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Der seidene Tony
ОглавлениеDAS FAULIGE HERZ
Love Stories
Johanna Vedral
Auf der Zugfahrt von Wien nach Graz ist Sonja ganz mulmig zumute. Sie kann sich nicht auf „Bin nur mal Zigaretten holen“ konzentrieren, obwohl sie sich schon sehr auf das Buch gefreut hat. Aber schon nach ein paar Seiten weiß sie nicht mehr, was sie gelesen hat. Sie hat Bauchweh. Ob das wirklich eine gute Idee ist, einen Mann zu treffen, den sie eigentlich gar nicht kennt? Wer sagt denn, dass Tony noch irgendetwas mit dem 17jährigen Sänger der „Lovers“ zu tun hat, dessen Coverversion von „Tunnel of Love“ sie sofort im Ohr hat, wenn sie sich an damals erinnert? Dass er noch genauso unbehaart ist wie damals, dessen hat er sie in seinen anzüglichen Chatnachrichten versichert und das auch mit ästhetischen Großaufnahmen belegt. Seiner Frau sei das egal, aber ihr nicht, denn sie verstehe ihn ja…
Sie hat schlecht geschlafen. Im Traum hat sie Tony im Bahnhofscafe in Graz getroffen, und er war nicht schlank und seidig, sondern faltig und verlebt, hatte einen Bauch und Mundgeruch. Er wollte sie küssen, doch sie wollte nicht. Sie täuschte einen dringenden Anruf vor und stieg in den nächsten Zug zurück nach Wien.
Als der Zug über den Semmering zockelt, würde sie am liebsten wieder aussteigen. Doch da kommt nach dem Funkloch eine Nachricht von Tony herein: „In einer Stunde bist du da! Lass uns doch auf den Schlossberg gehen. Erinnerst du dich?“
Natürlich erinnert sie sich. Am Schlossberg haben sie sich das erste Mal geküsst, als sie mit der Schule einen Ausflug machten. Sie erinnert sich noch an den Geruch seines Pullovers und an seine weichen Wangen, auf denen ein zarter Bartflaum spross, weich und seidig. Und dann haben sie sich hinter einem Busch versteckt, um sich ohne die Argusaugen ihres stets leicht angeheiterten Klassenvorstands auch unterhalb der Pullover streicheln zu können.
Sie glaubt, Franz ahnt etwas. Seit sie mit Tony ausgemacht hat, dass sie sich in Graz treffen, hat Franz sie nach Ewigkeiten mal wieder zum Essen eingeladen. Sie waren beim Inder, wo sie sich in ihrer Studentenzeit öfter getroffen haben, und nachher hat Franz sich nicht mit seinem Laptop aufs Sofa gelegt wie sonst, sondern sie geküsst. Es war eindeutig, dass er Sex von ihr wollte, nach Monaten, in denen nichts gelaufen ist.
Dass sie übers Wochenende nach Graz fährt, weil dort angeblich eine Englischlehrerkonferenz stattfindet, hat er wohl am Rande mitbekommen. Da Tascha zu der Zeit auf Schullandwoche in Salzburg ist, tangiert ihn das nur peripher. Er ist sowieso in Liechtenstein, wo er die Gründung seiner dritten Firma in die Wege leitet. Glaubt Sonja. Oder ist er in London? Ist ihr eigentlich egal. Dass sie ihm auch nur mit halbem Ohr zuhört wie er ihr, ist eigentlich traurig. Dass sie einfach so plant, Tony zu treffen und, wenn es passt, ihren Mann auch mit Tony zu betrügen, ist auch traurig. Oder ist das normal nach 13 Jahren Ehe? Franz meint ja immer, dass er von offenen Beziehungen nichts hält. Dass er sich sofort scheiden lassen würde, wenn da ein anderer Mann ins Spiel käme. Und dann klopft er ihr jovial auf den Schenkel und scherzt, er hätte sie ja schon erobert, er müsse sich auch nicht mehr um sie bemühen, schließlich wäre sie ihm vertraglich zugesichert, haha.
Auf jeden Fall ist er seit ein paar Tagen so nett wie schon lange nicht mehr und so aufmerksam, dass es ihr schon unheimlich ist. Er hat ihr von einem seiner Liechtensteiner Spezis eine Theaterkarte mitgebracht, für „A Midsummernight Dream“, nett von ihm, obwohl er wissen müsste, dass sie das Stück oft genug gesehen hat, immerhin war er mit ihr im gleichen Diplomandenseminar. Und er hat diese Woche schon zweimal „auf seine ehelichen Rechte gepocht“, was für sie leider zwei schlaflose Nächte bedeutete, weil sie sein Schnarchen im Bett gar nicht mehr gewöhnt ist, schläft er doch die meiste Zeit am Sofa.
Auf was für eine Schnapsidee hat sie sich da nur eingelassen! Sie ist 45, und das sieht man auch. Ihr fehlen drei Zähne, weil die Implantate noch nicht fertig sind, auf ihrem Bauch sind Schwangerschaftsstreifen und sicher sind im grellen Mittagslicht alle Falten gestochen scharf herausgemeißelt. O my god! Was ist sie nur für eine Närrin. Und auch wenn nichts passiert, wenn sie nur einen Kaffee trinken und eine Runde spazieren gehen, es reicht, wenn sie jemand sieht, der Franz kennt, Franz kennt Gott und die Welt, und wenn Franz erfährt, dass sie einen anderen Mann getroffen hat und ihn angelogen hat, dann hackt er einfach ihr Handy und liest die Chat-Schweinereien und lässt sich sofort von ihr scheiden und nimmt ihr Tascha weg und sie muss ausziehen und in einer grindigen Einzimmerwohnung hausen, weil sie so viele Alimente zahlen muss, dass sie sich nicht mal mehr die Butter aufs Brot leisten kann…
Aber sie will Tony treffen. Seit er ihr vor zwei Monaten dieses Mail geschrieben hat, will sie es wissen.
Es ist Donnerstag, als in der Yogastunde auf einmal ein Mann auftaucht. Sofort ist eine andere Energie im Raum, ein Geschnatter und Posieren und Dekollete-Richten, widerlich. Dabei ist er nicht einmal besonders gutaussehend und sicher schon weit über 50, und Sonja hat ihn im Verdacht, dass er nur deshalb in die offene Yogastunde gekommen ist, weil er gehört hat, hier könnte man knackige Frauen um die 40 pflücken.
Sonja hat sich vor fünf Jahren dem Yoga zugewandt. Yoga ist verlässlicher als Sex, eine Yogamatte ist immer bei der Hand. Sonjas Mann weniger. Franz lebt in seiner Computerwelt. Heute ist er ausnahmsweise um 21 Uhr schon zuhause, sie sieht schon beim Heimkommen das Flackern des Fernsehlichts im dunklen Garten. Wenn Franz und Sonja noch miteinander reden würden, könnten sie sich jetzt bei einem Glas Wein über den notgeilen Yoga-Mann lustig machen. Sonja drückt Franz das obligatorische trockene Bussi auf die Lippen. Franz starrt auf seinen Laptop. Im Fernsehen schreit eine Prolo-Tussi ihren Mann an, weil sie ihn mit einer anderen in flagranti erwischt hat.
Es ist mal wieder einer dieser Abende, an denen Tascha bei Sonjas Mutter schläft. Franz und Sonja haben früher an solchen Abenden romantische Abendessen, Ausflüge in die Therme oder auch mal einen Besuch im Theater genossen. Sonja kann sich gar nicht mehr erinnern, wann das aufgehört hat. Jetzt sind kinderfreie Abende Abende wie alle anderen auch: Franz ist in Skype-Konferenzen oder mit dem Aufarbeiten seiner nie endenwollenden Mails beschäftigt und telefoniert zwischendurch, ziemlich laut, um den Fernseher zu übertönen, den Laptop am Schoß jonglierend.
Sonja fragt sich eigentlich gar nicht mehr, was sie tun könnten, um wieder etwas Leben in ihre Beziehung zu bringen. Sie geht lieber gleich in ihr Zimmer, macht es sich mit dem Laptop auf der Couch gemütlich und beschließt, mal die Schularbeiten der sechsten Klasse liegen zu lassen, das kann sie morgen auch noch machen. In ihrem Posteingang findet sie ein Mail mit dem Betreff „Endlich!!!“ Der Absender ist Tony, ihr Schwarm aus der siebten Klasse, von dem sie seit ihrem ziemlich heftigen Bruch damals nie wieder etwas gehört hat! Ihr Herz beginnt schneller zu klopfen, sie öffnet das Mail:
„Sonja! Wie lange habe ich gesonnen, um dich finden zu dürfen, ich denke, es ist vollbracht. Ach Gott! good vibrations, Tony. du erinnerst dich vielleicht? :)“
Ja, sie erinnert sich, dass sie damals ziemlich verzweifelt war, weil er so plötzlich mit ihr Schluss machte wegen dieses dämlichen Groupies, aber dann ist sie sowieso für ein Semester nach Berkeley und in eine ganz andere Welt eingetaucht, da war nicht mehr viel Raum für Liebeskummer. Aber dann war sie wieder im Lande, und er hätte ja nur bei einer ihrer Schulfreundinnen nachfragen müssen, wenn er sie wirklich gesucht hätte. Schon irgendwie komisch, dass er sich jetzt, 27 Jahre später meldet.
Sonja schreibt Tony gleich zurück. Zwei Minuten später poppt der Facebook-Chat auf, und eine halbe Stunde später, nachdem sie sich über ihre Ehepartner, Kinder, Hunde und berufliche Werdegänge up to date gebracht haben, weiß sie auch schon, dass Tony in seiner Ehe sehr unglücklich ist, weil Christine keinen Sex mehr will. Normalerweise redet Sonja ja mit niemandem über ihren Frust mit Franz, nicht einmal mit ihren Freundinnen, weil sie findet, dass Beziehungsprobleme nicht nach außen getragen, sondern in der Beziehung besprochen werden sollen, aber heute ertappt sie sich dabei, dass sie Tony erzählt, dass sie keinen Sex mehr habe mit Franz. Und auch mit sonst niemand. Und sie erzählt Tony, dass Franz sich in den letzten zwei Jahren eine Wampe zugelegt hat. Es gibt nicht mehr Körperkontakt als ein Küsschen zur Begrüßung und eines zum Abschied. Sie masturbiere nicht einmal mehr. Sie hätte sich nicht gedacht, dass mit 45 schon tote Hose ist.
Kaum ist der sexuelle Notstand ausgesprochen, geht es auch schon um sexuelle Fantasien… Tony scheint hier ja ein großes Mitteilungsbedürfnis zu haben. Aber kaum fragt Sonja nach, was ihn denn in der Ehe noch halte, wenn er doch so unbefriedigt sei… beendet er das Gespräch mit „Sie kommt! Küsse, mein Liebstes, bis bald!“
Aufgezwirbelt hat sie der Chat mit Tony. Geflirtet wurde schon sehr lange nicht mehr mit ihr. Sie fragt sich, wer war, wer ist sie für ihn. Eine erotische Fantasie?
Tony hatte ein Moped, mit dem er sie im tiefsten Winter mitnahm. Manchmal küssten sie sich so lange am Sozius, bis die Füße wie Eiszapfen waren und die Gänsehaut in schaudernden Wellen über ihre Haut rieselte. Aber sie kann sich nicht mehr daran erinnern, wie seine Brust aussah, ob sie behaart war oder nicht, wie es war, mit ihm im Bett zu sein, wie sein Penis aussah… nur an seine Augen erinnert sie sich, seine großen, weichen, braunen Augen.
Aber sie will wissen, wer er jetzt ist. Sie will ihn leibhaftig vor sich sehen. Sie will ihm in diese Augen sehen, mit denen er sie schon einmal verzaubert hat. Sie googlet ihn und findet Bilder… von atemberaubenden Models mit sehr wenig Stoff auf der Haut… und ein paar davon haben sein Gesicht…
Tony schreibt ihr eine Stunde später – als sein Drachen schlafen gegangen ist - von seinen Jahren als Modefotograf, wie sehr ihn diese Branche angeekelt hätte, mit den Kokainbergen auf den Regietischen, den kotzenden Magermodels und den aufgetakelten alten Tunten, die ihm Avancen gemacht hätten. Er beteuert, weder seine Nase gepudert, noch reihenweise Models verführt zu haben oder einem Modeschöpfer erlegen zu sein. „Da hat meine Nemesis immer viel zu gut auf mich aufgepasst“, lässt er in einem Nebensatz fallen. Sonja will mehr wissen. Immerhin ist Christine Weininger nicht irgendwer, sie ist eine der reichsten Erbinnen am Wörthersee und bekannt für ihre Charity-Events, bei denen sie mehr Spenden für behinderte Kinder lukriert als Frau Swarowsky und Frau Schiller zusammen. Noch dazu sieht sie unverschämt gut aus dafür, dass sie fast 60 ist.
Um Mitternacht chatten Sonja und Tony noch immer. „Ich will deine Falten aus der Nähe angucken und zählen, wie viele Zähne du noch hast“, neckt sie ihn, und dann reden sie über ein Date. Mal heimlich treffen? Einmal ist keinmal, wer sagt denn, dass wir uns wieder ineinander verknallen? Das ist doch alles nur ein Hirngespinst zweier alter Dackel, die schon viel zu lange nicht mehr gut gevögelt haben.
Tonys Zimmertür steht offen. Es duftet nach seinem neuen Parfum, Dior for Men, und nach kaltem Rauch. Christine reißt das Flügelfenster auf, und ein Hauch von Frühling kommt in das Zimmer. Die dicken roten Vorhänge, die den Blick in ihren Park aussperren, wirbeln Staub auf, Christine muss husten. Im Garten plätschert der Springbrunnen mit der Meerjungfrau, den Tony nicht leiden kann, weil ihn der Nazi-Onkel hat aufstellen lassen, wie er Christines Onkel Theodor immer nennt.
Tony hat scheinbar mal wieder nicht entscheiden können, was er heute anziehen soll. Auf dem rosa Bretz-Sofa, das sie ihm zu Weihnachten geschenkt hat, liegen seine rote, die schwarze und die taupefarbenen Röhrenjeans von Armani, die hautengen passenden schwarzen Wildseidenshirts, Wildseidenslips in allen Farben, Größe S, seine Yashica und die neue digitale Spiegelreflexkamera, zwischen den Slips. Am Boden verstreut Fotoabzüge von einem seiner Shootings, von unzähligen Fotos blickt Christine Tony entgegen, da hat er noch seine lange Mähne und lutscht lasziv an einem Lolli, da sitzt er am Ufer des Wörther Sees und das Blau des Wassers spiegelt sich in seinen gnadenlos blauen Augen… Könnte es sein, dass er wieder die Kamera zur Hand nehmen möchte? Oder hat er eine dieser Anwandlungen gehabt, wo er stundenlang vor dem Spiegel posiert und Fotos nachstellt, die aber natürlich nie so aussehen wie diese alten Fotos… Auch wenn er der einzige Mann in seinem Alter ist, der noch in die Hosen reinpasst, die er vor 20 Jahren getragen hat. Nicht dass er diese Hosen noch hätte, die hat er doch alle weggeworfen, nicht mal zur Altkleidersammlung gegeben, und dann hat er seine Mähne abgeschnitten, weil die Geheimratsecken immer deutlicher wurden.
Das Bett, in dem er in letzter Zeit immer häufiger alleine schläft, ist zerwühlt, am Nachttisch der überquellende Aschenbecher, das ist doch die venezianische Kristallschale, die Christines Mutter ihnen zur Hochzeit geschenkt hat. Daneben der Laptop, seine Medikamente, Zyprexa, Meresa und schon wieder eine neue Schachtel Valium. Und er dürfte gestern auch mal wieder zu tief ins Glas geschaut haben, gleich zwei fast zur Neige geleerte Flaschen mit dem ältesten Tokayer aus ihrem Keller, dabei hatte sie ihn doch gebeten, den für ihren Hochzeitstag aufzuheben, das sind doch die letzten Flaschen… Und er darf die Antidepressiva nicht mit Alkohol mischen, das weiß er doch, er nimmt sie ja schon lange genug.
Christine widersteht der Versuchung, den Aschenbecher auszuleeren, sie ist doch nicht seine Mutter, aber da steht sein Laptop, und ein Chatfenster ist offen…
„Hast du am 1. Mai Zeit?“, poppt Tonys Nachricht auf Sonjas Handydisplay auf. Ihre Tochter ist schneller beim Handy als sie, Sonja reißt es ihr aus der Hand, gerade als Tonys nächste Zeile reinflattert: „Drei Tage lang nackt am Strand liegen, nur wir zwei…“
„Schreib mir keine SMS!!!“, schreit Sonja in Großbuchstaben und mit drei Rufzeichen. „Und schon gar keine eindeutigen!“ Ihr ist heiß, ihr Herz flattert. Gut, dass Tascha nicht den zweiten Teil der Nachricht gesehen hat. Was fällt ihm ein! Er hat ihr künstlerisch anspruchsvolle Ansichten seines auch mit 45 noch sehr knusprigen Körpers geschickt. Seitdem träumt sie seit langem wieder von Sex. Und das, nachdem sie sich endlich damit abgefunden hatte, dass sie wohl in die Phase ihres Lebens eingetreten war, in der es mit dem Sex vorbei ist.
Komisch, dass er aufhören muss, weil Christine auf einmal um ihn herumschleicht. Es gefällt Sonja nicht, wie sich seine Stimme verändert, wenn er von ihr spricht. Immerhin war sie die große Liebe seines Lebens und hat ihm mehrfach das Leben gerettet, weil sie ihn jedes Mal, wenn er eine Überdosis Valium geschluckt hat, ins Spital chauffiert hat, wo er dann so lange auf der Geschlossenen behandelt wurde, bis die Ärzte ihm attestierten, dass er jetzt von seiner Suizidalität genesen sei.
Aber, wer sagt denn, dass Sonja Franz betrügen wird? Oder dass Christine sich Sorgen um die Treue ihres Tony machen muss?
Als der Zug in Graz einfährt, war Sonja schon fünfmal auf dem Zugklo, weil sie vor lauter Aufregung Durchfall bekommen hat. Ihr Bauch fühlt sich an, als hätte sie Seifenlauge getrunken. Nun, sie könnte ja einfach weiter fahren und ihre Tante in Grado besuchen… Aber nein, sie will es wissen. Vielleicht hat dann diese pubertäre Schwärmerei endlich ein Ende.
Im Cafe Artner ist die Menüzeit vorbei. Es sitzen nur noch vereinzelte Gäste herum, vor allem jüngere Leute, Studenten. Sonja geht zweimal durch das verwinkelte Lokal, in dem es nach Fett und Rauch riecht, aber sie sieht Tony nicht. Blechern tönt ein alter Melissa Etheridge-Song aus den Boxen, „Bring me some water“… „Sonja?“, hört sie eine Frauenstimme von hinten. „Bist du das?“
Christine sieht noch besser aus als auf den Society-Fotos aus den Klatschillustrierten. Sie trägt ein teures Kleid, das ihre Topfigur umschmeichelt, natürlich eine schlichte Perlenkette, die sicher mehr kostet als ein Pferd, und ihre Frisur war sicher auch nicht billig. Sie lächelt und dabei zeigt sie, dass sie auch ohne Botox unglaublich attraktiv ist und mindestens zehn Jahre jünger aussieht. Wie kann Tony diese wunderbare Frau als kontrollsüchtigen Drachen titulieren?
„Frau Weininger?“, fragt Sonja und fühlt sich wie eine Studentin. Christine kommt auf sie zu und streckt ihr die Hand entgegen. Ein feiner Hauch von Chanel No.5, dezent und gleichzeitig sehr teuer, wie alles an Tonys Frau.
„Nenn mich Christine!“, verlangt sie mit ihrer wohlklingenden Stimme und dirigiert Sonja zum besten Tisch im Cafe Artner. Der Kellner ist sofort zur Stelle, serviert ungefragt ein kleines Büffet mit Kaffee, Tee, Obst und Kuchen und zieht sich sofort wieder dezent zurück.
Christine fixiert Sonja mit ihren natürlich raffiniert geschminkten grünen Augen. „Bist du gar nicht überrascht, dass ich hier bin?“, will sie wissen.
„Seit wann wissen Sie… weißt du, dass Tony und ich uns treffen wollten?“
„Seit wann ich eure kleinen Indiskretionen mitlese, Liebes, willst du wissen, nicht wahr?“ Christine lächelt. „Nun, Tony kann wirklich schwer lügen. Du darfst nicht vergessen, wir sind seit 25 Jahren verheiratet, da lernt man sich ziemlich gut kennen. Aber das dürftest du ja wissen, wie das so läuft in langen Ehen, dein Franz und du, ihr seid ja auch schon 13, 14 Jahre zusammen? Übrigens ein sehr fescher Mann, dein Franz, ich hab ihn erst letzten Sommer in Singapur getroffen.“
Sonjas Kehle ist wie zugeschnürt, wenn sie jetzt einen Schluck Kaffee nimmt, kommt der sofort wieder hoch. Sie hält sich am Häferl fest und holt tief Luft.
„Ach, Sonja, meine Liebe, Tony lässt sein Handy überall herumliegen und hat einen Platz in der Laube in unserem Garten, wo er sich mit den Hunden hinsetzt, um heimliche Telefonate zu führen. Er ist so durchschaubar wie ein kleines Kind, was er ja in gewisser Weise auch ist, wie alle Männer, nicht wahr?“ Ihr dezent geschminkter Mund hat nicht einmal die Andeutung von Runzeln, und der ist sicher auch nicht gebotoxt, wie macht sie das bloß?
„Meine Liebe, ja, Ich hab mir ein paar eurer amüsanten Gespräche angehört, ja. Die waren aber nichts Neues. Du bist ja nicht die einzige, mit der er über seine sexuellen Fantasien spricht…. Oh, du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass er sich seit Jahrzehnten nach dir verzehrt? Und dass zwischen ihm und mir nichts mehr läuft? Oder?“
„Wo ist Tony?“, will Sonja wissen. „Was hast du Tony gesagt?“
„Tony hat ein SMS bekommen, dass du leider nicht zu dem Rendezvous kommen kannst, weil Franz Verdacht geschöpft hat, Liebes. Er schmollt jetzt sicher und fährt eine Runde mit dem Boot, um seine Laune wieder zu verbessern. Und ja, er ist in Velden geblieben.“
„Was willst du? Warum bist du hier?“
„Welches Spiel wird hier gespielt, ja, Liebes, das möchtest du gerne wissen? Nun, zuallererst habe ich Franz eine Kopie eurer schmutzigen kleinen Korrespondenz zukommen lassen, damit er weiß, was sein liebes Frauchen hinter seinem Rücken so treibt…“ Christine lächelt, als würde ein Society-Reporter ein Titelbild von ihr schießen.
Sonja wird heiß, ihre Hände zittern. Franz ist ja immer und überall online, sei es in Singapur oder in Neunkirchen am Golfplatz. Er hat es vielleicht schon gewusst, als sie elend auf der schwankenden Bahntoilette saß… Das fühlt sich zuerst mal an wie ein Schlag in die Magengrube, und ihr bleibt kurz die Luft weg.
„Aber, es ist ja nichts passiert! Wir haben uns ja nicht einmal getroffen. Es waren doch nur Mails!“ Eigentlich sollte sie jetzt vor Entsetzen beben, doch in ihr macht sich nur eine große Erleichterung breit. Franz weiß alles. Dank Christine muss sie es ihm nicht mehr sagen.
„Und du meinst, das macht einen Unterschied, ob ihr nur heiße Chats genossen habt oder ob ihr eure Fantasien im Hotelzimmer umgesetzt habt? Hast du dir auch nur einen Moment überlegt, wie es Franz damit gehen wird, wenn er das erfährt? Wolltest du es ihm vielleicht im Nachhinein gestehen? Oder sollte es euer süßes kleines Geheimnis bleiben, von dem der dumme alte Kontrolldrachen Christine nie was erfahren wird?“, faucht Christine, und jetzt bilden sich doch ein paar Risse in ihrem teuren Make-up, viele feine Falten werden sichtbar, und ihre perfekt manikürten Hände wischen etwas von der glatten Schicht ab. „Aber, liebste Sonja, du solltest wissen, dass Tony noch nie fremdgegangen ist. Er schreibt zwar gerne Mails, und nicht nur an dich, falls du das geglaubt haben solltest. Aber er weiß, was er hat. Niemals würde er das Häuschen in Pula, sein Boot in Velden oder die Villa in Mödling aufgeben, nur für ein paar Treffen mit einer auch nicht mehr grade taufrischen kleinen Lehrerin wie dir. Glaubst du, er würde auf all das verzichten wollen? Was kannst du ihm schon geben?“
Sonja wird innerlich ganz kalt. Sie spürt ganz genau, wie recht Christine doch hat. Wie dumm von ihr, neue Seidenunterwäsche anzuziehen, sich die Beine extra schön zu rasieren und in den Zug zu steigen, um einen Tony zu treffen, den es gar nicht gibt. Wie dumm von ihr, einfach ihre Ehe, ihr ganzes Leben aufs Spiel zu setzen, nur um hier eine reiche alte Frau zu treffen, die es notwendig hat, sie mit Gift zu bespritzen, weil sie ihren Toy Boy zum Spielen ausborgen wollte.
Sonja hat keine Lust, Christine das letzte Wort zu lassen. Sie steht auf, schiebt die unberührte Kaffeetasse von sich und schlüpft in ihre Jacke. „Vielen Dank für das aufschlussreiche Kaffeekränzchen, Frau Weininger. Leben Sie wohl und lassen Sie mir Tony schön grüßen. Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut.“
Am Bahnhof kauft Sonja kurzerhand ein Ticket nach Grado und eine schicke neue Sonnenbrille. Als eine Sms von Franz reinkommt, „Wir müssen reden, Sonja!“, schreibt sie nur kurz zurück: „Ja, müssen wir. Wie wär`s am Montag, um 17:00 im Cafe Landtmann?“ Dann dreht sie das Handy ab, setzt die Sonnenbrille auf und beginnt ihr neues Leben.