Читать книгу Heidis Lehr- und Wanderjahre - Johanna Spyri, Johanna Spyri - Страница 6
Auf der Weide
ОглавлениеHeidi erwachte am frühen Morgen an einem lauten Pfiff, und als es die Augen aufschlug, kam ein goldener Schein durch das runde Loch auf sein Lager hereingeflossen und auf das Heu daneben, dass alles ringsherum golden leuchtete. Heidi schaute er: staunt um sich und wusste durchaus nicht, wo es war. Aber nun hörte es draussen des Grossvaters tiefe Stimme, und jetzt kam ihm alles in den Sinn: woher es gekommen war, und dass es nun auf der Alm beim Grossvater sei, nicht mehr bei der alten Ursel, die fast nichts mehr hörte und meistens fror, so dass sie immer am Küchenfeuer oder am Stubenofen gesessen hatte, wo dann auch Heidi hatte verweilen müssen, oder doch ganz in der Nähe, damit die Alte sehen konnte, wo es war, weil sie es nicht hören konnte. Da war es dem Heidi manchmal zu eng drinnen, und es wäre lieber hinausgelaufen.
So war es sehr froh, als es in der neuen Behausung erwachte und sich erinnerte, wieviel Neues es gestern gesehen hatte, und was es heute wieder alles sehen könnte, vor allem das Schwänli und das Bärli. Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles wieder angezogen, was es gestern getragen hatte; denn es war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte hinaus. Da stand schon der Geissenpeter mit seiner Schar, und der Grossvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei, dass sie sich der Gesellschaft anschlössen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Geissen guten Tag zu sagen.
„Willst du mit auf die Weide?“ fragte der Grossvater. Das war dem Heidi eben recht; es hüpfte hoch auf vor Freuden.
„Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus, wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist; sieh, dort ist’s für dich gerichtet.“ Der Grossvater zeigte auf einen grossen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand. Heidi sprang hin und platschte und rieb, bis es ganz glänzend war. Unterdessen ging der Grossvater in die Hütte hinein und rief dem Peter zu: „Komm hierher, Geissengeneral, und bring deinen Habersack mit!“ Verwundert folgte Peter dem Ruf und streckte sein Säcklein hin, in dem er sein mageres Mittagessen bei sich trug.
„Mach auf!“ befahl der Alte und steckte nun ein grosses Stück Brot und ein ebenso grosses Stück Käse hinein. Der Peter machte vor Erstaunen seine runden Augen so weit auf wie nur möglich; denn die beiden Stücke waren jedes wohl nochmal so gross wie jedes der zwei, die er als eigenes Mittagsmahl drinnen hatte.
„So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein“, fuhr der Öhi fort; „denn das Kind kann nicht trinken wie du, mur so von der Geiss weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag; denn das Kind geht mir dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommst; gib acht, dass es nicht über die Felsen hinunterfällt, hörst du?“
Nun kam Heidi hereingelaufen. „Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Grossvater?“ fragte es angelegentlich. Es hatte sich mit dem groben Tuch, das der Grossvater neben dem Wasserzuber aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seiner Furcht vor der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem Grossvater stand. Er lachte ein wenig.
„Nein, nun hat sie nichts zu lachen“, bestätigte er. „Aber weisst du was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in den Zuber wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geissen, da bekommt man schwarze Füsse. Jetzt könnt ihr ausziehen.“
Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten darauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude; denn da waren ganze Trüppchen feiner roter Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen, goldenen Zistusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die flimmernden, winkenden Blümchen vergass Heidi sogar die Geissen und auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite; denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi nach allen Richtungen.. Und überall brach Heidi ganze Bündel von den Blumen und packte sie in sein Schürzchen ein; denn es wollte sie alle mit heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort werde wie hier draussen. —
So hatte der Peter heut nach allen Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders schnell hin- und hergingen, hatten mehr Arbeit, als er gut bewältigen konnte; denn die Geissen machten es wie das Heidi: sie liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen zusammenzutreiben.
„Wo bist du schon wieder, Heidi?“ rief er jetzt mit ziemlich grimmiger Stimme.
„Da“, tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand; denn Heidi sass am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen Zügen ein.
„Komm nach!“ rief der Peter wieder. „Du musst nicht über die Felsen hinunterfallen, der Öhi haťs verboten.“
„Wo sind die Felsen?“ fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht von der Stelle; denn der süsse Duft strömte mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen.
„Dort oben, ganz oben; wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt.“
Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
„Jetzt hast du genug“, sagte dieser, als sie wieder zusammen weiter kletterten; „sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle nimmst, gibt’s morgen keine mehr.“ Der letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch welche da sein. So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geissen gingen nun auch geregelter; denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen Weideplatz schon von fern und strebten deshalb ohne Aufenthalt dahin. Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich mit seinen Geissen halt machte und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fusse der hohen Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter, und der Grossvater hatte recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war, nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine Vertiefung des Bodens hinein; denn der Wind kam manchmal in starken Stössen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen. Dann streckte sich der Peter lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin; denn er musste sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht, schön fest mit den Blumen darin zusammengerollt und zum Proviantfack in die Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit unten im vollen Morgenglanz. Vor sich sah Heidi ein grosses, weites Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder Seite ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder. Das Kind sass mäuschenstill da und schaute ringsum — weit umher war eine grosse, tiefe Stille. Nur ganz sanft und leise ging der Wind über die zarten blauen Glockenblümchen und die golden strahlenden Zistusröschen, die überall auf ihren dünnen Stengelchen herumständen und leise und fröhlich hin und her nickten. Der Peter war eingeschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geissen kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so froh zumute wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich hinein und begehrte gar nichts mehr, als immerzu da zu bleiben. So verging eine gute Zeit, und Heidi hatte sooft und solange zu den hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder, so wie gute Freunde.
Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so grosser Vogel, wie es in seinem ganzen Leben nie einen gesehen hatte, mit weit ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in grossen Bogen kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidis Ropf.
„Peter! Peter! Erwache!“ rief Heidi laut. „Sieh, der Raubvogel ist da, sieh, sieh!“
Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach, der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und endlich über den grauen Felsen verschwand.
„Wo ist er jetzt hin?“ fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
„Heim ins Nest“, war Peters Antwort.
„Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön, so hoch oben! Warum schreit er so?“ fragte Heidi weiter.
„Weil er muss!“ erklärte Peter.
„Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist“, schlug Heidi vor.
„Oh, oh, oh!“ brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter Missbilligung hervorstossend; „wenn keine Geiss mehr dorthin kann und der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen!“
Jetzt begann der Peter mit einemmal ein so gewaltiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was das bedeuten sollte; aber die Geissen mussten die Töne verstehen; denn eine nach der anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der grünen Halde versammelt, die einen fortzupfend an den würzigen Halmen, die anderen hin- und herrennend, und die dritten ein wenig mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib gegeneinanderstossend. Heidi war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geissen umher; denn das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Tierlein durcheinandersprangen und sich lustig machten, und Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz persönliche Bekanntschaft; denn jedes war eine ganz besondere Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Gewohnheiten. Unterdessen hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin waren, schön auf den Boden in ein Viereck hingelegt, die grossen Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin; denn er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das Schüsselchen und melkte schöne frische Milch vom Schwänli hinein und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er Heidi herbei; musste aber länger rufen als nach den Geissen; denn das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge, und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah und nichts hörte ausser diesen.
Aber Peter wusste sich verständlich zu machen. Er rief, dass es bis in die Felsen hinauf dröhnte, und nun erschien Heidi, und die gedeckte Tafel sah so einladend aus, dass es vor Wohlgefallen um sie herumhüpfte.
„Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen“, sagte Peter; „jetzt setz dich und fang an!“
Heidi setzte sich hin. „Ist die Milch mein?“ fragte es, nochmals das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen betrachtend.
„Ja“, erwiderte Peter, „und die zwei grossen Stücke zum Essen sind auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein Schüsselchen vom Schwänli, und dann komm ich.“
„Und von wem bekommst du die Milch?“ wollte Heidi wissen.
„Von meiner Geiss, von der Schecke. Fang erst einmal zu essen an!“ mahnte Peter wieder. Heidi fing bei der Milch an, und sowie es sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und das ganze übrige Stück, das immer noch grösser war, als Peters eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war, reichte es diesem hinüber mit dem ganzen grossen Brocken Käse und sagte: „Das kannst du haben, ich habe genug.“
Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an; denn noch nie in seinem Leben hatte er so sagen und etwas weggeben können. Er zögerte noch ein wenig; denn er konnte nicht recht glauben, dass es dem Heidi Ernst sei; aber dieses hielt erst recht seine Stücke hin, und da Peter nicht zugriff, legte es sie auf das Knie des Buben nieder. Nun sah er, dass es ernst gemeint war; er erfasste sein Geschenk, nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geissbub. Heidi schaute derweilen nach den Geissen aus. „Wie heissen sie alle, Peter?“ fragte es.
Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es um so besser in seinem Kopf behalten, als er daneben wenig darin aufzubewahren hatte. Er fing also an und nannte ohne Anstoss eine nach der anderen, immer mit dem Finger die betressende bezeichnend. Heidi hörte mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden und jede bei ihrem Namen nennen; denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten. Man musste nur allem genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der grosse Türk mit den starken Hörnern; der wollte mit diesen immer gegen alle anderen stossen, und die meisten liefen davon, wenn er kam. Sie wollten von dem groben Kameraden nichts wissen. Nur der kecke Distelfink, das schlanke, behende Geisschen, wich ihm nicht aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der grosse Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff; denn der Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe Hörnchen. Da war das kleine weisse Schneehöppli, das immer so eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch jetzt sprang das Kind wieder hin; denn die junge jammernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um den Hals des Geissleins und fragte ganz teilnehmend: „Was hast du, Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?“ Das Geisslein schmiegte sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still. Peter rief mit einigen Unterbrechungen von seinem Sitz aus; denn er hatte immer noch zu beissen und zu schlucken: „Es tut so, weil die Alte nicht mehr mitkommt: sie haben sie vorgestern nach Mayenfeld verkauft, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm.“
„Wer ist die Alte?“ fragte Heidi zurück.
„Pah, seine Mutter“, war die Antwort.
„Wo ist die Grossmutter?“ rief Heidi wieder.
„Hat keine.“
„Und der Grossvater?“
„Hat keinen.“
„Du armes Schneehöppli du“, sagte Heidi und drückte das Tierlein zärtlich an sich. „Aber jammere jetzt mur nicht mehr so; siehst du, ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen.“
Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt hatte.
Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geissen der ganzen Schar waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich begegneten.
Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die einen leichtfertig über alles weghüpfend, die anderen bedächtig die guten Kräutlein unterwegs suchend, der Türk hier und da seine Angriffe versuchend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche, stellten sich geschickt daran auf und frassen sie zierlich ab. Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit der grössten Aufmerksamkeit zu.
„Peter“, bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden, „die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli.“
„Weiss schon“, war die Antwort. „Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall.“
Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in grossen Sprüngen den Geissen nach, und das Heidi lief hinterdrein; da musste etwas geschehen sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter lief mitten durch das Geissenrudel der Seite der Alm zu, wo die Felsen schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geisslein, wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht; denn eben sprang das Geisslein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am Bein festgehalten und am Fortsegen seines fröhlichen Streifzuges gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie nach Heidi, dass es ihm beistebe; denn er konnte nicht aufstehen, und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden, hielt sie dem Distelfink unter die Nase und sagte begütigend: „Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar weh.“
Das Geisslein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf seine Füsse gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst, an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war. Heidi erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den Ausreisser zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu zurück; denn er merkte, was geschehen sollte. Aber Heidi schrie laut auf: „Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen; sieh, wie er sich fürchtet!“
„Er verdient’s“, schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: „Du darfst ihm nichts tun; es tut ihm web; lass ihn los!“
Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute niederbielt. „So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von deinem Käse gibst“, sagte dann der Peter nachgebend; denn eine Entschädigung wollte er für den Schrecken haben.
„Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich brauche ihn gar nicht“, sagte Heidi zustimmend, „und Brot gebe ich dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie, und gar keine Geiss.“
„Es ist mir gleich“, bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel wie eine Zusage: Jetzt liess er den Schuldigen los, und der fröhliche Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde hinein. —
So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen. Heidi sass wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und die Zistusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und alles Gras wurde wie golden angehaucht, und die Felsen droben fingen an zu schimmern und zu funkeln. Auf einmal sprang Heidi auf und schrie: „Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen, und der grosse Schnee drüben brennt und der Himmel. Oh, sieh, sieh! Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige Schnee! Peter, steh auf! Sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel! Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!“
„Es war immer so“, sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an seiner Rute fort; „aber es ist kein Feuer.“
„Was ist es denn?“ rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass es überallhin sähe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schön war’s auf allen Seiten. „Was ist es, Peter, was ist es?“ rief Heidi wieder.
„Es kommt von selbst so“, erklärte Peter.
„Oh, sieh, sieh“, rief Heidi in grosser Aufregung, „auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! Wie heissen sie, Peter?“
„Berge heissen nicht“, erwiderte dieser.
„Oh, wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen oben sind viele, viele Rosen! Oh, min werden sie grau! Oh, oh! Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!“ Und Heidi setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge wirklich alles zu Ende.
„Es ist morgen wieder so“, erklärte Peter. „Steh auf, nun müssen wir heim.“
Die Geissen wurden herbeigepfiffen und -gerufen und die Heimfahrt angetreten.
„Ist’s alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide sind?“ fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
„Meistens“, gab dieser zur Antwort.
„Aber gewiss morgen wieder?“ wollte es noch wissen.
„Ja, ja, morgen schon!“ versicherte Peter.
Nun war Heidi wieder froh, und es hatte soviele Eindrücke in sich aufgenommen und soviele Dinge gingen ihm im Sim herum, dass es nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den Grossvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank angebracht hatte und am Abend seine Geissen erwartete, die von dieser Seite herunterkamen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und Schwänli und Bärli hinter ihm drein; denn die Geissen kannten ihren Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: „Komm dann morgen wieder! Gute Nacht!“ Denn es war ihm sehr daran gelegen, dass das Heidi wiederkomme.
Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang es mitten in die davonziehende Herde hinein und sasste noch einmal das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: „Schlaf wohl, Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme, und dass du nie mehr so jämmerlich meckern musst!“
Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf und sprang dann fröhlich der Herde nach.
Heidi kam unter die Tannen zurück.
„Oh, Grossvater, das war so schön!“ rief es, noch bevor es bei ihm war. „Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben Blumen, und sieh, was ich dir bringe!“ Und damit schüttete Heidi seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den Grossvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges Kelchlein stand mehr offen.
„Oh, Grossvater, was haben sie?“ rief Heidi ganz erschrocken aus. „So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?“
„Die wollen draussen in der Sonne stehen und nicht ins Schürzlein hinein“, sagte der Grossvater.
„Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Grossvater, warum hat der Raubvogel so gekrächzt?“ fragte Heidi nun angelegentlich.
„Jetzt gehst du ins Wasser, und ich gehe in den Stall und hole Milch, und nachher kommen wir zusammen hinein in die Hütte und essen zu Nacht, dann sag ich dir’s.“
So geschah es, und wie nun Heidi später auf seinem hohen Stuhl vor seinem Milchschüsselchen sass und der Grossvater neben ihm, da kam das Kind gleich wieder mit seiner Frage: „Warum krächzt der Raubvogel so und schreit immer so herunter, Grossvater?“
„Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie soviele zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er hinunter: ,Würdet ihr auseinandergehen und jedes seinen Weg und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär’s euch wohler!‘“ Der Grossvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindringlicher in der Erinnerung wurde.
„Warum haben die Berge keinen Namen, Grossvater?“ fragte Heidi wieder.
„Die haben Namen“, erwiderte dieser, „und wenn du mir einen so beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er heisst.“
Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau so, wie es ihn gesehen hatte, und der Grossvater sagte wohlgefällig: „Recht so, den kenn ich, der heisst Falkniss. Hast du noch einen gesehen?“
Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem grossen Schneefeld, auf dem der ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
„Den erkenn ich auch“, sagte der Grossvater, „das ist der Scesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?“
Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen wäre, und besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Grossvater auch sagen, woher es gekommen wäre; denn der Peter hätte nichts davon gewusst.
„Siehst du“, erklärte der Grossvater, „das macht die Sonne: wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am Morgen wiederkommt.“
Das gefiel dem Heidi, und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder ein Tag kam, da es hinauf auf die Weide und wieder sehen konnte, wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf seinem Heulager und träumte von lauter schimmernden Bergen und roten Rosen darauf, und mitten drin rannte das Schneehöppli herum in fröhlichen Sprüngen.