ meinte ich trocken.

Er sagte nur, dass wir schliesslich Männer seien und die Weiber sollten nicht so zickig tun und überhaupt sei ja nichts geschehen und mit einer alten Klapperschlange sei er übrigens noch nie ins Bett gegangen.

Ich fand, er sei so oder so ein alter Schweinigel und ob ich ihn jetzt vielleicht beim Christbäumchen herausreden solle, ob er ein Alibi brauche.

Erschrocken meinte er, die Alte brauche doch von der Entlassung nichts zu wissen, die würde sonst noch auf weiss ich was für welche blöden Gedanken kommen und die hätte gar so schwache Nerven.

„Dann habt ihr also schon den ganzen Schmeissener Porzellan zerschmissen? , fragte ich ihn grinsend.

Nein er wollte mich nur anfragen ob ich übers Wochenende ihm helfen könnte ein paar Briefe zu schreiben und ein paar Rechnungen und vielleicht noch die Offerte für die Arbeiten am Kindergarten durchzulesen.

Ich hatte wirklich nichts vor an diesem Wochenende weil Ida an einer Wanderung mit ihrer „Jungen Kirche“ teilnahm und ich nicht mitgehen wollte, also willigte ich ein.

„Gut, aber vorerst müssen wir die Bezahlung regeln,“ erklärte ich ihm.

„Bezahlung?“ rief er sichtlich entrüstet, „schliesslich wird es ja einmal deine Firma sein, da kannst du es machen wie ich, nämlich gratis Überstunden.“

„Und dann mache ich es wie du, bevor du ins Casino von Konstanz gehst, ich greife einmal tief in die Geschäftskasse.“

Otto erbleichte und fragte mich, wer mir das gesagt habe, was ich da flunkere, wie ich …dann schwieg er und sagte: „Also was verlangst du?“

Briefe abtippen 2 Franken der Bogen, Briefe aufsetzen und tippen 5 Franken, Rechnungen schreiben auch 5 und die Offerte für den Kindergarten „schnell“ durchlesen und überarbeiten 50 Franken.

„Bist du wahnsinnig?“ schrie er mit hochrotem Kopf und dann begann er über meine Geldgier zu schimpfen.

„Lieber Otto, ich will nur was mir zusteht und du weisst dass ich sogar unter dem Tarif geblieben bin, aber wenn du einen andern Schafskopf findest, der das für dich macht, bitte sehr, ich dränge mich nicht vor,“

Ich gab ihm noch den Rat, wieder eine Sekretärin anzuschaffen, das käme billiger, aber er solle diesmal eine siebzigjährige, triefäugige Hexe anheuern oder ein Strichmädchen.

Ich erhielt natürlich das Geld (Vorauszahlung) und erledigte die Arbeit in der Nacht zum Sonntag.

Die neue Sekretärin war auch bald da, wie ich ihm empfohlen hatte … aber es war keine Oma und auch keine alte , giftige Klapperschlange, es war eine verdammt hübsche und adrette Person.

Es war Rosa, eine ehemalige Verkäuferin im Coop, die, so sagte man, in ihrer Wohnung häufig geheimnisvolle Männerbesuche empfange, Champagner inbegriffen. Aber Rosa hatte keine „Kunden“ oder gar Freier, sie hatte nur gute Freunde und zwar alles handverlesene. Ihre Freunde hatten keine Namen aber hohe Stellungen in der Gesellschaft in welcher Rosa einen denkbar schlechten Ruf hatte. Aber sie machte sich nichts draus und sie sagte mir später einmal, dass sie weder Gott noch den Teufel fürchte, die Menschen schon gar nicht.

Da stand sie vor mir, die Rosa. Eine junge äusserst hübsche Frau mit offenem Wesen. Man konnte ihr grade in ihre dunklen Augen schauen, sie hielt dem Blick stand, und sie erwiderte den Händedruck mit einem gewinnenden Lächeln begleitet. Das sollte dieser schändliche Vampir von der Bahnhofstrasse in Effretikon sein?

Ich musste ihr am folgenden Samstagnachmittag „das Büro übergeben“, weil ich eine Ahnung hatte, wo was gelagert oder abgelegt wurde und mich im Betrieb ein wenig auskannte. Otto liess sich offenbar verleugnen, aber wie ich schon gemerkt hatte, war er in „unserem“ Betrieb gar nicht heimisch, denn das Geschäftliche war Sache der Sekretärin, der Betrieb war Sache des Vorarbeiters und Otto war der grosse Boss.

Rosa war entsetzt und fragte mich, ob denn sowas funktioniere. Scheinbar doch. Sie schien eine kluge Frau zu sein und in Geschäftssachen gar nicht so unbedarft, wie sie sich anfänglich gegeben hatte.

Ich wollte sie auch noch auf ihren neuen Chef und seinen stinkfingerischen Charakter aufmerksam machen, da lachte sie und sagte, dass sie den nur allzu gut kenne, denn der sei doch ein alter Freund von ihr. „Bei meinem Geschäft lernt man die Menschen gut kennen, denn ein nackter Mensch kann nichts verbergen, nicht einmal seine jämmerliche Gestalt.“

Ich war entsetzt, wie sie über diese Dinge sprechen konnte, so frei und offen, ohne Scham.

Noch fünf Minuten früher hätte ich geschworen, dass diese junge Frau noch Jungfrau sei, aber als ich sie anschaute musste ich über meine Naivität lächeln. War ich denn auch so konservativ, so voreingenommen und so verlogen wie die ganze Gesellschaft hier?

Nach ein paar Stunden des Zusammenseins war schon so etwas wie Freundschaft zwischen uns, wir verstanden uns wie alte Weggefährten, ja mir schien, ich hätte Rosa schon immer gekannt, obschon sie etwa sechs oder sieben Jahre älter sein musste als ich. (es waren sogar mehr als 10)

Auch der Chef staunte über unsere Vertrautheit als er hereinplatzte, in der Art des immer beschäftigten eifrigen Geschäftsmannes, immer auf Draht, immer in Eile, denn Zeit ist Geld.

Otto schnupperte im Büro herum und hätte sich offensichtlich gerne etwas aufgespielt und dem Fräulein Winkler etwas vorgespielt, und falls sie noch ein Problem hätte so würde er gerne zur Verfügung stehen.

„Rosa, ich glaube er will dir noch die Kaffeemaschine erklären, aber da muss jetzt eine neue her, eine, die auch wirklich Kaffee macht. Übrigens ist die Flasche mit dem Schnaps für den Chefkaffee hinter jenen Ordnern.“ …

Er tat erstaunt und etwas beleidigt, dass wir schon per „du“ waren, aber ich sagte ihm, dass wir da „unten“ fest zusammenhalten müssten gegen die da „oben“.

Rosa lachte ihr helles Lachen und Otto knurrte: „Lass dich nicht einwickeln von dem verdammten Klugscheisser da.“

Da fragte ich ihn, ob er auch schon per „du“ wäre mit der Neuen, das sei sonst aber nicht Sitte bei uns.

Manchmal kam Rosa zu mir herüber nach Feierabend weil sie irgendwelche Probleme hatte und an Problemen mangelte es nicht. Eine ordentliche Buchführung existierte nicht, es fehlten Belege, Abrechnungen, Quittungen und vor allem die Kasse stimmte nie. Wenn Rosa dem Chef eine Bemerkung machte, so tröstete er sie damit, dass die nötigen Papiere im Tresor seien, er hatte aber nur die Schlüssel nie bei sich oder er hatte den Code vergessen oder er war wie immer in Eile.

Als sie mir das Übel klagte, beschlossen wir am nächsten Wochenende einmal in aller Ruhe über die Bücher zu gehen, denn dann musste er mit seiner Frau die alte Schwiegermutter besuchen.

Die Schlüssel zum grossen Geldschrank und zum geheimen Safe hatte ich noch vom Vater her und die Codes machten mir auch keine Mühe. Die Panzerschränke enthielten nur Schuldverschreibungen, Mahnungen, Zahlungsbefehle, ruinöse Hypothekarschulden und private Kreditschulden aber nichts positives, vor allem kein Geld oder Geldeswert.

Genau besehen war der Betrieb schon lange bankrott und man mogelte sich so von Hand zu Mund durch.

„Mein“ zukünftiger Besitz war nur ein riesiges Schuldenloch und ein scharfes Fuchseisen das auf ein Opfer wartete. Irgendwo in ferner oder naher Zukunft war da sogar auch ein Zimmer im Gefängnis schon reserviert, denn was da an betrügerischen Aktionen begangen worden war, reichte gut und gern für ein paar Jährchen. (Und die alte Klapperschlange kam als Schuldige wohl kaum in Frage)

War gut zu wissen.

Wir beschlossen dicht zu halten vorläufig und der Sache ihren Lauf zu lassen, hielten aber immer Augen und Ohren offen um im Notfall beizeiten abzuspringen.

Dass Rosa und ich Gefallen aneinander hatten und uns immer näher kamen war eine Tatsache und schliesslich wurde eine Liebschaft daraus, die ich nie vergessen werde.

Wir verstanden es, die Beziehung und unser Glück geheim zu behalten, was uns auch gut gelang.

Freilich war Ida manchmal misstrauisch wenn ich sie traf, aber sie vertraute mir blindlings und zudem hätte sie mir eine solche Schandtat nie zugetraut.

Was ich aber auch nicht wusste, dass Otto die Rosa handfest anbaggerte, ihr die Ehe versprach und tatsächlich die Scheidung vom Christbäumchen verlangte. Als schuldiger Teil der Scheidung hätte er seine Pleite nicht mehr verheimlichen können, also liess er dem (schuldigen) Weihnachtsbäumchen am Dorfrand eine Prunkvilla errichten, versprach ihr eine schöne monatliche Rente solange er lebte und erreichte damit wirklich die Trennung von seiner Frau. Sie unterschrieb alles was man ihr vorlegte, wenn sie nur ihre Porzellanfigürchen behalten durfte.

Die Villa war schliesslich mit dem vielen Geld des rasch und rechtzeitig verstorbenen Schwiegervaters gebaut worden, Geld, das auch die Firma noch einige Zeit über Wasser halten konnte.

Aber eine Million Franken ist am Spieltisch rascher verloren als gewonnen.

Ich kam ins vierte und letzte Lehrjahr und hatte mich in letzter Zeit wieder vermehrt der Arbeit in der Gewerkschaft gewidmet und sowohl Rosa wie Ida nur noch selten gesehen.

Im Frühjahr jenes Jahres heirateten Rosa und Otto, im August wurde der Kleine geboren und das Gerede und Gemunkel im Dorf war auch Ende Jahr noch nicht verstummt.

Ida sprach nicht mehr mit mir und ich hörte, dass sie jetzt mit dem Eicheliunder gehe und das war mir eigentlich ganz recht..

Am ersten Mai trat ich erstmals als Redner auf an der Maifeier der Gewerkschaften in E.

Man hatte mir eine Redezeit von zehn Minuten zugeteilt und ich arbeitete monatelang an diesen zehn Minuten. Immer wieder kamen mir neue Gedanken, die ich einbauen wollte, fand immer wieder Sätze die ich streichen musste, die nicht passten, die missverstanden werden könnten, die zu schwülstig waren oder die sich wiederholten. Wie oft bereute ich, zugesagt zu haben.

Auch Alfred geizte nicht mit Ratschlägen, schliesslich war er ja Profi, aber seine Vorschläge verwirrten mich mehr als dass sie mir geholfen hätten

Am Vorabend diskutierte ich noch mit meinem Lehrmeister über den Inhalt meiner Rede.

Als erstes fragte er mich, an wen ich mich eigentlich richte.

Na, klar, an die Jungen, an die anderen Stifte.

Ob wir untereinander auch so geschwollen redeten, wollte er noch wissen.

Dann gab er mir seine Ansichten preis, alles vernünftige Argumente und machte mich plötzlich unsicher.

Nun fand auch ich bei mir, dass das ganze Gerede von Klassenkampf, Klassenfeind, Bourgeoisie und Arbeiterklasse eigentlich gar nicht mein Problem war. Wir Stiften hatten ganz andere, praktische Probleme. Ich hatte eine schlaflose Nacht vor mir, das war klar, aber was sollte ich tun? Meine Rede war schon in der morgigen Ausgabe des „Vorwärts“ und der Gewerkschaftszeitung abgedruckt, auf allen Plakaten stand mein Name …

Kurz nach Mitternacht zündete ich eine von Ottos Havanna an mit der ersten Seite meiner Rede, die mir als Fidibus diente und genoss den Duft jener fernen grünen Insel mitten in einem türkisblauen Meer unter einem tiefblauen Himmel und mit tanzenden schwarzen Mulattinnen bevölkert, so wie es auf die Zigarrenkiste gemalt war.

Als ich um punkt elf Uhr in Effretikon die Rednertribüne bestieg, ohne Manuskript aber mit starkem Herzklopfen und dann die Menschenmenge überblickte, verliess mich schlagartig jegliche Angst.

Vor mir sah ich die applaudierende Menge, ein Meer von Köpfen, von Gesichtern, von Hüten die alle zu einer einheitlichen Masse verschmolzen und als ich die Hand hob, herrschte Stille und ich begann zu reden, das heisst ich hörte mich reden als wäre da noch ein Anderer in mir.

Ich redete zu den andern Lehrjungen und Lehrmädchen ganz natürlich als ob wir miteinander diskutieren würden, ich redete von unsern alltäglichen und den allgemeinen Problemen, ich rief auch zur Solidarität auf, zum festen Zusammenhalt und ich landete auch manchen Seitenhieb gegen die Begriffe wie „Klassenkampf“, denn wir lebten in einer friedlichen Gesellschaft, die keinen Kampf sondern gegenseitige Anerkennung, Achtung voreinander und Problemlösung verlangt, aber ausnahmslos mit friedlichen Mitteln..

Als ich meine zehn Minuten gesprochen hatte hiess man mich weiterreden und mein Nachfolger am Rednerpult gab mir noch seine zehn Minuten hinzu.

Ich muss gestehen, dass ich den Applaus am Ende meiner Rede genossen habe und auch alle Gratulationen der Parteibonzen und der Gewerkschaftsführer mit grosser Genugtuung entgegengenommen habe.

Ich hatte die Macht der Rede erlebt und wie man die Zuhörer steuern kann, die Menge aufheizen und dann wieder beschwichtigen, wie man die Gedanken anderer manipulieren kann indem man einen ihrer Gedanken übernimmt und dann den Faden dahin lenkt, wo man hingelangen will.

Ich war wie berauscht aber tief in mir drinnen auch erschrocken.

Vor allem die liberale Presse lobte meine Rede weil ich scheinbar ihre Anliegen vorgebracht und auch das „Käseblatt der Schreinerinnung“ hatte viel Lob für meine Rede, die ich, ich muss es gestehen, nicht wiedergeben könnte. Den Journalisten die mich nachher bestürmten konnte ich nur sagen, dass ich meine Meinung geäussert hätte und es keine weiteren Erklärungen mehr brauche, denn eine Abschrift von der Rede gab es nicht.

Dass Ida unter den Zuhörern gewesen war freute mich natürlich und ich wollte gerne ihre Meinung wissen, aber die war derart niederschmetternd, dass ich schlagartig wieder auf dem Boden der Realität sehr hart aufschlug, sie sagte mir nämlich lachend: „Na ja, du bist immer ein bisschen ein Grossmaul gewesen.“

Auch meine neue Tante, die Rosa, war anwesend gewesen. Sie meinte nur, dass offensichtlich etwas in mir stecke, es komme nun darauf an, ob ich Hitler, Stalin oder Pestalozzi nacheifern wolle., aber sie war sehr zufrieden mit mir, vielleicht sogar stolz auf mich.

Als Ottos Nachfolger geboren war, schmiss er uns als erstes aus der Wohnung und mir verbot er das Betreten „seines“ Betriebes. Ich hätte da nichts zu suchen, denn ich war ein Roter, ein Aufrührer und ein Revoluzzer, der die Arbeiter aufhetze und auch zur Werkspionage fähig wäre.

Werkspionage in seinem Bastelladen, was der sich einbildete!

Vor allem aber verbot er mir den Umgang mit seiner Frau Rosa und seinem Kind Otto.

Ich erwiderte ihm, dass wir noch so gerne aus seiner Bruchbude ausziehen würden und sein Dilettanten – Schreinerladen würde mich schon gar nicht interessieren und falls er mal die Nutten in Konstanz nicht mehr bezahlen könne, dürfe er mich anpumpen. Acht Prozent Jahreszins.

Mutter zog nun zu Alfred, als Haushälterin, denn sie meinte, als Ehefrau ist man Sklavin, als Haushälterin tust du dieselbe Arbeit, bekommst aber Lohn dafür und hast den Schutz vom Arbeitsrecht.

Ich mietete ein schönes, sehr geräumiges Zimmer bei einer Witwe, die drei kleine Mädchen grossziehen musste. Ich blieb bei meinem Meister, der seinen Betrieb vergrösserte und mich gleich als Vorarbeiter einstellte. Mit Rosa traf ich mich regelmässig und erfuhr durch sie die Fortsetzung des Familiendramas „Otto der Starke“, das scheinbar rasch seinem Ende zu ging.

Als mir Rosa erzählte, dass Ida sich mit dem Eicheliunder verlobt habe, schrieb ich meiner Ex eine Glückwunschkarte und gratulierte ihr ehrlich und von Herzen.

Die Antwort war ein kurzer aber bitterböser Brief dem ich immerhin entnehmen konnte, dass sie eine Lehre als Krankenschwester angefangen habe und alles andere sei bösartiger Klatsch.

Von da an herrschte totale Funkstille zwischen uns, die erst viel später und sehr unerwartet gebrochen wurde.

Mein Traum, ein Studium machen zu können war jetzt grösser als je zuvor und wenn ich mich mit Paul traf, der hinter seinen Büchermauern las und schrieb und überlegte, spürte ich eine grosse Eifersucht in mir.

Er studierte Volkswirtschaft und Philosophie und war gänzlich erfüllt von der Materie.

Wenn wir dann zu dritt, mit seinem Vater, Probleme der Gewerkschaft diskutierten, fiel mir seine unverständliche, komplizierte und doch nichtssagende Sprache auf.

Fremdwörter, komplizierte Sätze und lange Zitate machten seine Rede langweilig.

Seine herablassende Art schliesslich, mit der er uns zwei Dummköpfe behandelte, machten mich vollends fertig und ich fragte ihn, ob er meine als zukünftiger Gewerkschaftsboss könne er auch nur einen Gewerkschafter bei der Stange halten mit seiner „elektrischen“ Sprache.

Da auch Alfred lachen musste, zog es Paul in Zukunft vor, alle Diskussionen mit uns zu vermeiden.

War mir recht.

Da ich am Ufer des Pfäffiker- Sees wohnte, kam Rosa oft mit ihrem Jungen zusammen mich besuchen. Ich mochte den Kleinen gut, er war ein aufgewecktes und geschicktes Kind. Wir sammelten zusammen schöne Steinchen, Vogelfedern, Blätter und Hölzchen, wir liessen Papierboote im Wind treiben und wenn ich am Fischen war erzählte er mir lange und skurrile Geschichten. Mir fiel einmal auf als ich ihm eine Geschichte erzählt hatte, dass er sie fast wortwörtlich zu wiederholen wusste, sogar ein oder zwei Wochen später.

Mit Otto ging es bergab, vor allem mit seinem Geschäft. Während andere Schreiner den Betrieb vergrösserten, musste er Leute entlassen und den restlichen Arbeitern zahlte er Löhne, die weit unter dem Tarif lagen.

Ich schlug Rosa vor, dass wir den Kerl von der gewerkschaftlichen Seite her mal tüchtig in den Arsch treten wollten, aber sie zögerte und meinte wir sollten noch etwas warten, bis sie alles abgewickelt habe.

Und nun kam die grosse Beichte.

Rosa hatte bei der Hochzeit Gütertrennung verlangt, denn sie wusste ja, wie es um Otto und seinen Betrieb stand. Sie hatte nun inzwischen das Haus und die Schreinerei bereits gekauft und zwar so, dass dem armen Otto nur die Schulden blieben. Es sei alles hieb und stichfest, versicherte sie mir, denn die ganze Sache hatte einer der besten Juristen des Kantons durchgezogen. Otto hatte jetzt noch seine zwei Villen, die weit über ihre Dächer hinaus verschuldet waren und es bereitete ihm grosse Mühe, diese Schulden zu bedienen. So machte er neue Schulden, um die Zinsen bezahlen zu können. Er war in den tödlichen Strudel der Kleinkredite geraten, in dem auch der beste Schwimmer ersäuft.

Es war ein verrückter Kreislauf der bald ein böses Ende nehmen würde.

Eine wahnsinnige Situation für einen privaten Schuldner, Normalsituation für viele Länder dieser Erde.

Immerhin hatte Rosa es fertiggebracht, dass ihr Mann in den Casinos von Konstanz und Bregenz Hausverbot hatte aber er fand andere Möglichkeiten sein Geld zu verzocken.

Ich betrachtete Rosa, ihr schönes Gesicht, den wohlgeformten Körper ihre braunen Augen, die einen eigenartigen Glanz hatten. Diese Frau war hochintelligent und knallhart im Nehmen und im Geben, man hatte sie erniedrigt, ausgestossen und zur billigen Hure gestempelt und gemacht, man hätte sie erbarmungslos in einem Graben verrecken lassen, man hätte sie sogar irgendeinmal mit Gewalt ausgemerzt. Und jetzt begann sie zurückzuschlagen. Wenn man die Ratte in die Enge treibt, dann beisst sie.

Eines Tages fragte sie mich, ob ich den Betrieb übernehmen wolle.

Wir könnten ihn modernisieren, Geld spiele keine Rolle.

Ich hatte eigentlich andere Lebenspläne, ich wollte noch weg, hinaus in die Welt und nicht hier in diesem elenden Kaff versauern, mich mit einer Dorfgemeinschaft herumbalgen, die meinem Wesen fremd war.

Vielleicht würde ich die Sache in 20 Jahren anders betrachten, dann war ich vielleicht genug verspiessert aber jetzt wollte ich noch etwas erleben, wollte vor allem mein Wissen erweitern.

Ich wollte auch nicht nur so „reinsitzen“ ich wollte mir mein Leben und meine Stellung selber erkämpfen, ich wollte aber auch meine Unabhängigkeit bewahren.

Ich war erstaunt, dass Rosa das alles so schnell begriff, sie hatte es wohl so erwartet.

Nein, sie wolle mir gar nicht vor meinem Leben stehen, im Gegenteil, aber falls ich gewollt hätte, wäre das ihr Plan A gewesen.

Und der Plan B ?

Die Scheidung so rasch wie möglich durchziehen, dann würde sie Otto auch noch gesellschaftlich ruinieren, denn sie hatte in seinem Safe in der Villa Papiere gefunden, die belegten, dass er verschiedene einflussreiche Personen durch Erpressung ausraubte. Sie hatte zum Beispiel Fotos gefunden, die ein Fotograf und Paparazzo in Effretikon in Ottos Auftrag geknipst hatte und die für die Betroffenen sehr peinlich und gefährlich waren.

Die Negative waren leider nicht im Geheimfach, die mussten noch beim Fotografen sein.

Rosa hatte bereits begonnen mit den Betroffenen Kontakt aufzunehmen, es waren viele ihrer Freunde darunter, um dem Unfug ein Ende zu bereiten.

Nach ihrer Scheidung zog Rosa in eine Gemeinde an der Goldküste am Zürichsee.

Die Schreinerei wurde abgerissen und an ihrer Stelle entstand ein Wohnblock, Rosa nannte ihn ihre Altersvorsorge.

Als Otto vor dem Konkursgericht stand, wollte er noch möglichst viele mit in den Strudel reissen, aber er musste alleine für seine Schulden geradestehen. Bei der Untersuchung stellte sich noch heraus, dass er sowohl die Kirchenkasse wie auch den Gemeindesäckel geplündert hatte und zwar ziemlich dreist und unverschämt.

Er versuchte nun mittels seiner „Erpressermaschine“ falsche Zeugen und finanzielle Hilfe zu finden aber ohne Erfolg.

In jenen Tagen gab es an der Bahnhofstrasse einen Hausbrand. Das Geschäft des Fotografen brannte vollständig aus und gleichzeitig wurde seine Wohnung im Nachbardorf ausgeraubt, das heisst es verschwand alles fotografische Material, das er dort gelagert hatte.

Er selber wurde eine Woche später tot aufgefunden hinter Ottos Villa. Man stellte fest, dass er aber an einem anderen Ort erschossen worden war und man seine Leiche dann in Ottos Garten gelegt hatte.

Otto hatte ein Alibi, er sass im Bezirksgefängnis in Untersuchungshaft.

Seine Villa kam unter den Hammer und wurde zu einem Schundpreis verkauft.

Das Christbäumchen musste auch ausziehen aus ihrer feudalen Villa und die einst reiche Frau sass von nun an, der Sozialhilfe auf der Tasche.

Nach reiflicher Überlegung beschloss ich an der ETH in Zürich Forstwirtschaf zu studieren.

Wann es mir möglich war arbeitete ich auf meinem Beruf um mein Studium zu finanzieren bekam aber noch ein Stipendium von der Gewerkschaft, in der ich immer noch tätig war. Auch Alfred und meine Mutter steckten mir hie und da etwas zu aber meine grosse Gönnerin war Rosa.

Wenn ich mir etwas Freizeit gönnte verbrachte ich sie bei Rosa und dem Kleinen, der mir, wie ich später erfahren hatte, weit näher verwandt war als ich in meiner Naivität geglaubt hatte.

In meinem Studium spezialisierte ich mich auf tropische Hölzer und fand nach meiner Diplomierung eine Stelle bei einem holländischen Holzhändler, der Edelhölzer aus Südostasien nach Europa brachte.

Nun konnte ich meine Idee verwirklichen aus dem Flugzeug heraus, mittels Spezialkameras, die Standorte von Edelhölzern zu finden. Ich erstellte Karten einzelner Waldpartien, die für grosse Maschinen zugänglich gemacht werden konnten, oder an Flussläufen lagen, die ein Flössen der Stämme erlaubten.

Ich hatte meinen Flugschein noch vor meiner Abreise gemacht, aber mir fehlte noch die nötige Flugerfahrung über tropischen Wäldern und so bestieg ich die Maschine zu meinem ersten Waldflug mit gemischten Gefühlen.

Aber es ging alles gut und unser Pilatus Porter erwies sich als zuverlässiges Vehikel.

Meistens war ich am Steuer und meine Kollegin Sandra, eine Schweizerin und Fachfrau für Optik und Fotografie machte die Fotos und die entsprechenden Kreuzchen auf der Karte. Wenn dann alles kartographiert war, begaben wir uns, von einheimischen Führern begleitet auf einen „Augenschein“ in das Gebiet und machten Aufnahmen von einzelnen Exemplaren, die wir auch noch vermessen mussten. Diese Expeditionen im Halbdunkel des Dschungels liebte ich über alles. Was da nicht alles kreuchte und fleuchte, was da an Blattformen, an Früchten und Blüten zu sehen war, begeisterte mich. Freilich an Blüten war kein Überschuss (dafür aber an Insekten).

Hatten wir ein Gebiet erforscht, so gingen alle Unterlagen an unsere Firma und uns winkte jedes Mal eine Spezialprämie, wenn wir gut gearbeitet hatten, das heisst, viele Kandidaten für die Motorsäge gefunden hatten.

Nach Beendigung unserer Mission verkaufte ich mein Flugzeug, das mit Spezialkameras ausgerüstet war der Luftwaffe als Spionageflugzeug.

Vor meiner Abreise erlebte ich noch ein Erdbeben schmerzlich am eigenen Leib.

Etwa zwei Jahren später liess ich mich nach Ghana versetzen, denn mich interessierte auch noch der westafrikanische Regenwald, von dem ich durchs Studium ein breites Wissen erworben hatte.

Die Arbeit war dieselbe wie auf Borneo, nur hier starteten wir von bestehenden Holzfällercamps aus und erforschten das angrenzende Gebiet. Der Wald unter uns war nicht mehr kompakt und „jungfräulich“, sondern da waren breite Narben, lange Schneisen im Wald, da klafften riesige Lücken, dort wo die Bauern den Holzfällern gefolgt waren und nun durch Brandrodung neues Kulturland gewannen.

Wenn ich tief flog, konnten wir die grossen Felder mit Ananas, mit Zuckerrohr oder mit Maniok sehen, manchmal winkten uns die Leute zu, vor allem Kinder hatten grossen Spass an unserer Cessna.

Im Camp bekam ich eine Ahnung, wie gefährlich es war, so einen Urwaldriesen zu fällen.

Die Arbeiter standen meist auf einem Gerüst in mindestens zwei Metern Höhe und von dieser Plattform aus wurde der Stamm durchgesägt, so wie es Fachleute tun. Aber da ihr Arbeitsplatz in luftiger Höhe war, hatten sie keinerlei Fluchtmöglichkeit, wenn der Baum nicht so stürzte wie geplant.

Knochenbrüche waren dabei die einfachsten Verletzungen.

Kurz vor Abschluss unserer Mission wollte ich noch die Gegend auf eigene Faust erkunden.

An einem trüben Morgen in der Trockenzeit beschloss ich eine grössere Tour zu machen in eine Bergregion im Norden des Landes, wo man mir gesagt hatte, dass dort nach Gold geschürft werde und das wollte ich mir einmal ansehen, denn schliesslich hiess Ghana damals Goldküste, also musste doch irgendwo Gold sein.

Ich fand auf der Karte auch mehrere Landeplätze eingezeichnet, einen sogar in der Nähe einer Missionsstation, der schien mir der beste zu sein.

Die Landepiste erwies sich dann aber als schwierig und hätte mich beinahe das Fahrgestell gekostet. Die heiligen Männer der Mission schienen Fussgänger zu sein. In Wirklichkeit hatte ich den alten Flugplatz erwischt, aber das wusste ich damals noch nicht.

Ich machte mich auf den Weg zu den Goldminen, begleitet von meinem Boy. Nach etwa einer Stunde Fussmarsch setzten wir uns in den Schatten einer Akazie und wollten frühstücken.

Da verspürte ich plötzlich in der rechten Wade einen furchtbaren, brennenden Schmerz, der mich richtiggehend umwarf.

Eine Schlange, vermutlich eine Kobra hatte mich erwischt.

Ich konnte den Unterschenkel noch mit einem Riemen abbinden und dann wurde ich ohnmächtig.

Als ich wieder erwachte, hatte ich jeden Zeitbegriff verloren und ich verspürte nur dieses Brennen im ganzen Körper, dann wurde mir schwindlig und ich fiel in die nächste Ohnmacht, aber irgendwo im Hintergrund hörte ich Stimmen, dann spürte ich eine Hand auf meiner Stirn, dann war wieder Nacht.

Irgendwann kam ich wieder zu mir und konnte die Augen öffnen.

Ich lag scheinbar in einem weiss bezogenen Bett. Ich versuchte mich zu erinnern, aber da war nichts, nur dieses Brennen im ganzen Körper und dann hörte ich eine Stimme, die ich kennen musste.

Dann spürte ich die Hand auf meiner Stirn, dann wurde mir der Puls gemessen und dann sah ich ein Gesicht, ein bekanntes Gesicht. Wo war ich nur? Das war das Gesicht von Ida, da war ihre Stimme ihre Hand. War ich verrückt geworden?

Nein, es war tatsächlich die Wirklichkeit, es war die Krankenschwester Ida, die mich in diesem Buschspital pflegte. Ich konnte es kaum fassen. Das sind doch Dinge, die nur in Romanen geschehen, Zufälle von denen man träumt aber die einem nie zustossen. Aber da stand Ida, das Mädchen, das mir vor langer Zeit ein Butterbrot zugesteckt hatte mit echter Butter und einem goldenen Schimmer von Honig darauf.

Der Arzt, ein junger Deutscher, stand lange sinnend an meinem Bett als er mir die Diagnose verkündete.

Schlangenbiss und zwar einer von denen die in der Regel tödlich verlaufen, also bisher Schwein gehabt aber, er holte tief Atem, aber ich sei noch lange nicht über dem Berg.

Aber ich hatte überhaupt keine Angst, ich war mir sicher, wenn einem so was Verrücktes zustösst, dann ist es nicht Zeit zum Sterben.

Ich habe überlebt dank der ärztlichen Kunstfertigkeit Helmuts und der liebevollen Pflege der Oberschwester Ida. Als einziges Andenken an die Schlange habe ich mein rechtes Bein, das mir manchmal den Dienst versagt und einknickt, aber auch daran kann man sich gewöhnen.

Ich hatte bald gemerkt, dass zwischen Ida und Helmut etwas lief und ich gönnte den beiden ihr Glück.

Der Arzt war wirklich ein feiner Kerl und ich mochte ihn gut und ich versprach ihm, nach Ablauf meines Vertrags mit der Holzfällerfirma zurückzukommen, denn er wollte als fliegender Arzt seine hilfreiche Tätigkeit ausdehnen. Bis dahin würde er für die nötigen Flugfelder sorgen.

Ich hatte noch etwa drei Monate lang meine Arbeit als Baumsucher, dann lief mein Vertrag aus. In dieser Zeit begann ich mit dem Holzhandel, denn ich hatte gesehen, dass ein Baumstamm, egal welche Holzart, hier knapp 5 Franken kostete, in Genua aber für 500 verkauft wurde, wenn ich noch 50 Franken für den Transport rechnete konnte ich recht viel Geld dabei verdienen, zumal ich als Fachmann die besten und begehrtesten Holzarten aussuchen konnte.

Der Holzhandel lief von Anfang an gut, denn ich kannte bereits die Transportwege, die Holzqualitäten, die Abnehmer und ich konnte an Ort und Stelle die besten Stämme aussuchen. Meine Kunden waren zufrieden.

Als das Geschäft lief, flog ich zum Buschspital um Helmut das Fliegen beizubringen und mit ihm zusammen das Wirkungsgebiet des fliegenden Arztes festzulegen.

In der Zwischenzeit aber hatte es am Spital „personelle Veränderungen“ gegeben.

Ida war nicht mehr da, sie hatte sich an ein anderes Krankenhaus versetzen lassen, weil inzwischen Helmuts Frau, auch eine Ärztin, mit ihrem Neugeborenen angekommen war.

Ida hatte mir einen kurzen Brief (den ich heute noch habe) zurückgelassen.

Sie schrieb mir, dass es ihr leid tue, dass wir uns nicht mehr treffen würden, aber ich werde ihren Schritt begreifen, denn sie wolle hier keine Unruhe verursachen.

Weiter schrieb sie mir, dass sie mich liebe wie einen Bruder und dass uns unsere Wege vielleicht wieder einmal zusammenführen werden, möge Gott es fügen … Kein Wort, wo sie hingehen wollte.

Auf jeden Fall ist sie mir damals verloren gegangen, ihr Gott hat es nicht gefügt.

Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.

Sandra

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