Читать книгу Briefe aus der Schweiz - Johann Wolfgang von Goethe - Страница 3
Erste Abteilung
ОглавлениеAls vor mehreren Jahren uns nachstehende Briefe abschriftlich mitgeteilt wurden, behauptete man, sie unter Werthers Papieren gefunden zu haben, und wollte wissen, daß er vor seiner Bekanntschaft mit Lotten in der Schweiz gewesen. Die Originale haben wir niemals gesehen und mögen übrigens dem Gefühl und Urteil des Lesers auf keine Weise vorgreifen; denn, wie dem auch sei, so wird man die wenigen Blätter nicht ohne Teilnahme durchlaufen können.
Teufelsstein
Wie ekeln mich meine Beschreibungen an, wenn ich sie wieder lese! Nur dein Rat, dein Geheiß, dein Befehl können mich dazu vermögen. Ich las auch so viele Beschreibungen dieser Gegenstände, ehe ich sie sah. Gaben sie mir denn ein Bild oder nur irgendeinen Begriff? Vergebens arbeitete meine Einbildungskraft, sie hervorzubringen, vergebens mein Geist, etwas dabei zu denken. Nun steh ich und schaue diese Wunder, und wie wird mir dabei? Ich denke nichts, ich empfinde nichts und möchte so gern etwas dabei denken und empfinden. Diese herrliche Gegenwart regt mein Innerstes auf, fordert mich zur Tätigkeit auf, und was kann ich tun, was tue ich! Da setz ich mich hin und schreibe und beschreibe. So geht denn hin, ihr Beschreibungen! betriegt meinen Freund, macht ihn glauben, daß ich etwas tue, daß er etwas sieht und liest!
Frei wären die Schweizer? frei diese wohlhabenden Bürger in den verschlossenen Städten? frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? Was man dem Menschen nicht alles weismachen kann! besonders wenn man so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken; nun erschuf ihnen die liebe Sonne aus dem Aas des Unterdrückers einen Schwarm von kleinen Tyrannen durch eine sonderbare Wiedergeburt; nun erzählen sie das alte Märchen immerfort, man hört bis zum Überdruß, sie hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben; und nun sitzen sie hinter ihren Mauern, eingefangen von ihren Gewohnheiten und Gesetzen, ihren Fraubasereien und Philistereien, und da draußen auf den Felsen ist's auch wohl der Mühe wert, von Freiheit zu reden, wenn man das halbe Jahr vom Schnee wie ein Murmeltier gefangengehalten wird.
Teufelsbrücke
Pfui, wie sieht so ein Menschenwerk, und so ein schlechtes, notgedrungenes Menschenwerk, so ein schwarzes Städtchen, so ein Schindel- und Steinhaufen mitten in der großen, herrlichen Natur aus! Große Kiesel- und andere Steine auf den Dächern, daß ja der Sturm ihnen die traurige Decke nicht vom Kopfe wegführe, und den Schmutz, den Mist! und staunende Wahnsinnige! – Wo man den Menschen nur wieder begegnet, möchte man von ihnen und ihren kümmerlichen Werken gleich davonfliehen.
Daß in den Menschen so viele geistige Anlagen sind, die sie im Leben nicht entwickeln können, die auf eine bessere Zukunft, auf ein harmonisches Dasein deuten, darin sind wir einig, mein Freund, und meine andere Grille kann ich auch nicht aufgeben, ob du mich gleich schon oft für einen Schwärmer erklärt hast. Wir fühlen auch die Ahnung körperlicher Anlagen, auf deren Entwickelung wir in diesem Leben Verzicht tun müssen: so ist es ganz gewiß mit dem Fliegen. So wie mich sonst die Wolken schon reizten, mit ihnen fort in fremde Länder zu ziehen, wenn sie hoch über meinem Haupte wegzogen, so steh ich jetzt oft in Gefahr, daß sie mich von einer Felsenspitze mitnehmen, wenn sie an mir vorbeiziehen. Welche Begierde fühl ich, mich in den unendlichen Luftraum zu stürzen, über den schauerlichen Abgründen zu schweben und mich auf einen unzugänglichen Felsen niederzulassen. Mit welchem Verlangen hol ich tiefer und tiefer Atem, wenn der Adler in dunkler, blauer Tiefe unter mir über Felsen und Wäldern schwebt und in Gesellschaft eines Weibchens um den Gipfel, dem er seinen Horst und seine Jungen anvertrauet hat, große Kreise in sanfter Eintracht zieht. Soll ich denn nur immer die Höhe erkriechen, am höchsten Felsen wie am niedrigsten Boden kleben und, wenn ich mühselig mein Ziel erreicht habe, mich ängstlich anklammern, vor der Rückkehr schaudern und vor dem Falle zittern?
Mit welchen sonderbaren Eigenheiten sind wir doch geboren! Welches unbestimmte Streben wirkt in uns! Wie seltsam wirken Einbildungskraft und körperliche Stimmungen gegeneinander! Sonderbarkeiten meiner frühen Jugend kommen wieder hervor. Wenn ich einen langen Weg vor mich hin gehe und der Arm an meiner Seite schlenkert, greif ich manchmal zu, als wenn ich einen Wurfspieß fassen wollte; ich schleudre ihn, ich weiß nicht auf wen, ich weiß nicht auf was; dann kommt ein Pfeil gegen mich angeflogen und durchbohrt mir das Herz; ich schlage mit der Hand auf die Brust und fühle eine unaussprechliche Süßigkeit, und kurz darauf bin ich wieder in meinem natürlichen Zustande. Woher kommt mir die Erscheinung? was soll sie heißen, und warum wiederholt sie sich immer ganz mit denselben Bildern, derselben körperlichen Bewegung, derselben Empfindung?
Man sagt mir wieder, daß die Menschen, die mich unterwegs gesehen haben, sehr wenig mit mir zufrieden sind. Ich will es gern glauben, denn auch niemand von ihnen hat zu meiner Zufriedenheit beigetragen. Was weiß ich, wie es zugeht, daß die Gesellschaften mich drücken, daß die Höflichkeit mir unbequem ist, daß das, was sie mir sagen, mich nicht interessiert, daß das, was sie mir zeigen, mir entweder gleichgültig ist oder mich ganz anders aufregt. Seh ich eine gezeichnete, eine gemalte Landschaft, so entsteht eine Unruhe in mir, die unaussprechlich ist. Die Fußzehen in meinen Schuhen fangen an zu zucken, als ob sie den Boden ergreifen wollten, die Finger der Hände bewegen sich krampfhaft, ich beiße in die Lippen, und es mag schicklich oder unschicklich sein, ich suche der Gesellschaft zu entfliehen, ich werfe mich der herrlichen Natur gegenüber auf einen unbequemen Sitz, ich suche sie mit meinen Augen zu ergreifen, zu durchbohren und kritzle in ihrer Gegenwart ein Blättchen voll, das nichts darstellt und doch mir so unendlich wert bleibt, weil es mich an einen glücklichen Augenblick erinnert, dessen Seligkeit mir diese stümperhafte Übung ertragen hat. Was ist denn das, dieses sonderbare Streben von der Kunst zur Natur, von der Natur zur Kunst zurück? Deutet es auf einen Künstler, warum fehlt mir die Stetigkeit? Ruft mich's zum Genuß, warum kann ich ihn nicht ergreifen? Man schickte uns neulich einen Korb mit Obst, ich war entzückt wie von einem himmlischen Anblick; dieser Reichtum, diese Fülle, diese Mannigfaltigkeit und Verwandtschaft! Ich konnte mich nicht überwinden, eine Beere abzupflücken, eine Pfirsche, eine Feige aufzubrechen. Gewiß, dieser Genuß des Auges und des innern Sinnes ist höher, des Menschen würdiger, er ist vielleicht der Zweck der Natur, wenn die hungrigen und durstigen Menschen glauben, für ihren Gaum habe sich die Natur in Wundern erschöpft. Ferdinand kam und fand mich in meinen Betrachtungen, er gab mir recht und sagte dann lächelnd mit einem tiefen Seufzer: »Ja, wir sind nicht wert, diese herrlichen Naturprodukte zu zerstören, wahrlich, es wäre schade! Erlaube mir, daß ich sie meiner Geliebten schicke.« Wie gern sah ich den Korb wegtragen! wie liebte ich Ferdinanden! wie dankte ich ihm für das Gefühl, das er in mir erregte, über die Aussicht, die er mir gab. Ja, wir sollen das Schöne kennen, wir sollen es mit Entzücken betrachten und uns zu ihm, zu seiner Natur zu erheben suchen; und um das zu vermögen, sollen wir uns uneigennützig erhalten, wir sollen es uns nicht zueignen, wir sollen es lieber mitteilen, es denen aufopfern, die uns lieb und wert sind.
Was bildet man nicht immer an unserer Jugend! Da sollen wir bald diese, bald jene Unart ablegen, und doch sind die Unarten meist ebenso viele Organe, die dem Menschen durch das Leben helfen. Was ist man nicht hinter dem Knaben her, dem man einen Funken Eitelkeit abmerkt! Was ist der Mensch für eine elende Kreatur, wenn er alle Eitelkeit abgelegt hat! Wie ich zu dieser Reflexion gekommen bin, will ich dir sagen: Vorgestern gesellte sich ein junger Mensch zu uns, der mir und Ferdinanden äußerst zuwider war. Seine schwachen Seiten waren so herausgekehrt, seine Leerheit so deutlich, seine Sorgfalt fürs Äußere so auffallend, wir hielten ihn so weit unter uns, und überall war er besser aufgenommen als wir. Unter ändern Torheiten trug er eine Unterweste von rotem Atlas, die am Halse so zugeschnitten war, daß sie wie ein Ordensband aussah. Wir konnten unsern Spott über diese Albernheit nicht verbergen; er ließ alles über sich ergehen, zog den besten Vorteil hervor und lachte uns wahrscheinlich heimlich aus. Denn Wirt und Wirtin, Kutscher, Knecht und Mägde, sogar einige Passagiere ließen sich durch diese Scheinzierde betriegen, begegneten ihm höflicher als uns, er ward zuerst bedient, und zu unserer größten Demütigung sahen wir, daß die hübschen Mädchen im Haus besonders nach ihm schielten. Zuletzt mußten wir die durch sein vornehmes Wesen teurer gewordne Zeche zu gleichen Teilen tragen. Wer war nun der Narr im Spiel? Er wahrhaftig nicht!
Der Wasserfall der Reuß
Es ist was Schönes und Erbauliches um die Sinnbilder und Sittensprüche, die man hier auf den Öfen antrifft. Hier hast du die Zeichnung von einem solchen Lehrbild, das mich besonders ansprach. Ein Pferd, mit dem Hinterfuße an einen Pfahl gebunden, grast umher, so weit es ihm der Strick zuläßt; unten steht geschrieben: »Laß mich mein bescheiden Teil Speise dahinnehmen.« So wird es ja wohl auch bald mit mir werden, wenn ich nach Hause komme und nach eurem Willen, wie das Pferd in der Mühle, meine Pflicht tue und dafür, wie das Pferd hier am Ofen, einen wohl abgemessenen Unterhalt empfahe. Ja, ich komme zurück, und was mich erwartet, war wohl der Mühe wert, diese Berghöhen zu erklettern, diese Täler zu durchirren und diesen blauen Himmel zu sehen, zu sehen, daß es eine Natur gibt, die durch eine ewige, stumme Notwendigkeit besteht, die unbedürftig, gefühllos und göttlich ist, indes wir in Flecken und Städten unser kümmerliches Bedürfnis zu sichern haben und nebenher alles einer verworrenen Willkür unterwerfen, die wir Freiheit nennen.
Ja, ich habe die Furka, den Gotthard bestiegen! Diese erhabenen, unvergleichlichen Naturszenen werden immer vor meinem Geiste stehen; ja, ich habe die römische Geschichte gelesen, um bei der Vergleichung recht lebhaft zu fühlen, was für ein armseliger Schlucker ich bin.
Es ist mir nie so deutlich geworden wie die letzten Tage, daß ich in der Beschränkung glücklich sein könnte, so gut glücklich sein könnte wie jeder andere, wenn ich nur ein Geschäft wüßte, ein rühriges, das aber keine Folge auf den Morgen hätte, das Fleiß und Bestimmtheit im Augenblick erforderte, ohne Vorsicht und Rücksicht zu verlangen. Jeder Handwerker scheint mir der glücklichste Mensch; was er zu tun hat, ist ausgesprochen; was er leisten kann, ist entschieden; er besinnt sich nicht bei dem, was man von ihm fordert; er arbeitet, ohne zu denken, ohne Anstrengung und Hast, aber mit Applikation und Liebe, wie der Vogel sein Nest, wie die Biene ihre Zellen herstellt; er ist nur eine Stufe über dem Tier und ist ein ganzer Mensch. Wie beneid ich den Töpfer an seiner Scheibe, den Tischer hinter seiner Hobelbank!
Der Ackerbau gefällt mir nicht, diese erste und notwendige Beschäftigung der Menschen ist mir zuwider; man äfft die Natur nach, die ihre Samen überall ausstreut, und will nun auf diesem besondern Feld diese besondre Frucht hervorbringen. Das geht nun nicht so; das Unkraut wächst mächtig, Kälte und Nässe schadet der Saat, und Hagelwetter zerstört sie. Der arme Landmann harrt das ganze Jahr, wie etwa die Karten über den Wolken fallen mögen, ob er sein Paroli gewinnt oder verliert. Ein solcher Ungewisser, zweideutiger Zustand mag den Menschen wohl angemessen sein, in unserer Dumpfheit, da wir nicht wissen, woher wir kommen noch wohin wir gehen. Mag es denn auch erträglich sein, seine Bemühungen dem Zufall zu übergeben; hat doch der Pfarrer Gelegenheit, wenn es recht schlecht aussieht, seiner Götter zu gedenken und die Sünden seiner Gemeine mit Naturbegebenheiten zusammenzuhängen.
Auf dem St. Gotthard
So habe ich denn Ferdinanden nichts vorzuwerfen! Auch mich hat ein liebes Abenteuer erwartet. Abenteuer? Warum brauche ich das alberne Wort, es ist nichts Abenteuerliches in einem sanften Zuge, der Menschen zu Menschen hinzieht. Unser bürgerliches Leben, unsere falschen Verhältnisse, das sind die Abenteuer, das sind die Ungeheuer, und sie kommen uns doch so bekannt, so verwandt wie Onkel und Tanten vor!
Wir waren bei dem Herrn Tudou eingeführt, und wir fanden uns in der Familie sehr glücklich: reiche, öffne, gute, lebhafte Menschen, die das Glück des Tages, ihres Vermögens, der herrlichen Lage mit ihren Kindern sorglos und anständig genießen. Wir jungen Leute waren nicht genötigt, wie es in so vielen steifen Häusern geschieht, uns um der Alten willen am Spieltisch aufzuopfern. Die Alten gesellten sich vielmehr zu uns, Vater, Mutter und Tanten, wenn wir kleine Spiele aufbrachten, in denen Zufall, Geist und Witz durcheinanderwirken. Eleonore, denn ich muß sie nun doch einmal nennen, die zweite Tochter – ewig wird mir ihr Bild gegenwärtig sein –, eine schlanke, zarte Gestalt, eine reine Bildung, ein heiteres Auge, eine blasse Farbe, die bei Mädchen dieses Alters eher reizend als abschreckend ist, weil sie auf eine heilbare Krankheit deutet, im ganzen eine unglaublich angenehme Gegenwart. Sie schien fröhlich und lebhaft, und man war so gern mit ihr. Bald, ja ich darf sagen gleich, gleich den ersten Abend gesellte sie sich zu mir, setzte sich neben mich, und wenn uns das Spiel trennte, wußte sie mich doch wiederzufinden. Ich war froh und heiter; die Reise, das schöne Wetter, die Gegend, alles hatte mich zu einer unbedingten, ja ich möchte fast sagen, zu einer aufgespannten Fröhlichkeit gestimmt; ich nahm sie von jedem auf und teilte sie jedem mit, sogar Ferdinand schien einen Augenblick seiner Schönen zu vergessen. Wir hatten uns in abwechselnden Spielen erschöpft, als wir endlich aufs Heiraten fielen, das als Spiel lustig genug ist. Die Namen von Männern und Frauen werden in zwei Hüte geworfen und so die Ehen gegeneinander gezogen. Auf jede, die herauskommt, macht eine Person in der Gesellschaft, an der die Reihe ist, das Gedicht. Alle Personen in der Gesellschaft, Vater, Mutter und Tanten, mußten in die Hüte, alle bedeutenden Personen, die wir aus ihrem Kreise kannten, und um die Zahl der Kandidaten zu vermehren, warfen wir noch die bekanntesten Personen der politischen und literarischen Welt mit hinein. Wir fingen an, und es wurden gleich einige bedeutende Paare gezogen. Nicht jedermann konnte mit den Versen sogleich nach; sie, Ferdinand und ich und eine von den Tanten, die sehr artige französische Verse macht, wir teilten uns bald in das Sekretariat. Die Einfälle waren meist gut und die Verse leidlich; besonders hatten die ihrigen ein Naturell, das sich vor allen ändern auszeichnete, eine glückliche Wendung, ohne eben geistreich zu sein, Scherz ohne Spott, und einen guten Willen gegen jedermann. Der Vater lachte herzlich und glänzte vor Freuden, als man die Verse seiner Tochter neben den unsern für die besten anerkennen mußte. Unser unmäßiger Beifall freute ihn hoch; wir lobten, wie man das Unerwartete preist, wie man preist, wenn uns der Autor bestochen hat. Endlich kam auch mein Los, und der Himmel hatte mich ehrenvoll bedacht; es war niemand weniger als die russische Kaiserin, die man mir zur Gefährtin meines Lebens herausgezogen hatte. Man lachte herzlich, und Eleonore behauptete, auf ein so hohes Beilager müßte sich die ganze Gesellschaft angreifen. Alle griffen sich an, einige Federn waren zerkaut, sie war zuerst fertig, wollte aber zuletzt lesen, die Mutter und die eine Tante brachten gar nichts zustande, und obgleich der Vater ein wenig geradezu, Ferdinand schalkhaft und die Tante zurückhaltend gewesen war, so konnte man doch durch alles ihre Freundschaft und gute Meinung sehen. Endlich kam es an sie, sie holte tief Atem, ihre Heiterkeit und Freiheit verließ sie, sie las nicht, sie lispelte es nur und legte es vor mich hin zu den ändern; ich war erstaunt, erschrocken: so bricht die Knospe der Liebe in ihrer größten Schönheit und Bescheidenheit auf! Es war mir, als wenn ein ganzer Frühling auf einmal seine Blüten auf mich herunterschüttelte. Jedermann schwieg, Ferdinanden verließ seine Gegenwart des Geistes nicht, er rief: »Schön, sehr schön! er verdient das Gedicht sowenig als ein Kaisertum.« – »Wenn wir es nur verstanden hätten«, sagte der Väter; man verlangte, ich sollte es noch einmal lesen. Meine Augen hatten bisher auf diesen köstlichen Worten geruht, ein Schauder überlief mich vom Kopf bis auf die Füße, Ferdinand merkte meine Verlegenheit, nahm das Blatt weg und las; sie ließ ihn kaum endigen, als sie schon ein anderes Los zog. Das Spiel dauerte nicht lange mehr, und das Essen ward aufgetragen.
Soll ich oder soll ich nicht? Ist es gut, dir etwas zu verschweigen, dem ich so viel, dem ich alles sage? Soll ich dir etwas Bedeutendes verschweigen, indessen ich dich mit so vielen Kleinigkeiten unterhalte, die gewiß niemand lesen möchte als du, der du eine so große und wunderbare Vorliebe für mich gefaßt hast? Oder soll ich etwas verschweigen, weil es dir einen falschen, einen üblen Begriff von mir geben könnte? Nein! du kennst mich besser, als ich mich selbst kenne; du wirst auch das, was du mir nicht zutraust, zurechtlegen, wenn ich's tun konnte; du wirst mich, wenn ich tadelnswert bin, nicht verschonen, mich leiten und führen, wenn meine Sonderbarkeiten mich vom rechten Wege abführen sollten.
Scheideblick nach Italien
Meine Freude, mein Entzücken an Kunstwerken, wenn sie wahr, wenn sie unmittelbar geistreiche Aussprüche der Natur sind, macht jedem Besitzer, jedem Liebhaber die größte Freude. Diejenigen, die sich Kenner nennen, sind nicht immer meiner Meinung; nun geht mich doch ihre Kennerschaft nichts an, wenn ich glücklich bin. Drückt sich nicht die lebendige Natur lebhaft dem Sinne des Auges ein, bleiben die Bilder nicht fest vor meiner Stirn, verschönern sie sich nicht, und freuen sie sich nicht, den durch Menschengeist verschönerten Bildern der Kunst zu begegnen? Ich gestehe dir, darauf beruht bisher meine Liebe zur Natur, meine Liebhaberei zur Kunst, daß ich jene so schön, so schön, so glänzend und so entzückend sah, daß mich das Nachstreben des Künstlers, das unvollkommene Nachstreben, fast wie ein vollkommenes Vorbild hinriß. Geistreiche, gefühlte Kunstwerke sind es, die mich entzücken. Das kalte Wesen, das sich in einen beschränkten Zirkel einer gewissen dürftigen Manier, eines kümmerlichen Fleißes einschränkt, ist mir ganz unerträglich. Du siehst daher, daß meine Freude, meine Neigung bis jetzt nur solchen Kunstwerken gelten konnte, deren natürliche Gegenstände mir bekannt waren, die ich mit meinen Erfahrungen vergleichen konnte. Ländliche Gegenden mit dem, was in ihnen lebt und webt, Blumen- und Fruchtstücke, gotische Kirchen, ein der Natur unmittelbar abgewonnenes Porträt, das könnt ich erkennen, fühlen und, wenn du willst, gewissermaßen beurteilen. Der wackre M*** hatte seine Freude an meinem Wesen und trieb, ohne daß ich es übelnehmen konnte, seinen Scherz mit mir. Er übersieht mich so weit in diesem Fache, und ich mag lieber leiden, daß man lehrreich spottet, als daß man unfruchtbar lobt. Er hatte sich abgemerkt, was mir zunächst auffiel, und verbarg mir nach einiger Bekanntschaft nicht, daß in den Dingen, die mich entzückten, noch manches Schätzenswerte sein möchte, das mir erst die Zeit entdecken würde. Ich lasse das dahingestellt sein und muß denn doch, meine Feder mag auch noch so viele Umschweife nehmen, zur Sache kommen, die ich dir, obwohl mit einigem Widerwillen, vertraue. Ich sehe dich in deiner Stube, in deinem Hausgärtchen, wo du bei einer Pfeife Tabak den Brief erbrechen und lesen wirst. Können mir deine Gedanken in die freie und bunte Welt folgen? Werden deiner Einbildungskraft die Verhältnisse und die Umstände so deutlich sein? Und wirst du gegen einen abwesenden Freund so nachsichtig bleiben, als ich dich in der Gegenwart oft gefunden habe?
Nachdem mein Kunstfreund mich näher kennengelernt, nachdem er mich wert hielt, stufenweis bessere Stücke zu sehen, brachte er nicht ohne geheimnisvolle Miene einen Kasten herbei, der, eröffnet, mir eine Danae in Lebensgröße zeigte, die den goldnen Regen in ihrem Schöße empfängt. Ich erstaunte über die Pracht der Glieder, über die Herrlichkeit der Lage und Stellung, über das Große der Zärtlichkeit und über das Geistreiche des sinnlichsten Gegenstandes; und doch stand ich nur in Betrachtung davor. Es erregte nicht jenes Entzücken, jene Freude, jene unaussprechliche Lust in mir. Mein Freund, der mir vieles von den Verdiensten dieses Bildes vorsagte, bemerkte über sein eignes Entzücken meine Kälte nicht und war erfreut, mir an diesem trefflichen Bilde die Vorzüge der italienischen Schule deutlich zu machen. Der Anblick dieses Bildes hatte mich nicht glücklich, er hatte mich unruhig gemacht. Wie? sagte ich zu mir selbst, in welchem besondern Falle finden wir uns, wir bürgerlich eingeschränkten Menschen? Ein bemooster Fels, ein Wasserfall hält meinen Blick so lange gefesselt, ich kann ihn auswendig; seine Höhen und Tiefen, seine Lichter und Schatten, seine Farben, Halbfarben und Widerscheine, alles stellt sich mir im Geiste dar, sooft ich nur will; alles kommt mir aus einer glücklichen Nachbildung ebenso lebhaft wieder entgegen: und vom Meisterstücke der Natur, vom menschlichen Körper, von dem Zusammenhang, der Zusammenstimmung seines Gliederbaues habe ich nur einen allgemeinen Begriff, der eigentlich gar kein Begriff ist. Meine Einbildungskraft stellt mir diesen herrlichen Bau nicht lebhaft vor, und wenn mir ihn die Kunst darbietet, bin ich nicht imstande, weder etwas dabei zu fühlen noch das Bild zu beurteilen. Nein! ich will nicht länger in dem stumpfen Zustande bleiben, ich will mir die Gestalt des Menschen eindrücken wie die Gestalt der Trauben und Pfirschen.
Ich veranlaßte Ferdinanden, zu baden im See; wie herrlich ist mein junger Freund gebildet! Welch ein Ebenmaß aller Teile! welch eine Fülle der Form, welch ein Glanz der Jugend, welch ein Gewinn für mich, meine Einbildungskraft mit diesem vollkommenen Muster der menschlichen Natur bereichert zu haben! Nun bevölkere ich Wälder, Wiesen und Höhen mit so schönen Gestalten; ihn seh ich als Adonis dem Eber folgen, ihn als Narziß sich in der Quelle bespiegeln!
Noch aber fehlt mir leider Venus, die ihn zurückhält, Venus, die seinen Tod betrauert, die schöne Echo, die noch einen Blick auf den kalten Jüngling wirft, ehe sie verschwindet. Ich nahm mir fest vor, es koste, was es wolle, ein Mädchen in dem Naturzustande zu sehen, wie ich meinen Freund gesehen hatte. Wir kamen nach Genf. Sollten in dieser großen Stadt, dachte ich, nicht Mädchen sein, die sich für einen gewissen Preis dem Mann überlassen? Und sollte nicht eine darunter schön und willig genug sein, meinen Augen ein Fest zu geben? Ich horchte an dem Lohnbedienten, der sich mir, jedoch nur langsam und auf eine kluge Weise, näherte. Natürlich sagte ich ihm nichts von meiner Absicht; er mochte von mir denken, was er wollte; denn man will lieber jemanden lasterhaft als lächerlich erscheinen. Er führte mich abends zu einem alten Weibe; sie empfing mich mit viel Vorsicht und Bedenklichkeiten: es sei, meinte sie, überall und besonders in Genf gefährlich, der Jugend zu dienen. Ich erklärte mich sogleich, was ich für einen Dienst von ihr verlange. Mein Märchen glückte mir, und die Lüge ging mir geläufig vom Munde. Ich war ein Maler, hatte Landschaften gezeichnet, die ich nun durch die Gestalten schöner Nymphen zu heroischen Landschaften erheben wolle. Ich sagte die wunderlichsten Dinge, die sie ihr Lebtag nicht gehört haben mochte. Sie schüttelte dagegen den Kopf und versicherte mir, es sei schwer, meinen Wunsch zu befriedigen. Ein ehrbares Mädchen werde sich nicht leicht dazu entschließen, es werde mich was kosten, sie wolle sehen. »Was?« rief ich aus, »ein ehrbares Mädchen ergibt sich für einen leidlichen Preis einem fremden Mann?« – »Allerdings.« – »Und sie will nicht nackend vor seinen Augen erscheinen?« – »Keinesweges; dazu gehört viel Entschließung.« – »Selbst wenn sie schön ist?« – »Auch dann. Genug, ich will sehen, was ich für Sie tun kann, Sie sind ein junger, artiger, hübscher Mann, für den man sich schon Mühe geben muß.«
Blockhütte
Sie klopfte mir auf die Schultern und auf die Wangen: »Ja!« rief sie aus, »ein Maler, das muß es wohl sein, denn Sie sind weder alt noch vornehm genug, um dergleichen Szenen zu bedürfen.« Sie bestellte mich auf den folgenden Tag, und so schieden wir auseinander.
Ich kann heute nicht vermeiden, mit Ferdinand in eine große Gesellschaft zu gehen, und auf den Abend steht mir das Abenteuer bevor. Es wird einen schönen Gegensatz geben. Schon kenne ich diese verwünschte Gesellschaft, wo die alten Weiber verlangen, daß man mit ihnen spielen, die jungen, daß man mit ihnen liebäugeln soll, wo man dann dem Gelehrten zuhören, den Geistlichen verehren, dem Edelmann Platz machen muß, wo die vielen Lichter kaum eine leidliche Gestalt beleuchten, die noch dazu hinter einen barbarischen Putz versteckt ist. Soll ich Französisch reden, eine fremde Sprache, in der man immer albern erscheint, man mag sich stellen, wie man will, weil man immer nur das Gemeine, nur die groben Züge, und noch dazu stockend und stotternd, ausdrücken kann? Denn was unterscheidet den Dummkopf vom geistreichen Menschen, als daß dieser das Zarte, Gehörige der Gegenwart schnell, lebhaft und eigentümlich ergreift und mit Leichtigkeit ausdrückt, als daß jene, gerade wie wir es in einer fremden Sprache tun, sich mit schon gestempelten, hergebrachten Phrasen bei jeder Gelegenheit behelfen müssen. Heute will ich mit Ruhe ein paar Stunden die schlechten Spaße ertragen in der Aussicht auf die sonderbare Szene, die meiner wartet.
Mein Abenteuer ist bestanden, vollkommen nach meinen Wünschen, über meine Wünsche, und doch weiß ich nicht, ob ich mich darüber freuen oder ob ich mich tadeln soll. Sind wir denn nicht gemacht, das Schöne rein zu beschauen, ohne Eigennutz das Gute hervorzubringen? Fürchte nichts und höre mich: ich habe mir nichts vorzuwerfen; der Anblick hat mich nicht aus meiner Fassung gebracht, aber meine Einbildungskraft ist entzündet, mein Blut erhitzt. Oh! stünd ich nur schon den großen Eismassen gegenüber, um mich wieder abzukühlen! Ich schlich mich aus der Gesellschaft und, in meinen Mantel gewickelt, nicht ohne Bewegung zur Alten. »Wo haben Sie Ihr Portefeuille?« rief sie aus. – »Ich hab es diesmal nicht mitgebracht. Ich will heute nur mit den Augen studieren.« – »Ihre Arbeiten müssen Ihnen gut bezahlt werden, wenn Sie so teure Studien machen können. Heute werden Sie nicht wohlfeil davonkommen. Das Mädchen verlangt ***, und mir können Sie auch für meine Bemühung unter ** nicht geben.« (Du verzeihst mir, wenn ich dir den Preis nicht gestehe.) »Dafür sind Sie aber auch bedient, wie Sie es wünschen können. Ich hoffe, Sie sollen meine Vorsorge loben; so einen Augenschmaus haben Sie noch nicht gehabt, und... das Anfühlen haben Sie umsonst.«
Sie brachte mich darauf in ein kleines, artig möbliertes Zimmer: ein sauberer Teppich deckte den Fußboden, in einer Art von Nische stand ein sehr reinliches Bett, zu der Seite des Hauptes eine Toilette mit aufgestelltem Spiegel und zu den Füßen ein Gueridon mit einem dreiarmigen Leuchter, auf dem schöne, helle Kerzen brannten; auch auf der Toilette brannten zwei Lichter. Ein erloschenes Kaminfeuer hatte die Stube durchaus erwärmt. Die Alte wies mir einen Sessel an, dem Bette gegenüber am Kamin, und entfernte sich. Es währte nicht lange, so kam zu der entgegengesetzten Türe ein großes, herrlich gebildetes, schönes Frauenzimmer heraus; ihre Kleidung unterschied sich nicht von der gewöhnlichen. Sie schien mich nicht zu bemerken, warf ihren schwarzen Mantel ab und setzte sich vor die Toilette. Sie nahm eine große Haube, die ihr Gesicht bedeckt hatte, vom Kopfe: eine schöne, regelmäßige Bildung zeigte sich, braune Haare mit vielen und großen Locken rollten auf die Schultern herunter. Sie fing an, sich auszukleiden; welch eine wunderliche Empfindung, da ein Stück nach dem ändern herabfiel und die Natur, von der fremden Hülle entkleidet, mir als fremd erschien und beinahe, möcht ich sagen, mir einen schauerlichen Eindruck machte. Ach! mein Freund, ist es nicht mit unsern Meinungen, unsern Vorurteilen, Einrichtungen, Gesetzen und Grillen auch so? Erschrecken wir nicht, wenn eine von diesen fremden, ungehörigen, unwahren Umgebungen uns entzogen wird' und irgendein Teil unserer wahren Natur entblößt dastehen soll? Wir schaudern, wir schämen uns; aber vor keiner wunderlichen und abgeschmackten Art, uns durch äußern Zwang zu entstellen, fühlen wir die mindeste Abneigung. Soll ich dir's gestehen, ich konnte mich ebensowenig in den herrlichen Körper finden, da die letzte Hülle herabfiel, als vielleicht Freund L. sich in seinen Zustand finden wird, wenn ihn der Himmel zum Anführer der Mohawks machen sollte. Was sehen wir an den Weibern? Was für Weiber gefallen uns, und wie konfundieren wir alle Begriffe? Ein kleiner Schuh sieht gut aus, und wir rufen: Welch ein schöner kleiner Fuß! Ein schmaler Schnürleib hat etwas Elegantes, und wir preisen die schöne Taille.
Bauernhütte
Ich beschreibe dir meine Reflexionen, weil ich dir mit Worten die Reihe von entzückenden Bildern nicht darstellen kann, die mich das schöne Mädchen mit Anstand und Artigkeit sehen ließ. Alle Bewegungen folgten so natürlich aufeinander, und doch schienen sie so studiert zu sein. Reizend war sie, indem sie sich entkleidete, schön, herrlich schön, als das letzte Gewand fiel. Sie stand, wie Minerva vor Paris mochte gestanden haben, bescheiden bestieg sie ihr Lager, unbedeckt versuchte sie in verschiedenen Stellungen sich dem Schlafe zu übergeben, endlich schien sie entschlummert. In der anmutigsten Stellung blieb sie eine Weile, ich konnte nur staunen und bewundern. Endlich schien ein leidenschaftlicher Traum sie zu beunruhigen, sie seufzte tief, veränderte heftig die Stellung, stammelte den Namen eines Geliebten und schien ihre Arme gegen ihn auszustrecken. »Komm!« rief sie endlich mit vernehmlicher Stimme, »komm, mein Freund, in meine Arme, oder ich schlafe wirklich ein.« In dem Augenblick ergriff sie die seidne, durchnähte Decke, zog sie über sich her, und ein allerliebstes Gesicht sah unter ihr hervor.