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Gliese 581c oder
Der Traum meines Freundes Tariq

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Für Sylvia und Essam

Schließlich ergänzte Iba die Erzählung Tariqs. Denn er, der so gute Ideen hatte und stundenlang über Politik oder Religion monologisieren konnte, schwieg und hatte ihrem vorwurfsvollen Blick nicht mehr entgegenzusetzen als Achselzucken und hilfloses Lachen.

So sei er nun einmal, sagte er schließlich leise, worauf Iba in Wut geriet und ihn auf Arabisch zur Rede stellte. Ihre Angst war ehrlich und groß wie ihre Wut, und ebenso groß war ihre Stimme, die beinahe brach. Auch wenn ich kein Arabisch verstehe, konnte ich mir denken, was sie ihm vorwarf: Er dürfe nicht immer nur an andere denken, er habe auch eine Familie und was solle sie tun, wenn er nicht mehr sei? Tariq zuckte weiterhin nur mit den Achseln, Iba sah ihn kopfschüttelnd an, und ich saß dort, wo ich oft sitze: zwischen zwei Menschen, zwischen zwei Stühlen, in einem Streit, der nicht meiner ist. Und im Versuch die Spannung zu lösen, machte ich den Vorschlag, der zwar dumm war, aber keine Konsequenzen hatte, indem ich Tariq anstieß und sagte: „Komm, wir kaufen uns die neue Welt!“

Wie Tariq erzählt hatte, war er um sieben Uhr morgens losgefahren. Der Wecker läutete um halb sechs, Iba drehte sich noch einmal um, und Tariq stand auf, kochte sich einen grünen Tee, aß das Frühstück, das ihm Iba am Vorabend hergerichtet hatte, und stellte sich unter die Dusche. Dann zog er die beige Kargohose und das ebenso beige, kurzärmelige Hemd an, packte seinen Notizblock in den Rucksack und verließ die Wohnung.

Auf dem Weg in den Keller traf er Elias. Elias kam gerade von einer Party, zu der seine Freundin geladen hatte, und vielleicht, sagte Tariq, vielleicht sollte ein Vater seinen Sohn zur Rede stellen, wenn dieser mit siebzehn Jahren um sechs Uhr morgens von einer Party nachhause kommt. Er tat es jedoch nicht, denn er war dankbar, dass Elias Freunde hatte, ja sogar eine Freundin, deren Vater ein bekannter Rechtsanwalt war. Das war nicht selbstverständlich. Lange genug war Elias von seinen Schulkollegen geschnitten worden. Tariq hielt seinem Sohn die rechte Hand hin, damit dieser mit einer lässigen Gebärde nach der Art seiner Kumpels einschlagen konnte. „Sei leise“, mahnte er, „die Mama schläft noch.“

Im Keller packte er die Dose mit den Ködern, den Behälter für gefangene Fische und die Angelrute, ordentlich zusammengelegt, in den Rucksack, fixierte den Klappstuhl auf dem Gepäckträger und trug sein Fahrrad auf den Gehsteig. Es war ein altes KTM-Fahrrad, das wir gemeinsam auf eBay ersteigert hatten. Mit seinen Sechsundzwanzig-Zoll-Reifen war es Tariq etwas zu hoch, und wenn er stehenblieb, musste er vom Sattel auf die Lenkstange rutschen und das Fahrrad schräg stellen. Sonst hätte er mit den Füßen nicht den Boden erreicht. Aber er war nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Die mochte er nicht, dort wurde er beobachtet. Noch lag kein Dunst über dem dritten Bezirk. Tariq atmete tief durch und wartete, bis sich sein Puls, der vom Tragen des Fahrrads in die Höhe geschnellt war, beruhigt hatte. Dann fuhr er los.

Er nahm den Weg, den er immer nahm, wenn er fischen ging. Er überquerte den Donaukanal bei der Franzensbrücke und fuhr zum Praterstern, wo er der Lassallestraße bis zur Reichsbrücke folgte. Dort nahm er die Abfahrt zur Donauinsel. Ziemlich weit nördlich warf er die Angel aus.

Warum Fischen so ein besonderer Sport sein soll, habe ich nie verstanden. Besonders langweilig. Das ja. Aber beim Angeln waren Tariq immer die besten Ideen gekommen. Die Idee zu seinem bekanntesten Theaterstück, in dem ein Affe, ein Esel und ein Hund zwischen Pyramiden, arabischen Reitern oder britischen Besatzern die verschiedenen Epochen seines Herkunftslandes durchwandern, war ihm auf einem kleinen Boot in der Bucht von Abu Qir gekommen. Ebenfalls beim Angeln. Das Mittelmeer. Die Sonne. Die Ruhe. Die Kunst, rechtzeitig Schnur zu geben und wieder einzuholen. Als ob Angler und Fisch ein Team seien. Die neue Donau war natürlich nicht gerade das Mittelmeer. Aber besser als nichts.

Tariq und Iba hatten mich zum Abendessen eingeladen. Sie aßen immer sehr früh, und so läutete ich am späten Nachmittag an ihrer Wohnungstür in der Dianagasse. Der Zeitpunkt des Abendessens war durch die Arbeitswoche vorgegeben. Iba arbeitete halbtags und kümmerte sich am Nachmittag um den Haushalt. Wenn Tariq gegen sechs Uhr abends von der Bibliothek kam, in der er den Bücherbestand der letzten drei Jahrhunderte katalogisierte, war er hungrig und wollte essen. Sein Hungergefühl stellte sich auch am Wochenende zur selben Zeit ein. Es war die einzige Mahlzeit, die sie am Tag gemeinsam einnahmen, und dieses Ritual war ihnen wichtig. Genauso wie es ihnen wichtig war, dass ich, wenn ich zu Besuch war, mitaß. Lehnte ich ab, wurde meine Ablehnung als Schüchternheit aufgefasst. Erkannte Iba, dass ich wirklich keinen Hunger hatte, fühlte sie sich zurückgewiesen. Details wie diese bestätigten mir, dass unsere Freundschaft über eine kulturelle Grenze gebaut war. Elias aß übrigens nie mit seinen Eltern, er aß irgendwann, hatte jede Freiheit. An diesem Abend war er nicht zuhause.

Tariq öffnete und reichte mir die Hand. Iba war noch in der Küche beschäftigt und würde gleich zu uns kommen. Wir setzten uns in die Polstersessel im Wohnzimmer und sprachen über irgendwelche Belanglosigkeiten.

Wir hatten lange gebraucht, bis Belangloses Gegenstand unserer Gespräche wurde. Nicht einmal bei unserer ersten Begegnung war Zeit für Smalltalk. Ich erinnere mich gut daran. Ich hatte Elias Nachhilfeunterricht gegeben, und als ich durch das Wohnzimmer in Richtung Vorzimmer ging, wo ich meine Schuhe abgestellt hatte, bat mich Iba Platz zu nehmen. Es war Mitte August und sehr heiß. Die Fenster waren verdunkelt, der Fernseher lief. Neben der Couch surrte ein Ventilator. Tariq saß in seinem Polstersessel und rauchte. Ich setzte mich neben ihn und wartete. Tariq rauchte wortlos weiter, Iba drehte den Fernseher ab. In Stille vergingen Minuten. Schließlich sagte Tariq nicht ohne theatralisches Geschick: „I had a dream.“ Dann lauter und energischer: „I have a dream.“

Wovon träumte Tariq?

Seinem Sprechen nach zu urteilen, litt er an seinem Traum. Bei unserer ersten Begegnung sprach er nur Englisch, mit der Zeit wechselte er immer öfter ins Deutsche. Dass er gezwungen war, sich in einer ihm noch fremden Sprache auszudrücken, hemmte ihn, doch es schmälerte nicht die Faszination, die von ihm ausging. Er war ein brillanter Rhetoriker, der, um zur vollen Kraft seiner Gedanken zu gelangen, Publikum brauchte; jemand, der ihm zuhörte und gelegentlich nickte, eine Frage stellte oder nachdenklich einen Punkt in weiter Ferne fixierte; jemand, der in seinen Intonationskurven und exakten Stimmmodulationen die Richtigkeit seiner Anschuldigungen und dahinter die Größe seines Traumes erkannte. Was auch immer dieser war. Denn direkt sprach er nie von ihm. Vielmehr verbiss er sich in allem, was dessen Umsetzung behindert hatte und auch in Zukunft behindern würde. Und das Hindernis, wie ich nicht bei unserer ersten Begegnung, aber nach vielen Monologen begriff, war nichts weniger als diese Welt.

Tariq war polemisch und schien mir in seinen Schlussfolgerungen oft erschreckend banal: Sie nehmen alles. Dieser Satz strukturierte wie ein Refrain seine Analysen und Anschuldigungen. Fragen, wer sie seien oder was alles bedeute, irritierten ihn. Machten ihn geradezu wütend, und ich dachte, er sei wütend, weil ich so begriffsstützig sei. Schließlich aber erkannte ich, dass er wütend wurde, da er jede Differenzierung als Relativierung seiner Weltsicht und somit als Resultat kapitalistischer Propaganda begriff. Sie wollen, dass wir so denken. Die Wirklichkeit sei anders. Manager, Universitätsprofessorinnen, Straßenkehrer, Büroangestellte. Alles ein und dasselbe. Sie sind Arbeiter. Sie machen für wenig Lohn alles. Und alles, was sie machen, nehmen sie: Es dauerte einige Zeit, bis ich verstand, dass mit sie nicht unbedingt konkrete Personen gemeint waren. Natürlich hatte er auch konkrete Personen im Visier: Wer Zeitungen aufmerksam lese, wisse, um wen es sich handle. Doch mehr als diese Personen klagte er mit seiner Kampfansage unser Denken an, das uns zu Akteuren des Marktes und eines absurden Wachstumsgebots machte; eines Marktes, den es infolge internationaler Konzernverflechtungen ohnehin nur mehr als Schein gebe. Sie nehmen alles: Auftakt und Abgesang jeder seiner Analysen. Als ob sich, indem man immer zum selben Schluss kommt, die eigene Fremdheit mindern ließe.

Dabei konnte er auch anders. Ließ er in seiner Verzweiflung und Wut nach, erwies er sich als feinfühliger und kluger Menschenkenner. Später, als wir bereits über den Altersunterschied von fünfundzwanzig Jahren, über zwei Kulturen und zwei Vergangenheiten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, eine Brücke gebaut hatten, erzählte auch ich ihm von persönlichen Schwierigkeiten: Sinnkrisen, Beruf, Ehe, was eben anstand. Und er hörte zu und fragte nach. Schwieg. Gab keine Ex-cathedra-Ratschläge. Seufzte hilflos: „Menschen sind sehr kompliziert!“ Aber es dauerte, bis wir dahin kamen. Doch über die Jahre wurde er mein Freund. Ein väterlicher Freund, ohne sich bei all seiner Sturheit jemals eine wie auch immer geartete väterliche Autorität anzumaßen. Er mochte keine Autoritäten.

„Was macht Elsbeth?“, fragte Tariq, und ich nickte. Meiner Frau ging es gut.

Über die Gründe, die ihn zur Flucht gezwungen hatten, erfuhr ich nichts Konkretes. Als ich ihn unlängst darauf ansprach, wich er aus. Das sei nun schon nicht mehr wahr. Seit sechzehn Jahren lebe er mit seiner Familie in Österreich. Mittlerweile hätten sie ja sogar die österreichische Staatsbürgerschaft. Einmal nur sagte er, da waren wir betrunken, fast unhörbar und die Augen geschlossen: „Sie haben mich geschlagen. Schlimm geschlagen.“

Iba war Koptin, er Moslem. Ich weiß, dass er Architekt gewesen war und Schriftsteller. Er hatte für den Rundfunk und für das Theater geschrieben und mit Hörspielen gutes Geld verdient. Trotzdem kam er in Österreich bettelarm an, da sein Kapital in diversen Projekten gebunden war und ihm keiner seiner Geschäftspartner so plötzlich seinen Anteil auszahlen konnte. Die Flucht war ja eine Nacht- und Nebelaktion. Zumindest entnehme ich das seinen Andeutungen. Auf Religion war er nicht gut zu sprechen. Wir kannten uns etwa ein halbes Jahr, da drehte sich unser Gespräch um die Frage, ob es einen Gott gäbe. Es war das erste Mal, dass wir miteinander sprachen und er nicht monologisierte und ich zuhörte. Ich führte die alten Beweise an: die Geschichte mit der letzten Ursache, in der alle Ursachen wurzeln; das Bild von losen Bestandteilen einer Uhr in einer Plastiktüte und den damit einhergehenden Analogieschluss, dass auch ein Universum einen Uhrmacher brauche; oder die Überlegung, dass Gott perfekt ist und folglich existieren muss, da ein Gott, der perfekt ist, aber nicht existiert, eben nicht perfekt ist. Tariq hatte damals hintergründig gelächelt: „Weißt du, die Sache ist so einfach. Wenn von sieben Milliarden Menschen sechs Milliarden an Gott glauben, gibt es Gott.“

Iba kam aus der Küche. Sie trug einen dunkelblauen Ghalabea, der ihre bernsteinfarbene Kette betonte. Sie reichte mir die Hand und lächelte: „Hast du Hunger?“ Tariq rief irgendetwas auf Arabisch, und ich sagte: „Jetzt hast du gesagt: Wir verhungern schon!“

In der Küche war das Essen bereits aufgetragen: Eierspeise, Linsensuppe, Schafskäse vermengt mit Knoblauch und Olivenöl, dazu Gebäck und Tomatensalat. Als Nachspeise gab es Zuckermelonen. Während des Abendessens sprachen wir nur wenig. Das hatte vor allem damit zu tun, dass Tariq vom Essen gänzlich in Bann geschlagen wurde. Nach dem Essen nahm er die Medikamente, dann lehnte er sich zurück und bedankte sich bei Iba. Er war zufrieden.

Iba hingegen wirkte angespannt. Sie hatte immer Sorgen. Und immer Arbeit. Wie eine Sklavin. So scherzte sie manchmal bitter. Diesmal aber schien sie bedrückter als sonst. Ich vermutete, dass es mit ihrem Job zu tun hatte. Sie arbeitete bei der Take Off GmbH, die im Auftrag der Landesregierungen Beratungsleistungen für jugendliche Langzeitarbeitslose erbrachte. Iba war als einfache Bürohilfskraft eingestellt worden. Sie erledigte Postwege, stellte die Versorgung der Belegschaft mit Büromaterial sicher, kopierte Unterlagen, kuvertierte Briefe, ordnete Akten, spielte die Empfangsdame für Klienten und erledigte Telefondienste. Hinsichtlich des Familieneinkommens war die Arbeit, so gering die Bezahlung auch war, ein Segen. In jeder anderen Hinsicht ein Fluch. Einerseits lag es an ihrem Gesundheitszustand, der ihr die Erledigung vieler Arbeiten, wie etwa den Transport eines mit Briefsendungen gefüllten Handwagens vom Büro zum nächsten Postamt, an manchen Tagen unmöglich machte. Andererseits litt sie unter der Einfachheit ihrer Tätigkeit. Iba hatte Recht studiert, dann allerdings als Journalistin gearbeitet. Tariq hatte erzählt, dass sie für ihre Artikel gefürchtet gewesen war und sie deswegen oft in Angst gelebt hatte. Doch das Leben in einem fremden Land mit einer fremden Sprache machte sie, die Intellektuelle, zu einer Analphabetin, zu einer Sprachbehinderten. Das einfachste Gespräch konnte ihr zu einem Spiegellabyrinth werden, indem sie ständig gegen ein unerwartetes Hindernis prallte. Dabei sprach sie nicht schlecht Deutsch. Doch bei der Take Off GmbH wollte sich niemand auf sie einhören. Ihr Chef demütigte Iba vor ihren Kolleginnen, die nur allzu dankbar waren, die eigene Unfähigkeit mit dem Verweis auf die oberflächlichen Mängel einer anderen übertüncht zu wissen. Wie Volksschüler einander bei der Lehrerin anschwärzen, fanden sie an Iba immer etwas auszusetzen. Einmal hatte sie eine schwere Darmgrippe gehabt und hatte ein paar Tage gefehlt. Da fixierte ihre Kollegin eine Notiz auf der Büropinnwand. „Iba“ stand darauf und daneben, in roten Großbuchstaben: krank.

„Was macht dein Beruf?“, fragte ich Iba und reichte ihr das Geschirr, das sie in den Spüler einräumte. Sie fasste die Teller und Schalen mit großer Vorsicht an, denn sie war am rechten Auge operiert worden. Iba lachte bitter: „Mein Chef sagt zu mir, wenn ich den Postwagen nicht ziehen kann, hat er keine Arbeit für mich!“ Tariq, der Tee gekocht hatte, schaltete sich in unser Gespräch ein. „Dieser Mensch ist …“

Er wurde von Iba unterbrochen: „Inferiority complexes ! Dieser Mensch hat – wie sagt man …“

„Minderwertigkeitskomplexe“, half ich ihr.

„Wir sind nur Frauen in der Arbeit. Neun Frauen, ein Mann. Aber der Chef … He wants to be admired. All the time!“ Iba schüttelte den Kopf: „Was sie an mir hassen, ist mein Stolz!“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders: „Komm, trinken wir Tee!“ Wir nahmen unsere Tassen und setzten uns in die Polstersessel im Wohnzimmer.

Wir hatten uns kaum gesetzt, als mein Handy klingelte. Es war Elsbeth. Ich ging in die Küche, um in Ruhe telefonieren zu können. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, las Tariq den ORF-Teletext. Er saß nach vorne geneigt und hatte die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Erst jetzt bemerkte ich, dass er seine alte Brille trug. Ich kam jedoch nicht dazu, ihn nach dem Grund zu fragen. Bevor ich mich noch gesetzt hatte, legte er seine Hand auf meinen Oberarm und wies mit dem Kopf auf den Bildschirm: „Sie haben eine neue Welt entdeckt!“ Seine Augen leuchteten.

Der Grund für seine ungewöhnliche Begeisterung war Gliese 581c. Folgendes war auf dem ORF Telext zu lesen:

Astronomen haben nach eigenen Angaben den ersten bewohnbaren Planeten, Gliese 581c, außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt. Obwohl der Planet seinen Stern, Gliese 581, vierzehn Mal dichter umkreist als unsere Erde die Sonne, liegt er in der „Goldilocks Zone“. Das ist jener Bereich um einen Stern, innerhalb dessen Wasser an der Oberfläche eines Planeten flüssig anzutreffen ist und Leben sich entwickeln kann.

„… und Leben sich entwickeln kann“, wiederholte Tariq. „Das ist gut.“ Er lachte, schüttelte den Kopf und zog die linke Augenbraue hoch.

Eine neue Welt.

Sein Traum.

Er streichelte Iba, die neben ihm saß, über den Hinterkopf. „Wenn sie uns hier nicht mehr wollen, können wir dorthin gehen.“ Er lachte. „Sicher haben sie dort keinen Chef!“

Iba nickte und lächelte ein wenig gequält, aber Tariq ließ sich in seinem Enthusiasmus nicht beirren. „Der Stern, um den sich dieser Planet dreht“, fuhr er fort, „ist ein roter Zwerg. Das heißt, dieser Stern ist nicht so heiß, und Leben kann viel näher an so einem Stern existieren als bei unserer Sonne.“ Er nahm einen Schluck Tee: „Die neue Welt hat eine rote Sonne, und es ist nicht zu kalt und nicht zu heiß. 0-40 Grad Celsius, sagen sie. In der Sahara ist es heißer und in Wien im Winter kälter. Ich finde, wir sollten eine Expedition zu diesem Gliese 581c machen. Ich möchte in dieser Welt leben. Mit angenehmen Temperaturen und einer roten Sonne. Sicherlich kann man dort auch fischen!“

Inzwischen hatte ich auch die zweite Seite der Teletextnachricht gelesen und konnte mit Information kontern: „Du vergisst, dass die neue Welt etwa 200 Billionen Kilometer von unserer Erde entfernt ist. So leicht kommen wir da nicht hin!“ Mein Argument wurde weggewischt.

„Egal. Wir schaffen das!“

Tariq blätterte weiter im Teletext, und als er konzentriert auf den Bildschirm blickte, fand ich Gelegenheit, nach seiner Brille zu fragen. „Warum trägst du nicht deine neue Brille?“

Tariq sah mich an, als ob er soeben aus einem Traum geweckt worden war. Er machte eine wegwerfende Handbewegung: „Ich habe sie verloren!“

„Wirklich! Wann?“

„Heute.“

„Wieso?“

„Ist doch egal.“

„Nein, ist nicht egal.“ Ibas Stimme war entschieden. „Es waren trifokale Gläser. Die Brille hat mehr als fünfhundert Euro gekostet. Es ist nicht egal. Erzähle, was dir heute passiert ist!“

Unwillig sah Tariq seine Frau an. Dann erzählte er, wie er in der Früh zur neuen Donau gefahren war, um dort zu fischen. Dummerweise hatte er dabei seine Brille verloren. Das sei es auch schon. Mehr gäbe es dazu nicht zu sagen.

Aber Iba war mit seiner Erzählung nicht zufrieden: „Das ist nicht alles!“

„Lass es gut sein. Eine dumme Sache.“

Und er wandte sich wieder Gliese 581c zu.

Also begann Iba zu erzählen.

Nachdem er die Angel ausgeworfen und am Boden fixiert hatte, setzte sich Tariq in seinen Klappstuhl und schloss die Augen. Es war kurz vor acht Uhr morgens und außer einigen Joggern und anderen Anglern war die Donauinsel menschenleer. Es hatte bereits über zwanzig Grad und eine leichte Brise wehte. Iba erzählte, dass sie sich gesorgt habe, Tariq hole sich einen Sonnenstich. Er vergaß immer seinen Hut aufzusetzen. Doch heute hatte Tariq daran gedacht. Im Nachhinein betrachtet war es freilich der falsche Tag, um ausnahmsweise einmal nicht vergesslich zu sein. Den Hut verlor er ebenfalls.

Woran dachte Tariq, als er mit geschlossenen Augen in seinem Klappstuhl saß? Das konnte Iba natürlich nicht erzählen. Aber mich interessiert es. Die Idee zu seinem berühmtesten Theaterstück ist ihm ja beim Fischen gekommen. Eine Szene aus dem Theaterstück hat mich besonders beeindruckt: Ein Engländer möchte den Esel reiten, und als dieser sich weigert, befiehlt er dem Hund, den Esel zu beißen. Was dieser tut, dafür bekommt er auch einen Knochen. Der Affe sieht sich die Szene an und zitiert während der Bestrafung des Esels Michail Bakunin: „Macht, dass alle Bedürfnisse wirklich solidarisch werden!“ Keine Frage: Tariq hatte immer Ideen. Doch uns war beiden klar, dass er davon keine mehr realisieren würde. Seine Zeit als Schriftsteller war vorbei. Zu sehr ermüdete ihn die Arbeit als Bibliothekar, und sein Gesundheitszustand hatte sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert und zwang ihn, schonend mit sich umzugehen.

Woran Tariq im Klappstuhl dachte, bleibt also ungewiss. Gewiss ist, dass er nicht lange nachdachte. Er schlief ein. Er hatte für zwei Stunden geschlafen, da weckten ihn Schreie. Es war eine Frau, die ganz in seiner Nähe um Hilfe rief. Dass sie um Hilfe rief, war nur aus der Situation zu erkennen: Sie schrie in höchster Angst, unartikuliert und schrill. Tariq blickte auf, jäh munter, und sah unmittelbar vor sich ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, das verzweifelt Schwimmbewegungen machte, sich aber nicht mehr über Wasser halten konnte. Wie er war, mit Brille und Sonnenhut, warf er sich in die neue Donau und tauchte mit kräftigen Stößen dorthin, wo soeben das Mädchen noch um sich geschlagen hatte. Er bekam es zu fassen und zog es an die Oberfläche, wo es ihm jedoch wieder entglitt, sodass er noch einmal zupacken musste, um das hustende und strampelnde Bündel vor einem erneuten Absinken zu bewahren. Auf dem Rücken schwimmend brachte er das Mädchen zum Ufer. Das Wasser ist an dieser Stelle nicht allzu tief, Tariq hätte seine Rettungsaktion auch stehend durchführen können, wenn die Strömung auch ziemlich stark ist. Doch gewisse Situationen erzwingen gewisse Vorgehensweisen: Bei Feuer springen Menschen fast immer aus dem Fenster, selbst wenn der nächste Fluchtweg durch die Wohnungs- oder Zimmertür verläuft, und einen Ertrinkenden rettet man nun einmal, indem man schwimmt oder taucht und nicht indem man durchs Wasser watet. Dass er das Mädchen zu fassen bekam, ist allerdings ein kleines Wunder, denn bei seiner Herzkrankheit war es nicht selbstverständlich, dass sein Kreislauf die plötzliche Abkühlung tolerieren würde. Zwei Männer halfen ihm aus dem Wasser und die Mutter, verweint und außer sich, entriss ihm ihre Tochter, umarmte und liebkoste sie und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige: Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dir Schwimmflügel anzuziehen hast. Über diese Erziehungsmaßnahme vergaß sie, sich bei Tariq zu bedanken. Dieser musste sich hinsetzen, nun kippten ihm die Beine weg. Die beiden Männer fragten, ob alles in Ordnung sei, und Tariq winkte ab. Ja. Kein Problem.

Das Nachhausekommen war jedoch ein Problem, denn ohne Brille war Tariq praktisch blind. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zu seinem Angelplatz zurückgefunden hatte. Von dort schob er sein Rad zurück in die Dianagasse, eigentlich ein Wunder, wie Iba ihre Erzählung schloss, dass Tariq heute Abend schon wieder fit sei. Denn wie er nach Hause gekommen sei, habe sie ihn geradezu ins Bett hieven müssen. Sie liebe ihn und überallhin sei sie ihm gefolgt und habe ihn unterstützt. Doch jetzt sei es genug. Er dürfe sein Leben nicht mehr so leichtsinnig aufs Spiel setzen. Don’t do this again. Aber Tariq zuckte nur mit den Achseln, eher aus Erschöpfung als aus mangelnder Einsicht, wie ich denke. Jedenfalls wurde Iba wütend.

Nachdem ich Tariq vorgeschlagen hatte, die neue Welt zu kaufen, holte ich meinen Laptop und stieg ins Internet ein. Es war unsinnig, eine Hilflosigkeit meinerseits, was hätte ich auch tun sollen, Geld für eine neue Brille hätte Tariq nicht genommen. Während er sich umständlich eine Zigarette anzündete, gab ich in einem Anzeigenportal eine Anfrage auf: „Kaufe Gliese 581c. Preis verhandelbar.“ „Wenn wir die neue Welt erst einmal haben, können wir endlich sein, wer wir sein wollen!“, zwinkerte ich Tariq zu, der einen tiefen Zug nahm und seufzte: „Ja, dann können wir sein, wer wir sein wollen.“ Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Iba, ob sie meine Suchanfrage erheitert hätte, eigentlich war sie für solche Dummheiten zu haben. Doch Iba starrte auf den Teletext, ihre Augen wie hinter Panzerglas. Und wie sie so dasaß, erinnerte sie mich an das Portrait, das im Vorzimmer ihrer Wohnung hängt. Ihr Vater hatte es zu ihrem zwanzigsten Geburtstag anfertigen lassen. Das Portrait zeigt eine Schönheit. Ein ovales Gesicht, das von dichten, schwarzen Haaren umrahmt ist, eine gerade Nase und leicht geöffnete, sinnlich geschwungene Lippen. Den Blick ihrer dunkelbraunen und von einem starken Lidstrich in die Waagrechte gezogenen Augen hat der Maler gemäß den Erwartungen des Auftraggebers geformt: Die Schönheit blickt nach oben, verträumt irgendeinem Stern entgegen, und dieser wirft in der Nuancierung der Ölfarben sein Licht auf Ibas Anmut. Wie zur Korrektur hat Iba die Fotografie, die dem Maler als Vorlage diente, in den Bilderrahmen gesteckt. Auch die Fotografie zeigt eine Schönheit. Doch ihre Lippen sind nicht geöffnet und ihr Blick ist klar und nicht einem Stern zugewandt. Direkt blickt sie in die Kamera. Skeptisch und ohne Illusion.

Natürlich erhielt ich auf meine Anfrage keine sinnvolle Antwort. Doch die Idee einer neuen Welt, die wie warmes Wachs formbar ist und einen umhüllt wie ein gut sitzender Anzug, ließ mich nicht los. Ich beschloss, eine Erhebung durchzuführen. Wenige Tage nach dem Abendessen versandte ich eine Anfrage an meine Facebook-Freunde: „Stell dir vor, du hast dir eine neue Welt gekauft und kannst sie formen, wie du willst. Welchen drei Prinzipien würdest du alles Handeln unterordnen?“

Wie bei meiner letzten Suchanfrage fiel auch hier die Ausbeute an Antworten mager aus. Offensichtlich stand ich mit meinem Interesse an philosophischen Spekulationen ziemlich alleine da. Elsbeth feixte, als ich ihr morgens im Bad meine Frage stellte, hielt im Zähneputzen inne und antwortete, den Mundwinkel mit der Zahnbürste in die Waagrechte ziehend: „Wein, Weib und Gesang.“ In ihrem Fall eben Wein, Mann und Gesang. Nicht, dass mich die geringe Rücklaufquote bedrückt hätte. Aber das Desinteresse, mit dem meiner Frage begegnet wurde, erinnerte mich an eine Schulstunde, keine sehr gelungene, die ich hielt. Wir nahmen Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe durch, und mit Erstaunen stellte ich fest, dass ich der Einzige war, den der Text berührte. Die Schüler, junge Erwachsene, die ihr Mangel an Erfahrung gerne harte Urteile fällen ließ, hatten zu der Geschichte nichts zu sagen. Der Text schien ihnen absurd, ein kurioses Dokument aus einem Paralleluniversum. Als ob es bei uns selbstverständlich wäre, dass man sein Schicksal selbst wählt.

Nachdem ich an jenem Abend meine Kaufanfrage von Gliese 581c deponiert hatte, saßen wir eine Zeit lang schweigend in den Polstersesseln. Irgendwann verließ Iba das Wohnzimmer, und ich fragte Tariq, wie sein Theaterstück, das ihm in der Bucht von Abu Qir eingefallen war, endete. Ich kannte das Ende schon, aber ich hörte die Geschichte immer wieder gerne von ihm. Es war eindrucksvoll, wie er erzählte, mit seiner kraftvollen Stimme und der ausdruckstarken Mimik, die er jedem seiner Charaktere verlieh.

„Eine einfache Szene“, sagte Tariq und hob den rechten Zeigefinger. Nur wenig Text. Nachdem sie auf ihrer Zeitreise verschiedene Epochen durchwandert und verschiedenen Herrschern gedient haben, stehen Hund, Esel und Affe vor einem goldenen Käfig. Der Esel zuckt mit den Ohren, der Hund knurrt und der Affe, der Intellektuelle, rückt seine Brille zurecht. Was tun? Da sagt eine angenehme Frauenstimme:

Please, enter the cage.

Entrez dans la cage, s’il vous plait.

Entre en la jaula, por favor.

Bitte, betreten Sie den Käfig.

Und Hund, Esel und Affe betreten den Käfig.

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