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I. Begriff und Ausprägungen der Strömung

Anfänge der literarischen Moderne

Bei der Literatur der Neuen Sachlichkeit handelt es sich um eine Spielart der literarischen Moderne, die sich als dominante Strömung seit Mitte der 1920er Jahre ausprägt (vgl. Becker 2007; Becker/Kiesel 2007, 31). Die Situierung innerhalb der literarischen Moderne ist produktiv und problematisch zugleich, denn in der fachwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre hat eine Ausweitung des Moderne-Begriffs stattgefunden, die eine „zunehmende Unverbindlichkeit des Terminus“ (Becker 2007, 1) mit sich bringt. Andererseits wird im Gegensatz zu den frühen, oftmals ideologiekritisch und sozialhistorisch verengten Arbeiten seit einiger Zeit die ästhetische Beschaffenheit und Valenz der Texte selbst stärker in den Blick genommen (vgl. Becker 2000a, 2000b). Die Neue Sachlichkeit bildet in gewisser Weise einen Endpunkt in der modernistischen Literaturentwicklung. Zugleich hebt sie sich als eine kulturelle Dominante aus den vielen Tendenzen und Strömungen der Weimarer Zeit deutlich heraus. Verstanden werden muss sie vor allem als Absetzbewegung vom zuvor das literarische Feld beherrschenden Expressionismus, von dem sie sich durch die Hinwendung zur Faktizität und zum Gebrauchscharakter von Literatur unterscheidet, aber auch dadurch, dass sie keine kohärenten Gruppenstrukturen und keine vereinheitlichende Programmatik ausbildet (vgl. Becker 2002, 75).

Oberfläche

Zentral für die Begriffsbildung und insgesamt das Realitätsverständnis der Neuen Sachlichkeit ist die Neufassung der Kategorien Gegenständlichkeit und Wesen. Damit verbunden ist vor allem die Umwertung des Begriffs der Oberfläche: In einem dokumentarischen, quasi fotografischen Verfahren soll diese abgebildet und gestaltet werden, weshalb innere Vorgänge, wie Gefühle, weitgehend ausgespart bleiben. „Psychologische Schöpfungen müssen ebenso untersagt sein wie lyrische Ausschweifungen“ (zit. n. Becker 2000b, 165), heißt es in einer Rezension von Stefan Grossmann zu Kisch. Die Oberfläche definiert sich nicht als Gegenpol zu einem dahinter verborgenen Innern, „sondern als das einzig Sichtbare, das einzig Existierende, als eine Art Leinwand, auf der alles Geschehen sich abspielt und hinter der sich nur der leere Raum befindet“ (Kimmich 2002, 170). Der eng mit der Psychologie des 19. Jahrhunderts und der Psychoanalyse verbundenen Literatur eines Arthur Schnitzler oder Stefan Zweig scheint damit der Boden entzogen: Psychologismus ist im Kontext der Neuen Sachlichkeit überhaupt negativ konnotiert. Die Problematik der Bestimmung einer Realität, die sich nicht mehr aus einem vorgestellten übergreifenden Innenbereich, sondern in der Funktionalität der Verläufe manifestiert, ist im Zusammenhang mit der Wahrnehmungstheorie und Literaturtheorie der Neuen Sachlichkeit seit Ende der 1920er Jahre bis heute immer wieder diskutiert worden, bereits 1924 bei Plessner und noch 1994 bei Lethen.

Heterogenität

Das Weiterwirken derjenigen Strömungen, die sich bereits in der Vorkriegszeit entwickelt haben, trägt zum äußerst heterogenen Gesamtbild der literarischen Szene in der gesamten Weimarer Zeit bei, was auch die systematische Erfassung der Neuen Sachlichkeit erschwert. Diese zeigt sich zwar von Beginn durchaus als eigenständige Richtung und dominiert die mittleren und späteren Jahre der Republik, aber sie bleibt dennoch nur eine Strömung unter zahlreichen anderen. Sie ist zudem in sich selbst derart vielfältig und widersprüchlich, dass von einer Epoche im engeren Sinne nicht gesprochen werden kann. Problematisch ist vor allem die Rückbindung an die Phase der so genannten relativen Stabilisierung (vgl. dazu II).

Heutige Begriffsbildung

Obwohl angesichts dieser Vielzahl an Entwicklungsschritten, Verbindungslinien und Interdependenzen definitorische Festlegungen notwendig unzulänglich bleiben, hat sich der Begriff Neue Sachlichkeit zu Recht durchgesetzt, da er die wesentlichen Züge der Strömung konzise und handhabbar in sich zu fassen vermag (vgl. Becker 2000a). Die durch die Forschungen von S. Becker u.a. forcierte Rückbesinnung auf die spezifisch literarischen Dimensionen der Neuen Sachlichkeit ermöglichte in vieler Hinsicht erstmals eine fundierte literaturanalytische Erfassung. Allerdings ist hier durch die mögliche Isolation der im engeren Sinne literarischen Faktoren auch die Gefahr einer neuerlichen Blickverengung nicht zu verkennen. Zu weit gegriffen wäre es wiederum, den Begriff Neue Sachlichkeit als „Chiffre zum pauschalen Verständnis der literarischen Kultur der 20er Jahre insgesamt“ (Baar 2008, 171) auszulegen. Die Aufteilung literarischer und kultureller Richtungen nach Jahrzehnten, wie sie etwa durch die entsprechend angelegte, von Faulstich herausgegebene Reihe wieder zum Strukturprinzip gemacht wurde, ist grob vereinfachend und letztlich arbiträr (vgl. Faulstich 2008).

Neue Sachlichkeit als Richtung

Die Orientierung des fiktionalen Schreibens am Tatsächlichen, die Einbeziehung von bisher als unliterarisch betrachteten Bereichen (etwa der Alltags- und Unterhaltungskultur) und die Medialisierung der Literatur (im Sinne einer Aufnahme und Integration der modernen Medien, vor allem des Films) können als gemeinsame Züge neusachlichen Schreibens betrachtet werden. Unterschiede zwischen einzelnen Autoren wie Richtungen ergeben sich zum Teil daraus, wie weit die Ästhetizität und Literarizität der Texte zugunsten des rein Dokumentarischen aufgegeben werden oder die Unterhaltungs- bzw. Verkaufsabsicht zu einer Trivialisierung führt (etwa beim Kolportageroman) oder auch zu Komplexitätsreduktionen wie etwa in Teilen der Lyrik (der Vorwurf der Trivialität traf etwa immer wieder die Gedichte Mascha Kalékos). Auf einer zweiten Ebene sind die Differenzen zwischen den verschiedenen neusachlichen Fraktionen auch in der politischen Ausrichtung zu suchen, d. h. in einer mehr oder weniger progressiven oder konservativen Zielsetzung und Parteinahme für bestimmte aktuelle politische Ziele und Strategien. Da die Neue Sachlichkeit sich nie als exklusive Avantgarde-Strömung formierte oder verstand, wurde sie zum Oberbegriff für eine Vielzahl von literarischen Versuchsanordnungen, die sich an Formen der Realitätswiedergabe wie am Gebrauchswert orientierten. Sie ist Produkt des ,Laboratoriums Vielseitigkeit‘, wie die Literatur der Weimarer Republik nicht zu unrecht genannt wurde (vgl. Fähnders 1998, 222).

Als zentrale Dimensionen der neusachlichen Ästhetik lassen sich idealtypisch bestimmen:

 Nüchternheit/Objektivität/Entsentimentalisierung

 Präzisionsästhetik

 Tatsachenpoetik

 Realitätsbezug/Aktualität

 Reportagestil/Dokumentarismus/Bericht

 Antipsychologismus

 Gebrauchswertorientierung

 Entindividualisierung

 Vereinfachung/Anschaulichkeit/Konsumfreundlichkeit (vgl. Becker 2000a, 97ff.; Becker 2003, 191)

 Unterhaltungsfunktion/Massenappeal

 Multimedialität

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