Читать книгу Das leise Kratzen in der letzten Rille. Absurditäten aus dem Leben eines Taugenichts - Johannes Finkbeiner - Страница 4

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FINK

1. Kapitel

Savićević riss ein Magritte-Plakat von der Wand und warf es weg, denn es gefiel ihm nicht mehr. Man konnte seine Meinung ja auch mal ändern. Dann hängte er mit seinen drei T-Shirts eine Trikolore auf den Wäscheständer, dachte kurz nach und ging schließlich in die Küche, um ein Bier zu trinken. Er hatte sehr gut geschlafen.

Savićević war 28 Jahre alt und hatte dichte blonde Haare; im Nacken waren sie etwas länger und bogen sich zwei Hörnchen ähnlich hinter den Ohren hervor. Im linken Ohr trug er einen kleinen, silbernen Ring, den er eigentlich gerne loswerden wollte. Es war ihm aber zu lästig, ihn herauszunehmen. Seine Augen waren grüngrau.

Seit ein paar Monaten wohnte er in einem Bungalow am Ufer des Eau des Goûts, dem größten Strom der Föderativen Republiken Europas. Die Adresse war Franz K. Stanzel-Straße 1. In den achtziger Jahren hatte er durch Sportwetten ein großes Vermögen verdient, von dem er seither lebte. Besonders bei UEFA-Cup-Rückspielen von Werder Bremen hatte er den richtigen Riecher gehabt. Das Geld erlaubte es ihm, frei über seine Zeit zu bestimmen.

Er war sehr glücklich über diesen Umstand, denn auf Arbeiten hatte er keine Lust – sein Leben war ihm wichtiger. Seine Zeit nutzte er vor allem dafür, ein, zwei Bier zu trinken, Platten zu hören oder mit seinen Tieren in die Disko zu gehen. Er hatte sich auf exotische Arten spezialisiert, da er mit Hunden nicht viel anfangen konnte und Hamster ihm leid taten. Seine Lieblingstiere waren Faultiere. Er selbst ähnelte ihnen insofern ein wenig, als er ziemlich oft im Bett anzutreffen war und in einem etwas unorthodoxen Rhythmus lebte, der ihm bisweilen Unannehmlichkeiten bescherte. Die meisten seiner Nachbarn waren nämlich Beamte und hassten Savićevićs Vorliebe, spätnachmittags aufzustehen, und schrieben deswegen Beschwerdebriefe an die zuständige Behörde.

Montags um 6:30 Uhr kam dann immer Herr Sträuber vom Ordnungsamt und klingelte ihn aus dem Bett. Spätes Aufstehen sei unerlaubt; da könne ja jeder kommen, und das könne schwerwiegende Konsequenzen haben. Die Kostenzusageübernahmeerklärung sei unverzüglich einzureichen. Savićević kannte solcherlei sinnlosen Müll nur aus dem Fernsehen, und da es obendrein viel zu früh für eine stringente Argumentation in drei Schritten war, entgegnete er nur kurz, aber treffend: „Arschloch!“ Damit schubste er ihn hinaus, knallte die Tür zu und legte sich wieder hin. Sträuber brüllte dann meistens irgendwelche unverständlichen Hassausdrücke und drohte schließlich damit, neben Savićevićs Bungalow ein Atomkraftwerk bauen zu lassen – dies war die einzige Drohung, mit der man ihn beeindrucken konnte. Aufgebracht fügte er hinzu: „Nehmen Sie endlich eine ehrliche Arbeit auf! Sie liegen ja nur auf dem Lotterbett!“

Savićević hörte von alldem jedoch nichts mehr, denn er war längst wieder eingeschlafen. Im Übrigen fand er keineswegs, dass er auf dem Lotterbett lag; er hatte genug damit zu tun, über alles Mögliche nachzudenken.

Die meisten seiner Tiere lebten direkt neben seinem Bungalow in einem dreistöckigen Gebäude, wo sie eine Art autonome Gemeinschaft gebildet hatten. Bei sich im Bungalow hatte Savićević die Tiere einquartiert, zu denen er den persönlichsten Kontakt hatte. Es waren Gökhan, sein ältestes Faultier, Pynchon, ein Schwarzer Panther, die Kobra Topstar und M’Boma, ein afrikanisches Spitzmaulnashorn. Abgesehen von seinen Tieren hatte Savićević zwei Freunde, die er allerdings nur selten zu Gesicht bekam, da sie weit weg wohnten: Es waren Brinkmann, ein stromaufwärts in K.-Stadt wohnender Physiker, der in jüngster Zeit die Absurdität des Lebens bewiesen hatte und dadurch berühmt geworden war, und der Fahrradmechaniker Abduschaparow.

Und dann gab es noch Lie. Savićević dachte fast immer an Lie. Sie hatten sich bei einem schulübergreifenden Lesewettbewerb kennengelernt. Savićević war 14 Jahre alt gewesen und besuchte damals das Uwe-Bein-Gymnasium in Ouagadougou. Lie machte zu der Zeit ein Auslandsjahr in Bayern. Bei jenem Lesewettbewerb waren sie beide in die Endausscheidung gekommen, die an einem Samstag im April in Stuttgart-Heslach stattfand. Lie gewann den Wettbewerb überlegen mit einem tadellos vorgetragenen Textausschnitt aus Ich werde auf eure Gräber spucken. Savićević dagegen verhaspelte sich vor Aufregung beim Lesen der Kurzgeschichte Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah. Lie hatte ihm gegenüber gesessen, und da er immerzu in ihr sommersprossiges Gesicht schauen wollte, hatte er sich in kürzester Zeit mehrere leichte Lesefehler eingefangen.

Am Abend waren sie zusammen ins Hi tanzen gegangen, und Lie war sehr spendabel gewesen; sie hatte ein ordentliches Preisgeld abgesahnt, rund eine Viertelmillion Superhero. Trotzdem hatte sie es sich nicht nehmen lassen, eine Flasche Champagner zu klauen, die eine Gruppe von Künstlern am Nebentisch bestellt, dann aber nicht abgeholt hatte. Den Champagner hatten sie auf dem Heimweg getrunken. Er schmeckte schlecht, doch das war ihnen egal gewesen. Savićević hatte bei einem gewissen Tiev, der mit einem schwunghaften Spielkonsolenhandel sein Leben verdiente, ein Zimmer gemietet. Lie hatte bei Savićević geschlafen und ihn am nächsten Morgen angelächelt. Sie hatte vorsichtig das Kissen unter seinem Kopf zurechtgerückt – es war ein wenig weggerutscht – und gesagt: „Bis zum nächsten Mal, Savićević.“ Dann hatte sie Gökhan, der damals noch ein agiler Jungspund war, über das Fell gestrichen und war einfach gegangen. Savićević fand es gemein von ihr, dass sie seine Schläfrigkeit so schamlos ausgenutzt hatte. (Endgültig aufgewacht war er an jenem Morgen durch ein ohrenbetäubendes Trommeln. Es war Tiev, der auf den störanfälligen Telefunken-Fernseher einschlug, um weiter FIFA 98 zocken zu können.)

Immer wenn Lie wieder weg war, fühlte er eine seltsame Leere. Bier erschien ihm dann unwichtig und zu Atomenergie hatte er plötzlich keine Meinung mehr. Er ging daher davon aus, dass er in Lie verliebt war. Einmal hatte er es Lie auch gesagt: „Ich will, dass du mir einen Kuss gibst, Lie. Ich bin nämlich in dich verliebt.“ (Er hatte nicht gesagt „Ich liebe dich“, da er große Scheu vor diesem Satz hatte. Später, bei anderen Frauen, war es ihm zwei Mal passiert, dass er das einfach so dahingesagt und danach bereut hatte, da es gelogen war. Das erste Mal, als er sehr betrunken gewesen war; das zweite Mal, nachdem er sehr guten Sex gehabt hatte.) „Kriegst du aber nicht!“, hatte Lie geantwortet und gelacht. „Noch nicht!“ Sie hatte sich dabei ein bisschen auf die Unterlippe gebissen und dann angefangen, mit den Händen ihr Milchkaffeeglas zu streicheln.

Seither trafen sie sich selten, aber regelmäßig, und Savićević war jedes Mal sehr aufgeregt, wenn er sie sah. Aber nie passierte etwas, und es frustrierte ihn manchmal. Sie trafen sich, Lie lachte und dann war sie wieder weg. Mit der Zeit bereute Savićević es, sie nicht einfach geküsst zu haben. Vielleicht wäre dann alles einfacher gewesen. So hatte er einfach angefangen auf Lie zu warten. Das Warten war auch gar nicht so schlecht. Denn es war ja ein angenehmes Gefühl, auf etwas Schönes zu warten. Aber manchmal fühlte er sich dennoch wie die Lattenroste im Treppenhaus von Brinkmanns Hochhaus. Lie machte zwar immer mal wieder rätselhafte Andeutungen, wie zum Beispiel: „Es könnte sein, dass ich mich bald in dich verliebe.“ Aber mehr kam dann schließlich doch nicht. Sie ließ ihn zappeln und lachte. Savićević wartete trotzdem weiter. Man konnte die Zeit ja anderweitig überbrücken.

Lie sieht so gut aus! Wäre gut, sie mal wieder zu besuchen, dachte er und nahm einen großen Schluck Bier. Er verdrängte den Gedanken jedoch schnell wieder und setzte sich auf die Fensterbank. Er trank das Bier aus, öffnete ein zweites und überlegte.

„Bock auf Disko heute Abend?“, wandte er sich nach einer Weile an Gökhan, der an der Deckenlampe hing und die Seele baumeln ließ. Gökhan ging gerne in Diskotheken, das wusste Savićević. Heute aber schien er nicht sonderlich angetan von dem Vorschlag; fast angewidert drehte er sich weg. Etwas angefressen von Gökhans Abfuhr ging Savićević in den Salon hinüber. Die Stimmung unter den Tieren war seit einiger Zeit schlecht. Das beunruhigte ihn. Er selbst fühlte sich auch ein wenig ausgebrannt, war sich aber nicht sicher, ob das eine auf das andere zurückzuführen war. Er dachte ungern daran, dass auch sein Vermögen zur Neige ging, und versuchte dies zu verdrängen. Die Miete für den Bungalow betrug eine halbe Million Superhero pro Quartal, und obendrein hatte die Tierfutterbehörde die Tierfuttersteuer erhöht, um die Tierbesitzer in Schwierigkeiten zu bringen. Außerdem musste er Tiersteuer, Tierkotsteuer und Tierkotbeseitigungssteuer zahlen. Er dachte daran, bald arbeiten gehen zu müssen, und übergab sich bei dem Gedanken in einen Blumentopf.

Savićević überlegte weiter: Ich könnte M’Boma fragen. Vielleicht hat er Lust auf Disko. Andererseits war ich erst gestern mit ihm beim Tierarzt wegen einer Zecke. Wahrscheinlich kommt Disko da noch zu früh. Aber hier will ich auch nicht bleiben. Ich brauche dringend mal wieder Abwechslung. So langsam fällt mir die Decke auf den Kopf.

Savićević rülpste leise. Er war seit einigen Tagen nicht mehr im Urlaub gewesen, daher waren Gedanken dieser Art natürlich verständlich. Von Zeit zu Zeit wurde ihm das Leben in seinem Bungalow zu eintönig; überdies war in dieser Gegend das Temperament der Bevölkerung für seine Begriffe zu überschäumend. Da im Übrigen auch das Klima bald unwirtlich werden würde – worauf er überhaupt keine Lust hatte, denn er hatte eine Kälte-Allergie – und seine Tiere gut alleine klarkamen, beschloss er kurzerhand, sich auf den Weg zu Brinkmann zu machen. Er wollte ihn fragen, ob er Bock habe, mit in Urlaub zu fahren.

2. Kapitel

Um zu Brinkmann zu gelangen, musste man zunächst drei Tage auf einem Boot den Eau des Goûts hinauf bis nach S.-Stadt fahren. Von dort aus waren es dann noch ein paar Kilometer Fußmarsch am Fluss entlang. Das Ganze war keine ungefährliche Angelegenheit, da auf den Booten meistens Finanzbeamte mit Kickboards waren, welche die Passagiere erst einkreisten, dann angriffen und schließlich mit ihren Aktenbergen erstickten.

Um sicher zu gehen, packte Savićević ein paar seiner wichtigsten Sachen in seine rote Tasche, die er noch von seiner Zeit als Zivildienstleistender hatte. Da in diesem beschissenen Warenkapitalismus Geld bekanntlich der Maßstab aller Dinge war, steckte er zunächst einmal ein Drittel seines Vermögens ein, dann noch ein paar Klamotten und einige weitere Gegenstände: zwei Bücher – Die Versteigerung von No. 49 und Wo die wilden Kerle wohnen –, eine Platte von J. J. Johnson und eine von Sonny Rollins, die er jedoch sofort wieder herausholte und in den Mülleimer stopfte, da sie ihm nicht mehr gefiel, ein altes Diktiergerät, den Film Absolute Giganten (VHS), einen Fußball (der ‚Tango‘, den er beim WM-Endspiel 1986 auf der Tribüne des Azteken-Stadions nach einem Befreiungsschlag von Hans-Peter Briegel gefangen hatte), eine alte zerrissene Eintrittskarte zu einem Motörhead-Konzert, eine Kopie des Gemäldes Die Artistin von Ernst Ludwig Kirchner in Kleinformat, seine Taschentrompete, eine Video-Aufnahme des UEFA-Cup-Achtelfinal-Rückspiels Werder Bremen gegen Spartak Moskau, einen polierten Rennlenker von Cinelli, eine olivgrüne Partisanenmütze, ein Opinel und eine Silvesterrakete, die er noch übrig hatte. Dann zog er ein hellgelbes Seidenhemd, Blue Jeans und weiße Nike-Turnschuhe vom Typ ‚Air Force One‘ an, die er einmal am Flughafen gefunden hatte.

Topstar und Pynchon hatten sich schon bereit gemacht. Es verstand sich von selbst, dass die beiden mitkommen würden, da Savićević nie ohne sie verreiste.

Bevor sie aufbrachen, aßen sie Kartoffelsalat. Savićević pflanzte noch schnell einen Avocadokern in einen Blumentopf, um bei seiner Rückkehr wenigstens eine kleine Freude zu haben, denn er wusste jetzt schon, dass das Ende des Urlaubs wie immer trist und deprimierend sein würde. Dann ging es los. Ein schmaler Pfad führte vom Bungalow zum Eau des Goûts hinunter, wo mehrere Linienboote vor Anker lagen. Als Anwohner hatte Savićević eine sogenannte ‚Carte des Goûts‘ und bekam daher ein paar lumpige Prozente Ermäßigung; die Tiere dagegen mussten den dreifachen Fahrpreis bezahlen. Wie befürchtet war schon eine beachtliche Menge Finanzbeamter an Bord. Sie hatten sich auf dem Hauptdeck versammelt und fuhren in einer Reihe auf ihren Kickboards, wobei sie, aus der Vogelperspektive betrachtet, eine Acht beschrieben.

Savićević, Topstar und Pynchon bezogen ihre Plätze auf Deck drei. Die Tiere hatten Schlafsäcke mitgenommen und würden auf dem Boden schlafen, Savićević in einer Hängematte. Als nach einiger Verzögerung auch Frachtgut und Bordverpflegung schließlich verladen waren, legte die George Best ab und glitt, begleitet von einem schicken Sonnenuntergang und dem gleichförmigen Rattern des Radantriebs, in die Weiten des Eau des Goûts hinaus.

Keiner der drei hatte Lust, sofort schlafen zu gehen. Pynchon wollte noch ein bisschen lesen, während Savićević und Topstar es vorzogen, hinauf auf das Unterhaltungsdeck zu gehen, um sich einen Überblick über die Reisegesellschaft zu verschaffen.

Oben herrschte ausgelassene Stimmung. Die meisten Reisenden tranken englischen Rotwein und im Hintergrund lief anspruchsvolle Punkrockmusik. Auf einer Großleinwand lief Police Python 357 mit Yves Montand. Die beiden setzten sich auf zwei hellblaue Plastikstühle, die an einem Tisch vor einer kleinen Bar platziert waren. Savićević lehnte sich zurück und hörte dem Wasser zu, das sich ungefähr so anhörte wie die Snare von Art Blakey. Topstar rollte sich langsam zusammen und gähnte.

Savićević schaute das Wasser an und stellte sich vor, wie es wäre, alleine auf der Welt zu sein – die Vorstellung gefiel ihm. Von Zeit zu Zeit wurde es ihm lästig, mit Menschen zu kommunizieren, und er fand Gespräche manchmal anstrengend und nutzlos. Dann dachte er jedoch, dass es eigentlich ganz praktisch war, dass es noch andere Menschen gab, denn so konnte man sich unterhalten, sich streiten, Quatsch machen oder zusammen ein Bier trinken.

Eine Weile ließ er sich noch so treiben und dachte an Lie. Dann holte ihn die Realität wieder ein, denn er wurde durch etwas Besonderes abgelenkt. Eine Frau saß im Halbschatten der Bar auf einem weißen Karton, und ihre hellbraune Haut glänzte weich im Schein der matten Barbeleuchtung. Sie hatte den Kopf leicht gedreht und sah mit unfixiertem Blick auf das Wasser. Ihr Haar war fast schwarz, etwas länger als schulterlang, sehr voll und ein bisschen durcheinander; ihre Brüste waren sehr rund, mittelgroß und drückten gegen die etwas zu enge rote Sportjacke, deren Reißverschluss bis oben zugezogen war. In der einen Hand hielt sie eine Zigarette; mit der anderen umfasste sie den schwarzen Ledergriff einer kofferähnlichen Box aus orangefarbenem Plastik. Ihre nackten Füße krallten sich in den Deckboden und ließen dabei kleine Adern hervortreten.

Savićević stand auf und ging zur Bar hinüber.

„Was ist das?“ Er zeigte auf die orangefarbene Box, deren Griff sie noch immer fest umklammerte.

Die Frau nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette, drehte dann langsam den Kopf und blickte ihm in die Augen. Ihre waren gelbgrau und blitzten.

„Ich habe ihn immer dabei. Es ist ein Plattenspieler. Leider sind mir alle meine Platten beim Einchecken auf den Boden gefallen. Einer der Finanzbeamten ist mit seinem Kickboard darüber gefahren. Die Platten sind alle kaputt! Aber ich habe die Hüllen noch.“

Sie legte die Box auf die Seite und klappte den Deckel hoch. Neben dem Plattenteller war noch etwas Platz. Plattenhüllen, ein paar Klamotten und vereinzelte Bücher waren dort in wildem Durcheinander hineingestopft. Auf dem Teller drehte sich ein rotgrün gestreifter Slip; der Tonarm hatte sich aus der Verankerung gelöst und tänzelte auf dem Stoff. Sie drückte die Stop-Taste, pustete behutsam Staub von der Nadel, setzte den Tonarm zurück – sie benutzte sogar den Lift – und kramte dann drei der Hüllen aus dem Bündel hervor, um sie Savićević zu zeigen. An den grellen Farben der Plattencover konnte man erkennen, dass es wohl alte Funk-Musik war.

„Schade um die Platten! Ich habe auch eine dabei. Die könnten wir hören, wenn du Lust hast. Wir fahren übrigens in Urlaub und haben noch einen Platz frei. Kommst du mit?“

Sie kramte weiter in dem Knäuel herum und zog schließlich ein kleines Metallkästchen heraus.

„Ja“, sagte sie beiläufig. Savićević war ziemlich überfordert von den gelben Augen und verstand nicht so recht, was mit ihm passierte.

„Wie heißt du?“, fragte er schließlich.

„Fink“, sagte sie.

Savićević stutzte kurz und erwiderte dann: „Geschmeidig! Ich hatte zwar gehofft, dass dein Name mit V anfängt, aber es macht nichts. Fink ist auch gut! Ich heiße Savićević.“

„Wenn du willst, kannst du es mit V schreiben.“

Sie sahen sich eine Weile an. Finks Augen blitzten schon wieder, und ihr Mund öffnete sich leicht. Dann berührten sich ihre Lippen kurz und ließen danach einen kleinen Spalt offen, durch den ihre Zähne silbrig-weiß hindurchschimmerten.

„Ich würde dir gern dieses Ersatzsystem geben – für alle Fälle.“ Sie hielt ihm das Metallkästchen hin. „Ich handhabe das wie mit dem Ersatzschlüssel für meine Wohnung. Das heißt, ich habe ja gar keine. Aber wenn ich eine hätte, würde ich den Schlüssel immer jemandem geben, der sich für Platten interessiert und nett zu mir ist.“

Savićević nahm das System und steckte es in seine Tasche, aus der er mit der gleichen Bewegung den Cinelli-Lenker herausholte. Er fragte sich, was er damit eigentlich wollte – zumal er ihn auch nicht mehr sonderlich schön fand – und warf ihn kurzerhand über Bord. Topstar wünschte ihnen eine gute Nacht und verließ das Unterhaltungsdeck. Schon nach ein paar Minuten kam er aber zurück wie ein ungedeckter Scheck.

„Auf Deck drei spielen sich tumultartige Szenen ab. Die Finanzbeamten haben einen Streit vom Zaun gebrochen und bewerfen die Passagiere mit Lochern und Heftmaschinen.“

„Jaja. Wen juckt das? Es sind Arschlöcher, und es gibt Wichtigeres.“

Während Savićević das sagte, nahm er vorsichtig Finks Slip vom Plattenteller und legte sorgfältig die Platte auf.

„Eine schöne Platte“, sagte Fink, als nach Ablauf der B-Seite nur noch das leise Kratzen der Nadel in der letzten Rille zu hören war. „Am besten hören wir sie gleich noch mal an.“

Vielleicht gehörte Fink auch zu der Art Menschen, dachte Savićević, die, wenn sie ein schönes Lied entdeckt hatten, nicht mehr aufhören konnten, es zu hören, und so lange die gleiche Platte laufen ließen, bis sie es nicht mehr ertragen konnten. Auch Savićević machte das manchmal so, und er fand es oft schade, wenn ihm irgendwann ein Lied plötzlich auf die Nerven ging, obwohl es dies eigentlich nicht verdiente. Sie drehte die Platte noch einmal um und legte die Nadel wieder auf. Er freute sich jetzt sehr auf den Urlaub.

3. Kapitel

Es musste schon ziemlich spät sein. Die meisten Passagiere hatten das Unterhaltungsdeck bereits verlassen – wahrscheinlich um schlafen zu gehen. Die Hintergrundmusik war längst verstummt, so dass Finks Plattenspieler nun die einzige Geräuschquelle war. An der Bar saßen zwei Männer mittleren Alters und tranken Wodka.

„Hier habt ihr noch ein paar Bier. Ich gehe endgültig schlafen“, sagte Topstar. „Gute Nacht übrigens.“

Er schlängelte sich durch die herumstehenden Stühle und Tische und verschwand im Dunkel.

„Woher kommst du?“, fragte Savićević irgendwann. Sie hatten beide ein Bier aufgemacht.

„Aus der Tiefe des Raumes“, sagte Fink und lachte. Nach einer kurzen Pause fügte sie an: „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr. Hab’s vergessen.“

Sie schwiegen wieder und sahen auf den Fluss.

„Was ist deine Lieblingsstadt?“, fragte Fink dann.

„Ich hab’ keine“, sagte Savićević. „Die schönsten Städte sind die, die man nicht kennt, denke ich.“ Er zögerte kurz. „Alle Hafenstädte sind gut. Aber ich brauche die Stadt nicht unbedingt. Mein Bungalow gefällt mir und irgendwann wird mir sowieso alles lästig. Dann ziehe ich schnell um. Aber das kommt nicht daher, dass ich es an einem Ort nicht mehr schön finde. Ich bin nur ein bisschen süchtig nach Ortswechseln und habe meistens Bock auf Urlaub.“

„Gute Süchte!“, sagte Fink. „Aber wieso bleibst du dann überhaupt länger irgendwo, wenn du eh schon weißt, dass du bald wieder gehst? Wäre es nicht besser, du würdest nur noch herumfahren?“

„Ja, vielleicht. Aber meine Tiere machen das nicht mit. Sie machen sich ja schon lustig, weil ich meistens im Urlaub bin. Was für sie zählt, ist eine feste Bleibe, zumindest für ein paar Monate. Sie sind in der Beziehung ziemlich spießig. Als wir zuletzt aus Hamburg weggezogen sind, gab es fast einen Aufstand, und ich musste sie mit Bio-Futter besänftigen.“

„Weißt du eigentlich, wohin wir in Urlaub fahren?“

„Nein, woher soll ich das wissen? In K.-Stadt möchte ich meinen Freund Brinkmann treffen. Sonst habe ich nichts Besonderes geplant. Erstmal relaxen und ein, zwei Bier trinken.“

Fink sah ihn interessiert an. Savićević bekam plötzlich Angst vor ihren Augen, und sagte schnell: „Du hast schöne Haare.“

Sie lachte. „Lässt du mich in deiner Hängematte schlafen?“

„Ja. Wir sind ja jetzt im Urlaub. Aber man könnte es auch anders begründen.“

Der Barmann läutete die letzte Runde ein, worauf die beiden Männer an der Bar hastig einen neuen Wodka bestellten. Einige Möwen, die auf der Reling saßen, wurden von der Glocke, die eigentlich völlig unnötigen Lärm machte, aufgeschreckt und flatterten orientierungslos herum – vermutlich hatten sie geschlafen. Warum hatte der Barmann den beiden Typen nicht einfach leise mitgeteilt, dass die letzte Runde anbreche? Schließlich waren sie die einzigen verbliebenen Gäste.

Savićević öffnete ein neues Bier. „Hast du außer deiner Box nichts mitgenommen?“

„Nein. Ich habe auch nicht mehr als die Box und das, was darin ist. Ich möchte so wenig wie möglich besitzen.“ Sie zündete eine neue Zigarette an. „Früher hatte ich sehr viele Sachen, sehr teure, aber eigentlich überflüssige Sachen. Das war, als ich noch viel Geld mit literarischen Übersetzungen verdient habe. Ich hatte einen Porsche, finnische Design-Möbel und eine verchromte Kaffeemaschine von Saeco. Ein BWL-Student hat mir alles geklaut. Danach wurde mir bewusst, dass ich das ganze Zeug gar nicht brauche. Die Sachen, die ich noch hatte, hab’ ich alle verschenkt. Den Job hab’ ich übrigens irgendwann hingeschmissen, weil er mir zu eintönig war. Seither arbeite ich drei Monate pro Jahr in U.-Stadt als Kranführerin auf einer Baustelle – das gefällt mir besser. Ich kann mich dabei besser entfalten. Die einzigen Sachen, die ich noch behalten habe, sind mein Plattenspieler samt Platten, wobei die ja jetzt leider Geschichte sind, ein paar Bücher und Klamotten. Und diese Halskette.“

Sie öffnete ihre Sportjacke und zeigte auf ein dunkelbraunes Lederband, das eng um ihren Hals gebunden war, und auf welches abwechselnd schwarze Holzperlen und kleine Alligatorzähne gereiht waren.

„Woher hast du die?“, fragte Savićević.

„Ich habe sie in Paris mit einem Straßenmusiker gegen ein Diamantencollier getauscht. Sie ist schön, nicht wahr?“

„Ja, ist sie.“

Fink hörte nicht auf, ihn anzusehen. Savićević wusste nicht, ob er es genoss oder ob es ihm unangenehm war. Ihm gefiel das Glitzern von Finks Augen und dass sie gelbgrau waren. Er lehnte sich zurück und betrachtete den Himmel. Man konnte keine Sterne sehen. Schade, dachte Savićević. Sterne wären jetzt genau das Richtige. Er schloss die Augen und stellte sich einen Sternenhimmel vor, aber dann bekam er so eine Art Entzugserscheinung und schaute schnell wieder Fink an. Sie saß ruhig an der Reling und blies mit ihrer Zigarette Ringe in die Nachtluft, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden.

„Komm!“, sagte sie plötzlich und zog ihn hoch. Einige der leeren Flaschen fielen um.

„Warte! Ich glaube, du hast mich hypnotisiert.“

„Das sind nur meine Augen.“

Die Bar hatte mittlerweile geschlossen; niemand war mehr auf dem Deck. Er wurde mehr von ihr geschoben, als dass er ging. Über das Deck, die erste Treppe hinunter, die zweite, dann ganz nach hinten, wo er schließlich Topstar und Pynchon in ihren Schlafsäcken erkannte und langsam wieder wusste, wo er sich befand.

„Hier, meine Hängematte“, sagte er und hielt ihr ein grünes Stoffknäuel hin. Erschöpft ließ er sich neben Pynchon auf den Boden sinken und atmete tief ein. Er fühlte sich immer noch sehr verschickt.

Fink befestigte geschickt die beiden Enden an den dafür vorgesehenen Metallhaken. „Ich bin fertig. Du kannst dich hineinlegen“, hörte er sie noch sagen.

Am nächsten Morgen fiel ihm ein, wie er noch versucht hatte, sich aufzurichten und dabei fast wieder hingefallen wäre, und wie sie ihm geholfen hatte, sich in die Hängematte zu legen. Dann hatte sie sich dazu gelegt und sich an ihn gedrückt, und er hatte an ihren Haaren gerochen. Irgendwann – es war wohl schon in der Morgendämmerung gewesen – war plötzlich ein heftiger Kuss über seine Lippen hergefallen. Aber dann war auch der Kuss müde geworden und hatte sich neben sie in die Hängematte gelegt.

4. Kapitel

Pynchon kam die Treppe vom Hauptdeck herauf. Er zog eine Papiertüte aus seinem Rucksack und stellte sie in die Mitte ihres Schlaflagers.

„Hier, Brötchen und Kaffee. Bedient euch!“ Savićević, dessen struppige Haare in alle Richtungen abstanden, saß auf einer verrosteten Ankerwinde und gähnte.

„Danke!“ Er war völlig übermüdet. Es war sehr ungewohnt für ihn, schon morgens wach zu sein. Aber nach mehreren vergeblichen Versuchen, wieder einzuschlafen – er konnte sich selbst nicht erklären, warum es nicht geklappt hatte – war er schließlich aufgestanden. Fink schien noch zu schlafen. Sehr ruhig lag sie da und nahm scheinbar keinerlei Notiz von dem emsigen Treiben, das überall auf dem Schiff zu beobachten war. Matrosen schleppten Wein- und Bierkisten auf das Unterhaltungsdeck, und Schiffsjungen lackierten die Reling. Köche und Tellerwäscher riefen sich über vier Decks hinweg gegenseitig Beschimpfungen wie „du Fickspecht“ oder auch nur „du alte Scheiße“ zu. Savićević hätte gerne Finks Gesicht gesehen, aber es war eingehüllt in das grüne Leinen der Hängematte.

Sie frühstückten in aller Ruhe. Der Kaffee war gut. Die Sonne schien, und ein leichter Wind blies. Müde, aber sehr zufrieden lehnte sich Savićević zurück und ließ seinen Blick über das Schiff schweifen. Da erblickte er das Chaos, das steuerbords auf Deck drei herrschte: Überall lagen Glasscherben, zersplitterte Holzstücke und geborstene Plastikteile herum, das Ganze noch überzogen von unzähligen Aktenordnern und lose herumflatternden Papieren. Eine Putzkolonne hatte sich darangemacht, die traurigen Reste des Vorabends zu beseitigen, schien aber nicht recht zu wissen, wo sie anfangen sollte. Es war ein widerwärtiger Anblick.

„Die Arschlöcher.“

„Ja, die Arschlöcher“, sagte Pynchon.

„Ja, es sind Arschlöcher!“, sagte Topstar.

Damit war erstmal alles gesagt, und sie schwiegen.

„Es sind leider Arschlöcher.“ Fink hatte offenbar ihre Unterhaltung mitgehört und lugte nun verschlagen aus der Hängematte hervor. Man sah nur ihre Augen, aber Savićević wusste, dass sie lächelte. Topstar kroch an die Reling und sah auf das Hauptdeck hinunter.

„Ich mach mal einen kleinen Rundgang. Wir sehen uns später auf dem Unterhaltungsdeck. Tschüs.“ Auch Pynchon verabschiedete sich fürs Erste, um zu lesen. Er hatte im Lesen den Schwarzen Gürtel; gerade las er Das Totenschiff von B. Traven, und wenn er ein Buch erst einmal angefangen hatte, interessierte ihn alles andere herzlich wenig.

Fink war aufgestanden und hatte sich hinter Savićević gesetzt. Sie streifte mit den Augenbrauen seinen Nacken.

„Eins würde mich mal interessieren: Warum gehst du mit zwei Tieren in Urlaub?“

„Weil wir uns gut verstehen. Deswegen. Findest du das nicht normal?“

„Doch, schon … Ich frage mich nur, ob du vielleicht keine Lust auf Menschen hast, und vielleicht auch nicht auf mich.“

Er drehte sich zu ihr um, musste kurz nachdenken und verpasste dadurch den Moment zu antworten.

„Mir sind Menschen auch manchmal lästig …“, fuhr Fink fort, als hätte sie gehört, was er gedacht hatte. „Aber nur, weil ich durch den Vergleich mit den anderen manchmal das Gefühl bekomme, einfach nur durchschnittlich zu sein. Und dann will ich alleine sein.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Ich wäre so gerne besonders!“

Gerade die Menschen, die bestimmt am meisten über alles nachgedacht hatten und am meisten wussten und am meisten gesehen hatten, hatten auch die größten Selbstzweifel, während andere ihre einzige Fähigkeit – nämlich die, in einem fort reden zu können – dazu ausnutzten, mächtig zu werden, dachte Savićević.

Er sah sie an und musste lachen. Sie sah so gut aus.

„Auf einer Besonderheitsskala von 1 bis 10 würde ich dir eine 9,5 geben. Minus 0,5 wegen dem F.“

Sie sah ihn interessiert an.

„Komm, wir gehen nach oben!“, sagte sie dann plötzlich. „Ich ziehe mich nur noch schnell um.“ Sie ging zur Hängematte und holte aus der daneben stehenden Box den rotgrünen Slip und eine weiße Stoffhose. Savićević sah ihr zu. Sie lachte, als sie den Slip anzog. Die Sportjacke legte sie ab und streifte stattdessen einen engen, orangefarbenen Pulli über. Dann fuhr sie sich mehrmals mit den Händen durch die Haare, formte sie zu einem Pferdeschwanz, ließ sie aber plötzlich fallen und lachte wieder Savićević an.

„Hier!“, sagte sie und hielt ihm eine Sonnenblume hin. „Geschenk von mir.“

„Sie ist schön. Wo hattest du sie aufbewahrt?“

„Ich hatte sie eben. Blumen kann man immer gebrauchen. Komm, wir gehen jetzt!“ Sie fasste ihn am Hals und drückte ihn auf den Boden, wo er wehrlos zappelte wie ein Käfer in einer Fettlache. Dann ließ sie ihn liegen, rannte zur Treppe und aufs Unterhaltungsdeck hinauf, wo sie wieder auf ihn wartete. Savićević tat erst so, als sähe er sie nicht, sprang dann aber auf sie zu und küsste sie in die Haare.

Topstar machte einen entspannten Eindruck, als er sich gegen Abend zu ihnen gesellte.

„Die Finanzbeamten tummeln sich auf dem Hauptdeck. Sie fahren herum und machen dabei spastische Bewegungen.“ Er feixte. „Ich bin der Meinung, ein Bier ist jetzt genau das Richtige für uns. Was meint ihr?“

„Ich glaube, ich hätte lieber einen Mojito“, sagte Fink.

„Aha, aha. Da schau her! Das Lieblingsgetränk von Ernest Hemingway. Nicht ohne! Immer schön einen auf intellektuell machen, was?“

Topstar grinste und ging an die Bar, um zu bestellen. Während sie warteten, kramte Savićević gedankenverloren in seiner Tasche und zog die Motörhead-Konzertkarte heraus. Sie gefiel ihm nicht mehr, und er schmiss sie in einen an der Reling festgeschraubten Mülleimer. Ein rechts neben ihnen am Geländer lehnender Herr mit einem gelben Strohhut hatte ihn offenbar beobachtet. Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn und schaute empört. (Er trug übrigens hellbraune Wildleder-Slippers mit einer zerkratzten Goldschnalle, und Savićević stellte einmal mehr fest, dass Schuhe sehr oft der Person ähnelten, die sie trug.)

Topstar kam mit zwei Bier und dem Mojito zurück. Gerade als sie anstoßen wollten, kam der Herr, sich immer noch an die Stirn tippend, zu ihnen herüber und schimpfte laut: „Sie können hier nicht einfach wahllos irgendwelche Sachen wegschmeißen! Was glauben Sie eigentlich, wo wir hier sind? Sofort Kostenzusageübernahmeerklärung ausfüllen und unterschreiben, los! Zack, zack!“ Er nahm einen ultradicken Aktenordner aus einer ledernen Aktentasche und zerrte mehrere Formulare heraus, die er ihnen hinhielt.

„Ihre Mutter klaut bei Kik“, sagte Topstar gelangweilt, so dass dem Typen erstmal die Kinnlade und seine Akten herunterfielen. Er hob aber schnell alles wieder auf und sammelte sich wieder mit Hilfe einer Sammelmappe. Dann brüllte er: „Was erlauben Sie sich! Das ist unzulässig!“ Er war feuerrot angelaufen, so dass die Krempe seines Strohhutes schon gefährlich anfing zu qualmen. „Hier liegt eine Unrechtmäßigkeit vor, und ich werde das melden! Einfach seinen Müll hier irgendwo reinzustopfen, so was Unordentliches! … Aber Sie werden schon sehen, was passiert, wenn Sie nicht unterschreiben wollen! Sie kommen in die Personenvereinzelungsanlage!“ Seine Stimme überschlug sich am Ende vor Wut.

Savićević stand unschlüssig und reichlich verblüfft an der Reling. Er fühlte sich stark an das Montagmorgen-Ritual erinnert. Auf lästigen Ärger hatte er allerdings keine Lust und wollte schon abwiegeln. Fink war aber schneller. Sie stellte sich ganz dicht vor den Stroh-Mann, so dass dieser sich kaum noch bewegen konnte, und sagte im Tellerwäscherjargon: „Du alte Scheiße!“ Wie damals Zidane streckte sie ihn dann mit einem Kopfstoß in die Rippen nieder und warf ihn über die Reling auf das darunter liegende Deck; dort blieb er zuerst reglos liegen, rappelte sich dann aber auf und gab, wild mit den Armen fuchtelnd, den Finanzbeamten Zeichen, nach oben zu fahren, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese ließen sich nicht zweimal bitten, und unter wildem Gejohle fuhren sie, den Rollstuhlfahreraufgang benutzend, auf das Unterhaltungsdeck hinauf, wo sie mit ihren Kickboards um die Passagiere einen kreiselnden Ring bildeten und sich anschickten, die Belagerung Wiens nachzustellen.

5. Kapitel

Savićević, Topstar und Fink waren, wie die anderen Reisenden, gefangen in dem Belagerungsring der Finanzbeamten. Wie besessen von ihren mit den verschiedensten Dingen geschmückten Fahrgeräten – die meisten hatten Fuchsschwänze oder Tigerenten an ihren Boards befestigt – stießen sie sich mit einem Bein unablässig vom Boden ab, um noch mehr Schwung zu bekommen. Dies verursachte einen beträchtlichen Lärm, und man musste sich fragen, was sie damit eigentlich erreichen wollten. Einige Passagiere begannen, die Beamten mit Bier zu bespritzen, doch diese zeigten sich davon wenig beeindruckt; ohnehin schien sie überhaupt nichts zu interessieren – außer immer schneller und schneller zu fahren, einer hinter dem anderen, und das Ganze in einem geometrisch perfekten Kreis.

Schließlich hatte Savićević eine Idee: Er drehte die herumstehenden Stühle und Tische um und baute eine Barriere zwischen den Fahrgästen und den Beamten auf, die mittlerweile im Belgischen Kreisel fuhren. Die Beamten nahmen davon jedoch zunächst keine Notiz; stattdessen verlangsamten sie die Geschwindigkeit und nahmen aus gewichsten Ledertaschen, die sie umgehängt hatten, prallgefüllte Aktenordner, die sie, offenbar eine Art internes Wetteifern um den schwersten Ordner austragend, in die Luft reckten. Dabei hörten sie nicht auf, sich vom Boden abzustoßen, und im Wechsel mit der nach oben gerichteten Armbewegung gab dies das Bild einer präzise stampfenden Dampfmaschine ab. Savićević kramte kurz in seiner Tasche und zog die Silvesterrakete heraus. Zuerst wollte er sie wegwerfen, da sie ihm nicht mehr gefiel, doch dann überlegte er es sich anders. Für den äußersten Notfall hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, in dem die Rakete eine entscheidende Rolle spielte.

Sehr lange geschah nichts. Die Finanzbeamten fuhren und fuhren, reckten ihre Ordner und beratschlagten dabei. Der Anblick war grotesk. Die Sonne war untergegangen und hatte einem purpurnen Himmel Platz gemacht, und Möwen kreisten über dem Boot, was der absurden Szenerie einen trügerischen Frieden verlieh. Da stieß Fink Savićević leicht an.

„Siehst du den da auf dem karierten Kickboard mit den Rallye-Streifen? Warte … Jetzt fährt er wieder vorbei … Ich glaube, er versucht gleich, seinen Ordner gegen die Barriere zu schleudern. Ich habe es an seinen Augen erkannt.“

Sie trank ihren Mojito aus und sah nochmals prüfend auf die kreiselnde Beamtenbande. Dann ging sie auf den Boden und robbte vorsichtig ganz dicht an eine Stelle der Barriere heran, wo zwischen zwei Stühlen eine kleine Lücke geblieben war. Noch einmal drehte sie sich zu Savićević um und blickte ihn an. Ihre Augen blitzten wieder. Savićević hatte eigentlich fragen wollen, was sie vorhabe, doch als er ihre Augen sah, hatte er es wieder vergessen. Plötzlich bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Asymmetrie in der Reihe der Finanzbeamten.

Er blickte auf und sah erschrocken, dass der Fahrer mit dem hässlichen Kickboard tatsächlich seinen Ordner zur Seite schwenkte und ausholte. Alles wäre zu spät gewesen, doch in dem Moment, da er das Aktenpaket ein letztes Mal nach hinten riss, um es in Richtung der Tische zu lancieren, krachte Finks Mojitoglas mit voller Wucht gegen das Steuerrohr seines Kickboards. Er verlor die Kontrolle, kam ins Straucheln und kippte um. Der Ordner plumpste neben ihm auf den Boden, direkt in die Fahrlinie der anderen. Was nun entstand, war ein heilloses Durcheinander. Der hinter dem Getroffenen Fahrende wurde von dem massiven Aktenordner jäh gestoppt, überschlug sich mehrere Male in der Luft und fiel über Bord; einige weitere ereilte dasselbe Schicksal, bis schließlich einer auswich und durch die Scherben fuhr, dadurch langsam gebremst wurde und somit zum Puffer zwischen dem Ordner und den dahinter Heranbrausenden wurde. Diese fuhren einer nach dem anderen auf den jeweiligen Vordermann auf und produzierten eine nie da gewesene Massenkarambolage.

Von Belagerung konnte nun keine Rede mehr sein. Sowohl Finanzbeamte als auch Passagiere wuselten orientierungslos auf dem Deck herum. Die ganze Ebene war verwüstet, kaum ein Tisch, der nicht kaputtgegangen war, und überall Scherben, Akten und Ordner. Einzig die Bar stand noch relativ unbeschadet. Nach wenigen Minuten hatte sich das Deck geleert, bis auf einen unförmigen Haufen aneinander zerschellter Finanzbeamter, der wie eine homogene, graue Masse in der Mitte waberte. Nur Savićević, Fink und Topstar waren noch oben geblieben und saßen erschöpft auf Stühlen, deren Lehnen durch den Kampf abgesplittert waren. Die Nacht war hereingebrochen; der Wind blies stärker, und Aktenfetzen flatterten gespenstisch unter dem schummrigen Licht der wenigen heilgebliebenen Barlaternen.

„Die Arschlöcher!“, sagte Topstar angewidert. „Warum können sie uns nicht einfach in Ruhe lassen? Die spinnen ja! Solche Arschlöcher!“ Die Argumentation war plausibel, dachte Savićević. Trotzdem war ihm selbst das alles eher egal, denn er freute sich, dass Fink da war.

„Am besten, wir legen uns in die Hängematte und schlafen erstmal“, sagte Fink und sah Savićević interessiert an. Dann küsste sie ihn, dann noch mal, dann noch mal, noch mal noch mal noch mal noch mal noch mal …

„Habt ihr kein Zuhause?“, blaffte Topstar und ließ seinen Körper gegen ein herumstehendes Bierflaschenwrack schnellen; der Flaschenbauch rollte scheppernd über das Deck und plumpste schließlich unter der Reling hindurch ins Wasser.

„Ich frage mich die ganze Zeit schon, wo eigentlich Pynchon ist. Er muss doch den Lärm gehört haben.“

In diesem Moment erschien Pynchon auf der Treppe.

„Na endlich!“, sagte Topstar sauer. „Wir müssen uns hier mit den Arschlöchern rumschlagen, und du gibst in aller Seelenruhe den Reich-Ranicki! Es gibt Wichtigeres als Bücher!“

„Halt den Ball flach, Topstar! Als ich den Lärm gehört habe, bin ich auf Deck eins gegangen. Da dachte ich eben, es wäre zu waghalsig, jetzt hochzukommen. Übrigens habe ich Sträuber gesehen. Er lungert hinten auf dem Achterdeck in einer kleinen Kabine herum. Ich habe ein paar Wortfetzen aufgeschnappt; er redete von ‚ungeordneten Zuständen‘, ‚Unzucht‘ und ‚unzüchtigem Schlaf-Wach-Rhythmus‘, eben was man von Sträuber so kennt.“

„Wir gehen schlafen“, sagte Savićević.

6. Kapitel

Savićević und Fink erwachten im selben Augenblick. Es war schon weit nach Mittag. Sie küssten sich erstmal.

„Ich gehe Frühstück holen“, sagte Fink und stieg aus der Hängematte. Savićević drehte sich noch einmal um und empfand das unbeschwerte Gefühl des Dahindösens – sein Lieblingsgefühl. Schließlich strengte er sich aber an, die Augen für eine Weile offen zu halten, so dass es ihm nicht mehr gelingen konnte, wieder einzuschlafen. Langsam nahm er seine Umgebung wahr: Da waren Topstar und Pynchon, die Halma spielten, das schon gewohnte Treiben der Besatzung und die unermüdlich kreisenden und kreischenden Möwen am Himmel. Da kam auch schon Fink zurück. Sie hatte ein Frühstück der Handelsklasse A am Start: Kaffee, Pfirsiche und Heidelbeermarmelade. „Geschmeidig!”, entfuhr es Topstar und Pynchon, und sie hauten rein.

Pynchon ging aufs Unterhaltungsdeck, als sie fertig gegessen hatten. Er wollte weiterlesen. Vielleicht hatte er aber vor allem keine Lust, schon wieder gegen Topstar zu verlieren, denn schon mit einem kurzen Blick auf das Halmabrett war leicht zu erkennen, dass die Lage für ihn sehr aussichtslos war.

Fink öffnete ihre Box und setzte die Nadel auf die Platte. Der weiche Posaunensound erfüllte das Deck, und Fink lachte. Ein Marienkäfer krabbelte in ihren Haaren, ohne dass sie es bemerkte. Topstar holte sich an der Bar ein Bier und legte sich dann in einen Liegestuhl, den er ergattert hatte. Die Stimmung war ähnlich wie am Vorabend. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und vom Ufer her ertönten die fröhlichen Schreie von Affen. Mit einem Mal schlug das Wetter um. In Sekundenschnelle zog sich der Himmel zu, pechschwarze Wolken schoben sich vor die Sonne, und für einen Moment verstummte alles. Schon die ersten Tropfen waren groß wie Fünfsuperherostücke. Dann prasselte unglaublich starker Regen nieder. Nach wenigen Augenblicken stand das Wasser knöchelhoch, und Savićević musste Topstar auf den Arm nehmen, da dieser sonst ertrunken wäre. Sturzbäche rauschten über die Treppen von Deck zu Deck. Fink hatte gerade noch rechtzeitig ihre Box und Savićevićs Tasche an einem der Haken für die Hängematten festmachen können, so dass diese weder nass werden noch wegschwimmen konnten. Neben dem Boot sprangen entzückt Süßwasserdelphine und jauchzten dabei. Die Wasseroberfläche glich einem Stück Stoff, in welches gleichzeitig unzählige Nähmaschinen einstachen. Der Wolkenbruch dauerte kaum zehn Minuten. Anfangs war der Regen sehr erfrischend, doch nun waren alle Passagiere nass bis auf die Haut und froren ein wenig. Die Matrosen bastelten eine Hilfskonstruktion aus Kochtöpfen, die sie an Tauen außen am Boot hinunterließen und in die sie das 40 Grad warme Flusswasser schöpften, welches sie in Form einer kurzen Dusche an die Reisenden verteilten. Schon bald waren alle wieder aufgewärmt, und bis auf die kleine Überschwemmung war alles so, als hätte das Unwetter nicht stattgefunden.

Savićević und Fink lagen in der Hängematte und beobachteten, wie ihre nassen Klamotten in der zurückgekehrten Hitze langsam wieder trocken wurden. Topstar war an das eine Ende der Matte gekrochen und hatte sich dort um das Tragseil gewunden. Unter ihnen schwammen in dem immer noch hoch stehenden Regenwasser die aufgeweichten Frühstückstüten und das Halmabrett, auf dem die Figuren unverändert Topstars Überlegenheit demonstrierten.

Savićević füllte heimlich seine leere Flasche mit Wasser und schüttete sie über Fink aus.

Fink lachte laut. Dann packte sie auf einmal die Hängematte am unteren Ende, drehte sie mit einem Ruck, und Savićević klatschte ins Wasser. Er rappelte sich prustend auf, versuchte, lässig zu sein und lachte dann auch.

Er schlurfte an die Reling und sah eine Weile auf den Fluss. Die Sonne stand mittlerweile sehr tief und war schon ziemlich rot. Eigentlich fand er Sonnenuntergänge schön. Aber sie machten ihn meistens wehmütig und lethargisch. Zum Glück war er sich seiner Anfälligkeit für fatalistische Gedanken und eine gewisse kitschige Romantik bewusst, und so konnte er es meist verhindern, pathetisch zu werden und loszuheulen. Er drehte sich schnell zu Fink um und lächelte sie an.

Sie kam zu ihm und gab ihm ein paar Küsse. Sie sah so gut aus! Er entschloss sich, nicht mehr nachzudenken. Er wollte nicht nur genießen, sondern fühlen und auch den Genuss genießen.

Für den späten Abend war ein großes Spektakel auf dem Unterhaltungsdeck anberaumt. Die Passagiere sollten ‚Mr. und Mrs. Eau des Goûts‘ wählen. Fink, Savićević und Topstar hatten sich gute Plätze gesichert, und sogar Pynchon hatte sich von seinem Buch losreißen können. Vor der Bar war eine kleine Bühne aufgebaut worden, auf der sich alle zur Wahl stehenden Kandidaten versammelt hatten. Der Barmann hatte sich zum Moderator aufgeschwungen. Allerdings waren seine rhetorischen Fähigkeiten miserabel und sein Auftritt bei der Preisverleihung skandalös, wenn auch angemessen, wie Savićević fand.

„Mesdames, Messieurs, Sie haben entschieden. Aus mir unverständlichen Gründen ist diese aufgetakelte Schnickse dort zur Mrs. Eau des Goûts gewählt worden.“ Er hielt der Betreffenden eine Urkunde hin und urinierte vor ihre Füße. „Und dieser kleine Scheißvogel dort zum Mr. Eau des Goûts. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte!“ Damit erbrach er sich über eine weitere Urkunde, die der Gewählte dennoch stolz entgegennahm.

„Eine ganz schön schlechte Veranstaltung!“, ereiferte sich Topstar und trank sein Bier aus. „Hätte ich dafür bezahlt, würde ich nun rufen: Ich will mein Eintrittsgeld zurück!“

Das restliche Publikum war hingegen nicht unbegeistert von der Show des Barmanns und applaudierte höflich.

Enttäuscht verließen sie das Unterhaltungsdeck wieder und gingen hinunter zu ihrem Schlaflager.

Topstar und Pynchon verschwanden sofort in ihren Schlafsäcken, die sie vor dem immer noch nicht ganz abgelaufenen Regenwasser auf einen Frachtcontainer gerettet hatten, und begannen zu schnarchen. Fink legte sich in die Hängematte, während Savićević sich auf die Reling setzte, um noch eine Weile das Wasser zu beobachten. Doch er kam nicht mehr dazu. Eine Hand krallte sich um seinen Hals und zog ihn brutal nach oben.

„Na wunderbar, da ist ja das unzüchtige Pack!“ Sträuber trug einen löchrigen Batikschal, aus dem sich sein Karpfengesicht wie aus einem faltigen Schildkrötenhals herausschälte. Um sie herum wurde es sofort stockdunkel; die Nacht versuchte alles, um Sträuber unsichtbar zu machen, doch vergebens, denn neben ihm stand der seltsame Mann mit dem gelben Strohhut, und die Goldschnallen seiner Slippers glänzten hell. Er hatte sie wohl noch schnell frisch poliert.

Sträuber fasste Savićević noch fester und sagte: „Ich warte immer noch auf Ihre Kostenzusageübernahmeerklärung.“ Er linste auf ihn und machte ein zerschlissenes Gesicht. Dann drehte er sich um und brüllte mit sich überschlagender Stimme in alle Richtungen: „Hierher! Hierher! Wir haben das Pack! Akten, wir brauchen Akten! Hierher! Akten! Was sind denn das für Zustände! Wir brauchen Akten!“

Und dann kamen sie. Von überallher rollten sie an, sodass das Wasser seitlich an den Kickboards hochspritzte, und schleppten Akten herbei. Große Ordner, kleine Ordner, Ringbücher, Schnellhefter, Karteikästen, alles, was die Behörden hergaben. Sogar einige Hängeregister waren dabei. Sie warfen alles vor Sträuber auf den Boden, wo sich Akten und Kartonage zu einem riesigen Wall auftürmten, wobei sich die untersten Lagen mit Wasser vollsogen und zu einer Art Pappmaché verklumpten.

„Die da zuerst!“, befahl Sträuber, und die Finanzbeamten, die sich allesamt vor der Hängematte versammelt hatten, stürzten sich unter der Führung des Mannes mit dem Strohhut auf Fink, die sich erbittert wehrte, jedoch gegen ihre Übermacht nicht ankam. Savićević versuchte krampfhaft, sich aus Sträubers Umklammerung zu befreien, doch dieser hatte ihn fest im Griff und blies ihm überdies seinen widerlichen Atem ins Gesicht. Er stank nach Schnupftabak, verfaulter Milch und Pisse, und lachte gehässig.

„Schaffen Sie sie weg, und beschlagnahmen Sie die komische Kiste!“, befahl er den Beamten. Ungefähr zwei Dutzend von ihnen packten Fink daraufhin samt ihrer Box in einen riesigen Karton, in dem sie zuvor Akten befördert hatten, und luden die Fracht auf einige bereitstehende Kickboards. Sorgfältig klebten sie die Unterseite der Kiste mit Zwei-Komponenten-Kleber an den Boards fest. Dann teilten sie sich in zwei Gruppen auf – die eine schob, die andere zog – und schickten sich an, Fink abzutransportieren. Savićević, noch immer in den Schraubstockhänden Sträubers gefangen, blieb hilflos zurück. Laut gröhlend schoben sie den Karton auf die Rollstuhlfahrerrampe zu.

Sie waren schon fast angekommen, als sie plötzlich innehielten. Irgendetwas schien sie zu irritieren. Es wurde sehr still, und nun hörte Savićević, was sie stutzig machte: der leise Sound eines Klaviersolos, der aus dem Karton kam.

„Alarm!“, riefen sie und begannen aufgeregt hin und her zu wuseln. „Störende Tongeräusche in Frauentransportbehältnis zweifelsfrei festgestellt.“

Danach verloren sie die Sprache und konnten sich nicht mehr artikulieren. Sie waren bereits einige Schritte zurückgewichen und manche zitterten.

„Öffnen Sie das Behältnis und sehen Sie nach, was los ist, verdammt! Was sind denn das für Zustände!“, schrie Sträuber außer sich vor Wut darüber, dass es Ungereimtheiten gab, die er in seinem Plan nicht vorgesehen hatte. Er schien allerdings selbst enorme Angst zu haben. Die Finanzbeamten waren sehr eingeschüchtert und reagierten nicht auf seinen Befehl. Sobald das Solo besonders filigran wurde oder sich dynamisch anhob, zuckten sie zusammen und wichen noch weiter zurück.

„Muss man denn alles selbst machen? Was sind denn das für Zustände!“, brüllte Sträuber schrill und lockerte zum ersten Mal seinen Griff. Schließlich wies er die andere Gruppe der Beamten an, damit zu beginnen, Savićević und die Tiere mit Akten zu verschütten, und trippelte, regelrecht angeekelt von der Musik und offenbar unter extremen Qualen, an den Karton heran. Savićević nutzte den Moment, in dem Sträuber ihn los ließ. Es war Zeit für seinen Geheimplan. Hektisch kramte er in seiner Tasche und zog, unbeobachtet von den schon emsig arbeitenden Beamten, die Silvesterrakete hervor. Die Akten standen ihm bereits bis zur Hüfte. Auf dem Etikett der Rakete stand: „This firework is not a toy. Do not eat. Handle with care.“ Savićević, der neun Sprachen, jedoch kein Englisch beherrschte, riss das Etikett unbeeindruckt ab.

Abgeschossen vom Hals einer Bierflasche, zischte die Rakete kugelblitzartig und mit ungeheurem Durchschlag in den Auflauf der Finanzbeamten hinein. Die Aktenberge fingen sofort Feuer, und kaum einer der Staatsangestellten blieb verschont. Einige versuchten, sich selbst zu löschen, indem sie sich niederwarfen und sich in dem wenigen verbliebenen Regenwasser wälzten. Dies wäre für einen neutralen Beobachter ein recht ulkiger Anblick gewesen, Savićević aber hatte nur Augen für Fink, die sich in höchster Gefahr befand, da das Feuer innerhalb weniger Minuten bereits große Teile des Decks erfasst hatte. Sogar das Regenwasser brannte.

„Schnell!“, rief er Topstar und Pynchon zu, die längst aufgeschreckt waren. Topstar kroch in Savićevićs Tasche, und Pynchon sprang von dem Container auf eine Rettungsleiter. „Aktenzeichen XY ungelöst!“, rief er unablässig den brennenden Finanzbeamten zu, die in ihrer Verzweiflung dazu übergegangen waren, sich gegenseitig anzupinkeln. Es waren aber nur Tropfen auf den heißen Stein. Die Beamten verglühten langsam, und zurück blieb ein grauer Geröllhaufen.

Savićević hatte gesehen, dass die Reling wohl der einzige Weg war, um nach hinten zu Fink zu gelangen. Noch hatten die Flammen den Karton nicht erreicht; Sträuber und ein kleines Häuflein Beamter standen immer noch davor, trauten sich jedoch nicht, den Deckel anzuheben – zu groß war ihre Angst vor der Musik. Die letzten Beamten ergriffen in Anbetracht des näherrückenden Feuers und der vermeintlichen Gefahr in dem Karton einer nach dem anderen die Flucht über die Rollstuhlfahrerrampe. Auch der Mann mit dem gelben Strohhut war nicht mehr auf dem Deck. Savićević befreite sich unterdessen aus den Akten und begann, sich mit Topstar in der Tasche an der Reling entlang zu hangeln. Die Flammen kamen ihnen bedrohlich nahe, doch sie schafften es, bis auf wenige Meter an die Kiste heranzukommen.

Plötzlich verstummte die Musik. Die Platte musste abgelaufen sein. Was war mit Fink? Sträuber hatte sofort seine Angriffslust wiedergefunden, obwohl ihn sein gesamtes Gefolge nun im Stich gelassen hatte. Mit fahrigen Bewegungen fing er an, einen Sprengsatz an dem Karton festzukleben.

„Ich werde sie in die Luft sprengen … Das Pack … in die Luft sprengen!“, japste er, und seine Augen funkelten krank, als er ein Paket Streichhölzer aus der Tasche zog. Die ersten beiden brachen ab, denn er zitterte vor Hass. Da gelang es Savićević, kurz zu überlegen. Ihm fiel ein letzter Trick ein. Er zog seine Taschentrompete aus der Tasche und begann zu spielen. Er spielte die Melodie von The Gigolo, deutlich genug akzentuiert, um das Knistern der Flammen zu übertönen. Sträuber zuckte zusammen, und die Zündholzschachtel fiel ihm aus der Hand. An beiden seiner Mundwinkel bildeten sich Sabberfäden, die sich langsam nach unten zogen und sich an seinen Schuhen festkrallten, ohne abzureißen. Er schnappte nach Luft, rollte die Augen und stieß gebrochen Hilferufe aus. Sein Batikschal blähte sich auf und riss. Als er schließlich bemerkte, dass niemand mehr da war, der ihm hätte gehorchen können, drehte er sich unter größter Anstrengung um, hielt sich die Ohren zu und stürmte die Rampe hinunter.

„Wir müssen an den Karton herankommen!“, krächzte Savićević. „Wir fliegen sonst alle in die Luft!“

„Ich mache das!“, sagte Topstar aus der Tasche heraus. „Ich versuche, durch die Flammen zu kommen. Mein Schlangenleder müsste das aushalten.“

Er ließ sich an der Reling hinunter, holte tief Luft und glitt dann unter einem umgestürzten Holzbalken hindurch, der nur an der Oberseite brannte. Keuchend, aber beinahe unversehrt, erreichte er den Karton. Er hieb seine Zähne hinein und versuchte, ihn von den wütend züngelnden Flammen wegzuzerren. Er ließ sich jedoch nicht bewegen: Die Gummireifen der Kickboards, an denen der Karton klebte, waren durch die Hitze geschmolzen und klebten nun ihrerseits wie Saugnäpfe am Deckboden. Pynchon sprang von der Rettungsleiter, um ihm zu helfen. Sie schafften es, den Deckel zu öffnen und Fink, die eingeschlafen war, herauszuheben.

„Vergiss die Box nicht!“, rief Topstar.

Pynchon versuchte, den Sprengsatz von dem Karton zu entfernen, aber vergeblich. Sträuber hatte ihn gewissenhaft mit Büroklammern befestigt. Er klappte also nur die orangefarbene Box zu und nahm sie ins Maul. Vorsichtig hob Topstar Fink auf Pynchons Rücken, ohne dass sie aufwachte. Dann beeilten sie sich, die Rampe zu erreichen, zu der nur noch ein schmaler Durchgang frei war. Savićević, der an der Reling weitergeklettert war, erwartete sie.

„Was ist mit Fink?“, rief er aufgeregt.

„Es ist nichts. Sie schläft nur“, entgegneten die beiden. Savićević stutzte, aber es blieb keine Zeit für weiteres Nachdenken. Sie schnappten einen zufällig herumstehenden Einkaufswagen, in den sie Fink und die Box einluden. Pynchon sprang in das untere Fach für Getränkekisten; Topstar warf sich in den Kindersitz. Savićević stieg hinten auf und stieß sie ab. Die Taschentrompete hatte er über Bord geworfen, da er den Sound irgendwie flach und ausdruckslos fand.

Sie waren nur wenige Meter die Rampe hinunter gerollt, als hinter ihnen der Sprengsatz detonierte.

„Wir haben nochmal Glück gehabt.“ Topstar hatte wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen.

Die George Best näherte sich dem Hafen von S.-Stadt. Die Sonne stand im Zenit und ließ sich den Mond auf den Pelz brennen.

Noch in der Nacht war der Brand auf dem Unterhaltungsdeck von der alarmierten Bordfeuerwehr gelöscht worden. Die vier waren zu erschöpft gewesen, um noch ihr Lager aufzusuchen. Sie hatten im Einkaufswagen geschlafen. Langsam erwachten sie, als das Tuten des Dampfers lauter wurde und das Anlegen ankündigte.

Der Dampfer dockte an die Landungsbrücke an, und die Matrosen begannen mit dem Entladen der Lebensmittelkisten. Schaulustige kamen herbeigeeilt und winkten vom Ufer aus den Passagieren zu. Sie sahen nur selten fremde Menschen, so dass die Ankunft eines Schiffes immer ein besonderes Ereignis war. Topstar gähnte und breitete seinen Nackenschild aus, um die Leute auf das schicke Sonnenbrillenmodell aufmerksam zu machen, das darauf abgebildet war; er hatte kurz vor dem Urlaub noch einen exklusiven Werbevertrag mit Ray-Ban abgeschlossen.

„Ich denke, es wird Zeit abzudanken. Au revoir!“, sagte er und stellte seinen Hemdkragen auf. Dann gingen sie von Bord.

Das leise Kratzen in der letzten Rille. Absurditäten aus dem Leben eines Taugenichts

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