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Das Treffen

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Januar, Studentenwohnheim. Das kleine Zimmer wurde von einer Deckenlampe ausgeleuchtet. Die Jalousie war vor das Fenster gezogen. Das Bett, der Schrank, der Schreibtisch und die Wände waren weiß und an einigen Stellen befleckt. Das grelle Licht schien die Unreinheiten noch zu betonen. Auf dem Boden lagen ein paar Chipstüten, mehrere Stifte und Blätter. Auf dem Fernseher neben dem Bett versuchte Gabriel Jesus seine Freundin anzurufen, niemand ging ran.

„Scheiß auf WL!“

Terrier hätte seinen Controller gerne durch den Raum geworfen. Doch er hatte nur noch den Einen, da konnte er nichts riskieren, außerdem war die Wahrscheinlichkeit, in diesem kleinen Zimmer den Bildschirm zu treffen, ziemlich hoch. Und für einen neuen Fernseher reichte sein Bafög erst recht nicht aus. Er begnügte sich damit, seinen Gegner mit grenzwertigen Beleidigungen zu überhäufen. Sein Team trug das Wappen von ADO Den Haag. Vier Minuten Nachspielzeit wurden angezeigt und Butland fing gerade zum achten Mal einen Kopfball seines Verteidigers auf. Der Schiedsrichter pfiff ab.

„Ja der dumme Spasti, ey!“

Terrier schaltete die PlayStation aus. Er schaute auf die Uhr und merkte, dass er spät dran war. Terrier hatte eine unwahrscheinlich große Armbanduhr mit einem schwarzen Lederarmband. Wenn es bei einem Gespräch um Uhren ging, war er nie zu spät. Er konnte Stunden über das Ticken reden. Irgendwann verkrümelte er sich immer mit Astra in eine Ecke und redete über Uhren.

Er nahm sich noch eine Gabel Nudeln und stellte den Teller dann neben den Fernseher. Der grüne Pesto klebte am Rand. Dort wurde er fest. Auch wenn das Fifaspiel etwas anderes vermuten ließ, war kulturelle Sensibilität für den Terrier ein Thema. Aus dem Nutellastreit hielt er sich trotzdem heraus. Er mochte Schokolade ohnehin nur aus dem Kühlschrank.

Um in das Bad zu gelangen, musste er aufpassen nicht zu stolpern. Er tat einen großen Schritt und lehnte sich dabei schon beinahe an die Flurtür. An der Badtür hing eine angeklebte Leiste mit zwei Jacken. Er legte sein Portmonee und eine Kaugummipackung in die Außentaschen, dann ging er in das Bad. Ganz im Gegensatz zu seiner Bude, waren die weißen Fliesen, die ebene Dusche und der Spiegel blitzblank geputzt. Er hatte sich schon umgezogen, aber merkte, dass auf seinem T-Shirt ein grüner Fleck war. Er zog es aus, beugte sich nach hinten und warf es auf das Bett. Die Runde Fifa hatte ihn ein bisschen schwitzen lassen und so sprühte er sich Deo unter die Achseln. Er bekreuzigte sich mit Parfüm.

Terrier nahm ein anderes T-Shirt aus seinem Schrank, es war dem Trikot eines Basketballteams nachempfunden. Bevor er es anzog, stellte er sich noch einmal vor den Spiegel und ließ beim Zähneputzen die Brustmuskeln wackeln.

Seine Haare musste er nicht richten. Vor drei Tagen war er beim Barbier gewesen und hatte sich zum ersten Mal die Haare ganz kurz schneiden lassen. Bart und Haupthaar hatten jetzt fast die gleiche Länge. Nur unter der Nase ließ er die Haare ein bisschen stärker sprießen. Terrier war auf seinen Bart besonders stolz. Bis auf ein paar Stellen unter dem Kinn, war er lückenlos. Er holte gerade die Jacke vom Haken und wollte in den Flur hinaustreten, als er jedoch Stimmen hörte, verharrte er mit der Türklinge in der Hand in seinem Zimmer. Das Studentenwohnheim war natürlich ein Ort für zufällige Begegnungen, aber die Leute aus seiner Etage mochte der Terrier nicht. Die Stimmen verstummten und er trat hinaus in den Flur. Sein Schlüsselbund klapperte fast gar nicht, da an dem Ring nur ein einziger Schlüssel befestigt war.

Terrier wohnte in der ersten Etage des Studentenwohnheims. Das Treppenhaus befand sich in der Mitte und wurde von einer gläsernen Decke begrenzt, an ihr hingen Kunstobjekte. Große, glitzernde Lampen und Bälle. Die Treppen waren breit. Auf der Stufe zwischen dem Erdgeschoss und der ersten Etage lag der Partyraum. An der hölzernen Tür klebte ein Zettel: „Ab 20:00 Uhr reserviert für Geburtstagsparty.“

Es war gerade 19:00 Uhr. Aus dem verschlossenen Aufenthaltsraum drangen bereits ein paar Stimmen, leise Musik und Gläsergeklapper. Der Terrier war nicht zu der Feier eingeladen. Er ging die zweite Treppe hinunter und schaute in seinem Briefkasten nach Post. Auf dem Boden lagen Werbeprospekte für ein Möbelhaus und viele Pizzagutscheine. Dann öffnete er die große Eingangstür und trat in den warmen Winterabend. Der Eingang des Studentenwohnheims war höher gelegen und auf einem Podest neben der Tür saßen zwei rauchende Studenten. Terrier wäre fast an ihnen vorbeigelaufen, wurde dann aber bei seinem Namen gerufen.

„Hey Curry, hab dich gar nicht erkannt“, entschuldigte er sich.

Er kannte Curry nur bei dessen Spitznamen. Den hatte er durch seine legendären Bierpongauftritte verdient. „Curry the sniper“. Für diesen Mann waren perfekte Runden keine Seltenheit. Der Terrier sah Curry selten außerhalb des Partyraumes. Er kannte nicht nur seinen richtigen Namen nicht, sondern wusste auch nicht, was Curry studierte.

Currys Kumpel stellte sich vor, aber der Terrier vergaß seinen Namen in dem Moment, in dem er ausgesprochen wurde.

„Was geht heute Abend bei dir?“, fragte Curry.

„Ich geh jetzt in die Stadt zum Vorglühen und danach gehen wir ins Sägewerk feiern.“

„Nice. Wir haben auch überlegt, ob wir nachher noch hingehen.“

„Seid ihr beim Geburtstag?“

„Jo.“

„Na dann viel Spaß, man sieht sich.“

Der Terrier ging nickend das Podest hinunter. Ein kleiner Pfad führte zum Gehweg. Diesen Winter hatte es wieder nicht geschneit. Doch dafür sehr viel geregnet. Der Weg war gesäumt von Pfützen und der Terrier musste aufpassen, seine weißen Schuhe nicht zu beschmutzen. Der Gehweg führte entlang einer großen Straße, die man auch am Abend nur an der Ampelkreuzung sicher überqueren konnte. Außerdem war am Ende der Straße die Polizeistation von Kandenberg. Die wachsamen Augen des Staates schauten auch auf diese Kreuzung. Der Terrier beobachtete einen unauffälligen Opel Astra, der über die gelbe Ampel fuhr. Sein Blick wanderte ihm nach und er sah, wie das Auto in die Einfahrt des blau angestrichenen Gebäudes fuhr. Terrier erinnerte sich, dass er einmal in der Polizeistation gewesen war. Als Zeuge für eine Schlägerei. Die Vorladung hatte ihm einen freien Tag beschert.

Mit Elif war er vor die Tür des „Sägewerks“ gegangen, sie wollte eine Zigarette rauchen. Der Raucherraum im Club hatte ihr den Atem geraubt. Das „Sägewerk“ war einer von drei Clubs in Kandenberg und lag sehr zentral in der Altstadt, unweit vom Bahnhof. Der Terrier hatte damals gehofft eine Kusschance zu bekommen. Stattdessen küsste ein junger Partygast den Boden. Die Rollsplittsteinchen klebten an seiner aufgeplatzten Lippe. Dann wurde viel geschrien. Der Türsteher war klein. Ohne die Tätowierungen hätte er harmlos ausgesehen. Er wollte den blutenden Partygast nicht so derb schubsen, aber nun war es passiert und er konnte keinen Rückzieher mehr machen. Dafür schauten zu viele zu. Terrier wäre normalerweise nicht zwischen die beiden Streithähne gegangen. Das tat er nur, weil Elif da war und er sie beeindrucken wollte. Mit dem rechten Arm drückte er den kleinen Türsteher weg und mit dem Linken den Partygast. Er spürte wie eine Faust sein Ohr traf. Es tat nicht besonders weh. Das hätte es auch im nüchternen Zustand nicht. Aber Betrunkene mit viel Adrenalin sind quasi unverwundbar. Und wenn die Kraft eines Balzversuches die Muskeln stärkt, lächelt man so eine Faust locker weg.

Der Terrier hatte an diesem Abend zwar seine Uhr dabei, aber das Zeitgefühl verloren. In seiner Erinnerung kamen die Polizisten allerdings ziemlich schnell. Auch ein Krankenwagen fuhr vor das „Sägewerk“. Die blauen Lichter blendeten ihn und er suchte nach Elif. Die war bereits wieder die Treppe des Clubs hinunter gegangen. Der Terrier stand alleine neben Polizisten vom doppelten Türsteherformat. Er wurde befragt und sollte seine Personalien angegeben. Der blutende, junge Mann wurde mit dem Krankenwagen in das Krankenhaus gefahren. Dann löste sich der Menschenpulk vorm Club auf und die aufgehende Sonne stahl den Blaulichtern die Show. Der Terrier schaute auf seine Uhr. Er stellte fest, dass es an der Zeit war ins Bett zu gehen.

„Du bumst heute nicht mehr“, sagte er sich.

Wenn man heimkommt und es schon wieder hell wird, kann das auch ganz schön scheiße sein. Der Tag hat schon begonnen und man selber muss jetzt schlafen gehen. Die zwitschernden Vögel lachen einen aus, weil man allein in Richtung Studentenwohnheim geht.

Heute würde der Terrier nicht alleine nachhause gehen, das schwor er sich, obwohl er sein Zimmer nicht aufgeräumt hatte.

Der Terrier ging über die Straße und das Polizeigebäude verschwand aus seinem Blickfeld.

Die Straße, auf der er jetzt lief, führte lange gerade aus, hinein in die Stadt. Doch zunächst über zwei Brücken. Unter einer der Brücken war ein Flüsschen und unter der anderen der ausgetrocknete Stadtgraben. Die Stadtmauer war nicht mehr erhalten. Die moderneren Häuser wichen Umgebinde- und Fachwerkhäusern. Von, mit schwarzen Fensterläden umrahmten, Glasscheiben reflektierte das Licht der Straßenlaternen und blendete in den Augen des Terriers. Der junge Mann benötigte eigentlich eine Brille. Vorhin beim Zocken hatte er diese auch noch aufgehabt, doch damit feiern gehen wollte er nicht. Den Weg kannte er gut genug, um ihn blind ablaufen zu können. Er war nur zwanzig Kilometer von Kandenberg entfernt aufgewachsen. Mit seinen Eltern war er nicht oft hier gewesen, aber doch schon ab und zu. Kandenberg war auf jeden Fall eine Reise wert. Aber nach einem Wochenende hatte man alles Sehenswerte gesehen. Doch selbst wenn Terrier die Strecke nicht schon auf einem Dreirad abgefahren wäre, hätte er den Weg gefunden. Denn schließlich war das der schnellste Weg in die Altstadt und da es nur dort Möglichkeiten gab auszugehen, war es die Pilgerstrecke durstiger Studenten.

Der Terrier sah die Umrisse eines Kinderwagens. Er blieb stehen und ließ die Frau passieren. Der Weg war so schon eng und wurde dazu noch von einem E-Roller versperrt. Die Frau lächelte ihn an. Wenn die Gesichter nah waren, erkannte er sie. Probleme hatte er nur bei Sachen auf langer Sicht. Er wollte nicht wissen, wie oft ihn schon der Ruf eines arroganten Sacks angehängt wurde. Terrier, der Nichtzurückgrüßende. Aber was sollte er denn auch machen, wenn er sie einfach nicht sah? Nicht für jeden Menschen haben Bäume Blätter.

Die hölzernen Stämme am Rand der Straße waren noch überraschend dick angezogen. Der Terrier kniff die Augen zu und meinte sogar einzelne Blüten an den Bäumen zu erkennen. Bunt und Grün waren verschieden. Er machte sich Sorgen, um die Pflanzen. Ein plötzlicher Kälteeinbruch und sie würden hart getroffen werden.

Die Sonne war schon lange unter gegangen, aber es war immer noch warm. Viel zu warm. Bestimmt um die elf Grad Celsius und das in einer Januarnacht. Der Terrier musste den Reißverschluss seiner Jacke aufmachen. Er versuchte nun das Tempo seiner Schritte zu drosseln, um nicht ins Schwitzen zu geraten.

Eine Runde Fifa, ein zehnminütiger Spaziergang oder ein Gespräch mit Elif; der Terrier kam immer schnell ins Schwitzen und das, obwohl er sportlich war.

Auch wenn er nicht wusste, dass Blätter am Baum schön aussahen, war ihm die Natur sehr lieb. Trotzdem konnte er nicht mit dem Rad zur Uni fahren. Denn egal, ob es fünf oder fünfzig Minuten wären; der Terrier würde schwitzen.

Manchmal wünschte er sich ein Raucher zu sein. Dann hätte er nicht nur einen Grund mit Elif vor die Tür zu gehen, dort, wo bekannterweise die besten Gespräche stattfanden, sondern auch einen Grund, um mal eine Pause einzulegen. Sich mal hinzusetzen. In Kandenberg gab es zwar kaum Rentner, dafür aber viele Sitzmöglichkeiten. Dabei gab es in Deutschland eigentlich immer viel zu wenig Sitzmöglichkeiten gab. Sitzmöglichkeiten und öffentliche Frauentoiletten, daran mangelte es in Deutschland am meisten. Doch das war den Terrier egal, denn er rauchte ja nicht und musste an den Betonblöcken nicht stehen bleiben. Gewürfelte Privilegien aus gezinkten Bechern.

Hinter den zwei Blöcken, auf deren Kopf jeweils drei Holzleisten eingelassen waren, erhob sich das Kandenberger Stadtmuseum. 2014 wurde es erneuert und dementsprechend hässlich sah es aus.

Eine überdimensionale Glasfensterwand zog sich quer über zwei Altbauhäuser. Stärkere Disharmonien als beim Kurzhanteltraining des Terriers.

Die Straße machte dann eine leichte Linkskurve, vorbei an einer Grundschule. Die Rollläden waren natürlich schon nach unten gezogen. Schließlich war der Sandmann schon in den Wohnzimmern gewesen und am Wochenende gehörten die Kinder noch mehr als sonst auf die Spielplätze und nicht auf die Schulbänke. Die Straße kreuzte und Terrier musste an der nächsten roten Ampel warten. Er hielt Abstand zu seinen Vordermännern, die ihm mit der lauten Musik und den Bierflaschen in der Hand etwas suspekt vorkamen. Nur deshalb ließ er seinen Blick wandern und entdeckte, dass im zweiten Stock der Schule noch ein Licht brannte. Der Terrier kniff wieder die Augen zusammen, versuchte etwas zu erkennen. Schemenhaft meinte er eine Person durch den Raum flitzen zu sehen. Ob es sich dabei um einen Mann oder um eine Frau handelte, konnte er nicht erkennen. Dass es eine Rolle spielen würde, glaubte er nicht. Abgelenkt von dem Schattenspiel verpasste er die Grünphase. Die leiser werdende Musik war ihm nicht aufgefallen. Ein Opel hupte, da war es aber schon wieder Rot.

„Na, hätte er sich auch sparen können“, dachte sich Terrier.

Er stand jetzt immer noch an der Ampel, diesmal weiter vorne und wartete auf die zweite Grünphase, weil er ein Trottel war. Er schaute sich in der Sorge um, dass auch andere das mitbekommen hatten. Nun ließ er den Blick nicht wandern. Konzentriert wie ein Pferdemädchen in der Grundschule auf der anderen Straßenseite, schaute er auf die Ampel. Es wurde Grün. Der Lichtkegel harmonisierte mit den Weihnachtskränzen, welche ab hier, an jeder Straßenlaterne angebracht waren.

Hinter der Kreuzung begann die Einkaufsstraße von Kandenberg. Überraschend viele Läden hatten sich gehalten und dem Internetbestellmarkt getrotzt. Darunter waren nach der Meinung des Terriers auch richtig unnötige Ramschläden, die sich auf Sachen wie Regenschirme, Socken oder Einlegesohlen aus kubanischen Zwergwachtelfell spezialisiert hatten.

Der Terrier wusste nicht einmal, wo Kuba lag. Zwergwachteln mochte er jedoch, besonders die viereckigen. Bei denen musste man nie Angst haben, dass sie zur Seite fielen.

Über den Läden waren Wohnungen mit winzigen Balkonen. Der Straßenzug war sehr eng und schien auch bei diesem unzauberhaften Wetter etwas Märchenhaftes zu haben. Die Mülleimer waren alle halbvoll und nichts lag auf der Straße. Die Jungs von der Ampel hatten ihre Bierflaschen in die Metallkörbe um den Korb gestellt, denn Pfand gehörte daneben. Der Terrier nahm sich einen Kaugummi aus seiner Jackentasche und blieb in der Mitte der Einkaufspassage stehen. Dann zog er sich die Kopfhörer aus dem Ohr und dachte, in einem kurzen Schockmoment, er hätte die mobilen Daten nicht ausgemacht, denn seine heruntergeladenen Lieblingssongs unterschieden sich von der Playlist „Deutschrap Royal“, im Wesentlichen nur in einmal Phil Collins.

Auf der rechten Seite war das Haus, zu dem er wollte. Er steckte sich den Kaugummi in den Mund und streckte den linken Arm zum Klingeln aus. Dabei bemerkte er, dass seine Uhr zwei Stunden nachging.

Um 17:20 Uhr stand Elif noch unter der Dusche. Obwohl das Bad recht groß war, bot es einige Tücken. Selbst wenn das Fenster geöffnet war, staute sich die warme Luft in dem Raum. Gerade wenn man so lange und so heiß wie Elif duschte, verwandelte sich das Bad in eine kleine Sauna und dementsprechend rutschig wurden die weiß-schwarzen Fliesen. Elif hob das Bein. Sie stieg mit ihrem Fuß auf das Handtuch am Boden. Da die Dusche nicht eben war und einen sehr hohen Einstieg hatte, war der zweite Schritt der gefährlichste. Doch gekonnt und geübt hob sie auch das rechte Bein. Mit einem Handtuch aus ihrem Riminiurlaub trocknete sich Elif ab. Darin eingewickelt öffnete sie vorsichtig die Badtür. Davor saß Theodor Tatze, der Kater ihrer Mitbewohnerin. Er wedelte mit dem Schwanz und schob sich miauend um die Beine von Elif. Die vergewisserte sich, dass Hanna mit ihrem Freund auf ihrem Zimmer war, bevor sie den Flur runter flitzte.

Elifs Zimmer war dreimal so groß, wie die ganze Bude des Terriers. Nun bildeten achtundvierzig Quadratmeter keine Luxuswohnung im eigentlichen Sinne, in Kandenberg war das aber trotzdem kaum zu bezahlen. Deshalb war Elif froh, spendierfreudige Eltern zu haben.

Ihr Fenster zeigte hinaus zur Einkaufspassage. An den Straßenlaternen hingen Weihnachtskränze. Ein paar Nadeln fielen bereits ab. Sie wurden nicht mehr vom Kleber gehalten. Vor dem Fenster stand ihr Schreibtisch. Einen Stuhl hatte und brauchte sie nicht. Sie stand gerne beim Lernen und Arbeiten. „Das sei gut für den Rücken“, sagte sie immer. Sie nahm das Handtuch ab und legte es über den Sessel vor ihrem Fernseher. Hanna und sie hatten auch eine Couch, aber die stand vor dem großen Fernseher im Wohnzimmer.

Sie schaute noch einmal auf ihren Schreibtisch. In der Mitte lag ihr MacBook, rechts daneben stand ein Drucker und links waren in Fächern Ordner verstaut. Stifte hatte sie auf ihren Schreibtisch keine. Sie strich sich mit der Hand über ihren unteren Rücken und spürte wie die Muskelstränge ein Tal bildeten. Die Verstellmechanismen des Schreibtischs funktionierten bestimmt gar nicht mehr.

Elif wollte sich gerade eincremen, da miaute es wieder hinter ihr. Für sie blöderweise, hatte ihre Zimmertür Milchglas in der Mitte. Stand man im Flur, konnte man ihre Umrisse schemenhaft erkennen. Stand man wie sie, in ihrem Zimmer, konnte man erkennen, wie Theodor Tatze vor der Tür wartete. Elif öffnete die seitlich angebrachte Katzenklappe. Der Kater sprang auf das Bett.

Elif machte mit ihrem Handy Musik an, um die Kratzgeräusche von Hanna zu übertönen. „Deutschrap Klassik“ hörte sie da viel lieber. Theodor schien es da ähnlich zu gehen, er kringelte sich auf dem Kopfkissen ein, machte die Augen zu. Elif konnte sich nun ungestört umziehen. Dann setzte sie sich noch kurz zu dem schlafenden Tier.

„Theodor, kann ich so gehen?“, fragte Elif.

Theodor antwortete nicht, da er vom Ausgehen keine Ahnung hatte und ihm der rote Pullover nicht gefiel. Seine Freiheit endete auf dem großen Balkon an der Küche.

Die Küche war ein länglicher Raum, ohne Sitzmöglichkeiten. Elif, Hanna und deren Freund Mark aßen bei schönem Wetter auf dem Balkon. Ansonsten vor dem großen Fernseher im Wohnzimmer. Elif kramte etwas aus ihrer Jackentasche. In ihrem Zimmer hatte sie einen Hutständer zu einer Jackengarderobe umfunktioniert. Hanna und sie gingen an den Wochenenden gerne auf Flohmärkte. Hinter der Polizeistation gab es eine große Halle. Früher gehörte sie der Schuhfabrik von Kandenberg, doch die war schon vor der Jahrtausendwende pleite gegangen. Dann stand die Halle lange leer und wurde erst 2013 restauriert. Nun fanden dort verschiedene Veranstaltungen statt, unter anderem auch Flohmärkte. Hanna und Elif waren schon ein paar Mal dort gewesen und wussten nicht, dass es eine ehemalige Schuhfabrik war. Der Schriftzug aus Eisenlettern über dem mächtigen Torbogen war entfernt wurden. Da sie beide nicht aus Kandenberg kamen, kannten sie die alten Geschichten nicht und deuteten die ungesagten Worte um. Erst ein Instagrampost der Stadt hatte sie darauf aufmerksam gemacht. An dem Tag, an dem Elif den Hutständer gekauft hatte, wurden sie das erste Mal von Mark begleitet. Der bekam dann auch gleich die Aufgabe, den schweren Gegenstand in die Wohnung zu tragen. Einwände hatte er keine. Die Felljacke, aus der Elif gerade ihre Zigarettenschachtel zog, hatte sie auch dort gekauft. Das war allerdings ein spezieller Flohmarkttag gewesen. Auf den Tischen waren nur Frauenkleider ausgelegt. Elif konnte sich noch erinnern, dass Mark, als Begleitung von Hanna, der so ziemlich einzige Mann in der ehemaligen Schuhfabrik gewesen war. Damals hatten sie auch ein Foto gemacht und an das Korkbrett im Flur gehangen. Elif öffnete ihre Milchglaszimmertür und ging an diesem Brett vorbei. Theodor Tatze hob den Kopf und sprang vom Bett hinunter, er folgte seiner Mitbewohnerin und blieb vor dem Brett stehen. Der Kater interessierte sich nur für die vielen Bilder, den Putzplan ließ er unbeachtet. Eigentlich alle Bilder zeigten lachende junge Menschen, fast immer mit Flaschen, Bechern oder Gläsern in der Hand. Häufig hatten die feiernden Studenten auch Partyhüte auf. Ein Bild zeigte den Terrier, wie er Mark und Elif Huckepack nahm.

Das Bild war vor dem Podest des Studentenwohnheimes aufgenommen wurden. Alle drei lachten. Elif an der Spitze hielt sich an einem Fahnenmast fest. Theodor Tatze mochte das Bild. Schnurrend drehte er sich um und sah, dass Elif bereits die Küche durchschritten hatte. In dem Moment, in dem sie die Balkontür öffnete, öffnete sich auch die Zimmertür von Hanna und Elifs Mitbewohnerin schlüpfte ins Bad. Die Katze gesellte sich zu Elif. Die setzte sich auf einen der vier Plastikstühle.

Der Tisch war aus Holz, der Balkon aus Beton. Man konnte auf einen Innenhof schauen. An einer Wäschespinne hatte jemand seine Bettlaken vergessen. Sie leuchteten weiß. Elif legte ihren Arm auf die Brüstung, ihr Blick wanderte über die alten Häuser, den mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof, hinzu zu einer Lücke. Links und rechts standen zwei Fachwerkhäuser mit weißen Giebeln und verspielten Fenstern. In der Mitte befand sich eine Garage, die kleiner war als die Häuser und einen Blick auf die Kneipengasse frei gab. Eine Bar reihte sich an die andere. Kandenberg hatte zwei von diesen Gassen. Elif würde heute in die andere gehen. Sie wollte sich gerade eine Zigarette aus ihrer Schachtel ziehen, da öffnete sich die Balkontür wieder. Mark schob das Fliegengitter beiseite und setzte sich Elif gegenüber. Theodor Tatze sprang auf seinen Schoß. Auch wenn es nicht den Anschein machte, so war Hanna der absolute Lieblingsmensch von Theodor.

Er hatte sie sich quasi ausgesucht. Hanna war in einem Dorf an der Nordsee groß geworden. Ihr Kinderzimmerfenster ging zum Deich hinaus. Der Blick war weit, bis eines Tages eine Familie das Grundstück vor Hannas Elternhaus kaufte. Sie brachten Theodor Tatze mit. Das Tier durfte den ganzen Tag herumlaufen, aber wollte das nicht. In neun von zehn Fällen saß er vor der Haustür. Bibbernd auf die Klinke schauend. Der Schuhabtreter bot ihm nur geringen Schutz vor der Kälte. Dem Regen war er ausgesetzt. Hanna konnte sich das nicht gut ansehen. Häufig lockte sie den Kater auf das Grundstück ihrer Eltern, streichelte ihn lange. Ab und an gab sie ihm sogar ein Stückchen Leberwurst. Theodor lernte schnell, dass es auf der anderen Seite schöner war. Dann stritten sich seine Herrchen immer öfter und vergaßen ihn auch am Abend reinzulassen. Eine Katzenklappe gab es nicht, für ihn auch keine Seitliche. Das Pärchen trennte sich und sie zogen aus. Alleine konnten sie das Haus nicht finanzieren. Anscheinend konnten sie sich auch nicht bezüglich des Sorgerechts für Theodor Tatze einigen. Der hatte sich da allerdings schon aus dem Staub gemacht und bei Hanna eingenistet. Jetzt saß er bei ihrem Freund auf dem Schoß und beobachtete ihn argwöhnisch. Er passte auf seine Hanna auf. Zur Warnung holte er ein paar Mal die Krallen aus. Doch Mark war schon versorgt. Er hatte sich nur eine Strickjacke drüber geworfen. Der Hals war frei. Elif erkannte die roten Striemen auf der Haut. Sie beugte sich vor. Mit der Hand fuhr sie über die aufgekratzte Stelle.

„Na, dafür wart ihr aber trotzdem ziemlich laut“, lachte Elif.

Sie zog dann endlich ihre Zigarette aus der Verpackung.

„Du kannst Eine von mir haben“, sagte sie zu Mark. Der war wegen ihrer Bemerkung so rot geworden, dass die Striemen nicht weiter auffielen. Er bedankte sich, war er doch auch nur für die Zigarette „Danach“ herausgekommen. Da es nicht sehr kalt war, verflog der Rauch schnell in der dunkelblauen Luft.

„Du hast dich aber heute hübsch gemacht“, sagte er.

Elif brauchte tatsächlich nur eine Jeans und einen engen Pulli um perfekt auszusehen.

„Ach Dankeschön, wie lieb. Ich werde ja ganz rot“, scherzte sie.

„Wann machst du los?“, fragte Mark.

Elif schaut auf ihr Handy. Es war gerade 18:45 Uhr.

„In einer halben Stunde“, sagte sie dann.

Man hatte das Gefühl sie wollte noch mehr sagen, aber dann öffnete sich die Balkontür zum dritten Mal. Hanna kam heraus und setze sich zu den beiden. Sie selber rauchte nicht. Die WG redete über unverfängliche Themen, Elif schaute oft auf die Uhr. Sie hatte wirklich Lust auszugehen, aber die Zeit schien nicht verstreichen zu wollen. Dann klingelte es endlich und sie verabschiedete sich von Mark und Hanna.

Der Treppenaufgang ihrer Wohnung war leicht verwirrend. Zunächst musste man einen langen L-förmigen Flur hinunter gehen. Eine neue Treppe führte dann zwei Stockwerke hinab. Und dann musste man diesen Weg noch einmal andersherum gehen. Elif ging an einem Fenster vorbei, das wieder auf den Innenhof zeigte und bemerkte eine rote Pflanze auf dem Fensterbrett. Auch wenn Elif meilenweit davon entfernt war Biologie zu studieren, erkannte sie den Weihnachtsstern. Sie wunderte sich, da dieser ihres Wissens, eine teure Pflanze war, der allein im Flur nicht stehen sollte. Wertvolle Sachen waren doch selten allein. Elif hatte beinahe vergessen, dass der Terrier unten auf sie wartete, so schön fand sie die roten und grünen Blätter.

„Ich habe mal ein bisschen den Flur geschmückt. Ich fand ihn zu grau und gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit tut so ein Farbtupfer ziemlich gut, nicht?“, sagte eine Frau, die gerade auf Elif zugelaufen kam.

„Ah Hallo, Frau Trauricht, ja so sieht der Flur wirklich schöner aus. Aber ist so ein Weihnachtsstern nicht eine sehr sensible Pflanze. Hoffentlich geht sie hier nicht ein?“, fragte Elif.

„Ich kenne mich mit Pflanzen doch sehr gut aus. Am Kaffeetisch habe ich gerade eine neue Orchidee hingestellt. Dabei fällt mir ein, dass ihr doch mal zu Kaffee und Kuchen vorbeikommen wolltet“, sagte Frau Trauricht.

„Ja Frau Trauricht, das machen wir auch noch. Versprochen. Aber jetzt gerade ist schlecht, ich muss jetzt auch hinunter, weil da jemand auf mich wartet. Ich vergesse die Einladung nicht. Sie haben ja mal gesagt, dass sie und ihr Mann die besten Gärtner*innen in der Stadt waren, davon muss ich mich doch überzeugen“, lachte Elif.

Luna Trauricht lachte auch. Es klang wie ein Taube. Sie war traurig. Jetzt hatte sie sich endlich mal getraut die nette Nachbarin zu fragen und sie hatte die zweite Einladung abgelehnt. Für Luna war das anstrengend gewesen. Sie war noch nie ein Mensch, der gut mit Menschen konnte. Manchmal sammelte man den Mut sinnlos.

Ohne von Frau traurichts Gedanken zu erfahren, ging Elif zur Haustür. Kurz bevor sie die erreichte, öffnete Frau Balg von außen die Tür. Der Schlüssel klapperte noch im Schloss. An dem letzten Ring hing ein abgewetztes Stofftier. Die ältere Dame trug einen Getränkekasten. Elif sah, wie der Terrier hinter dem Rücken von Herrn Balg, der auch eine Kiste hatte, stand und nicht wusste, ob er helfen sollte.

„Warten sie Frau Balg, wir können ihnen helfen“, sie winkte den Terrier zu sich, „sollen die Flaschen in den Keller?“

Frau Balg blieb oben an der Treppe stehen und bedankte sich überschwänglich bei Elif und Terrier. Dann kam Frau Trauricht und sah, wie sich Elif und Frau Balg unterhielten.

„Das sieht gut aus mit deinen Haaren, lass mich mal anfassen“, Elif strich, ohne Gegenwehr vom Terrier zuzulassen, über den kurzgeschorenen Kopf.

Die beiden Studenten gingen nun gemeinsam die Einkaufsstraße entlang.

„Wie geht es Hanna?“, erkundige sich Terrier.

„Die macht sich mit Mark heute einen schönen Pärchenabend. Mittlerweile gehen sie ja fast gar nicht mehr raus. Wir waren dieses Jahr, also genau genommen letztes Jahr, nur einmal auf dem Weihnachtsmarkt. Kannst du dir das vorstellen? Hanna, die Nichtstuende? Früher waren wir ja eigentlich jeden Abend unterwegs. Aber jetzt, macht sie nur noch Sachen mit Mark. Wir kochen ja noch nicht einmal mehr zusammen. Wenigstens die Flohmärkte sind uns geblieben. Schau mal, was sagst du zu der Jacke? Kubanisches Zwergwachtelfell. Habe ich auf dem Flohmarkt hinter der Polizei gekauft. Hat mich nur fünf Euro gekostet. Ich habe die beiden ja gefragt, ob sie heute Abend mitkommen wollen, aber was habe ich denn auch erwartet. Ist ja schon erstaunlich, dass sie am Wochenende da sind. Ich wollte ja eigentlich auch nachhause fahren, musste dann aber heute früh noch etwas für die Hausarbeit machen. Was hast du heute so gemacht?“

Elif und der Terrier waren jetzt ungefähr auf der Hälfte ihrer Strecke und mussten unter einem Baugerüst hindurchgehen. Da ihnen ein Pärchen entgegenkam, mussten sie voreinander laufen.

Das gab Terrier Zeit um nachzudenken.

„Ich bin gestern erst spät ins Bett gekommen und habe deshalb heute ziemlich lange geschlafen. Bin dann erst gegen zwei Uhr wachgeworden, weil Lion mich angerufen hat. Er hat gefragt, ob heute alles klappt. Dann habe ich mir Essen gemacht und bis jetzt gerade habe ich noch für die Uni gelernt“, log der Terrier.

„Du bist aber auch wirklich ein Langschläfer. Was hast du dir zu Essen gemacht? Ich habe heute die selbstgemachten Reispuffer mit Brokkoliauflauf gegessen. Weißt du noch? Die, die dir immer so gut geschmeckt haben. Wenn du denn mal rechtzeitig genug wach geworden bist.“

„Ach ich habe mir nur Nudeln gemacht, aber ja, die haben wirklich sehr gut geschmeckt, du bist eine Superköchin“, sagte Terrier und stolperte. Er konnte sich gerade so an Elifs Schulter festhalten.

„Also das ist ja wirklich ein stumpfer Flirtversuch. So suchst du Nähe?“, scherzte Elif. Sie lachte nicht wie eine Taube.

„Nein, hab ich nicht, wollte ich gar nicht. Bin gestolpert. Hier guck, die Kante.“

„Alles gut. Ich kenne den Weg ja. Es ist doch mein Uniweg. Hier stolpere ich oft. Das Moos hebt die Platten sehr stark an. Wenn ich hier mit Musik laufe, dann stolpere ich eigentlich so gut wie immer. Guck mal hier die Kerbe. Da läuft man automatisch wie auf Eiern.“

Jetzt waren sie am Ende der Einkaufsstraße angelangt und mussten wieder eine Kreuzung überqueren. Elif flitze noch schnell rüber. Terrier hingegen wartete als Rot wurde. Er fühlte sich erneut wie ein Trottel.

Elif stand nun in der Mitte des gegenüberliegen Platzes. Der trug den Namen einer Größe des deutschen Reiches und würde spätestens in zehn Jahren umbenannt werden. Der Platz war mit einer Kunstfigur geschmückt. Man konnte nicht erkennen, was sie darstellte. Der graue Stein sah aber auch zu langweilig aus, als dass man sich die Mühe einer Deutung machen wollte. Um den Sockel, auf dem die Kunstfigur stand, waren mehrere im Kreis gebogenen Bänke, auf denen aber nie jemand saß. An den Füßen der Skulptur lag trotzdem Müll. Der Platz wurde von der langen Straße begrenzt, auf der Elif und der Terrier gerade gelaufen waren. Dann führte eine kleinere Straße zu der ersten Kneipengasse und bog man auf der Kreuzung ab und fuhr nicht gerade aus, so kam man zum Bahnhof von Kandenberg. Bei den anliegenden Häusern handelte es sich um eine verlassene Schule und um einen grauen Bürokomplex. Die unteren Räume der Schule wurden noch von der Volkssolidarität genutzt, trotzdem wirkte das Haus trist. Genau wie der Bürokomplex, passte es einfach nicht in das Gesamtbild der schönen Altstadt. Früher war in dem Bürokomplex noch eine Bank gewesen. Nicht so weit früher, dass nur Kandenberger oder Terrier sich daran erinnern konnten. Elif konnte sie, nach ihrem Umzug zum Studienbeginn, noch einen Monat lang nutzen. Dann wurde die Filiale geschlossen. Am Anfang stand noch ein Bankautomat vor der Tür.

Elif achtete immer ganz penibel auf die Augen ihres Hintermannes, wenn sie ihren Code eingab.

Sie kannte nach einmaligem Gespräch von jedem den Namen und hatte immer ein paar Fakten zu der Person parat. So wirkte sie immer supernett und kam schnell ins Gespräch, aber Zahlen waren ihr Feind. Den Pin ihrer Bankkarte konnte sie sich einfach nicht merken. Einmal wurde die Karte sogar eingezogen, da sie die Zahlen zu oft falsch eingegeben hatte. Dann hatte sie aber einen Stress gehabt, das brauchte sie kein zweites Mal. In der Konsequenz dieses Unglückes, entschied sie sich die Zahlen immer im Portmonee zu haben. Sie erinnerte sich noch daran, wie ihre Mutter sie immer davor gewarnt hatte. Aber bisher war noch nichts schief gegangen. Elif beruhigte sich damit, dass sie ja auch keinen Zettel, mit der Aufschrift „Pin für die Bankkarte“, in ihrer Geldbörse hatte. Die Zahlen hielt sie für geschickt versteckt. Das Kärtchen ihres Zahnarztes erinnerte sie an ihren Termin am 23.6 um 7 Uhr.

Jetzt kam Elif allerdings auch gar nicht mehr so oft in die Verlegenheit, den Pin benutzen zu müssen. Den Bankautomaten am Platz gab es nicht mehr. Sie musste nun bis vor zum Bahnhof gehen, um Geld abzuheben. Als sie das erfuhr, entschied sie sich, mehr mit der Karte zu bezahlen. Deshalb hob sie auch das Limit ihrer Karte für Aufträge ohne Pineingabe, an. Manchmal verlor sie den Überblick über die Summen, aber da sie ja spendierfreudige Eltern hatte, war das kein Problem.

Gestern war sie jedoch trotzdem bei der Bank gewesen, denn in den Bars konnte man selten mit Karte zahlen. Auch wenn sie jetzt genug Scheine einstecken hatte, vermutete sie, auch heute den Überblick zu verlieren. Aber das hätte andere, schönere Gründe.

Der entfernte Bankautomat hatte ein Loch zurückgelassen, die Scheiben waren mit Schriftzügen bemalt. Unter dem zurückgelassenen Plakat des bausparvertragverkaufenwollenden Mannes mit schmaler Krawatte und Hitlerbärtchen hatte sich der „jewdestroyer69“ mit einem Hakenkreuz verewigt. Elif sprach den Terrier darauf an und beide wunderten sich, dass dies stehen bleiben durfte, aber der Heiratsantrag von vorheriger Woche schon penibel entfernt wurden war.

Terrier, der dachte, dass Kalendersprüche einen schlau wirken lassen, sagte: „Tja Hass schlägt halt Liebe.“

Und zwischen alledem steht das Geld. Die Buchstaben der Bank waren noch klar zu erkennen.

Die Etage darüber stand leer. Ganz oben war ein Fitnessstudio von einer kleinen Kette, die in einer Studentenstadt keine Kunden hatte, da man sich drei Jahre binden musste. Die meisten jungen Menschen wussten noch gar nicht, was sie wollten.

Der Terrier war froh, dass er seine Fitnessclubmitgliedschaft in Kandenberg schon vor dem Studium hatte. Aber die Muskeln bringen nichts, wenn die Augen einem Streiche spielen.

Elif und er warteten auf Astra und Lion, sie schauten in die Richtung, aus der sie kommen würden. Und in der Zeit kamen andere Gruppen vorbei, hauptsächlich Jungs.

Der Terrier machte sich Sorgen, dass sie Elif und ihn anmachen würden. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen, wusste nicht, wie sie drauf waren. Er musste sich etwas ausdenken. Ins Dunkle deuten. Wenn sie dann da waren, erkannte er, dass sie kleiner waren als er und, dass es sowieso nie eine Gefahr gab.

Einige von denen waren nicht nur kleiner als er, sondern auch kleiner als Elif. Elif war eine von den jungen Frauen, die größer wirkten, als sie eigentlich waren. Erst wenn man sich neben sie stellte, merkte man den Schwindel? Den Trugschluss?

Während sie auf ihre Freunde warteten, gingen Elif und dem Terrier allmählich die Gesprächsthemen aus. Elif stellte lieber persönliche Fragen, aber der Terrier wollte diese nicht beantworten. Hätte er Elif persönliche Fragen gestellt, hätte sie diese gerne beantwortet, aber er tat es nicht.

Ihnen zur Rettung kamen Lion und Astra. Sie waren schon an dem Eingang der Volkssolidarität vorbei, als Terrier sie erkannte.

Lion machte seinen Namen alle Ehre. Als Mähne trug er einen Vollbart, der den Terrier neidisch machte. Lion war über 1,90 m groß und ein geborenes Schwergewicht. Er begrüßt erst Elif und dann Terrier. Seine Augen strahlten und er konnte seine Vorfreude auf den heutigen Abend überhaupt nicht verbergen. Während der Begrüßung schien es, als würde Astra, wie ein Welpe um sie herumspringen, wartend, bis er an der Reihe war. Astra war kleiner als Elif und ein Typ der Sorte, die unironisch Fischerhüte und Bauchtaschen trugen. Naja, zumindest halbironisch. Er wusste schon, dass der Hut ziemlich dämlich aussah aber gerade das mochte er.

Sie wollten sich in Bewegung setzen, als Lion begann zu reden: „Ihr glaubt nicht, was uns gerade passiert ist. Ihr kennt doch den Park bei uns. Wo seit der neu ist die Obdachlosen sitzen. Jedenfalls hat die Stadt da so Fitnessgeräte hingestellt. So Airwalker, Legpressen, Armrotationsachen. So was halt. Und dann turnen die da ja immer drauf rum, während ihre Hunde bellen und mitspielen wollen. Da bricht auf einmal der Hebel von dem einen Gerät ab und ein Hund, so ein Großer. Hier Schatz du kennst dich doch mit Hunden aus. Was war das? Ein Rottweilermischling. Jedenfalls nimmt der den Hebel, beißt in diesen Gummibezug und hebt das ganz Teil hoch. Rennt damit weg. Quer über den Basketballplatz und die Wiese. An sich ja kein großes Problem, um die Uhrzeit ist ja niemand mehr da. Aber dann beginnen die anderen Hunde den Rottweiler nachzujagen und irgendwann auch die Leutchen. Aber der lässt sich nicht jagen oder zumindest nicht erwischen. Rennt die Gasse hoch und donnert mit dem Metallteil durch zwei parkende Autos durch.“ Lions tiefe Stimme klang, als würde man zwei große Steine unterschiedlichen Materials gegeneinanderschlagen und reiben.

„Und dann gingen die Alarmanlagen los. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich Alarmanlagen in Reallife gehört habe. Bisher nur im Film“, führte Astra weiter.

„Was ist dann passiert?“, fragte Terrier

„Habt ihr die Polizei gerufen?“

„Die hätten eure Zeugenaussage bestimmt gebraucht.“

„Ne, wir müssen gestehen, dass wir einfach weitergegangen sind. So im Nachhinein denkt man sich schon, es wäre gut gewesen zu warten. Aber naja, was soll´s? Jetzt kann man nichts mehr machen.“

Jetzt, da das Wichtigste geklärt war, ging die Gruppe doch los. Astra sprang über eine der Bänke. An der Ampel mussten sie wieder warten. Wenn andere dabei waren, hielt sich auch Elif an die Regeln. Es mussten halt die Richtigen sein. Sie gingen zu der Seitenstraße. Ein Torbogen vom Weihnachtsmarkt war noch nicht weggeräumt. Als sie unter den Bogen, an dem durch Metallgitter gezogene Lichterketten in blau, rot und weiß leuchteten, hindurch gingen, ließen sie den Fastnazigrößenplatz hinter sich.

Astra fragte sich und die Gruppe, ob der Torbogen und die Weihnachtskränze an den Laternen es gut oder schlecht finden würden, dass sie noch nicht weggeräumt waren. Freuten sie sich, da sie noch weitere Tage an der frischen Luft zubringen durften und sogar das Glück gehabt hatten, dem schönen Silvesterfeuerwerk zuzuschauen? Oder vermissten sie ihre Kameraden, mit denen sie gemeinsam Kandenberg in ein Winterzauberland verwandeln können und die jetzt wahrscheinlich schon in einer warmen Halle am Nordpol gelagert waren?

„Ist das Silvesterfeuerwerk hier wirklich schön? Ich habe es noch nie gesehen. Zu der Zeit bin ich immer zuhause“, sagte Elif.

„Ich habe es auch noch nie gesehen. Aber du warst doch einmal hiergeblieben, oder?“, wendete sich Lion an Astra.

„Yes, das war mein erstes Jahr in Kandenberg und ich konnte nicht in die Heimat, weil ... Und dann bin ich halt auf den Markt gegangen. Es war schon okay“

„Der Torbogen kennt ja auch keine anderen Silvesterfeuerwerke. Er steht nur hier in Kandenberg. Als ganz kleines Kind war ich mit meinen Eltern mal zu Silvester in der Stadthalle feiern, da gab es den Torbogen auch schon. Er wird wohl oft vergessen. Und solange seine Freunde am Nordpol nicht viel weiter herumkommen als er, werden diese auch nur das Kandenberger Spektakel kennen. Also werden sie es schön finden, denn sie wissen ja nicht, dass es Schöneres gibt“, sagte der Terrier.

Die Gruppe war heute nicht wirklich auf der Suche nach dem Schönsten. Die beliebten Bars ließen sie links liegen. Sie kannten ihr Ziel und genossen trotzdem den Weg durch die erste Kneipengasse. Sie liefen auch an der Schlippe vorbei, die man von Elifs Balkon aus sehen konnte. An diesem Samstagabend war für eine Studentenstadt ziemlich viel los. Wenn man bedenkt, dass die meisten Studenten in der Woche feierten und am Wochenende nachhause fuhren. Vor den Türen der Lokale standen einige Gruppen und rauchten. Das Klientel war älter als sonst. Wenn man durch die Scheiben sah, konnte man erkennen, dass viele Tische belegt waren. Die Vier gingen weiter, bis zum Ende der Straße. Da hier keine Autos fuhren, auch manchmal in der Mitte der Fahrbahn. Am Ende des Weges bogen sie nach links ab.

Der Weg war sehr schmal, passend zum restlichen Ambiente bestand auch der Boden aus Kopfsteinpflastersteinen. An beiden Seiten erhob sich eine gut zwei Meter hohe Mauer und engte den Weg weiter ein. Die Gruppe wartete und ließ drei Mädchen vorbei. Die hatten mit ihren hohen Schuhen nicht nur Probleme auf dem Belag, sondern auch blaue Lippen.

„Wenn man so aufgetakelt ist, könnte man sich auch ein Taxi zum Club nehmen“, sagte Elif, die sich von den Mädchen dahingehend unterschied, dass sie eine Hose und flache Schuhe immer dem Kleid vorziehen würde.

Da der Weg enger wurde, konnten sie nicht mehr alle nebeneinander laufen, sie bildeten Paare.

Lion ging mit Elif voran, Terrier und Astra dahinter. Als der Weg sich wieder öffnete, sahen sie den Dom von Kandenberg. Der Domplatz war drei-, viermal so groß wie der Platz mit der verlassenen Bank.

An Wochenenden tummelten sich hier die Touristen. Das waren dann ausnahmsweise tatsächlich viele Rentner, die sehr erfreut waren, so viele Sitzmöglichkeiten zu haben. Jetzt am Abend saßen nur zwei Paare auf den Bänken. Sie schauten abwechselnd auf den, mit großen, runden Scheinwerfern beleuchteten Dom und die Miniaturnachbildung an ihrer Seite.

Jeweils zwischen zwei Bänken waren solche Skulptürchen angebracht, die Straßenzüge der Stadt zeigten. Der Domplatz war von Häusern eingeschlossen und konnte nur über den kleinen Mauerweg, eine Straße, die in Richtung von Terriers Bude ging und durch einen Tunnel erreicht werden. Die Gruppe wollte zu dem Tunnel und ging dafür quer über den Platz. Noch waren sie nüchtern und lachten verhalten. Die Einteilung in Zweiergruppen hatten sie noch nicht aufgegeben. Die Häuser um den Domplatz waren teilweise vor und teilweise nach dem Krieg erbaut worden. Doch sie sahen alle wunderschön aus. Das älteste Haus thronte bei dem Tunnel. Es schien ein Teil der alten Stadtmauer zu sein, stand dafür jedoch an der völlig falschen Stelle. Der Tunnel war zwanzig Meter lang, aber ziemlich hoch, so dass keine beengte Stimmung aufkam. Dahinter begann die zweite Kneipengasse. Die Häuser standen nur auf der linken Seite, rechts begann der Stadtpark und das Flüsschen, über das der Terrier vorhin gegangen war, schlängelte zu den Füßen durch die Nacht in den See. Auch hier standen Grüppchen vor den Türen.

Sie ließen drei, vier, fünf Bars außen vor, bis die vor dem „Paradiso“ stehen blieben. Dass die Bar wie ein Puff klang, war das Aufregendste an ihr.

„Ihr könnt schon rein gehen, wir rauchen noch eine, oder?“, meinte Lion.

Astra und der Terrier zuckten mit den Schultern und öffneten die Glastür. Sie ließen den Jackenständer im Flur, an dessen Ende die Toiletten lagen, unbeachtet und gingen in den Schankraum, der unbedingt so genannt werden wollte. Nadine stand hinter dem Tresen. Sie begrüßte die beiden. Der Raum war rechteckig. An den Kopfseiten standen Bänke und Stühle, wie man sie aus Imbissen kannte.

Dort, wo auf der einen Seite die Tür, ein zweiter Jackenständer und attraktivitätserzeugenderweise eine Jukebox standen, waren auf der eingangsabgewandten Seite ein Billardtisch und eine Dartscheibe. Der Tresen war in der Form einer halben Ellipse geschnitten und bestand aus billig aussehendem, schwarz angemaltem Holz. An einer der Holzleisten waren Bilder geklebt. Sie erinnerten an das Korkbrett in Elifs und Hannas Wohnung. An dem Tresen konnte man auf Barhockern sitzen. Von denen standen auch welche an der Fensterfront. Astra und Terrier setzten sich darauf. Auf Brusthöhe war eine Steinplatte montiert. Aus den Lautsprechern kam Musik der Zeit, in der deutsche Indiemusik cool wurde.

Der mit zwei Zigaretten befüllte Glasaschenbecher und die ganz leicht müffelnde Luft, deuteten darauf hin, dass sich in dieser Bar nicht alle an das Rauchverbot hielten.

„Wieso willst du hierhin? Wir sitzen doch eigentlich immer da drüben“, wunderte sich Astra und zeigte auf den Billardtisch.

Terrier wollte sich an die Fensterfront setzen, da er so hoffte eher mit Elif ins Gespräch zu kommen. Rechts neben ihm war ein Platz frei. Da sollte Elif hin. Links neben ihm saß Astra und er vermutete, dass sich Lion neben seinen Freund setzen würde. Die Fensterscheibe war wie eine Kinoleinwand und zeigte auf die Gasse und den Stadtpark hinaus. Deshalb konnte man auch sehen, wie Lion und Elif ihre Zigaretten in den Mülleimer an der Wand schmissen und auch in die Bar kamen. Astra stand auf, um Platz für Lion und Elif zu machen.

Der Terrier wollte in die Steinplatte beißen. Wenigstens müsste er nicht ganz außen sitzen.

„Können wir bitte tauschen?“, fragte Astra.

„Jo, safe, klar Mann.“

Terrier fühlte sich wieder wie ein Trottel.

Da nicht viel los war in der Bar, kam Nadine zu ihnen und fragte, nachdem sie sich über die ungewöhnliche Platzwahl gewundert hatte, was sie denn trinken wollten.

Der Terrier und Lion bestellten sich ein Bier. Astra und Elif einen Weißwein. Dann stießen sie auf einen Abend an, der besser als die Gewöhnlichen werden sollte.

Kandenberg-Alt Schmiede

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