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Verschollen in den Höllgrotten

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Kriminalroman

Mein Name ist John Etter.

Ich will mit jedem Buch einige Ereignisse aus meinem Leben erzählen.

Jedes Buch soll anders werden - nicht mit dem jeweils vorhergehenden Werk vergleichbar. Wie die ersten beiden Bände.

Lassen Sie sich überraschen.

Einige Personen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden, andere nicht. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind meist zufällig und häufig nicht beabsichtigt.

Kapitel 1: Fall gelöst

John Etter saß ungemütlich in einer Ecke und wartete. Es war dunkel. Nur ein schwacher Lichtschein der Straßenlaterne erhellte das fremde Hotelzimmer im Erdgeschoss. Er saß schon seit über zwei Stunden hier und fragte sich, ob er das Unternehmen nicht langsam abbrechen sollte. Es war eine Falle, aber es schien, als ob der Köder nicht zog. Die Beute wollte sich nicht zeigen, und es wurde immer später. Wieder einen Abend für nichts vorbeiziehen lassen. Doch noch bestand etwas Hoffnung.

Das Handy vibrierte in seiner Hose und er zog es hervor. Bevor er auf das Display achtete, hörte er nochmals in die Dunkelheit hinaus, ob sich jemand dem Hotelzimmer näherte.

Nichts.

Haben zwei Vermisste – wie sieht es bei dir aus. Erfolg? Sonst doch besser Aktion abbrechen und zurück ins Büro. Seine Sekretärin führte sich auf wie der Chef der Detektei. Susanne Gehrig war die Perle der Detektei. Scheinbar vierundzwanzig Stunden im Einsatz.

„Mist“, flüsterte er sich selbst zu. Er würde der Aktion noch eine halbe Stunde geben, dann würde er zurück ins Büro fahren. Er hatte sich so sehr auf sein Bett gefreut. Daraus würde wohl nichts werden. In Kürze würde die Veranstaltung unten im Hotel zu Ende gehen und der Mieter des Zimmers würde hochkommen. Dann war es zu spät. Dann wäre die Falle nicht zugeschnappt. Ein lukrativer Auftrag flöten gegangen.

Sein Rücken tat ihm weh und er verspürte langsam Hunger. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bald Mitternacht schlagen würde. Gib mir noch eine halbe Stunde, dann Abbruch, drückte er aufs Display, schickte die Nachricht ab und verstaute sein Handy.

Wahrscheinlich würde es heute nichts mehr. John Etter überlegte, ob er aufstehen sollte, als er ein leises Kratzen am Fenster vernahm. Auf einmal war sein Rücken vergessen und er war hellwach und angespannt.

Eine Weile tat sich nichts und er strengte seine Ohren an, um jedes Geräusch mitzubekommen. Aber er hörte nichts. War es ein Fehlalarm? Er wollte gerade wieder in sich zusammensinken, als ein leichter Luftzug das Zimmer durchstreifte und die Gardinen sich leicht bewegten.

Hatte er seinen Gehörsinn verloren? Sein Herzschlag dröhnte ihm so laut in den Ohren, dass er sicher noch von den Bewohnern des Nachbarzimmers vernommen werden würde. Eine kühle Brise zog über seine heiße Stirn: Das Fenster schien ganz hochgeschoben zu werden.

Dann wurde es dunkler, als sich ein Schatten vor den Schein der Straßenlaterne schob. Der Schatten glitt ins Zimmer, schwerelos und absolut geräuschlos.

Ein dunkler Umriss erschien vor dem dunkleren Hintergrund, fast unsichtbar und hielt einen Moment inne. Es sah aus, wie ein Schattenspiel, das er als Kind einmal gesehen hatte.

John Etter hielt den Atem an, und war sich sicher, dass ihn alleine sein lauter Herzschlag verraten würde.

Der Schatten sah sich um, orientierte sich und glitt zielsicher auf den Wandsafe zu, der wie alle Safes im Hotel, außergewöhnlich diskret hinter einem Bild versteckt war. Ohne zu zögern wurde das Bild zurückgeklappt. Die Gestalt holte einen dunklen Beutel hervor und kramte leise einige Gegenstände heraus, mit denen sie sich an dem Safe zu schaffen machte.

Der Zeitpunkt war gekommen.

Etter drückte den Alarmknopf, ein kleines Kästchen, das er bei sich trug. Er alarmierte so die Leute draußen im Gang, die Tür flog auf und die Helfer stürmten herein. Gleichzeitig erhellten alle Lampen das Zimmer.

Die Gestalt fuhr herum und erstarrte, als sie sich den eindringenden muskelbepackten Männern gegenübersah. Sie blickte rasch umher, auf der Suche nach einem Ausweg, den es nicht gab, denn in dem Moment erhob sich Etter aus seinem Versteck und schnitt damit den Rückweg durch das Fenster ab.

Langsam, unendlich langsam, wie betäubt richtete sich die Gestalt auf und hob die Hände über den Kopf.

Seine Leute gingen auf die Gestalt zu, nahmen ihr die Gegenstände ab und drehten die Hände auf den Rücken, um sie mit Handschellen zu fesseln.

Etter ging auf die Gruppe zu und gab dem Nächststehenden einen Wink mit dem Kopf. Der griff nach der schwarzen Gestalt und zog ihr mit einem einzigen Griff die schwarze Maske vom Kopf.

Zum Vorschein kam ein junges Gesicht: gut geschnitten, fast hübsch, Mitte zwanzig, männlich, mit dunklem, lockigem Haar, das bis über die Augen fiel. Augen, von einem intensiven grün. Er war schlank, die schwarze Montur betonte jede Wölbung seines Körpers. Seine Füße steckten in schwarzen Füßlingen.

Der Einbruchspezialist war ihnen endlich ins Netz gegangen. Was der Polizei in den letzten drei Jahren nicht gelang, gelang ihm und seinem Team innert zwei Wochen.

Ein feines Lächeln überzog John Etters Lippen, als er den Schock in den Augen des jungen Mannes erkannte.

Er gab seinen Leuten einen Wink und sie entfernten die schwarze Gestalt mit leicht unnötiger Brutalität. Sie würden ihn der Polizei übergeben und sein Büro würde das Kopfgeld sowie die großzügige Entlohnung des privaten Auftraggebers einsacken.

Von „John Etter – Privatermittlungen“. Eine von der Polizei nicht immer gerne gesehene Visitenkarte. Außer von seinen ehemaligen Kollegen, mit denen er während seiner Polizistenzeit eng zusammengearbeitet hatte. John füllte mit jedem gelösten Fall jeweils die Blätter des Landes.

Seine Sekretärin, Susanne Gehrig, war auf dem PR-Gebiet eine Göttin, was man von der äußeren Erscheinung nicht behaupten konnte. Hundertsechzig Zentimeter groß und die gleiche Zahl in Kilogramm. Aber das Aussehen war John Etter egal – sie war ein Profi auf ihrem Gebiet, und seit er sie engagiert hatte, lief sein Laden noch besser. Er hatte ein gutes Dutzend freie Mitarbeiter, die er, je nach Fall, den er zu lösen hatte, aufbot. Die meisten waren lediglich im Nebenjob Detektive, aber alle waren immer zuverlässig. Heute war die „Bodybuilderarmada“ dran. Er hatte einst ein paar kräftige Leute für einen speziellen Auftrag mit leichten Einschüchterungstendenzen gebraucht und vier Leute aus einem Fitnesscenter dafür angeheuert. Diese vier brauchte er immer mal wieder, wenn Muskelkraft oder Einschüchterung zur Lösung eines Falles beitrugen.

Die aufgebotene Polizei nahm nun die Spurensicherung auf und John Etter verlies zufrieden das Zimmer. Nicht ohne überlegenen Blick in Richtung der Kommissare, denen nun nur noch die Fleißarbeit übrig blieb.

Der neue Fall mit den Vermissten musste bis morgen warten, denn jetzt war erst mal Feierabend. Um die Vermissten konnte sich die Polizei kümmern. Er tippte die Erfolgsnachricht noch seiner Pseudochefin, die rund um die Uhr informiert sein wollte, und fuhr nach Hause.

Am nächsten Morgen betrat John Etter das Diebstahlkommissariat der Polizei. Er musste noch den ganzen Schreibkram vor Ort erledigen, denn die Polizei legte Wert auf ausführliche Rapporte. Ihm war es jeweils ein Graus, aber es musste sein und er hatte dabei jeweils Gelegenheit, auf fremdem Gebiet zu spionieren. Der von ihm Überführte wurde gerade ins Vernehmungszimmer gebracht. Der vernehmende Polizist, Bruno Bär, Abteilungsleiter der Kriminalabteilung Diebstahl war ein alter Bekannter und guter Freund und wohl der einzige Polizist, der das Heu auf gleicher Bühne mit ihm hatte. Bär zeigte Etter mit einer Hand an, dass er sich in den Nebenraum des Vernehmungszimmers begeben sollte.

Mit unfreundlichen Mienen der dort stehenden Mitarbeiter Bärs wurde er empfangen. Bruno Bär ging alleine ins Vernehmungszimmer, wusste aber seine Mitarbeiter hinter der Glasscheibe als Zeugen und nun auch John Etter.

Der junge Mann trug mittlerweile nicht mehr seine schwarze Kleidung, sondern an deren Stelle einen einfachen Gefängnisoverall. Er saß an einem kleinen Tisch, die Hände vor sich auf den Tisch gelegt in Handschellen.

Er blickte auf, als Bär hereinkam.

Bär ging auf ihn zu:

„Guten Tag. Ich bin Bruno Bär. Ich war gestern Abend bei der Festnahme am Schluss dabei.“

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und löste die Fesseln. Der junge Mann ließ die Hände auf dem Tisch liegen, ohne die Handgelenke zu reiben, wie die meisten es tun würden. Er sah Bär ruhig an, sagte aber nichts. Als sie ihn gestern Abend noch erkennungsdienstlich erfassen wollten, machte er keine Angaben zu seiner Person. So wurden ihm lediglich die Fingerabdrücke abgenommen und er wurde mit neuer Kleidung eingedeckt in die Zelle verbracht.

Bär fragte:

„Und wie heißen Sie?“

„Stephan Meier“, war die Antwort.

Bär schien überrascht. Er hatte gedacht, dass der Gefangene vielleicht auf eisernes Schweigen bauen würde, aber nein, er antwortete korrekt auf seine Fragen.

„Wo wohnen Sie?“

„Im Moment im Hotel Ochsen in Zug.“

Bär kannte das Hotel. Ein recht gutes Hotel, zentral gelegen.

„Seit wann wohnen Sie dort?“, fragte er weiter.

„Seit einer Woche ungefähr.“

„Und wo waren Sie vorher?“

„Ich bin mit der Bahn gereist.“

„Und von wo sind Sie gekommen?“

„Das kann ich nicht sagen. Ich war dort nicht gemeldet. Der Kondukteur hat mich schwarzfahren lassen, weil ich ihn bestochen habe, darum gibt es keine Unterlagen. Und ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen.“

Nun wurde es schon interessanter. Es hätte Bär wohl auch gewundert, wenn ein Profi sich so einfach fangen lassen würde. „Und davor, was gemacht?“

„Alles, was einfaches Geld bringt. Ich habe auf dem Bau gearbeitet, als Gärtner, als Poolboy, als Kellner und dann meine besten Fähigkeiten entdeckt.“

„Irgendwelche Belege?“

„Nein. Immer nur bar bezahlt.“

„Haben Sie wenigstens einen Ausweis?“

„Nein.“

„Einen Führerschein?“

„Ich fahre kein Auto.“

Bär griff nach der Hand seines Gegenübers, die locker auf dem Tisch lag. Dieser ließ widerstandslos zu, dass Bär sie herumdrehte und die Handfläche ansah. Sie war mit Schwielen übersät.

Der Punkt ging an den jungen Mann. Natürlich konnten die Schwielen von harter körperlicher Arbeit stammen. Aber Schwielen würde er auch bei einem professionellen Fassadenkletterer erwarten.

Er fragte weiter:

„Sie haben einen leichten Akzent. Sind sie kein Schweizer?“

„Doch, das heißt, ich glaube schon. Aber ich habe schon überall gelebt. Dort, wo ich Arbeit finde, bleibe ich, bis es mich weiterzieht. Ich war vorher lange im Ausland.“

„Wo?“

„Das kann ich nicht sagen.“

„Wo und wann sind Sie geboren?“

„Ich weiß es nicht. Meine Jugend habe ich in Österreich verbracht.“

„Wie alt sind Sie?“

„25 Jahre, glaube ich.“

Bär wirkte leicht säuerlich. Er ließ den Jungen in seine Zelle zurückbringen und schickte seine Leute los ins Hotel, um weitere Erkundigungen einzuholen. Dort musste er sich ja anmelden.

Dann begrüßte er John Etter. „Hallo alter Kamerad, hast mal wieder unsere Arbeit gemacht.“

„Ja, wenn ihr sie nicht macht“, warf John Etter ihm zu. Sie betraten gemeinsam Bärs Büro und Etter musste den Abend Revue passieren lassen. Mit stoischer Ruhe sprach er alle Angaben ins Mikrofon und ging danach mit Bär in die Kantine. In der Zwischenzeit würde der Rapport getippt und er konnte ihn unterschreiben.

Später am Nachmittag berichtete Bär ihm telefonisch, dass die Geschichte soweit zu stimmen schien. Er hatte ein Zimmer im Ochsen. Dort waren seine Sachen deponiert: ein Koffer mit zwei verblichenen Jeans, ein paar T-Shirts, zwei Pullovern, einer Jacke, Unterwäsche. Aber keine Papiere. Jedoch ein großes Bündel Geld, was aus einem Bruch stammen könnte. Die Papiere, die noch an der Rezeption lagen, waren offensichtlich nicht seine und wäre er nicht so spät am Abend angekommen, wäre dies auch aufgefallen. Er legte gleich fünf Zweihunderter auf den Tisch und faselte etwas von geklauter Brieftasche und dass er keine Kreditkarte habe und sich bald darum kümmern würde. Außerdem hatten sie in der Stadt herumgefragt. Der junge Mann war vor einer Woche angekommen und hatte sich in der ganzen Stadt herumgetrieben. Danach ließ er seine Leute den jungen Mann verhören und er sah hinter der Glasscheibe zu. Stephan Meier erklärte, dass er in einer Bar von einem Mann angesprochen worden war, der ihm Geld geboten hätte, wenn er in dieses Hotelzimmer einsteigen würde. Und er hatte ihm erklärt, wie er den Safe würde öffnen können.

Bär habe ihn genau beobachtet. Er sah seine leichte Unsicherheit, gespielt oder echt? Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihn der Junge komplett an der Nase herumführte.

Später habe er seine Leute mit Aufträgen eingedeckt: „Ich will wissen, wer er ist. Alle Datenbanken durchsuchen, die wir haben: Fingerabdrücke, DNA, Führerscheine, Einwanderungsbehörde! Er muss doch irgendwann einmal aktenkundig geworden sein. Und ich will, dass ihr allen seinen Aussagen nachgeht. Und dann will ich, dass das Hotel des Einbruchs und die angrenzenden Gebäude überprüft werden. Vielleicht hatte er selbst auch ein Zimmer im Hotel oder einer seiner Komplizen. Oder in der Nachbarschaft. Hat ein Auto auf ihn gewartet? Worauf wartet ihr! Ich will Antworten!“

Dieser Stephan Meier war scheinbar wirklich ein unbeschriebenes Blatt. Es schien, dass er keine Vergangenheit hatte, und nie existierte, bis vor einer Woche, als er ins Hotel Ochsen eingezogen war. Niemand erinnerte sich an einen Fremden, der mit ihm gesehen worden sein könnte.

Die Erkundigungen über das Hotel und die Personen anlässlich des Einbruchs waren schwieriger. Am Abend hatte es eine große Gala gegeben mit einer großen Anzahl hochkarätiger Gäste. Es war eine Veranstaltung des internationalen Unternehmerverbandes gewesen mit vielen auswärtigen Gästen. Diese waren nur teilweise im Hotel gebucht. Dazu waren noch einige wenige lokale Produzenten, die nur abends an der Gala-Veranstaltung erschienen, anwesend.

Auch wenn er sich nicht viel davon erhoffte, ließ Bär sie doch alle überprüfen. Und jetzt kam John Etter wieder ins Spiel. Bär und Etter waren einmal Kollegen und auch heute noch ein gutes Team. Geben und nehmen war für beide eine gute Devise. Sie waren auch privat schon seit ewigen Zeiten gute Freunde.

„Du kennst doch einige der Leute, die auf dem Empfang waren. Kannst du mir ein paar Tipps geben. Du kennst alle, die in unserem Kanton Rang und Namen haben.“

John Etters Stunde schlug. Er konnte wieder mit seinem Wissen über die Menschen auftrumpfen und hatte bei Bär wieder einen Stein im Brett.

„Wer war denn dabei?“

Bruno Bär las eine Liste vor und John murmelte immer wieder: „OK, OK, OK - OK.“ Als die Liste durch war, klärte er Bär über die kantonale Prominenz auf. Viele auf der Liste kannte auch er nicht, handelte es sich doch um einen internationalen Anlass. Aber die Namen, die im Kanton verwurzelt waren, waren ihm alle ein Begriff. Und einige von nationaler Bedeutung kannte er auch.

Bruno Bär konnte so auf der Liste die Spreu vom Weizen trennen und schickte seine Leute zur Spreu.

Er besuchte nur die wichtigen lokalen Größen: Herbert Iten und Frau, Gabriel Galliker und Frau sowie Leo Schmid, der mit seiner Tochter an der Veranstaltung teilgenommen hatte.

Gabriel Galliker war Geschäftsführer der Etter-Distillerie und mit der Tochter des Inhabers verheiratet. Nach dem Besuch bei Galliker, der ergebnislos endete, da diesem weder vor, während, noch nach dem Anlass etwas aufgefallen war, fuhr er weiter zu Herbert Iten, der ein Reiseunternehmen leitet. Der war Ende fünfzig, mit einer wesentlich jüngeren Frau verheiratet und auch ihnen war nichts Verdächtiges aufgefallen. Danach machte er sich auf den Weg zu Leo Schmid. Bär hatte John Etter versprochen, ihn bei diesem letzten Besuch mitzunehmen, da er so wieder zu neuen Kunden kommen könnte. Eine Hand wäscht die andere, so funktionierte ihre Freundschaft. Und die Familie Schmid war ein ganz großes Kaliber, die bestimmt mal seine Dienste in Anspruch nehmen konnte.

John Etter hatte über den Industriellen gelesen: Er besaß einen Familienbetrieb, der Spielzeuge herstellt und ihn erfolgreich in das einundzwanzigste Jahrhundert geführt hatte, indem er Tradition und Moderne kombiniert hatte. Etter setzte sich in Bärs Wagen und sie fuhren zu dem Stammsitz des Familienunternehmens. Von der modelmäßigen Rezeptionistin ließen sie sich bei der Geschäftsführung anmelden.

Man schickte sie mit einem Aufzug in den obersten Stock. Dort erwartete sie eine riesige Empfangshalle, ausgelegt mit dicken Teppichen, in denen ihre Schritte geräuschlos versickerten. Die Umgebung war wesentlich luxuriöser, als die der beiden anderen Unternehmer, wie Bär anerkennend feststellen musste.

Eine junge Frau hinter einem Büro lächelte sie an:

„Was kann ich für Sie tun?“

„Bruno Bär, Kantonspolizei! Und John Etter. Wir hätten gerne Herrn Leo Schmid gesprochen.” Es war nicht das erste Mal, dass er sich so vorstellte. Bär hatte sich daran gewohnt, im Vorstellungsprozess keinen Fehler zu machen. Die meisten überhörten die Feinheit und dachten sich, dass Etter ebenfalls zur Polizei gehörte. Und da Bär ihm schon einige Gefallen schuldig war, schien dieser Besuch eine gute Gelegenheit, die Waage etwas mehr auszugleichen.

Die Frau lächelte weiter:

„Es tut mir leid, aber Herr Schmid ist nicht im Haus. Vielleicht möchten Sie mit Alina Schmid sprechen, der Juniorchefin?“

John Etter erinnerte sich. Das musste die Tochter sein, die auch auf dem Empfang gewesen war.

„Ja, wenn das möglich wäre.“

Die Frau drückte eine Taste: „Frau Schmid, verzeihen Sie die Störung. Hier sind zwei Herren von der Kantonspolizei, die Herrn Schmid sprechen wollen. Könnten Sie sie empfangen?“

Sie horchte auf die Antwort und sagte dann:

„Gehen Sie bitte durch die Tür da vorne. Frau Schmid erwartet Sie.“

Beide sanken knöcheltief in den Teppich ein, während sie auf die Tür zugingen. Bär klopfte und sie traten ein.

Das Büro dahinter war ähnlich ausgestattet und hinter dem Schreibtisch saß eine junge blonde Frau mit langen Haaren, die in einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengehalten wurden.

Die Frau erhob sich und kam auf sie zu. Sie war groß, mittelschlank und steckte in einem engen Businesskostüm, das ihre Formen aufs vorteilhafteste betonte, ohne aber aufdringlich zu wirken.

Sie hielt ihnen eine Hand entgegen und lächelte sie an:

„Guten Tag. Ich bin Alina Schmid. Kann ich helfen?“

Etter blieb die Luft weg, als sie ihn mit meerblauen Augen ansah. Sie war das liebreizendste Wesen, das er seit Langem gesehen hatte. Nur mit Mühe antwortete er:

„John Etter!“

Sie lächelte schelmisch: „Was hat mein Vater wieder angestellt? Hat er schon wieder ein Ticket wegen falschen Parkens bekommen?“

Bär übernahm. „Wegen falschen Parkens kommt die Kantonspolizei nicht. Sie waren gestern Abend auf der Gala im großen Zelt in Zug?“

Sie zeigte auf eine Sitzgruppe.

„Setzen sie sich bitte. Ja, ich war mit meinem Vater auf einem Empfang der internationalen Unternehmergesellschaft. Warum fragen Sie?“

„Wir überprüfen alle Anwesenden, da in der Zeit im Hotel ein Dieb unterwegs war.“

„Oh!“

Ihr Mund wurde ganz rund.

„Ein Dieb? Meine Juwelen sind aber alle noch da! Gott sei Dank, denn ich trug ein Diadem, das meiner Mutter gehört hat und nur schwer zu ersetzen gewesen wäre. Was ist denn weggekommen?“

„Nichts, wir haben den Dieb auf frischer Tat ertappt.“

„Ach, das ist interessant. Ja, ich erinnere mich, dass die Polizei uns angehalten hat, um unsere Personalien aufzunehmen. Aber ich wusste nicht, warum.“

„Ja, ich wollte wissen, ob Sie oder ihr Vater etwas bemerkt haben.“

Sie dachte nach. „Wann, während der Veranstaltung, oder danach?“

„Davor, danach, während. Haben Sie vielleicht jemanden bemerkt, der sich ungewöhnlich verhielt. Oder ein auffälliges Fahrzeug?“

Sie schüttelte bedauernd den Kopf und eine bezaubernde kleine Haarsträhne löste sich aus ihrem Knoten:

„Nein, aber ich war auch sehr mit meinem Vater beschäftigt. Sie wissen vielleicht, dass er im Rollstuhl sitzt und es benötigt immer eine gewisse Logistik, die mich ganz in Anspruch nimmt. Wir sind gestern Abend gegen acht Uhr hingefahren, mein Vater und ich. Mein Vater geht gerne auf diese Veranstaltungen, aber es ist zu mühsam, wenn sie in einer anderen Stadt sind. Also gehen wir nur, wenn es mit dem Auto erreichbar ist und so nahe wie gestern.“

Bär sah sich um. „Scheint gut zu gehen, Ihr Unternehmen.“

Sie lächelte wieder. „Ja, unsere Spielzeuge gehen gut im Moment. Vor allem, was elektronisch gesteuert werden kann.“

Etter hatte sich endlich wieder gefasst und konnte den Blick von ihr lassen. Dann deutete er auf ein Porträt, das hinter ihrem Schreibtisch hing. Es zeigte einen gut aussehenden, älteren Mann sitzend und hinter ihm standen ein junger Mann und ein Mädchen. Das Mädchen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Alina, obwohl es mindestens 15 Jahre jünger war.

„Ist das Ihr Vater?“

„Ja, ist gut gelungen das Bild, aber ich denke, Sie erkennen mich.“

„Ja. Und Ihr Bruder war gestern nicht auf dem Empfang?“

Sie schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. Der junge Mann auf dem Bild hatte blonde Haare wie sie und einen Bart. Er schien mindestens fünf Jahre jünger zu sein.

„Mein Bruder Daniel leitet unsere Filiale in Hongkong, wo er auch lebt. Er kommt selten, leider. Sie wissen, heutzutage werden die meisten Spielzeuge aus Kostengründen in Asien angefertigt. Wir mussten mitziehen, wenn wir überleben wollten, auch wenn ich gerne die Produktion hierbehalten hätte. Jetzt lassen wir die Rohprodukte in Hongkong herstellen und hier ist nur noch eine Fabrik, die alles zusammensetzt und drauf schreibt: „Made hier vor Ort. So ist es leider.“

„Ist das legal?“, fragte John Etter, auch wenn die junge Frau ihm mehr gefiel als ihn die Antwort interessierte. Sie hatte Klasse und Charme.

„Ja, das ist es, solange der letzte Arbeitsschritt hier stattfindet und der Teuerste ist. Warum, wollen Sie mich festnehmen?“

Sie hielt ihm ihre Hände demonstrativ entgegen, so als sollte er Handschellen darumlegen. Er nahm die Gelegenheit wahr und nahm ihre Hände in seine:

„Vielleicht sollte ich das, dann kann ich Sie wiedersehen.“

Sie entzog ihm ihre Hände und sagte: „Das können Sie auch so. Sie dürfen mich heute Abend zum Essen einladen und dann erzählen Sie mir alles über Ihren Bösewicht. Denn jetzt muss ich leider weg, ich habe eine Besprechung. Holen Sie mich um zwanzig Uhr ab, dann kann ich Ihnen auch meinen Vater vorstellen. Aber ich versichere Ihnen schon jetzt, dass er nicht in der Lage ist, irgendwo einzusteigen, um etwas zu stehlen, es sei denn, jemand hebt ihn herein.“

Sie neckte ihn und es gefiel John Etter. Bär verfolgte das Geschehen mit perplexem Blick. Aber ein solches Date würde ihm vielleicht auch weitere Erkenntnisse bringen und so mischte er sich nicht weiter ein.

John Etter und Alina Schmid verabredeten sich. Sie überreichte ihm ihre private Visitenkarte, dann verließen die beiden Freunde gemeinsam das Gebäude. Bruno Bär ging zurück ins Präsidium. John Etter, der sich normalerweise von Verdächtigen fernhielt, verwarf den Gedanken, dass sie verdächtig war, denn sie war immerhin den ganzen Abend bei der Veranstaltung gewesen und ihr Vater wohl auch.

Und das Zimmer war das Zimmer seines Auftraggebers. Eine Verbindung zwischen seinem Auftraggeber und dem Auftraggeber des Einbrechers würde die Polizei schon noch finden. Für ihn war dieser Fall erledigt. Außer das Date mit Alina natürlich. Dieses würde er aber nicht auf die Spesen nehmen. Seine rote Zora namens Susanne Gehrig musste nicht alles wissen.

Kapitel 2: Ein neuer Fall?

Kaum zurück im Büro, läutete das Telefon und Susanne erklärte ihm, dass ihn ein Gabriel Galliker suche.

„Scheinbar habe ich irgendwo Eindruck hinterlassen“, flüsterte er sich selbstzufrieden zu, lehnte sich zurück und hörte, was ihm der Geschäftsführer der Etter Distillerie zu erzählen hatte. Der Name war ihm von der Liste von Bruno Bär her bekannt. Er war auch ein Besucher der Gala der Unternehmer.

„John Etter.“

„Herr Etter. Hier ist Gabriel Galliker von der Distillerie Etter Söhne AG, grüezi. Wir haben ein Problem. Da ich bei der Polizei niemanden außer den Herrn Bär kenne, der gestern bei mir war und ich in der Zeitung von heute den Bericht über sie gelesen habe, habe ich mir erlaubt, sie anzurufen.

Wie um Himmels willen hatte Susanne es wohl schon wieder geschafft, dass, kaum war der Fall für ihn erledigt, ein Artikel darüber prominent erschien? Er würde sie mal fragen müssen. Vielleicht war sie ein verkleideter Harry Potter. Woher hatte sie diese Pressekontakte?

„Schon gut, um was geht‘s?“, antwortete John Etter knapp.

„Wie Sie vielleicht wissen, stellen wir diverse Frucht- und Edelbrände her, haben jedoch seit ein paar Jahren auch einen Singlemaltwhisky im Programm.“

„Ja, ich weiß, ich habe davon schon an der Zuger Herbstmesse gekostet und gekauft. Und mehrfach nachgekauft. Herrlich. Und was ist nicht gut mit dem Whisky?“

„Wir werden erpresst. Unser Whisky soll verunreinigt werden, wenn wir nicht bezahlen. Bin ich bei Ihnen richtig?“

„Ja, darum kümmern wir uns auch. Ich mache mich gleich auf den Weg. Sind sie im Büro?“

„Ja, Sie wissen wo?“

„Ja klar, welcher Zuger weiß nicht, wo sich ihre Distillerie befindet. Und ich heiße ja auch noch gleich mit Nachnamen. Nicht verwandt und nicht verschwägert, aber trotzdem … Haben sie die Erpressung bereits bei der Polizei gemeldet?“

„Unsere Sekretärin versucht seit einer halben Stunde erfolglos einen zuständigen Beamten zu erreichen, darum versuche ich es zuerst bei Ihnen.“

„Das ehrt mich, aber ich gebe ihnen die Direktnummer von Bruno Bär. Versuchen Sie diese Nummer zuerst. Ich werde mich morgen früh bei Ihnen melden und ich kann Ihnen dann meine Dienste anbieten, wenn sie dies noch wünschen.“

Gabriel Galliker war überrascht, dass sein Gegenüber am Telefon nicht sofort auf den Auftrag einstieg. Er konnte ja nicht wissen, dass das anfängliche Zögern zur Taktik von John Etter gehörte. Das war ein erster Vertrauensbeweis seinerseits. In diesem Business war das Vertrauen wichtiger als das Geschäft. Denn das Vertrauen war der Grundbaustein für eine optimale Zusammenarbeit. Und John hatte so auch noch etwas Zeit, sich ausführlicher über die Firma zu informieren.

„Das werde ich gerne tun. Aber ich bin überzeugt, dass wir sie auch trotz der Mitarbeit der Polizei brauchen können. Bei uns heißt das zurzeit: Qualität und der Name sind Geld und der Whisky muss auf alle Fälle sauber bleiben und bewacht oder was auch immer.“

„Gut, Herr Galliker. Ich melde mich morgen früh. Sie werden heute mit der Polizei noch genügend Zeit verbringen. Um welche Zeit sind sie im Büro? Ist sieben Uhr zu früh?“

„Nein, kein Problem. Um sieben Uhr im Büro. Ich nehme sowieso nicht an, dass ich gut schlafen werde.

John Etter legte den Hörer auf die Gabel des altmodischen Telefons. Auf dieses Teil war er besonders stolz, sah es doch so aus, wie in alten Filmen, war aber mit der modernsten Technik bestückt.

„Susanne, zur Firma Etter geh ich morgen früh. Was war mit der Entführung, die du mir gestern noch per SMS mitgeteilt hast?“

„War etwas aus dem Polizeifunk. Dachte, es könnte dich interessieren. Ein junges Liebespaar ist in oder bei den Höllgrotten scheinbar verschwunden.“

„Soso, Polizeifunk, wie in alten Tagen, aber mit modernsten Mitteln. Du bist mir ja ein Früchtchen. Dir ist nichts heilig genug, um mich mit Arbeit einzudecken. Hast du schon mehr dazu gehört?“

„Nein leider noch nichts“, rief sie um die Ecke und erschrak, als sie bemerkte, dass John Etter gleich hinter ihr stand und über ihre nackten Schultern auf den Bildschirm ihres Computers sah.

„Mein Gott, spiel hier doch nicht den unhörbaren Ermittler. Ich habe mich fast zu Tode erschreckt“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Es war ein kleines Spielchen zwischen den beiden, sich unbemerkt an sie anzuschleichen und sie zu erschrecken. Ihm gefiel die rote Hautfarbe, die sich dann schlagartig über ihr Gesicht ausbreitete und es fast so leuchtete wie ihr rotes, langes Haar, das sie zu einem Zopf nach hinten gebunden hatte.

„Du wirst mir eines Tages dafür dankbar sein. Dein Herz ist auf alle Fälle gut trainiert. Dank mir!“

„Jaja, schon gut. Ich geb dir durch, sobald ich mehr darüber weiß. Aber vermutlich sind die beiden schon wieder gefunden worden, wie meist bei jungen Liebespärchen. Die haben sie irgendwo vergnügt und die Zeit vergessen. Kennen wir doch alle.“

John Etter sah sie an, grinste und versuchte, seine Gedanken nicht in seinem Gesichtsausdruck aufzuzeigen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Frau jemals etwas mit einem Mann gehabt hätte. Aber, stille Wasser sind tief und sie sprach wirklich nie über ihr Privatleben, falls sie überhaupt eines hatte. Sie war wirklich die Perle seiner Unternehmung.

Alle kleineren Fälle koordinierte sie selbstständig mit den freien Mitarbeitern. Meist waren dies Überwachungsaufträge von gehörnten Ehemännern oder Ehefrauen, die es genauer wissen wollten. Hierbei ging es immer nur ums Beobachten, im richtigen Moment fotografieren und alles schriftlich niederschreiben. Seine Agentur nahm für die Vermittlung solcher Aufträge jeweils 30 % der Summe, die den Ermittlern bezahlt wurde und Susanne kontrollierte diese Abrechnungen wie ein Adler. Manchmal machte sie sogar nächtliche Kontrollbesuche bei den Ermittlern unterwegs, um festzustellen, ob sie wirklich ihre Arbeit richtig machen. Es waren keine freien Mitarbeiter mehr verfügbar, die diesen Anforderungen nicht nachkamen. Dafür hatte sie gesorgt. Die Perle. Die Perle, die dafür gesorgt hatte, dass die Detektei John Etter innert Kürze zur Nummer eins in der Region geworden war.

Kapitel 3: Höllgrottengetränk

Am nächsten Morgen war John Etter blendender Laune. Der Abend war wunderbar gelaufen. Er hatte Alina, wie er sie nun nennen durfte, in ihrer Villa abgeholt. Sie hatte ihn ihrem Vater vorgestellt. Er war um die siebzig, aber gut aussehend und imposant. Seiner Ausstrahlung tat es keinen Abbruch, dass er im Rollstuhl saß.

Die Villa war im selben Stil gehalten, wie das Büro: modern, imposant und stilsicher. Nach der kurzen Vorstellungsrunde verließen die beiden den älteren Herrn in Richtung The Blinker , ein Restaurant im Industriegebiet einer Nachbargemeinde. John kannte das Restaurant gut, lud er häufig Kunden hierhin ein. Von außen war es unscheinbar oberhalb einiger Verkaufsräume einer Automarke in der Nähe einer Kreuzung. Daher kam der Name The Blinker . Der Blinker nannte sich selbst das flexible Lokal für Gäste, Business und Feste. John war der Standort genehm, denn es gab immer genügend Parkplätze und die Küchenchefin legte sich immer voll ins Zeug. Wenn er sich mit Kunden hier aufhielt, die das Restaurant nicht kannten, konnte er immer sicher sein, dass sie begeistert waren.

Hubert Erni, der den Laden mit gutem Gespür für die Gäste managte, kannte John nun auch schon einige Jahre und war überrascht, ihn in Begleitung einer Frau zu begrüßen. In Damenbegleitung war er schon des Öfteren hier, aber immer nur am Mittag und so wie es schien, immer zu Geschäftszwecken. Diese Dame kannte er auch, war sie eine der zukünftigen Erben der Schmid-Unternehmungen und ab und zu schon Gast in seinem Haus.

Zur Vorspeise bestellte sich Alina eine Spargelcremesuppe mit Crabmeat Wonton und Zitronenquark. John entschied sich für einen kleinen Caesars Salad. Zur Hauptspeise ließ sich John mit einem Black Angus Rindsfilet vom Grill mit Pommes Dauphine und Alina mit einem Gunzwiler Bierschweinkotelett mit Safranrisotto und Spargeln verwöhnen. Bei der Weinbestellung fiel die Wahl noch etwas schwerer. John liebte die österreichischen Cuvées und Alina liebte die Spanier.

Diesmal entscheide ich und das nächste Mal entscheidest du, hatte sie zu ihm gesagt und so fiel die Wahl auf den Aalto 2014, den John auch liebte.

Sie genossen das Essen und den Wein und sie hatten sich blendend unterhalten. Sie war charmant und witzig und er hatte ihr etwas über den Dieb Stephan Meier erzählt, aber auch von sich und seiner üblichen Arbeit. Sie hatte wenig über sich geredet und sie hatten ihre gemeinsame Vorliebe für Popmusik und Italien entdeckt. Dann erfuhr er noch einige Firmendetails und dass ihr Bruder der eigentlich wichtige Mann im Unternehmen war. Er kaufte interessante Firmen weltweit auf und das Imperium wuchs dank ihm und seinen vielen Ideen immer weiter. Das Firmenkonglomerat bestand im Moment aus rund siebzig Firmen, die allesamt über den ganzen Globus verteilt und erfolgreich waren.

Vor einer Woche sei ihr Bruder in Zug gewesen und habe mit ihrem Vater noch einen neuen Deal abgeschlossen. Sie hatten jetzt auch einen Getränkegroßhändler in Indien aufgekauft und mit diesem noch Großes vor. In den drei Tagen, an denen ihr Bruder da gewesen sei, habe sie ihn nur ein Nachtessen lang gesehen, aber das sei völlig normal gewesen. Am Schluss des Abends hatte Alina John eingeräumt, dass sie vielleicht nochmals mit ihm essen gehen würde. Nur schon der Weinwechselbestellung wegen, wie sie augenzwinkernd meinte.

John Etter sass in seinem Stuhl und träumte vor sich hin. Doch wurde er schnell wieder von der Aktualität ernüchtert. Bruno Bär hatte ihm in der Hoffnung, dass John Etter ihm ein paar weitere Tipps hätte, per Mail Details zum Fall Meier durchgegeben. Alle Untersuchungen der Polizei waren scheinbar fruchtlos geblieben. Dieser Stephan Meier war aus dem Nichts aufgetaucht und dieses Nichts war absolut nicht zu durchdringen. Dann wurde auch ein Anwalt eingeschaltet, der sich als Thomas Gerber vorstellte und verlangte Stephan Meier zu sehen, da er ihn vertrat. Bär sei fast vom Stuhl gefallen. Thomas Gerber war einer der angesehensten Anwälte der Stadt. Warum sollte er einen vermutlich mittellosen Dieb wie Stephan Meier vertreten? Und nach Bärs Wissen hatte Meier nicht telefoniert. Er hätte ihm heute einen Pflichtverteidiger finden müssen.

John Etter rief Bär an. Bär und Etter waren beide Wenigschläfer und es war normal, schon morgens um sechs zu telefonieren. Bär erzählte ihm das Neueste. Es mache keinen Sinn, dass ein solcher Brocken von Anwalt einen unbekannten Einbrecher verteidigen würde.

„Du wirst das schon machen, schließlich habe ich ihn auf frischer Tat ertappt und ihr werdet wohl auch noch herausbekommen, wer der Auftraggeber war. Wem das Zimmer gehört, wisst ihr ja in der Zwischenzeit auch. Da habe ich euren Job ja wieder einmal gut gemacht – gell?“ Das musste einfach sein. John Etters Ego tat das gut.

Und Bruno Bär unterstrich die Worte sogar: „Ja, einen wie dich vermisse ich im Team. Aber immerhin habe ich im Verlauf der Nacht ein schriftliches Geständnis für seinen einfachen Einbruch erhalten. Aber keinen Hinweis auf den Auftraggeber. Wie bist du überhaupt an diesen Fall gekommen?“, fragte Bär nach.

„Der englische Industrielle, der mir den Überwachungsauftrag gab, fühlte sich verfolgt. Nachdem er mit mir Kontakt aufgenommen hatte, konnten wir feststellen, dass er scheinbar überwacht wurde. Er erzählte mir, dass er geheime Dokumente mit dabei hätte über den Verkauf einer seiner Firmen und das Geschäft wäre bereits über die Bühne gegangen. Er hätte viel Bargeld zusätzlich zu der bezahlten Summe als Handgeld erhalten und hätte diese mit dabei. Der einzige Moment, in der das Geld und die Dokumente unbeaufsichtigt waren, wären während der Gala. Da wäre alles im Safe im Hotel. Ja und aus dieser Tatsache haben wir die Falle aufgestellt. Eigentlich nur so auf gut Glück – aber wir haben ihn alles sehr auffällig machen lassen. Die Frage nach dem Tresor, nach Versicherungsbedingungen bei einem allfälligen Diebstahl. Er hatte das alles im Beisein von vielen Gästen im Foyer des Hotels ziemlich laut mit der Rezeptionistin von sich gegeben. Ein allfälliger Dieb hätte es sicher mitbekommen.“

„Danke, wir checken mal die Überwachungsbilder dieser Situation im Foyer. Hast mal wieder einen weitern Stein im Brett bei mir“.

„Was weißt du über den Whiskyfall bei Etter?“, fragte John Etter unvermittelt nach.

„Noch nicht viel, aber warum weißt du schon wieder davon?“

„Ein möglicher Auftrag. Bin um sieben Uhr beim Geschäftsführer.“

„Scheint ziemlich vertrackt. Unsere Spurensicherung ist im Moment gerade in den Höllgrotten. Mehr kann ich leider noch nicht dazu sagen.“ Fast entschuldigend verabschiedete sich nun Bär von John.

John Etter betrat das Namensvetter-Gebäude wenig später und fühlte sich gut dabei, ein Haus zu betreten, das gleich hieß wie er, auch wenn er mit dieser Familie keine verwandtschaftlichen Bezüge hatte. Ihm gefiel der Name natürlich und die Tatsache, dass er dabei helfen konnte, die Erpressung aufzuklären. Wie meist war er alleine unterwegs. Er könne alleine besser denken, sagte er zu den allfälligen Fragestellern. Und solche Fälle löste er am liebsten allein. Leute aus seinem Team brauchte er nur, wenn die Situationen etwas gröber zu werden drohten. Das war schon zu seinen Polizeizeiten so. Dass er heute mit Susanne Gehrig zusammen ein Kleinstbetrieb war, musste er niemandem auf die Nase binden. Da waren ja noch sein Dutzend freie Mitarbeiter, die seine Homepage ebenfalls zierten. Aus Diskretionsgründen natürlich nur als reine Zahl mit Aliasnamen.

Schlussendlich zählte nur der Erfolg und die richtige PR dazu. Seine unorthodoxen Methoden und eine unglaublich hohe Aufklärungsrate unterstrichen dies. Dieselben Methoden hatten ihn damals auch bewogen, eher auf sanften Druck als freiwillig, den Polizeidienst zu quittieren. Und die Tatsache, dass er sich um die kranken Eltern kümmern wollte. Manchmal war das Schicksal eine gute Sache, wenn man in den sauren Apfel biss. Für ihn war es das Beste, was ihm geschehen konnte. Er konnte sich bis zum Schluss um seine kranken Eltern kümmern und gleichzeitig seine Firma aufbauen.

Um fünf vor sieben Uhr bog er auf den Vorplatz der Firma Etter ein. Er stieg die wenigen Stufen zum Haupteingang hoch, als ihm Gabriel Galliker bereits entgegenkam und sie begrüßten sich. Galliker ging nach links in den Besprechungsraum. An der Wand fielen John drei große Portraits auf, die wohl Bilder der Vorfahren der Etters waren.

„Was haben die Höllgrotten mit der Erpressung und dem Whisky genau zu tun?“, fragte er noch stehend Gabriel Galliker und legte ihm den Detekteivertrag vor.

„Weil der Whisky dort gelagert wird und gestern an einem Punkt, von wo aus man die Fässer sehen kann, ein Brief in einem Plastikmäppchen angebracht war.“

Galliker holte eine Kopie des Erpresserbriefes hervor. Das Original war bei der Polizei zur Spurensicherung. „Ein Kuvert mit dem Hinweis auf das Mäppchen am Whiskyfass war beim Hinweisschild angebracht. Der Grottenwärter hat diesen am Morgen entdeckt und uns sofort kontaktiert.“

„Wir werden am besten gemeinsam dorthin gehen und vorhandene Spuren ansehen. Die Höllgrotten werden zur Zeit von Beamten der Spurensicherung untersucht. Aber vielleicht dürfen wir trotzdem rein.“ Gabriel Galliker war ein selbstsicherer Mann, der wusste, von was er sprach. Ein Mann, wie er John Etter gefiel. Geradeaus auf den Punkt. Einer, der sowohl den Vertrag gleichzeitig überfliegen konnte und seine Fragen beantwortete. Gabriel Galliker unterschrieb den Vertrag, behielt seine Kopie und gab das Original zurück.

John Etter unterbrach Galliker. „Darf ich schnell meinem Büro ein paar Aufträge in diesem Fall durchgeben?“ Ohne die Antwort abzuwarten, zupfte er das Handy hervor. „Hallo Susanne. Recherchieren Sie über Erpressungen in letzter Zeit im Bereich Lebensmittel in der Schweiz. Dann noch über die Besitzverhältnisse der Höllgrotten. Allfällige Ungereimtheiten et cetera und pipapo. Verstanden?“

Er steckte das Handy wieder ein. Das per Sie sein war seine Art, seinen Kunden am Telefon zu zeigen, wie respektvoll er mit seinen Mitarbeitern umging. Susanne lachte immer, wenn er ihr Sie sagte. Ab und zu fragte sie ihn, wenn er wieder im Büro war, ob sie wieder Brüderschaft mit ihm trinken müsse, damit sie ihm wieder du sagen durfte.

„Über den Besitzer der Höllgrotten kann ich noch einiges sagen, da wir ja eine geschäftliche Beziehung haben.“

John Etter setzte sich erst jetzt hin und hörte Galliker zu, was er zu berichten hatte.

Nachdem Galliker ihm über die Besitzverhältnisse und die Menschen, die dort arbeiten berichtet hatte, konnte er die Menschen von den Toppositionen der Verdächtigen streichen. Dies hieß jedoch bei John nie, dass sie nicht doch in Frage kommen würden. Er würde sich sein eigenes Bild machen.

„Gut, für mich reichen diese Angaben fürs Erste und wenn wir jetzt gemeinsam noch schnell die Höllgrotten aufsuchen können und vielleicht auch noch in Erfahrung bringen können, was die Polizei bereits herausgefunden hat, dann kann ich mit meiner Arbeit beginnen.“

„Die Polizei gibt Ihnen diese Angaben heraus?“, fragte Galliker erstaunt nach.

„Ja, wissen Sie, mal mach ich was für die und mal machen die was für mich. Das passt schon. Ich war selbst lange genug bei diesem Verein. Und das meine ich nicht abschätzig! Haben Sie etwas über ein verschwundenes Liebespaar gehört, die auch in der Umgebung der Höllgrotten verschwunden sind?“

„Nein, leider nicht. Erst kürzlich?“

„Ja, ist erst gerade aufgenommen worden.“

„Eine Frage noch, Herr Etter. Kommen solche Erpressungen häufig vor?“

John lehnte sich nochmals in seinem Stuhl zurück und holte etwas aus.

„Jein. Die meisten Erpressungsversuche kommen nicht an die Öffentlichkeit, weil sich Erpresser und Unternehmen einigen können und viele werden von der Polizei oder Detekteien wie meiner gelöst. Es ist schon seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer wieder zu aufsehenerregenden Fällen gekommen. Sobald Verbrecher, anders kann ich sie nicht nennen, ankündigen, Lebensmittel, Spirituosen oder Zigaretten zu vergiften, Sprengsätze in Elektrogeräten zu platzieren, Kosmetika mit Pflanzenschutzmitteln zu versetzen, Glassplitter unter Babynahrung zu rühren oder komplette Produktlinien zu sabotieren, herrscht in Unternehmen Alarmstufe. Vielleicht erinnern Sie sich an den Thomy-Erpresser, der 1998 vergiftete Nestlé-Produkte in Supermärkten verteilte, auf einem Kinderspielplatz deponierte und per Post verschickte. Das, kostete das Unternehmen durch die Beseitigung und den Austausch von 30.000 Produkten knapp 20 Millionen Euro. Die Lösegeldforderung lag bei 13 Millionen Euro. Vor allem der Schaden, der aus einem Imageverlust resultiert, ist nicht so einfach mess- und kalkulierbar. Die Rückgewinnung des Vertrauens der Verbraucher erfordert Geduld und zielgerichtete Maßnahmen, die viel Geld kosten. Problem ist auch das mögliche Auftreten von Trittbrettfahrern, die animiert durch die Meldungen in den Medien, ebenfalls Erpressungsversuche starten.

Viele solcher Erpressungen gelangen nicht in die Presse. Egal, ob bezahlt wurde oder nicht. Man will Trittbrettfahrer soweit wie möglich vermeiden. Bei Erpressungen in der Lebensmittelbranche ist in erster Linie Sensibilität gefragt, damit bei den Verbrauchern keine Panik ausbricht. Zudem muss die Krisensituation möglichst schnell und nachhaltig gemeistert werden. Selbst bei vielen Trittbrettfahrern sollte grundsätzlich jede Erpressung ernst genommen werden, um unnötige Risiken zu vermeiden. Ein gut funktionierendes Risikomanagement ist daher unabdingbar. Dazu gehören die Erstellung eines Krisenplans und die Etablierung eines speziell ausgebildeten und trainierten Krisenstabs.

Sie können darauf zählen, dass sowohl die Kantonspolizei mit ihren Leuten wie auch ich solche Fälle kennen. Wesentlicher Bestandteil eines präventiven Risikomanagements ist die Situations- und Risikoanalyse. Fragen wie „Welche Produkte sind aufgrund ihrer Umsatzstärke und Bekanntheit besonders gefährdet?“, „Sind wir von einem/wenigen Produkten abhängig oder stark diversifiziert?“, „Wie angreifbar sind wir von innen und außen?“, „Wie einfach ist eine Manipulation der Produkte oder wird diese durch eine Versiegelung wirksam verhindert?“, brauchen klare Antworten. Gerade bei Letztgenanntem ist die Optimierung der Produktsicherheit wichtig. Maßnahmen wie Siegel, Folierung oder Vakuumverschlüsse haben die Sicherheit für die Verbraucher und für die Unternehmen nachhaltig erhöht.

In Ihrem Fall, Herr Galliker, scheint es einfach zu sein, eine verschmutzte Flasche zu erkennen, muss das Mittel, welches verwendet würde, irgendwie in eine originalverschlossene Flasche gebracht werden.“

„Nun, das beruhigt mich nur zu einem Teil. Meinen Sie, dass es sich hier um Profis handelt?“, fragte Gabriel Galliker nach.

„Das ist im Moment noch schwer zu sagen. Die Spezialisten der Polizei haben bisher ja nur den Brief. Die Wortwahl scheint nicht viel herzugeben und es scheint sich auch um einen Nullachtfünfzehn-Drucker zu handeln, mit dem er gedruckt wurde. Vielleicht haben wir Glück und sie finden DNA auf dem Papier oder dem Kuvert. Und mit noch etwas mehr Glück ist dieses Profil schon einmal auffällig geworden. Aber bei diesen Aussagen ist viel vielleicht mit dabei.“

„Haben Sie selbst schon einmal an einem Fall mitgearbeitet?“, fragte Galliker nach.

„Ja, das kam schon vor. Aber wir konnten sowohl den Fall frühzeitig lösen wie auch die Öffentlichkeit außen vor lassen.“

„Gibt es Beispiele dafür, dass es für die Unternehmen im Ernstfall sehr schmerzhaft werden kann?“ Galliker schien besorgt um den tadellosen Ruf der Firma, was John sehr gut nachvollziehen konnte.“

„Nun ja, es gab zu meinen Polizeizeiten einen deutschen Erdnussbutter-Hersteller. Der wurde damit erpresst, dass gezielt Lieferungen mit Salmonellen kontaminiert werden. Im Falle einer Lösegeldzahlung in Höhe von fünf Millionen Euro würde die Drohung nicht wahr gemacht werden. Das Unternehmen ignorierte die Ankündigung und führte die Produktion unverändert fort. Wochen später erkrankten in mehreren Ländern nach dem Verzehr der Erdnussbutter rund 600 Menschen. Auch in der Schweiz. Wir konnten den Täter stellen. Die spezielle Versicherung übernahm die angefallenen Kosten und kam für den entstandenen finanziellen Schaden auf. In einem anderen Fall wurde der Geschäftsführer eines Fleischverarbeiters aufgrund seiner Tierhaltungsbedingungen per E-Mail bedroht. Er sollte nachbessern oder die Produktion umgehend einstellen, sonst würden seine Fleischprodukte manipuliert. Der Täter hat seine Drohungen nicht wahr gemacht, sodass es zu keinen weiteren Vorkommnissen kommen konnte. Sie sehen, Herr Galliker, wir kennen solche Fälle und ich kann Ihnen versichern, die Zusammenarbeit mit der Polizei war auf alle Fälle eine richtige Entscheidung.“

Gabriel Galliker schien etwas beruhigt und hoffte, dass sich der Fall in Luft auflösen würde wie beim Fleischverarbeiter.

Sie standen auf und gingen hinaus. Gabriel Galliker meldete sich ab und sie machten sich gemeinsam in seinem Wagen auf zu den Höllgrotten in Baar.

Unterwegs holte John Etter wieder sein Handy hervor.

„Hallo Erika. Kannst du mir die Unterlagen des verschwundenen Paars mailen? Ich sehe da einen möglichen Zusammenhang mit einem meiner Fälle.“ Er pokerte hoch, wusste er gar nicht, ob es überhaupt einen Fall gab und ob die beiden nicht schon zum Vorschein gekommen waren.

„Ich frage dich nicht, woher du das schon wieder weißt …“, antwortete die Dame auf der anderen Seite. Kommissarin Erika Rogenmoser, die diesen Fall mit ihrem Team bearbeitete, war aber nicht wirklich erstaunt darüber.

„Wo bist du, es tönt, als wärst du draußen im Gelände irgendwo …“, mutmaßte John Etter weiter.

„Ja, fahre jetzt zu den Höllgrotten und befrage die Angestellten des Restaurants und die beim Eingang. Wo bist du?“

„Gleich auch dort. Wir sehen uns..“, dann wurde die Leitung unterbrochen.

John sah ungläubig aufs Handy, was Gabriel Galliker bemerkte. „Kein Empfang hier hinten.“

„OK, das passt“, antwortete John, verstaute das Handy und schon bald fuhren sie bei den Höllgrotten auf den Parkplatz.

Gemeinsam gingen sie zum kleinen Kiosk beim Eingang und schon kurze Zeit später gesellte sich Erika Rogenmoser dazu. Sie begrüßten sich wie sehr gute Freunde, was sie früher auch einmal waren. Sehr gute Freunde. Wenigstens für eine Nacht.

„Das ist doch wohl kaum ein Zufall, dass gleichzeitig ein Paar bei den Höllgrotten verschwindet und in den Höllgrotten ein Erpresserschreiben hinterlegt wird?“, begann Etter.

„Könnte einen Zusammenhang haben“, pflichtete ihm die ebenfalls in Zivil gekleidete Kommissarin bei. „Ich habe dir hier die Akten ausgedruckt. Die beiden wurden gestern als vermisst gemeldet, aber wir hatten bisher noch keinen Anhaltspunkt auf ein Verbrechen. Es handelt sich um ein junges Liebespaar und wir gehen davon aus, dass sie, wie oft, innert ein paar wenigen Tagen auftauchen – aus dem Liebesurlaub sozusagen.“

„Hoffen wir’s“, antwortete John Etter knapp und blätterte durch die Akten. Das junge Liebespaar war erst seit zwei Wochen zusammen und ihm erschien die Aussage seiner Ex-Kollegin durchaus akzeptabel, wenn auch das Zusammentreffen von zwei Ereignissen am selben Ort ihn stutzig machten.

„Wer hat die beiden als vermisst gemeldet?“, fragte John nach.

„Der Nachbar des Mannes, der die beiden zum Essen erwartet hatte und dem aufgefallen war, dass sie sich nicht meldeten. Er hat sie auf dem Handy auch nicht erreicht. Wir haben den Fall aber noch nicht priorisiert. Kann auch einfach ein Liebesfall sein. Du weißt.“ Sie schaute ihn vielsagend an und John nickte.

„Falls wir heute noch nichts hören, werden wir morgen die Ermittlungen aufnehmen. Die Frau wohnt im Kanton Zürich. Dann wird es ein echter Fall. Der orange Wagen steht vorne auf dem großen Parkplatz.“ John nickte nochmals. Dann deutete er auf Gabriel Galliker und fragte Erika: „Dürfen wir schon rein? Herr Galliker möchte mir zeigen, was es mit den Whiskyfässern in den Höllgrotten auf sich hat?“

„Nein, erst am späteren Nachmittag. Wir sind noch mit der Spurensuche dran. Es gab noch einen zweiten Brief auf einem der Fässer, die ganz hinten gelagert waren. Die wollten sichergehen und das machen wir auch. Der Inhalt war lediglich die Kopie des ersten Briefes. Nachdem uns Herr Galliker informiert hatte, wurden die Höllgrotten sofort durch eine Streife geschlossen und niemand hatte mehr Zutritt.“

„Dann sucht mal weiter, ich melde mich, wenn mir in meinen Ermittlungen etwas auffällt.“ Ohne sich zu verabschieden, drehte er ab und lief in Richtung Parkplatz um den verlassenen orangen Wagen des Paares in Augenschein zu nehmen.

„Unhöflicher Holzkopf, wie konnte ich nur …“, hörte er Erika Rogenmoser noch sagen und ging verschmitzt lächelnd weiter. Sein Ruf war in seinen Augen mal wieder gerettet. Für beide war es ein Ausrutscher der besonderen Art gewesen. Abwechslungsweise verdrängten sie jene Nacht und zeigten gegen Außen keine Gefühle. Weder Gute noch Schlechte.

Ein unauffälliger gelber Fiat Panda älteren Modells stand auf dem größeren Parkplatz. Verschlossen. Keine Anhaltspunkte, was geschehen sein könnte. John machte ein paar Handyfotos, damit er keine Notizen machen musste. Im Innenraum war auch nichts, was John weiter bringen würde.

Die zwei Verliebten konnten sich überall aufhalten. Irgendwo im Wald, wild zeltend. Oder sie waren wandern gegangen und hatten sich irgendwo verschanzt. Der Tag war noch jung und die Chancen, dass sie wieder unversehrt auftauchten, groß. Die Liebe brachte viele Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie sonst nie taten. Die meisten Vermisstenmeldungen, die Jungverliebte betrafen, lösten sich üblicherweise innert weniger Tage von selbst.

Wenig später fuhren Galliker und Etter die idyllisch schmale Straße zurück nach Baar, als ihnen ein Krankenwagen entgegen fuhr. „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Schienen alle mehr oder weniger gesund, die dort herumstanden. Naja, wir werden es erfahren. Ich erreiche Erika jetzt ja eh nicht im Funkloch.“

Als sie bei der Distillerie Etter angekommen waren, verabschiedet sich John Etter von seinem neuen Auftraggeber. „Treffen wir uns heute um siebzehn Uhr bei den Höllgrotten? Bis dahin sollte die Polizei wohl ihre Arbeit erledigt haben.“

„Ich werde dort sein“, antwortete Galliker und sie verabschiedeten sich.

Im Büro setzte sich John Etter an den Computer und wandte sich kurz dem Fall Meier zu. Lange würden sie ihn nicht mehr eingesperrt lassen, dafür würde sein Anwalt schon sorgen und der Einbruch würde wohl nur als Einbruchsversuch gelten und die Strafe äußerst gering ausfallen. John Etter lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Irgendetwas ist faul an der Sache“. Er würde ein Auge auf den Meier haben – auch in Zukunft.

Er machte sich über den Monatsabschluss her, den ihm seine Perle auf den Tisch gelegt hatte. Wie immer in den letzten Monaten, entwickelte sich sein Geschäft prächtig. Verbrechen lohnt sich – wenigstens für ihn und seine kleine Firma.

Dann wand er sich wieder dem Fall Etter zu. Er holte sich alles aus dem Internet, was hilfreich sein konnte. Er notierte sich Namen und weitere Anhaltspunkte. Nach einem von Susanne zubereiteten, guten Kaffee, ging er nach Hause, um sich frisch zu machen.

Da es noch viel zu früh war, um zu den Höllgrotten zurückzukehren, konnte er sich noch einen Abstecher zu seiner neuen Bekannten erlauben.

Kapitel 4: Techtelmechtel?

Auf seinem Weg zum Firmengebäude von Schmid Enterprise hielt er an einem Blumenladen und kaufte ein riesiges Rosengesteck. Dann ging er zu Alinas Büro. Ihre Sekretärin bestätigte, was er sowieso befürchtete, denn seinen Handyanruf beantwortete nur das Band: Alina war außer Haus und kam erst heute Abend wieder.

Etter lief schwungvoll an der Sekretärin vorbei:

„Ich weiß, aber ich wollte ihr nur die Blumen hinstellen, damit sie sie findet, wenn sie wiederkommt. Bleiben Sie nur sitzen, ich mach das schon.“

Er öffnete die Tür zu ihrem Büro und ging hinein. Die Sekretärin ließ ihn gewähren, denn sie kannte ihn mittlerweile und wusste, dass er mit Alina ausging.

Etter ging zu Alinas Schreibtisch, stellt das Gesteck ab und drapierte seine Karte davor. Dann nahm er schnell sein Handy aus der Tasche und fotografierte das Bild an der Wand. Dann war er wieder draußen. Er grinste die Sekretärin an:

„Schon passiert. Sagen Sie, ich brauche einen guten Juristen. Können Sie mir einen empfehlen? Schmid Enterprise muss doch Juristen und Anwälte haben. Ist da keiner dabei, den ich anheuern kann?“

Die Sekretärin lächelte:

„Wir arbeiten mit der Kanzlei Gerber, aber ich glaube kaum, dass sie Privatkunden annehmen.“

„Schade, dann muss ich woanders fragen. Ich habe die Blumen auf ihren Schreibtisch gestellt. Falls es länger dauert, schauen Sie nach dem Wasser?“, fragte er die Sekretärin, um vom Thema abzulenken. Dann fiel ihm die andere Tür auf, die ins Büro von Daniel Schmid führte. Ein Namenschild war angebracht, auch wenn er die Tür noch nie offen gesehen hatte. Er fragte die Sekretärin unschuldig:

„Daniel Schmid ist wohl nicht oft hier. Ich habe ihn jedenfalls noch nicht kennengelernt.“

„Er kommt sehr unregelmäßig. Jetzt war er schon einige Monate nicht da, außer letzte Woche für drei Tage. Er vertritt unsere Filiale in Hongkong und macht die weltweiten Akquisitionen.“

„Was ist eigentlich das S. in Daniel S. Schmid?“

„S. steht für Stephan.“

Dann war John Etter wieder draußen. Schade, dass er Alina nicht antraf, doch so hatte er noch Zeit, das Foto zu bearbeiten.

Als er in seinem Büro ankam, kopierte er das Portrait des jungen Mannes heraus. In der Vergrößerung entfernte er den Bart. Er hatte eine Ahnung, doch er würde den richtigen Zeitpunkt abwarten, um dieses Foto zu benutzen.

Er dachte an Alina. Er sah sich wieder im Restaurant The Blinker sitzen, bevor sie weggefahren war. Er hatte ihre Hände gehalten und den Handrücken gestreichelt. Ihre tiefblauen Augen zogen ihn an. Auch wenn er nur an sie dachte, fühlte er ihre Nähe, sah das tiefe Blau vor sich und wollte in ihr versinken.

Ein Schlag auf die Schulter ließ ihn zusammenzucken. „Unentschieden!“ Susanne war sichtlich stolz, dass es ihr gelang, sich von hinten unbemerkt an John Etter anzuschleichen und ihn zu erschrecken.

„Höchstens zehn zu zwei“, antwortete John Etter bereits wieder gefasst.

„Ok, du bist der Boss. Hast du den Monatsbericht durch?“

„Aber sicher! Danke Susanne.“

„Läuft gut, gell!“ Susanne schaute, nun vor ihm stehend, starr in die Augen.

„Ja. Danke Susanne“, wiederholte John, ohne dass Susanne den Blick veränderte. Er wusste, worauf Susanne wartete.

„Ok, dein Lohn, ich weiß. Ich habe es versprochen und das halte ich auch. Wir sind über das Gröbste schon länger hinweg und du kannst dir ab nächsten Monat zehn Prozent mehr ausbezahlen. Stimmt das für dich?“

Susannes Augen veränderten schlagartig den Ausdruck. Mit so viel hatte sie nicht gerechnet. John wusste, dass er Susanne schon wieder überrascht hatte und er wusste auch, dass er, sollte er Susanne mal ersetzten müssen, gleich zwei Personen anstellen müsste. So gesehen waren zehn Prozent mehr Lohn ein Klacks. Und er hatte noch genügend Luft, um ihr Ende Jahr eine größere Provision auszubezahlen. Das würde dann die nächste Überraschung geben.

Susanne trat ganz nahe an John Etter heran und umarmte ihn fest. John musste seine Muskeln fest anspannen, sonst hätte ihm Susanne wohl sämtliche Knochen im Oberkörper gebrochen. Dankbarkeit hatte viele verschiedene Gesichter und Susanne zeigte, dass sie John Etter sehr dankbar war.

„Ist schon gut, Susanne, bitte bring mich nicht um, sonst ist es vorbei mit Lohn …“

„Entschuldige, aber bei dir fühle ich mich zum ersten Mal im Geschäftsleben geschätzt. Bisher wurde ich immer nur als durchschnittliche Mitarbeiterin angesehen, auch wenn ich immer mehr als Andere arbeitete. Ich wurde immer gehänselt und bei dir, bei dir fühle ich mich wohl.“ Susannes Gesichtsfarbe änderte sich sofort in Hochrot. „Ich, -- ich, äh, ich meine natürlich auf rein geschäftlicher Ebene. Nicht, dass du meinst, ich will etwas von dir. Sicher nicht. Versprochen.“

„Schon gut, schon gut, liebe Susanne. Ich verstehe dich schon richtig.“

Susanne verlies das Büro so flink und leise, wie sie es betreten hatte und John Etter wunderte sich, wie sie das mit dem Gewicht überhaupt konnte. Er lächelte selbstzufrieden, denn er wusste, zufriedene Mitarbeiter waren die besten Mitarbeiter und er wusste auch, dass Susanne für ihn die beste Mitarbeiterin war, die er sich wünschen konnte.

Nun musste er sich aber sputen, stand auf und fuhr mit leicht überhöhter Geschwindigkeit zu den Höllgrotten, wo Gabriel Galliker ihn bereits erwartete.

Sie betraten die Höllgrotten und Galliker führte John direkt zum Ort des Geschehens. An einem Punkt in der Höhle war ein Hinweisschild. Hier war der Hinweis auf die Fässer, die weit hinten lagerten.

„Hier hat der Grottenwart den Brief gefunden und ihn mit zurück in den Kiosk genommen. Auf dem Umschlag stand in großen Lettern geschrieben: AN DIE FIRMA ETTER . Er hat mich informiert und ich habe einen Mitarbeiter geschickt, um den Brief abzuholen. Als ich ihn öffnete, habe ich unserer Sekretärin gleich den Auftrag gegeben, die Polizei zu informieren. Da dies mir etwas zu lange dauerte, habe ich Sie informiert. Etwas über einen zweiten Brief habe ich erst jetzt erfahren.“

Gabriel Galliker und John Etter machten sich kurze Zeit später ins Restaurant Höllgrotten auf. Die Sonne versank gerade hinter dem Wald und sie setzten sich draußen hin. Weil es an diesem Abend viele Gäste hatte, verschob John den Plan, gleich mit den Wirtsleuten und Angestellten zu sprechen. Vielleicht hatte jemand vom Restaurant etwas beobachtet.

Sein Handy vibrierte lautlos. Das war üblich um diese Tageszeit, hatte er es so eingestellt, dass es nach zweiundzwanzig Uhr auf lautlos eingestellt war. Aline schickte ihm eine SMS.

Was für schöne Rosen! Vielen Dank, lieber John. Du bist großartig! Hast du Zeit?

Das Nachtessen war vorüber und John Etter wusste alles, was er zu wissen hoffte. Er kannte den Namen der Wirtin und wusste, dass eine Übergabe des Restaurants an eine neue Wirtin geplant war. Dies würde die junge blonde Dame sein, die sie zuvorkommend bedient hatte. Freundlich verabschiedete er sich von Gabriel Galliker und der Gerantin. Draußen auf dem Parkplatz rief er keine fünf Minuten nach der SMS Alina an.

„Hallo Alina. Einen guten Tag gehabt?“

„Es geht. Geschäfte halt, aber das ins Büro zurückkommen hat mir den ganzen Tag gerettet. Vielen Dank nochmals.“

„Gern geschehen“, antwortete John trocken.

„Wo bist du?“

„Ich fahre gerade von den Höllgrotten nach Hause.“

„Kommst du noch auf einen Drink bei mir vorbei?“, fragte Alina und John war froh, dass sie fragte.

„Gerne, ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.“

„Nimm den hinteren Eingang beim Haus, dann kommst du direkt in meinen Wohnteil. Mein Vater muss ja nicht geweckt werden, nur weil ich Besuch habe.“

„Verstanden, bis bald.“

John fuhr verträumt in Richtung Schmidvilla. Vor dem Haus angekommen schaute er nochmals in den Rückspiegel. „Doch, doch, das geht schon“, war sein Urteil über sich selbst.

Er ging auf den Hintereingang zu und die Türe war nur angelehnt. Von drinnen hörte er Musik, trat ein und ging den Gang entlang zum mit Kerzenschein erhellten Wohnzimmer.

„Hallo Fremder“, begrüßte ihn Alina mit zwei Gläsern Rotwein in den Händen.

„Hallo schöne Frau“, antwortete John Etter.

„Komm her zu mir“, forderte sie ihn auf und kam ihm auch ganz langsam etwas entgegen.

John tat, was ihm geheißen und als sie sich ganz nahe standen, stellte Alina die Gläser auf den Kaminsims neben sich, nahm mit beiden Händen Johns Kopf und zog ihn zu sich hin.

John ließ es geschehen. Schon lange hatte er keine Frau mehr geküsst. Die Letzte war Erika Rogenmoser und das war schon zwei Jahre her. Und an die Jahre mit Nicole wollte er auch nicht mehr denken.

Die Augen geschlossen, ließ er Alina machen. Er wusste, dass er heute nicht mehr nach Hause kommen würde.

Sie ließ ihn los, nahm die Gläser und reichte ihm eins. Nachdem sie sich auf das bequeme Sofa gesetzt hatten und die Gläser nach einigen Gesprächen und Küssen geleert waren, stand Alina auf.

„Warte kurz, ich muss schnell nach oben und werde dich in Kürze rufen.“ Sie lief davon und John konnte die Augen kaum von ihr lassen.

Einige Minuten später hörte er ihre Stimme ihn rufen und er ging denselben Weg wie sie davor.

Heute Abend wollte Alina es riskieren und herausfinden, ob ihre Anziehungskraft soweit ging, wie sie glaubte und hoffte. John Etter war ein Mann, der ihr gefiel. Bei dem Gedanken daran, was sich heute alles abspielen könnte, wenn er wirklich anbiss, wurde sie ganz nervös aber auch erregt.

Die Fesseln lagen auf dem Bett und eine Augenbinde hielt sie in der Hand. Es erschien Alina wie eine Ewigkeit bis zum erlösenden, leisen Klopfen an der Tür. Sie ließ John herein, ohne sich ihm zu zeigen. Erst als Alina die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sah John, dass sie nur in Unterwäsche gekleidet war. John klappte die Kinnlade herunter und er starrte sie einen Moment nur an. Der Anblick, der sich ihm bot, brachte ihn aus der Fassung. Endlich riss er sich aus seiner Starre los und schloss den Mund. Alina stand immer noch vor ihm und sah ihn mit leicht schief gelegtem Kopf fragend an.

„Äh ... ja also ... ich ... ähm ... Wow!“, stammelte John.

Alina lächelte ihn an und kam auf ihn zu. Sie legte eine Hand auf seine Brust, sah im tief in die Augen und flüstere: „Du vertraust mir doch oder?“

Die Antwort bestand nur aus einem Kopfnicken, denn zu mehr war John im Augenblick nicht in der Lage. Alina ging um ihn herum, wobei sie mit der Hand über seine Brust strich. Er schluckte schwer und dann war alles dunkel.

Vorsichtig tastete er einmal etwas unsicher die Augenbinde ab, die Alina ihm schnell umgebunden hatte.

„Lass sie dort“, flüsterte sie. Sie nahm John an der Hand und dirigierte ihn vors Bett.

Oh mein Gott, dachte John. Passiert das wirklich mir? Er wusste nicht genau, was auf ihn zukommen würde, aber er wollte es herausfinden. Alina stellte sich so dicht vor John hin, dass ihre Brust leicht seine berührte und dann begann sie, langsam sein Hemd aufzuknöpfen. Gleichzeitig ließ sie ihre weichen Lippen über seinen Hals streichen .

Für John waren es die ersten zärtlichen Momente seit Jahren. Und die letzten waren nur ein Techtelmechtel mit einer Kollegin, das er am liebsten nicht gehabt hätte. Davor gab es nur noch Nicole, die ihn um den Finger gewickelt hatte. Alle in seiner Umgebung hatten den Entscheid, mit Nicole zusammenzuziehen nicht verstanden und ließen ihn das auch wissen.

Heute ließ er sich darauf ein, auch weil Alina ihn faszinierte und diese offensive Art verblüffte und überraschte ihn positiv. Er würde es in dieser Nacht genießen und hoffte, dass es sich nicht um sein Strohfeuer handelte.

Nachdem sich beide ein wenig vom ausgiebigen Liebesspiel erholt hatten, ließ sie sich auf ihn sinken.

„Das war unglaublich“, sagte John.

„Ja das war es“, antwortete Alina glücklich lächelnd.

„Ich hoffe ja, dass noch viel Male folgen“, sagte sie grinsend.

Sie lagen da, und John überlegte, ob er aufstehen sollte und nach Hause fahren sollte, doch Alina kam ihm zuvor.

„Bleib doch bis zum frühen Morgen. Wir können gemeinsam einen Kaffee trinken und dann kannst du immer noch nach Hause, um dich umzuziehen. Stimmt das für dich?“

„Und wie“, antwortete John.

„Wann musst du aufstehen?“

„So um halb sechs.“

„Gut, also in zwei Stunden. Dann nimm noch eine Kappe Schlaf, ich versuch’s auch“.

Alina stellte den Wecker, drückte John einen Kuss auf den Mund und schmiegte sich ganz nahe an ihn.

Kapitel 5: Back to work

Er hatte gar nicht geschlafen. Um halb sechs hätte Alinas Wecker geklingelt und kurz davor hatte er sich aus dem Bett geschlichen, die Weckzeit auf eine Stunde später gestellt, sich angezogen und das Haus verlassen.

Nach einem kurzen Abstecher bei sich zu Hause, kam er frisch geduscht und neu eingekleidet im Büro an, wo ihn Susanne bereits begrüßte: „Kaffee, Gipfeli?“

„Gerne, wie immer. Guten Morgen Susanne.“

Susanne Gehrig musterte ihn etwas genauer und ihr Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Was ist?“, fragte John Etter nach.

„Nichts, nichts. Alles gut.“

John Etter wusste, dass Susanne es wusste. Dieser Frau konnte er nichts verheimlichen.

„Alina Schmid oder wieder Erika Rogenmoser? Oder gar back to Nicole?“

John Etter schaute sie an, schüttelte den Kopf und sagte: „Elende Gedankenleserin. Aber Erika, nein ganz bestimmt nie nie nie nie …. Und Nicole? NEIN! Aber, wie machst du das bloß? Du musst in den Außendienst. Du wärst noch besser als ich.

„Nein, Chef. Und du weißt, dass ich das nicht will und kann.“

Und eigentlich war John Etter froh, dass dies so war, denn er hätte für den Dienst im Büro niemals einen ebenwürdigen Ersatz finden können.

Susanne stand auf und ging zur Kaffeemaschine. Drei Minuten später stellte sie ihrem Chef einen Kaffee und zwei Gipfeli auf den Tisch.

„Was steht heute an?“, fragte sie ihn.

„Für mich nur zwei Sachen. Der Whisky und die Sache mit den Vermissten. Kannst du mich gleich mit Erika Rogenmoser verbinden?“

„Ja, gerne“, antwortete Susanne und war sich jetzt sicher, dass es Alina war, die diese sonderbare Stimmung auf das Gesicht von John Etter gezaubert hatte.

Wenig später war Erika Rogenmoser am Draht.

„Hast du News?“, fragte John Etter ohne Umschweife.

„Ich weiß nicht, warum ich dir das sagen sollte?“, war die kurz angebundene Antwort.

„Weil ich ich bin und ich dir ja immer etwas zurückgegeben habe, wenn du mir geholfen hast und ich es auch in diesem Fall vorhabe.“

„Jaja, immer dasselbe mit dir, den Schmus bringen, um das Ziel zu erreichen.“

„So funktioniert unser Spiel.“

„Was hast denn du für mich?“, fragte Erika Rogenmoser nach.

„Noch nichts Konkretes, aber ich habe da einen Verdacht. Sobald sich dieser erhärtet, werde ich euch – Dich und Bruno – informieren. Versprochen.“

„Also gut, du hast mich wieder am Wickel. Hast du den Krankenwagen noch gesehen, der gestern zu den Höllgrotten unterwegs war, kurz nachdem du weggefahren bist?“

„Ja, warum?“

„Nun, die eine Hälfte des verschwundenen Paares haben wir bewusstlos, gefesselt und geknebelt etwas unterkühlt versteckt in einem Nebenteil bei der Grotte gefunden. Hier werden die Getränke vom Kiosk zwischengelagert. Dies fiel erst nach eurem Weggehen auf, als der Grottenwart die ganze Umgebung mit einigen Beamten erkundete und ihn fand. Die Türe wurde auf professionelle Art aufgebrochen. Das Schloss war aufgebohrt. Der Mann ist jedoch nicht vernehmungsfähig. Die Frau ist immer noch spurlos verschwunden. Ich werde ihn heute früh noch im Spital aufsuchen und wenn möglich vernehmen. Gleich nachdem du mich gehen lässt.“

„Dann sucht ihr also nur noch die Frau. Was wisst ihr von Ihr?“

„Halt, halt. Nicht zu viel auf einmal. Ich werde jetzt zuerst einmal ihren Partner vernehmen und mir dann überlegen, wie du mir dabei helfen kannst, diesen Fall zu lösen – falls überhaupt.“

„Ich werde, du wirst sehen. Also dann, ich melde mich später nochmals. Tschüss Erika.“

Er vernahm noch irgendetwas wie „nicht nötig“, bevor die Leitung tot war und konnte sich ein fieses Schmunzeln nicht unterdrücken.

„Susanne, kannst du etwas über das verschwundene Pärchen herausfinden? Der Mann wurde in den Höllgrotten gefunden, die Frau ist noch verschollen. Er ist zur Zeit im Kantonsspital. Machst du das?“, fragte er laut zu Susanne, die im Vorraum an ihrem Pult sass, im Wissen, dass sie alles in Bewegung setzten, würde, um in Erfahrung zu bringen, was nötig war.

„Einen Moment, Chef. Ich melde mich in Kürze wieder.“

John Etter war versucht, aufzustehen und zu lauschen, mit wem sie jetzt wieder telefonieren würde. Er beließ es aber dabei, sitzen zu bleiben und einen großen Schluck Mineralwasser aus der Flasche zu trinken. Wenn er als Polizist etwas gelernt hatte, war es, immer genügend zu trinken und immer, wenn möglich, zur Toilette zu gehen.

Zehn Minuten später stand Susanne mit einem Notizblock vor ihm. „Also, Chef. Der Mann in Spital heißt Ruedi Iten. Computerfachmann bei einer Firma in Zürich, wohnhaft in Zug. Hat seit etwas mehr als einer Woche eine neue Freundin, mit der er häufig zusammen war. Im Geschäft hatte er ein paar Tage freigenommen, um die Tage mit dieser Frau zu verbringen. Über die Frau weiß ich noch nichts, aber im Verlauf des Tages kann ich dir sicher mehr berichten.“

„Wenn ich dich nicht so genau kennen würde, wäre ich jetzt verblüfft. Aber bei dir geht es ja immer so. Meine wertvolle Büroperle. Woher hast du das jetzt schon wieder?“, fragte er nach.

„Ganz einfach. Ich kenne eine Abteilungsleiterin der Pflege im Spital und die redet gerne mit mir, wenn sie Zeit hat. Und die Zeit schien sie gerade zu haben. Ich kann dir auch noch berichten, dass sich zur Zeit deine geliebte Ex im Spital aufhält und diesen Ruedi Iten vernehmen will. Aber der Schlag auf den Kopf war wohl so heftig, dass eine Schwellung im Hirn die Ärzte dazu veranlasst hat, ihn in ein Koma zu versetzen. Den Namen hatte sie vom Ausweis in seinem Portemonnaie.“

„Wahnsinn. Du bist ein Wahnsinn und das im positivsten Sinne des Wortes. Aber sie ist nicht meine Ex, sie war nur ein einmaliger Ausrutscher. Ich verfluche den Tag, an dem ich dir das gebeichtet habe.“

„Danke Chef. Ich mache mich mal auf die Suche nach seiner Freundin. Da sollte sich heutzutage auch schnell etwas machen lassen.“ Sie ging mit keinem Wort auf seine Aussage ein.

„Machen lassen?“

„Klar, Facebook, Google plus oder was auch immer. Ich finde sicher was, dass uns weiterbringt. Gib mir eine halbe Stunde.“

John Etter schaute auf die Uhr. Gerne hätte er jetzt Gabriel Galliker einen Zwischenbericht abgegeben, doch er hatte noch nichts. Aber er war überzeugt, dass dieser Ruedi Iten den Fall ins Rollen bringen würde – oder seine Freundin. Er holte sich noch einen Kaffee und ließ Susanne ihre Arbeit tun, im Wissen, dass es sich nur um Minuten handeln konnte, bis er mehr wissen würde. Er sollte recht behalten.

Nach wenigen Minuten kam Susanne wieder in sein Büro. „Also, ich habe auf dem Facebook-Profil ein aktuelles Foto von Ruedi Iten mit einer Frau gefunden. Dann habe ich ein Portrait von der Frau rausgezaubert und in das Googlebildsuchprogramm gegeben und dieses wurde schnell fündig. Die Frau ist auf Google+ und auf einigen anderen Plattformen wie Xing und Linkedin. Sie heißt Barbara Rohner und wohnt in Zürich. Arbeitet bei einer Firma, die im gleichen Haus eingemietet ist, wie jene, in der Ruedi Iten angestellt ist. Ich nehme an, die haben sich dort kennengelernt. Gemäß Profilangaben scheint sie die Tochter eines reformierten Pfarrers in Schwamendingen zu sein. Hilft dir das weiter?“

„Und wie …“

„Hier ist die Adresse der Eltern“, ergänzte sie, während sie ihm einen Zettel aushändigte. „Ich nehme an, dass du dich jetzt nach Zürich aufmachst.“

„Danke, Susanne. Großartige Arbeit. Ich rufe zuerst mal an.“

„Die Nummer steht gleich neben der Adresse …“, fügte Susanne an.

Susanne verließ John Etters Büro und schloss die Türe hinter sich zu. Sie wusste, wenn er telefonierte, wollte er ungestört sein. Sie wusste aber auch, dass er während wichtigen Telefongesprächen immer durch das Büro tigerte. Das erhöhte seine Aufmerksamkeitsspanne und er konnte sich so mehr merken.

Zehn Minuten später kam er aus dem Büro. „Du bist die Beste. Die Familie wusste noch gar nichts über das Verschwinden ihrer Tochter. Du warst schon wieder besser als die Polizei erlaubt. Gratuliere. Ich fahre kurz zu Erika ins Krankenhaus, um ihr die Neuigkeiten beizubringen. Arme Erika, schon wieder einen Schritt zu spät.“

Mit selbstsicherem Lächeln betrat er wenig später das Kantonsspital und fragte sich zu Erika Rogenmoser durch. Vor dem Zimmer des gefundenen Mannes stand ein junger Polizist, der John Etter erst nicht eintreten lassen wollte.

Durch das laute Gerede vor der Türe wurde Erika Rogenmoser auf sie aufmerksam und kam nach draußen.

„Was willst du hier?“, fragte sie wirsch.

„Dir helfen, liebe Erika, wie immer“, lächelte er Erika schelmisch an.

„Wie denn das?“

„Nun, ich kenne den Namen der Freundin deines Opfers hier drin. Hat er ihn dir schon verraten?“

„Nein, er ist noch im Koma. Ich wollte gerade zurück ins Büro. Also, wie heißt sie?“

„Barbara Rohner. Barbara Rohner aus Zürich. Tochter eines reformierten Pfarrers aus Schwamendingen. Er ist schon informiert.“

„Wie konntest du?“, fuhr Erika John erbost an.

„Nun, ich dachte, wenn ich schon deine Arbeit mache, dann auch richtig. Und ich weiß nun, dass es für dich schon wieder kompliziert wird, weil sie außerhalb des Kantons Zug wohnhaft sind. Willst du mitkommen nach Zürich?“

„Du weißt genau, dass ich das gerne tun würde, es aber nicht kann. Aber du als privater Ermittler …. . Ich kann und will es dir nicht verbieten, muss aber die Kollegen in Zürich informieren.

„Hier, die Koordinaten der Eltern. Ich mache mich jetzt auf den Weg und bereite sie auch noch auf den Besuch deiner Kollegen vor. Ich gehe ebenfalls davon aus, dass ich den Auftrag erhalte, ihre Tochter zu finden.“

„Schon klar“, antwortete Erika knapp.

Es war wieder einmal so weit, dass sie nicht wusste, ob sie dem ehemaligen Kollegen böse oder dankbar sein sollte.

„Ich geb dir Bescheid, wenn ich mehr weiß und ich hoffe, du mir auch, wenn dein Patient aufwacht. Bis Später, ich melde mich. Versprochen.“

„Tschüss John, bis später“, verabschiedete sie sich in professionellem Ton.

Eine Dreiviertelstunde später stand John Etters Wagen vor dem Haus des Pfarrers. Er läutete und wurde kurz nach dem Drücken der Klingel eingelassen. Unterwegs hatte er sein Kommen angekündigt und Herr und Frau Rohner warteten ungeduldig auf seine Ankunft.

„Kommen Sie herein und setzen Sie sich“, wurde er begrüßt und von der Frau ins Wohnzimmer begleitet. Ihr Mann folgte ihm nervös und wollte sofort wissen, wo seine Tochter sei.

„Ich weiß es nicht, aber wir gehen davon aus, dass sie lebt. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass ihr nichts passiert ist.“

„Was heißt wir? Wie kommen Sie darauf?“

„Nun, wir heißt unsere Detektei und auch die Polizei, mit der ich gemeinsam an diesem Fall arbeite. Da das Verbrechen im Kanton Zug verübt wurde und in diesem Fall die Zürcher Kantonspolizei zuerst informiert werden muss, dauert es länger, als wenn ich es direkt in die Hand nehme. Die Kantonspolizei Zug, Frau Rogenmoser, ist jedoch darüber informiert, dass ich hier bin, um keine wertvolle Zeit zu verlieren.“

„Was wissen Sie genau?“

„Nun, der neueste Stand der Dinge scheint zu sein, dass sich ihre Tochter und ihr neuer Freund in der Gegend der Höllgrotten befunden haben. Der Freund wurde gestern noch in unterkühltem Zustand in einem Keller bei den Höllgrotten selbst gefunden. Ihre Tochter war nicht bei ihm. Zur gleichen Zeit wurde in die Höllgrotten eingebrochen und die Vermutung liegt nahe, dass Ihre Tochter und ihr Freund die Täter gestört haben. Der Freund wurde gefesselt und geknebelt und ihre Tochter vermutlich entführt. Sie hatten noch keinen Kontakt zu den mutmaßlichen Entführern?“

Frau Rohner brach in Tränen aus und verließ kurz das Wohnzimmer. Pfarrer Rohner antwortete.

„Nein, bisher haben wir nicht einmal gewusst, dass es sich auch um eine Entführung handeln könnte. Was können wir tun?“

„Im Moment nicht viel, leider. Bleiben Sie zu Hause in der Nähe des Telefons und warten Sie auf die Polizei. Die wird sie sicher in den nächsten Stunden aufsuchen. Haben sie mir noch ein paar Details über ihre Tochter. Benötigt sie zum Beispiel regelmäßig Medikamente oder hat sie irgendwelche Allergien. Alles, was sie mir sagen, kann helfen, sie so schnell wie möglich zu finden und falls Kontakt zu den Entführern entsteht, dies zu einem guten Ende zu führen.“

„Nein. Unsere Tochter ist kerngesund. Sie macht viel Sport und hat ein großes Durchhaltevermögen. Sie trainiert regelmäßig Judo und ich bin sicher, dass sie das Können und Wissen zur richtigen Zeit auch einsetzen wird. Ich hoffe nur, sie macht keinen Blödsinn und kann die Situation richtig einschätzen.“

Frau Rohner hatte sich in der Zwischenzeit etwas gefangen und war wieder dazugestoßen. Pfarrer Rohner nahm sie in den Arm und tröstete sie: „Gott wird uns schon beistehen. Du weißt, wie Barbara ist. Sie schafft alles. Immer.“

„Ich weiß, aber trotzdem habe ich Angst.“

Hier war für John Etter nichts mehr zu tun und er wollte sich verabschieden. Pfarrer Rohner bemerkte seine Unruhe und stand auf.

„Bitte suchen Sie meine Tochter. Ich will, dass Sie den Auftrag übernehmen, meine Tochter zu suchen, egal was die Polizei dazu meint.“

John Etter kramte ein Blatt aus seiner Mappe, die er immer bei sich trug, und legte es Pfarrer Rohner vor. „Dies wäre der Auftrag mit den genauen Konditionen und wenn sie den unterschreiben, nehme ich mich sofort der Suche ihrer Tochter an.“

Pfarrer Rohner überflog den Fetzen Papier und unterschrieb.

John Etter nahm das Papier an sich.

„Sie erhalten eine Bestätigung noch per Post. Aber ich hoffe, dass ich eine Spur von Ihrer Tochter schneller finde, als sie den Brief erhalten.“

Er verabschiedete sich von den beiden, nachdem er sich ein aktuelles Foto aushändigen ließ. Er hasste es, dabei zu sein, wenn Menschen Angst hatten oder trauerten.

Auf der Fahrt nach Hause rief er zuerst Erika Rogenmoser an, um sie auf den neuesten Stand zu bringen und um Sie zu bitten, dass die Kantonspolizei Zürich so schnell wie möglich ihre Arbeit bei den Rohners aufnehmen würde. Fangschaltung und so. Erika versprach, den Kollegen Dampf unter dem Hintern zu machen und auch, sie darauf vorzubereiten, dass John Etter sich auf um den Fall kümmern würde.

Dann rief er seine Perle an, um sie ebenfalls upzudaten und ihr einen schönen Abend zu wünschen.

Auf der Fahrt durchs Sihltal zurückließ er sämtliche bisher bekannten Tatsachen nochmals Revue passieren. Eigentlich hatte er noch nichts. Keine richtigen Anhaltspunkte, nur Tatsachen, die ins Nichts führten.

Der Whiskyerpresser war weg. Spurlos. Barbara Rohner war weg. Spurlos. Der Einzige, der etwas Licht ins Dunkel bringen konnte, lag noch immer im Kantonsspital Zug und war, so die Auskunft von Erika Rogenmoser, noch immer nicht vernehmungsfähig. Die Ärzte hatten festgestellt, dass er von hinten niedergeschlagen wurde und diese Verletzung ließ den Heilungsprozess länger dauern als ursprünglich gedacht. Er war vermutlich ebenfalls kein guter Zeuge. Mit diesen Gedanken fuhr er nach Hause.

Zu Hause sah er, dass eine Nachricht auf dem privaten Telefonbeantworter hinterlegt war. Und er ahnte auch, von wem. Oder er hoffte es. Den ganzen Tag war er so mit seinen zwei Fällen beschäftig, dass er kaum an sie gedacht hatte. Kaum – aber schon – immer wieder. Er lächelte, als er den Wiedergabeknopf drückte.

„Hello Lover. Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag. Ich auf alle Fälle und ich habe mich immer wieder dabei ertappt, dass ich an dich gedacht habe. Ich hoffe, du auch an mich. Ich würde mich gerne wieder mit dir treffen. So schnell wie möglich. Bitte ruf mich an.“

Das tat er sofort und er verabredete sich zu einem Revancheessen im The Blinker .

Dann ging er unter die Dusche. Er freute sich auf den Abend mit Alina. In den letzten Jahren war sein Liebesleben, abgesehen von der kurzen amourösen Stunde mit Erika Rogenmoser, eher auf der Seite unterirdisch anzusiedeln. Und die Zeit mit Erika war noch, als er bei der Polizei angestellt war. Also schon Jahre her.

Alina war anders. Anfänglich dachte John, dass es sich wohl um ein kurzes Sexfeuerchen handeln könnte, aber wenn sie so oft an ihn dachte, wie er an sie, dann könnte doch mehr daran sein.

Eine Stunde später trafen sie sich im Restaurant und genossen dieses Mal einen österreichischen Wein, den Pannobile 2012 von Gernot Heinrich. Dieser Wein wurde John anlässlich einer Weinverkostung so beschrieben: Dunkles Rubingranat mit violetten Reflexen. Ein Hauch von Weichseln und Lakritze liegt unter einer dunklen Beerenfrucht, mineralische Nuancen, elegant und ausbalanciert. Und genau so schmeckte er John, der in den letzten Jahren die Liebe zum Wein entdeckt hatte.

Dazu servierte das aufmerksame Personal beiden die Patanegra-Spare-Ribs, Hohrückendeckel mit Peperoni-Zwiebelrelish, Pommes Pont-Neuf und Chorizo-Bohnencassoulet.

Kurz bevor sie sich auf den Nachhauseweg machen wollten, gleich beim Ausgang des Restaurants, vibrierte sein Handy.

Habe eine „Lösegeldforderung“ für den Whisky erhalten. Haben Sie Zeit? Bin noch im Büro. Gabriel Galliker.

„Mist“, kommentierte er die SMS und schaute Alina in ihre tiefblauen Augen.

„Probleme?“, beantwortete sie seinen Blick.

„Ja, leider muss ich weg. Arbeit. Auch wenn es mir jetzt so schwer wie selten fällt, ich muss leider gehen. Hast du am Wochenende Zeit?“

„Ich werde sie mir nehmen. Frühstück am Samstagmorgen bei dir?“

„Mit Vergnügen. Ich freue mich auf dich. Wann kommst du?“

„So gegen neun Uhr. Gut für dich?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, streichelte sie mit der Rückseite ihrer Hand über seine Wangen und drückte ihm einen Kuss auf. Er nickte und erwiderte ihren Kuss.“

„Ich freue mich auf dich“, dann machte er sich auf den Weg zur Firma Etter.

Im Büro brannte noch Licht. Gabriel Galliker beobachtete den Parkplatz und ging, als John Etter vorfuhr, ihm entgegen und öffnete den Haupteingang.

„Guten Abend Herr Galliker. So spät noch im Büro?“

„Guten Abend Herr Etter. Ja, leider. Wir hatten einen Kundenanlass und als ich mich auf den Nachhauseweg machen wollte, sah ich das Blatt Papier auf dem Pult liegen. Auf meinem Pult. Ich habe es nicht angefasst und es liegt immer noch dort. Kommen Sie rein.“

John Etter folgte Gabriel Galliker in sein Büro. Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier. Normaler Ausdruck aus einem Drucker. Keine speziellen Auffälligkeiten.

Etter las den Text und schaute Galliker an.

„Ja, das beschriebene Prepaidhandy liegt in der obersten Schublade, inkl. Ladekabel. Ich habe es nicht angefasst. Müssen wir die Polizei informieren, auch wenn ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass ich das nicht tun soll.“

„Ich übernehme das für Sie, gleich wenn ich hier fertig bin. Wie kam der Erpresser in ihr Büro?“

„Wir hatten eine Betriebsbesichtigung für Interessenten und in dieser Zeit war niemand hier und das Büro offen. Es befinden sich ja keine Wertsachen darin und auch keine Geheimnisse, die gestohlen werden könnten. In der Zeit des Anlasses hatten alle Anwesenden die Gelegenheit, das Büro unbemerkt zu betreten. Aber auch von außen wäre es möglich gewesen, hineinzugelangen.“

„Haben sie eine Teilnehmerliste?“

„Ja, habe ich für Sie bereits ausgedruckt. Hier ist sie.“ Galliker händigte Etter zwei Seiten mit Namen und Adressen aus.

„Danke. Ich glaube, ich kann hier nichts mehr machen – außer, haben sie eine Videoüberwachung?“ Gabriel Galliker nickte. „Dann brauche ich eine Kopie der Aufnahme und die Polizei wird bestimmt auch eine brauchen.“

Er packte das Blatt Papier mit der Lösegeldforderung in ein Plastikmäppchen, das ihm Galliker übergab.

„Nehmen sie das Handy“, wies er Galliker an und notierte sich die Rufnummer des Handys, das er aus den Einstellungen lesen konnte. „Ich werde mich gleich zur Polizei begeben und versuchen, eine Ortung des Anrufers zu veranlassen. Versprechen kann ich Ihnen nichts, aber ich werden bei der Polizei den nötigen Druck machen. Gehen Sie jetzt schlafen, wenn Sie können, und lassen Sie mich wissen, wenn der Erpresser sich meldet. Die Polizei wird sich sicher auch gleich noch telefonisch bei Ihnen melden. Und bestimmt wird morgen früh ein Beamter in Zivil zu Ihnen kommen.“

„Danke, Herr Etter und auch Ihnen eine gute Nacht. Sie hören von mir.“

John Etter fuhr direkt zur Polizei. Unterwegs rief er seine ehemalige Kurzzeitflamme an, um Sie zu informieren. Sie meinte zwar, dass Sie nicht zuständig wäre und die Fälle wohl kaum etwas miteinander zu tun hätten. Aber je länger John Etter redete, um so eher glaubte sie daran, dass es auch sein könnte, dass ihre Entführungsopfer Zeugen bei der Erpressung um den Whisky waren. Sie stimmte zu, ihn gleich bei sich im Büro zu empfangen und machte sich auch auf den Weg. Unterwegs informierte sie den zuständigen leitenden Beamten, der sich um Erpressung und Diebstahl kümmerte, und überredete ihn, auch zu kommen.

John Etter war überrascht, dass er bereits erwartet wurde. Erika Rogenmoser und ihr nichtverwandter Namensvetter Karl erwarteten ihn schon. Die schienen beide auch noch nicht wirklich im Bett gewesen zu sein.

Nach dem förmlichen Begrüßungszeremoniell setzten sie sich ins Vernehmungszimmer und John Etter erzählte die ganze Geschichte. Dann überreichte er Karl Rogenmoser das sorgfältig in Folie gepackte Dokument. Die beiden versprachen John Etter, sich mit höchstem Einsatz um die Erpressung zu kümmern. John Etter fragte Erika nach, ob sie den Entführten bereits verhört hätte, was sie verneinte. Gemeinsam setzten sie sich an einen Computer und schauten sich die Besucher der Firma Etter an. Aus den Sichtwinkeln war leider nicht erkennbar, wer den Büroteil betreten hatte. Von allen, die aufgezeichnet wurden, wurde ein Foto extrahiert, welche dann mit der Besucherliste abgecheckt werden konnte. Auf den ersten Blick war nichts Verdächtiges erkennbar. Es würde, wie so häufig, ein aufwendig langweiliges Puzzle werden und John Etter war froh, dass er das Puzzle nicht auflösen musste. Dies würden seine ehemaligen Kollegen tun. Karl Rogenmoser teilte John noch mit, dass er selbst bei Gabriel Galliker gleich morgen früh in Zivil vorbeigehen würde, um das Handy genauer zu untersuchen.

Erika tat ihre nächsten Schritte ebenfalls noch kund: „Der Arzt lässt mich erst heute Morgen zu ihm. Sein Schädel hatte doch einiges abbekommen. Aber ich werde dich informieren. Versprochen“, dann verabschiedeten sie sich.

„Und ich werde mich heute mal ausführlicher um die Höllgrotten kümmern“, verabschiedete sich John Etter von den beiden.

Die Sonne erhellte schon den Freitagmorgen, als sich er auf den Weg nach Hause machte. Er schickte Alina noch eine SMS, in der er sich nochmals für den angenehmen Abend bedankte, sich für seinen schnellen Aufbruch entschuldigte und mitteilte, dass er sich auf ihren Besuch morgen Früh freue. Dann fuhr er ins Büro.

Susanne Gehrig war noch nicht im Büro. Ausnahmsweise war er der Erste, der anwesend war. Er wollte jetzt nicht schlafen, war er doch überzeugt, dass schon bald etwas in Bezug auf die Forderung geschehen würde. Erpresser wollten nur eines: Schnell ans Geld gelangen.

Als Susanne gegen sieben Uhr das Büro betrat, war sie erstaunt und konnte nicht umhin, ihren Chef hochzunehmen. „Na, hat sie dich schon so früh aus dem Bett geworfen?“

„Ich war noch gar nicht im Bett.“ Dann erzählte er Susanne von den Vorkommnissen der letzten Nacht.

Susanne Gehrig erklärte daraufhin, was sie über die beiden Entführten noch erfahren hatte. Aber mit diesen neuen Erkenntnissen kamen sie keinen Schritt weiter. Beide führten ein geregeltes Leben, waren weder wohlhabend noch in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt. Die Lösung lag bei den Höllgrotten.

Kapitel 6: Bei den Höllgrotten

John versicherte sich nochmals bei Gabriel Galliker, dass der Erpresser sich noch nicht gemeldet hatte. Karl Rogenmoser hatte Gabriel Galliker bereits besucht und das weitere Vorgehen abgemacht.

John wusste, was das hieß. Trotzdem fuhr er nochmals bei der Firma Etter vorbei. Für John war nicht nur die Falllösung wichtig, sondern auch die Art und Weise, wie er mit seinen Auftraggebern umging. Aufgrund vieler Ausnahmesituationen, die er mit Menschen in den letzten Jahren miterlebt hatte, wusste er, dass eine gewisse Aufmerksamkeit für die Opfer von Nöten war.

Kurze Zeit später saßen John Etter und Gabriel Galliker im Sitzungszimmer der Firma Etter.

John tischte ein paar Fakten auf, um die Gesamtsituation etwas zu beruhigen. Er hatte sich ein paar Kennzahlen notiert.

„Ich kann Ihnen ein paar Zahlen aus den letzten Jahren präsentieren, die Sie etwas beruhigen werden. Rund 65% aller Fälle enden innerhalb einer Woche. 20% enden innert einem und 10% innert drei Monaten. Länger dauern lediglich 5%. Endet mit der Einigung über das Lösegeld die Verhandlungsphase, beginnt die für die Täter gefährlichste Phase. Die eigentliche Übergabe des Geldes.

Sollte ein Unternehmen unüblicherweise nicht einem Einzeltäter, sondern einer ganzen Gruppe gegenüberstehen, wird es für das Unternehmen, beziehungsweise die Polizei, schwieriger. Der von seiner Persönlichkeit sowieso eher schwierige oder komplizierter Täter wird einen dementsprechend schwierigen oder komplizierten Übergabeplan aushecken, um nicht erkannt oder gefasst zu werden.

Trotz aller Forderungen und Drohungen gegen das Unternehmen, keine Polizei miteinzubeziehen, gehen die Täter in den meisten Fällen davon aus, dass dies auch wirklich befolgt wird. Die Statistik liefert zahllose Beispiele von regelrechten Schnitzeljagden während der Endphase der Erpressung. In den letzten Jahren wurde vermehrt Überweisungen auf ausländische Konten gefordert. Die meisten scheiterten jedoch, da die Konten via internationale Kontakte den Weg des Geldes bis zum Endempfänger erfolgreich überwachten. Nur selten verschwanden so die Gelder bei den Erpressern.

Gemäß Statistik wurden 99% aller Erpresser bei der Geldübergabe oder kurz danach jeweils verhaftet. Ein weiterer Blick auf die Statistik wird Sie, Herr Galliker, ebenfalls etwas beruhigen.

Mehr als die Hälfte der Erpressungsversuche werden nach der ersten Kontaktaufnahme abgebrochen. Man kann festhalten, dass, je mehr Kontakte der Täter zu Ihnen aufnimmt, desto größer ist seine Entschlossenheit, das Vorhaben durchzuführen. Darum ist es wichtig, alle Möglichkeiten der Verzögerung auszunutzen.“

„Das beruhigt mich wirklich ein wenig, aber eben, nur ein wenig“, fügte Galliker bei. „Immerhin ist die Chance da, dass nichts mehr geschieht.“

„Wollen wir es hoffen und trotzdem alles dafür tun, gewappnet zu sein.“

„Das sind wir, soweit ich es beurteilen kann. Karl Rogenmoser und ich haben einen Krisenstab mit einigen wenigen Involvierten zusammengezogen und wir werden uns heute Mittag treffen.“

„Sehr gut. Er macht seinen Job. Wichtig scheint mir im Moment noch zu sein, dass nicht zu viele Menschen involviert sind. Auch Ihre Mitarbeiter sollten sowenig wie möglich involviert werden und auf alle Fälle darf nichts nach außen dringen.“

„Warum?“, fragte Galliker nach.

„Medien können den Vorfall zu einer Krise wachsen lassen. Solange der Täter die Presse draußen lässt, muss sie auf alle Fälle draußen gehalten werden.“

„Ja, jetzt, wo Sie es so sagen, ganz klar. Danke für die Ausführungen. Sind sie heute Nachmittag mit dabei?“

„Nur wenn sich der Täter bereits gemeldet hat. Ich kann im Krisenstab nichts zusätzlich einbringen, außer, der Täter hat sich gemeldet. Ich höre auf alle Fälle von Ihnen, wenn er sich meldet?“

„Auf alle Fälle! Danke.“

John verabschiedete sich von Gabriel Galliker und fuhr in Richtung Höllgrotten.

Erst jetzt fiel es ihm auf, wie idyllisch die Landschaft hier war. Er erinnerte sich an seine Jugendzeit, als er mit seinen Eltern der Lorze entlang zu den Höllgrotten wanderte. Unterwegs wurde an einer Feuerstelle eine Wurst gebraten und später liefen sie gemeinsam durch die Höllgrotten.

Er fuhr bis ganz nach hinten an den Kiosk. Ein ganzes Rudel Kinder scharte sich um ein paar wenige Erwachsene und John entschloss sich, zuerst ein Gespräch mit der Wirtin des Gasthauses zu führen. Er wendete den Wagen und fuhr etwas zurück zum Gasthaus.

Auch dieses Gebäude kannte er aus Jugendtagen. Es schien sich fast nicht verändert zu haben. Er trat hinein und war sich gleich nicht mehr ganz sicher, ob die Frau, die neben der Kasse stand, nicht schon vor Jahren hier war. Es schien die rothaarige Wirtin zu sein, die sich mit einer blond gelockten Servierkraft unterhielt und John als Gast herzlich begrüßte.

Die blonde Frau kam, als John sich gesetzt hatte, zu ihm an den Tisch.

„Einen Espresso bitte und gleich noch eine Frage. Ist die Dame, die sich in die Küche zurückgezogen hat, die Wirtin?“

„Ja, das ist sie, möchten Sie mit ihr sprechen?“, fragte die aufgestellte Frau.

„Gerne, ich habe da ein paar Fragen.“

Wenige Minuten später setzte sich die Wirtin, die sich mit Julia vorstellte, neben John. „Freut mich, ich bin John und habe ein paar Fragen?“

„Ich habe jetzt noch etwas Zeit, bevor der Mittagsservice losgeht. Um was geht es?“

Ich bin privater Ermittler und ermittle gleich in zwei Fällen, die mit dieser Umgebung zu tun haben. Haben sie vor zwei Tagen etwas Auffälliges gesehen?

„Nein, leider nicht. Das habe ich der Polizei bereits gesagt.“

„Dann war Erika Rogenmoser bereits da?“, meinte John aufs Geratewohl.

„Ja genau, so hieß sie. Aber ich kann mich wirklich nicht an etwas Spezielles erinnern. Tut mir leid.“

„Schon gut. Hätte ja sein können.“

Im Verlauf des weiteren Gesprächs zwischen John und Julia erzählte sie auf Nachfragen von John von ihrer dreißigjährigen Karriere als Wirtin hier hinten in der Höll, wie dieser Ort von einigen auch genannt wurde.

John erfuhr viele Details über die Geschichte der Höllgrotten und über das Restaurant.

Im Jahr 2005 wurde das Haus für die rücksichtsvolle Pflege der historischen Bausubstanz eines schlichten Landgasthofes in ländlicher Waldidylle von der ICOMOS ausgezeichnet. Die ICOMOS ist eine Organisation der Unesco. Dann stieg sie in die Erzählung über die Geschichte der Umgebung ein.

Beim Tuffstein-Abbau im Lorzetobel stießen die Arbeiter zwischen 1863 und 1902 auf mehrere Tropfsteingrotten, die seit 1888 öffentlich zugänglich gemacht wurden. Anstelle der Arbeiterkantine wurde 1909 das Restaurant Höllgrotten gebaut. Es besteht aus einem Blendfachwerkbau unter Sturzwalmdach mit Quergiebeln und einem flach gedeckten, der Südfront vorgelagerten Restaurantpavillon. 1990 wurde das Äußere fachgerecht restauriert. Das Innere zeigt noch die originalen Täfer und Decken aus Fichtenholz, aber auch Türen, Fenster und die Möbel im Säli stammen aus der Bauzeit; sogar das Gartenmobiliar aus Eisen und Holz ist mehrheitlich original. Die einmalige Baugruppe aus Gastwirtschaft, romantischem Waschhaus, Scheune von 1868 und einem 1897 im Schweizer Holzstil erbauten Bienenhaus ist eine liebevoll gepflegte Gesamtanlage in einsamer Waldlichtung.

John war immer sehr empfänglich für solche Exkurse in die Geschichte von besonderen Örtlichkeiten.

„Komm mit, ins Säli, ich zeige dir noch etwas“, meinte Julia zum Schluss ihrer Ausführungen.“

John stand auf und folgte ihr in einen kleineren Raum gegenüber der Küche.

„Sieh dir mal die Stühle an. Die sind älter als wir zwei und auch diese speziellen Tische, die sich zusammenklappen lassen, haben schon viel erlebt. Ich hoffe, ich habe dich nicht gelangweilt“.

„Nein, auf keinen Fall. Ich bin ein neugieriger Mensch und mich interessieren die Menschen und die Geschichten, die sie erzählen können“, gab John ungelogen zurück.

Er bedankte sich für das Gespräch, bezahlte und fuhr zurück zum Kiosk bei den Höllgrotten. Die Schüler waren verschwunden und der Grottenwart hatte etwas Zeit für John.

„Hallo, ich bin der Robby“, wurde John begrüßt, als er sich dem Grottenwart vorstellte. Scheinbar hatte Erika sein Kommen bereits angekündigt.

John setzte sich auf einen Stuhl im Kiosk hin und Robby bot ihm einen Kaffee an.

„Danke nein, hatte gerade einen vorne bei der Julia.“

„Gut, na dann, was willste wissen?“, fragte Robby in einem süddeutschen Akzent mit schweizerdeutschen Einschlüssen.

„Nun, am besten erzählst du mir, was alles vorgefallen ist und ich frage Zusätzliches, wenn noch Fragen offen sind.“

Und Robby begann mit der Geschichte, angefangen am Abend vor der Entdeckung. Unterbrochen wurden sie ab und zu von Höllgrottenbesuchern, die ein Ticket wünschten.

John hatte Zeit, den Kiosk zu begutachten. Bereits als er den Raum betreten hatte, fiel ihm das Überwachungsequipment auf, welches auf einem Bildschirm einige Ansichten von Livekameras in und um die Grotte herum zeigten.

Robby erklärte John den Ablauf, wenn er abends die Grotte verschloss. Er machte einen Kontrolldurchgang durch den gesamten Besucherbereich und hatte am fraglichen Abend nichts entdecken können. Ein Brief an der Stelle, wo er anderentags gefunden wurde, wäre ihm sofort aufgefallen. Auf die Zwischenfrage Johns, ob sich ein Besucher in den Grotten verstecken könnte, antwortete er mit: „Möglich, aber fast nicht möglich, ohne nasse Füße zu bekommen.“

Er fuhr fort mit seiner Schilderung. „Am Morgen habe ich als Erstes den oberen Eingang geöffnet. Da waren keine Spuren vorhanden. Dann bin ich durch das Labyrinth in die untere Höhle gelaufen. Auch auf dem Weg dahin ist mir nichts aufgefallen. Erst beim Hinweisschild beim See, in dem im hinteren Teil einige Whiskyfässer gelagert sind, fiel mir der Brief auf, der mit einem Klebestreifen befestigt war. Ich habe den Brief mit der Aufschrift „An die Firma Etter“, an mich genommen und bin zum Ausgang weitergegangen. Auch wenn ich mir sicher war, dass dieser Brief am Abend zuvor nicht da war, habe ich mir noch keine großen Gedanken gemacht. Als ich zum Ausgang kam, fiel mir dann die nur angelehnte Türe auf. Das Schloss war von innen aufgebohrt worden. Sonst ist mir nichts aufgefallen. Es lag nichts herum. Ich bin dann zurück in den Kiosk und habe sowohl Herrn Galliker, den Geschäftsführer von Etter angerufen und danach die Polizei. Herr Galliker war eine halbe Stunde später da und hat den Brief geöffnet und ab da kennst du, glaube ich die Geschichte. Später kam die Polizei, sperrte die Grotte, die erst im Verlauf des folgenden Tages wieder geöffnet wurde. Kannst dir ja vorstellen, wie die Besucher gewettert haben.“

„Ja, das glaube ich“, unterbrach ihn John. „Hast du die Videos noch angeschaut, bevor die Polizei die Daten mitnahm?“

„Nein, dazu war leider keine Zeit. Die sind auch jetzt noch bei der Polizei“, antwortete Robby mit einem Schulterheben. „Aber ich habe die Daten ja auch noch hier und die habe ich danach schon durchgeschaut, auch die vom Vortag. Aber leider ist mir niemand besonders aufgefallen. Weißt du, wir haben in der Saison rund sechzigtausend Besucher und die sind meist auf die schönen Tage verteilt. Da kannst du dir vorstellen, was hier so abgeht.“

„Und was ist danach geschehen?“

„Als die Polizei hier war und die Umgebung ebenfalls absuchte, bin ich intuitiv zu meinem Lager gegangen. Das ist ein separater Raum, in dem ich zum Beispiel die Getränkevorräte aufbewahre. Auch dieser Raum ist durch eine massive Stahltüre gesichert. Schon von Weitem konnte ich sehen, dass auch hier das Schloss aufgebohrt war. Ich habe dann die Polizei informiert und die haben dann den bewusstlosen, gefesselten Mann gefunden. Der muss ziemlich gefroren haben, ist so eine Art Kühlkeller für mich.“

„Hast du diesen Mann am Vortag gesehen?“, fragte John nach.

„Nein. Aber ich konnte ihn auch nicht gut erkennen. Er wurde von Sanitätern auf eine Bahre gelegt und dann sofort in einem Krankenwagen ins Spital verbracht. Es ist mir nichts Außergewöhnliches an ihm aufgefallen.“

„Waren sonst noch Besucher anwesend?“

„Nein, die Polizei ließ niemanden nach hinten zum Kiosk. Alle wurden schon beim vorderen Parkplatz aufgefordert umzukehren. Später wurde die ganze Straße der Lorze entlang gesperrt. Das heißt, schon im Ort vorne konnte niemand mehr hier durchfahren.“

„Ist dir der orange Wagen auf dem größeren Parkplatz aufgefallen, als du am Vorabend nach Hause gingst?“

„Nein, da stehen immer Wagen auch nach Dienstschluss herum. Viele kommen hierher, um zu wandern, zu joggen oder was auch immer.“ Robby hob vielsagend die Augenbrauen.

„Gut, dann danke ich dir vorläufig mal für deine Zeit und die Ausführungen und lasse dich jetzt deine Arbeit machen.“ John wollte ihm keine Zeit mehr stehlen, denn immer mehr Besucher verlangten ein Ticket und alle paar Minuten läutete das Telefon und Schulklassen meldeten sich an. Einige wünschten eine Führung und John überlegte sich, auch in naher Zukunft einmal eine mit Alina mitzumachen. Falls sie überhaupt Interesse für solche Sachen hatte. Das würde er bald wissen.

Auf dem Weg der Lorze entlang rief er, sobald er wieder Handyempfang hatte, Bruno an, um herauszufinden, ob sich im Fall der verschwundenen Frau etwas getan hatte.

„Leider noch nicht“, war die enttäuschende Antwort seines Freundes.

„Aber lass uns doch am Wochenende mal was zusammen unternehmen. Wir können gemütlich etwas essen. Nina würde sich sicher freuen, dich auch wieder einmal zu sehen und Mark natürlich auch.“

Es stimmte. In letzter Zeit hatte er seinen Freund, dessen Frau und sein Patenkind etwas vernachlässigt. Aber für den Samstag musste er bereits einen Korb verteilen, denn er wusste nicht, was ihn mit Alina am Wochenende erwarten würde.

„Gerne, aber dieses Wochenende geht es mir leider nicht. Vielleicht am Nächsten? Passt es euch dann?“

„Arbeit? Oder hast du etwas im Busch?“, fragte Bruno mit einer gewissen Betonung auf den letzten Teil im Satz.

„Mal abwarten. Kann sein. Oder auch nicht“, ließ John seinen Freund im Ungewissen.

„Na dann warte ich mal ab und erwarte in einer Woche einen vollständigen Bericht“, scherzte Bruno und verabschiedete sich.

John Etter meldete sich noch kurz bei der besorgten Familie, die inzwischen von der Zürcher Polizei begleitet wurde. Dort hatte sich jedoch auch noch nichts geändert und man wartete sehnsüchtig auf einen Anruf von Barbara oder einem eventuellen Entführer.

John machte sich Sorgen, doch im Moment waren ihm die Hände gebunden. Es gab keinerlei Hinweise, denen man hätte nachgehen können. Vielleicht würde die Videoauswertung etwas ergeben. Die von den Höllgrotten oder dann die von der Distillerie Etter.

Bevor er sich in das wohlverdiente Wochenende zurückzog, meldete er sich noch bei seiner Perle im Büro ab. Susanne war überrascht, dass er sich abmeldete, war sie es sich nicht gewohnt, dass ihr Chef sich überhaupt einen Tag für sich nahm. Aber er wäre wie immer sowieso auf Abruf bereit. Wie immer. Und bevor er sich verabschiedete, wurde er von Susanne auf den neuesten Stand gebracht. In seinen beiden Fällen hatte sich nichts getan und bei seinen freien Mitarbeitern lief es wie immer. Gut.

„Na dann wünsche ich dir ein süßes Weekend“, neckte sie John zum Abschied und machte sich auch davon ins wohlverdiente Wochenende.

Kapitel 7: Wochenende

John hatte Kaffee aufgebrüht und Brötchen vom Bäcker um die Ecke besorgt. Er mochte Alina. Sie war erfrischend ehrlich und sagte für gewöhnlich genau das, was sie dachte. Dazu sah sie gut aus. Sehr gut, um genau zu sein. Und sie überraschte ihn in ihrer Direktheit.

Es war kurz nach zehn Uhr. Die Türglocke, durchdringend und anhaltend lange, riss John aus seinen Überlegungen zu seinen Fällen. Er öffnet und stand einer völlig durchnässten Alina gegenüber. Erst jetzt bemerkte er, dass sich ein Gewitter über der Stadt auslud. Sie hatte triefend nasse Haare und sah schrecklich aus. Sie hatte sich offensichtlich mit nicht wasserfestem Schminkzeug bemalt.

„Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?", fragte John und schaute sie verwundert an.

Gereizt antwortete Alina: „Willst du mich nicht reinlassen?"

„Entschuldige, komm rein. Was ist denn passiert?"

Alina schaute ihn an und erwiderte: "Das war teilweise meine eigene Schuld. Ich bin mit dem Bus gekommen, weil ich dachte, wir verbringen den Tag gemeinsam und dann können wir gegen Abend zu mir fahren. War wohl eine blöde Idee. Bin an der Ecke ausgestiegen, 10 Meter gelaufen und dann ausgerutscht. Natürlich bin ich mit dem Hintern genau in einer Pfütze gelandet. Kaum wieder auf den Beinen, fuhr der Bus an mir vorbei durch eine riesige Pfütze und spritzte mich von oben bis unten nass."

John schaute sie besorgt an: „Hast du dich verletzt? Geht es dir gut?"

„Ist schon OK. Ich werde wohl einen blauen Flecken am Hintern haben", antwortet Alina und begann zu lachen.

John war erleichtert und ebenfalls lachend fragte er sie: „Soll ich mal nachschauen?"

Alina schaute ihn an, lachte lauthals los und entgegnet prustend: „Das würde dir so passen. Kannst du mich nach Hause fahren?"

Energisch widersprach John: "Hör mal, du spinnst wohl, du kannst doch nicht pitschnass durch die Gegend laufen. Geh ins Bad. Dort drinnen hängt ein sauberer Morgenmantel. Du kannst duschen, während ich deine Jeans in den Trockner gebe. Ich lege dir einen Haartrockner hier hin. Und natürlich bringe ich dich dann heim - dann - also vermutlich erst am Abend."

Er schob lächelnd die überraschte Alina in Richtung Bad und öffnete ihr die Tür.

„Wirf mir deine nassen Sachen einfach hierher. Ich mache dir erst mal einen heißen Tee."

Alina wollte erst widersprechen, überlegte es sich dann doch. Schließlich war es nicht gerade angenehm, mit nassen Klamotten herumzulaufen. Drei Minuten später hörte John, wie das Wasser der Dusche aufgedreht wurde und die Tür sich nochmals öffnete.

„Es ist nur die Jeans, die nass ist. Oben herum hat mich meine Jacke geschützt."

Sie warf die Jeans vor die Türe und ergänzte: "Es reicht, wenn du die Jeans in den Trockner wirfst. Du musst sie nicht waschen. Das kann ich zu Hause dann selbst tun."

Sie schloss die Tür. John schnappte sich die Jeans und warf sie in den Trockner. Dann brühte er einen Tee für Alina auf und das heiße Getränk stand dampfend auf dem großen Küchentisch, als Alina nun geduscht und in seinen Morgenmantel gehüllt vor ihm stand.

Er schaut sie an. Unter dem Morgenmantel schauten ihre langen, wohlgeformte Beine hervor, ihre Figur ließ sich nur erahnen. Sie setzen sich und Alina trank ihren Tee, während sich John einen Kaffee in seine Tasse goss. Schweigend verbrachten sie die nächsten Minuten, jeder mit seiner dampfenden Tasse beschäftigt. Plötzlich und unvermittelt fing Alina an, schallend zu lachen.

John schaut sie verwundert an. Ihr ganzer Körper schüttelt sich unter ihrem Lachen und sie prustet los: „Mein Gott, stell dir das bildlich vor. Ich liege mit dem Hintern in der Pfütze, die Beine weit nach oben gestreckt. Ein gefallenes Mädchen.“

John fing nun ebenfalls zu lachen an. Sie tranken ihre Tassen leer und beschlossen, das Beste aus der Sache zu machen und den Tag zu genießen. Schließlich dauerte es noch etwas, bis ihre Jeans trocken waren. Er räumte die leeren Tassen zur Seite. Alina stand mit dem Rücken zum Tisch und schaute John zu, wie er das Geschirr in die Spülmaschine stellte. Dann stand er direkt vor ihr. Die Luft knisterte vor Erotik. John war etwas verwirrt und sich absolut nicht sicher, ob das, was er tun wollte, richtig war. Trotzdem tat er es.

Er umgriff Alinas Hüften und hobt sie mit dem Hintern auf den Küchentisch. Sie reagierte überhaupt nicht. John zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zwischen Alinas Beine, die rechts und links von ihm vom Tisch baumelten. Der Morgenmantel öffnete sich leicht und John sah, wie Alina durchatmete. Sie machte keine Anstalten, den Mantel zu schließen und sie wehrte sich auch nicht, als John ihren Oberkörper sanft nach hinten drückte.

Er griff sich ein Stuhlkissen und legt es unter Alinas Kopf. Der Morgenmantel klaffte weiter auf und rutschte dann seitlich vom Körper der begehrenswerten Frau, die nun fast nackt vor John auf dem Tisch lag.

An diesem Morgen revanchierte er sich für die erste Nacht, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie liebten sich, wie er schon lange nicht mehr geliebt wurde und geliebt hatte.

In einer Pause von ihrem gemeinsamen Liebesspiel meinte Alina: "Ich will nicht nur mit dir schlafen, sondern auch sonst so richtig nahe sein. Hörst du? Mehr als nur das da….“

John schaute sie lange an und fragt schließlich, was ihn schon lange beschäftigt: "Du willst das wirklich?“

Den Rest des Tages verbrachten sie im Bett und liebten sich zärtlich in nur allen vorstellbaren Positionen. Sie nahmen sich sehr viel Zeit und verwöhnten sich gegenseitig. Irgendwann lagen sie ausgepumpt nebeneinander auf dem Bett und John küsste ihren Hintern. Er fing an zu kichern und schließlich lacht er lauthals.

Auf Alinas fragenden Blick antwortete John lachend: "Du hast da tatsächlich einen blauen Fleck auf deinem Hintern."

Alina stimmt in sein Lachen ein und grinste. "Ja, und du wolltest ihn sehen."

Kapitel 8: Gefangen

Dunkelheit. Das war alles, was sie im Moment umgab. Vorsichtig streckte sie die Hand aus. Nichts. Nichts außer Schwärze. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war.

Sie schätzte einen Tag, doch hier, wo sie war, hatte sie kein Zeitgefühl. Heftige Kopfschmerzen hinderten sie daran, aufzustehen. Sie hörte in die Dunkelheit. Irgendwann schlief sie wieder ein.

Sie öffnete ihre Augen. Grelles Licht hatte sie wieder geweckt. Sie richtete sich auf und sah sich wie die letzten Tage immer wieder in ihrem Verlies um. Es war schlicht. Ein Tisch, ein Stuhl, ein billiges Klappbett. Ein Elektroofen. Steinerner Boden und Betonwände.

Ihr Kopf dröhnte ein wenig, und als sie sich mit einer Hand an den Kopf fasste, spürte sie das getrocknete Blut an ihrer Stirn. Langsam kamen ihr die letzten Bilder wieder in den Sinn, bevor ein Mann zuerst ihren Freund von hinten attackierte und dann mit demselben Gegenstand auf sie eingeprügelt hatte. Es waren nur wenige Sekunden, an die sie sich erinnern konnte. Sie waren gemeinsam vor den Höllgrotten, als plötzlich eine Gestalt sich aus der Dunkelheit löste und auf ihren neuen Freund Ruedi von hinten einschlug. Ruedi hatte keine Chance, und ehe sie etwas unternehmen konnte, traf sie ebenfalls ein Schlag am Kopf. Sie hatte keine Chance den Angreifer zu erkennen. Es war zu dunkel und es ging zu schnell.

„Scheiße!“

Sie war gefangen in einem Keller. Keine Fenster, nur eine Tür. In einigen Taschen gab es Esswaren. Dazu noch zwanzig große Flaschen mit Mineralwasser. Daneben stand noch ein Eimer mit Deckel. Dieser wahr wohl als Toilettenersatz gedacht.

„Riesenscheiße! Hallo, ist da wer?“, schrie sie und hörte in die Dunkelheit. "Hallo, was soll das? Was wollen Sie von mir?“

Nichts.

Sie stand auf. Barbara sah sich nochmals im Verlies um. Ein Elektroofen war eingeschalten und das angebrachte Verlängerungskabel führte unter der Tür durch einen kleinen Spalt. Sie legte sich an der Tür auf den Boden und versuchte durch den schmalen Spalt zu erkennen, wie es außerhalb aussah. Sie konnte jedoch nichts erkennen. Von innen hatte sie keine Chance, die Tür zu öffnen. Sie musste irgendwie von außen zu verschließen sein. Ein kleiner Metallhebel war an der schweren Holztür angebracht worden, um die Türe aufzuziehen, doch sie war von außen fest verriegelt. So wie die Türe aussah, war sie nicht von Anfang an da, sondern wurde später eingebaut.

Sie stand wieder auf und drehte sich um. Ein altes Holzregal, auf dem früher wohl Äpfel oder Kartoffeln gelagert waren, stand in einer Ecke. Sonst war da nichts.

Barbara drehte sich wieder zur Türe um und schlug mit beiden zur Faust geballten Hände an die Tür.

Dann lauschte sie und alles, was sie spürte, war ihre Angst.

Sie nahm sich eine Einkaufstasche und setzte sich wieder auf das Klappbett. Früchte, Brot, Zwieback und vieles mehr. Der Entführer schien damit zu rechnen, dass sie einige Tage hier verbringen müsse. Ziemlich hilflos holte sie eine Banane aus der Tasche und verpflegte sich danach noch mit Brot und einigen getrockneten Aprikosen.

Dann stand sie auf und suchte nach einem Ausweg aus dem Verlies. Doch sie konnte keinen Fluchtweg finden. Sie musste warten, bis der Entführer die Tür von außen öffnete. Der Boden war aus schweren Steinplatten, wie bei ihrer Großmutter und die Tür schien für die Ewigkeit gebaut.

Sie griff in ihre Taschen in der Hoffnung, das Handy zu finden. Doch auch dieses hatte er ihr abgenommen. Sie hätte wohl auch keinen Empfang gehabt, hier in diesem Verlies. Aber sie hätte gewusst, wie lange sie schon hier gefangen war.

Barbara hatte keine Ahnung, welcher Tag heute war und welche Uhrzeit. Sie legte sich wieder hin und zog sich die Decke über. Sie musste geduldig sein. Geduldiger als sie es dachte. Dann ging das Licht wieder aus und sie war sich sicher, dass niemand draußen war. Das Licht wurde scheinbar von einer Zeitschaltuhr ein und ausgeschaltet.

Gefühlt war sie bereits drei Tage in Gefangenschaft und noch nie hatte sie etwas von draußen vernommen. So viel Zeit hatte sie noch nie in ihrem Leben alleine verbracht. Die Tagträume und Ängste ließen sie fast verzweifeln. Doch sie hoffte immer, dass irgendwann jemand diese Türe öffnen würde.

Und jetzt war da dieses Geräusch. Es kam zweifellos von außerhalb der Türe. Im Raum war es noch dunkel.

Nun war sie überzeugt, dass jemand vor der Türe stand. Unter dem Spalt an der Tür, wo auch das Elektrokabel für den Ofen nach außen führte, sah sie Licht.

„Reden Sie mit mir! Jetzt! Hallo!“

„Hallo. Ich muss mal!“ Sie hoffte auf eine Reaktion.

Das Licht im Verlies ging an.

„Warte“, war das erste Wort, das sie vernahm. Dann entfernte sich jemand von der Tür. Das Licht brannte weiter. Barbara stand auf und ging auf die Tür zu. Sie hörte Schritte eine Treppe hinauf und wieder hinunter gehen. Instinktiv entfernte sie sich von der Tür.

Die Schritte näherten sich ihrem Verlies wieder und blieben kurz davor stehen.

„Ich habe nicht vor, dir etwas anzutun. Ich wurde drei Tage lang aufgehalten. Das war nicht geplant. Ab jetzt läuft alles nach Plan. Aber du musst meinen Anweisungen genau folgen! Verstehst du mich?“

„Ja, ich verstehe“, antwortete Barbara mit gespielt kräftiger Stimme. Sie wollte ihre Angst nicht zeigen. Sie schätzte den Mann vor der Tür aufgrund der Stimme recht jung ein. Mitte zwanzig, höchstens dreißig Jahre alt.

„Gut, dann geh in die Ecke zum Regal und dreh dich gegen die Wand. Ich stelle dir wieder etwas zu Essen und zu Trinken hinein und einen leeren Kübel für die Notdurft. Den anderen nehme ich mit. Stell ihn vor die Türe. Jetzt. Verstanden?“

„Ja, ich habe verstanden.“

Barbara stellte den Kübel neben die Tür und ging zurück zum Regal.

„Und dreh dich ja nicht um!“

Der Mann vor der Tür wartete etwas und dann hörte Barbara, wie ein Schlüssel in ein Schloss gesteckt wurde. Es musste sich wohl um ein Vorhängeschloss handeln. Anders konnte sie sich das Geräusch nicht erklären. Dann wurde etwas an der Tür zurückgezogen und langsam wurde die Türe nach innen aufgeschoben. Die Türe schien doppelt verriegelt.

„Dreh dich ja nicht um!“, wiederholte er in scharfem Ton.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, antwortete Barbara und schaute geradeaus an die Wand. Sie hörte, wie einige Sachen auf den Boden gestellt wurden. Sie vermutete weitere Einkaufstüten und Wasser. Dann holte der Mann nochmals etwas von draußen rein und stellte es ebenfalls auf den Boden. Dem Ton nach, den der Gegenstand beim Abstellen von sich gab, musste es sich um einen Metallkessel handeln. Wohl ihre neue Toilette, dachte sich Barbara. Dann wurde die Türe wieder zugezogen und wieder verriegelt.

„Was hast du mit meinem Freund gemacht? Wo ist er?“, schrie sie nun gegen die Tür gerichtet.

„Alles in Ordnung, ihm geht es gut. Du bist nur hier, weil es sein kann, dass du mich erkannt hast. Keine Angst, in ein paar Tagen bist du wieder frei.“

„Aber ich habe dich nicht gesehen, es war zu dunkel und es ging zu schnell“, gab Barbara zurück. Doch der Mann hatte sich bereits wieder entfernt. Sie hörte noch, wie eine weitere Tür in der Ferne verschlossen wurde.

Neben der Tür stand ein neues Sechserpack mit Mineralwasser und eine große Einkaufstasche, die bis oben voll mit Esswaren gepackt war. Daneben den Eimer, den sie sofort brauchen würde. Ihr war schlecht. Sie hatte sie immer ausgemalt, was sie tun würde, wenn ihr Entführer die Türe öffnen würde. In ihren Gedanken hatte sie ihn überwältigt und wäre davongelaufen. Doch sie hatte keine Chance.

„Mist – Riesenmist.“

Nachdem sie sich erleichtert hatte und genügend Wasser zu sich genommen hatte, legte sie sich wieder auf das Klappbett. Sie versuchte, noch irgendwelche Töne zu hören, doch es war absolut ruhig im Raum. Sie schaute die nackte Deckenlampe an und irgendwann schlief sie wieder ein.

Kapitel 9: Sonntag

Am Sonntagabend fuhren Alina und John zu ihr nach Hause. Vorher hatten sie im Höllgrottenrestaurant ein ausgiebiges Mahl zu sich genommen. John bestellte eine sogenannte Süffelrösti, nachdem er sich von der blonden Caroline, die in Zukunft das Restaurant von Julia übernehmen würde, den Namen erklären ließ.

Früher bekamen die Jugendlichen, bevor sie in die Disco gingen, ein richtig nahrhaftes Nachtessen und der Name hatte sich daraus ergeben. Eine Rösti mit Speck und Käse. Alina bestellte sich eine Forelle und dazu genossen sie einen Avvoltore aus der Toskana von 2011. Einen Cuvée, wie John sie liebte. Cabernet Sauvignon, Sangiovese und Syrah-Trauben aus der Maremma-Region.

Jetzt war John Etter dran, aus seinem Leben zu erzählen. Alina ließ dieses Mal nicht locker. John Etter faszinierte sie, wie kaum je ein Mann vor ihm. Sie wollte alles wissen über ihn.

Und John tat ihr den Gefallen gerne, hatte er schon Jahre niemanden mehr, dem er so viel bedeutete und die ihn so interessierte. Geben und nehmen. Jetzt würde er geben.

Er erzählte über seine Kindheit, die er in den ersten Jahren in den Vereinigten Staaten erlebte. Dann über die Jugendjahre in der Schweiz. Nach dem Militärdienst, den er in der Schweiz absolvierte, ließ er sich zum Polizisten ausbilden. Dank seiner Dynamik, Auffassungsgabe und seinem ausgeprägten Querdenkvermögen wurde schon bald die Karriere bei der Kriminalpolizei eröffnet.

Alina fragte immer wieder interessiert nach. Sie hatte in seinem Haus ein Foto gesehen, wo John vor dem FBI-Hauptquartier abgebildet war. „Was hast du beim FBI gemacht?“, fragte sie ihn, ohne zu wissen, dass er dort auch einige Weiterbildungen hatte.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er interessiert nach.

„Nun, ich habe ein Foto bei dir gesehen, das dich vor dem FBI-Gebäude zeigt. Nur ein Besuch oder Arbeit?“

„Arbeit“, antwortete John überrascht über die Kombinationsgabe von Alina.

„Erzähl. Ich will alles wissen über dich. Alles!“

„Nun, zu einer Zusatzausbildung beim FBI kam ich, weil ich mich immer schon für die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet der Forensik und Profiling interessierte. Und die Polizei hier gab mir die Gelegenheit. Ich durfte zuerst eine Ausbildungssequenz im Hauptquartier des FBI in Washington DC durchlaufen. Da wurde auch meine Integrität ausgewertet. Danach konnte ich einen Teil der obligatorischen Grundausbildung für FBI-Agenten durchlaufen.

Das FBI unterhält zur Ausbildung seiner Mitarbeiter auch eine eigene Schule. Die FBI-Academy befindet sich auf dem Grundstück einer Basis des United States Marine Corps in Quantico, Virginia. Die ganzen 16 Wochen seiner Ausbildung verbringt der angehende Agent dabei auf der Akademie. Für mich als Ausländer gab es ein Spezialprogramm. Wir waren eine Klasse von fünfzehn Ausländern, die es schafften, in diesen Genuss zu kommen.“

John sah Alina in ihre tiefblauen Augen. Willst du noch etwas mehr Wein? Diese Flasche ist schon leer.“

Sie nickte ihm zu. „Ja, ich will, dass wir noch ganz lange hier sitzen und du mir über das FBI erzählst. Ich finde das spannend.“

John bestellte noch eine zweite Flasche Wein und fuhr fort.

„Gut ein Drittel der üblichen Ausbildung besteht aus dem Studium von Gebieten wie Recht, Ethik und nationale Sicherheit. Da waren wir natürlich ausgeschlossen. Am Anfang stand für alle jedoch ein ausführlicher Fitnesstest, der aus Situps, Liegestützen, Klimmzügen und einem Ausdauerlauf bestand. Wer dabei nicht ein vorgegebenes Maß erreichen konnte, wurde schon hier ausgemustert. Eine überraschend hohe Anzahl von Bewerbern blieb dabei jedes Mal unter dem geforderten Minimum. Allerdings bedeutete dies nicht zwangsläufig das Ende einer Karriere, die noch gar nicht begonnen hatte. Die Ausgemusterten bekamen einige Monate Zeit, sich zu Hause in Form zu bringen, und konnten den Fitnesstest danach erneut absolvieren.

Für alle, die weitermachten, begann nun die eigentliche Ausbildung. Diese bestand zu einem Großteil auch aus Schusswaffentraining. Die Auszubildenden verbrachten insgesamt 112 Stunden auf dem Schießstand. Dabei lernten sie den Umgang mit einer automatischen Handfeuerwaffe aber auch einer Schrotflinte und einem Maschinengewehr. Bei den Schießübungen wurde von den Bewerbern eine Trefferquote von 80 Prozent erwartet, ansonsten galt diese Disziplin als nicht bestanden. Wer in mehreren Bereichen nicht bestand, wurde aufgefordert, die Klasse zu verlassen, um dann die Ausbildung von vorne zu beginnen, was bei den Ausbildern als "Recycling" bezeichnet wurde.

Damit die Ausbildung aber nicht nur trockene Theorie für die sogenannten Trainees ist, lernen sie sofort, die Praktiken aus dem theoretischen Unterricht in die Praxis umzusetzen. Dies geschieht durch den Integrated Case . Das ist ein fiktiver Fall, der auf die Ausbildung abgestimmt ist und die Auszubildenden von einem Gebiet zum nächsten führt. Dieser Fall wird von den Trainees in Hogans Alley , einer Kulissenstadt auf dem Akademiegelände, recherchiert, wobei Mitarbeiter der Akademie als Bewohner der Stadt fungieren. Die Trainees stehen dabei unter ständiger Beobachtung von Psychologen und Ausbildern, die ihr Verhalten per Video analysieren.

Ein Teil der Ausbildung, der für die zukünftigen Agenten später überlebenswichtig sein würde, war das Erlernen verschiedener Verhaftungstechniken. Dann auch, unsere Angst zu überwinden. Hierfür wurde uns zum Beispiel Pfefferspray in die Augen gesprüht und wir mussten dann immer noch jemanden vorschriftsmäßig verhaften. Weitere Teile der Ausbildung umfassten die Bereiche Ethik als Grundlage des Handelns oder z.B. das Training im Tactical Emergency Vehicle Operation Center, dem sogenannten TEVOC, in dem wir den richtigen Umgang mit einem Dienstwagen bei Verfolgungsjagden lernen sollten. Für die Trainees, welche alle Ausbildungsstationen erfolgreich bestanden haben, begann dann die praktische Arbeit als special Agent des FBI. Und für uns die Rückkehr zu unseren Einheiten.“

Alina hing noch immer an seinen Lippen, als er den FBI-Teil erzählt hatte. „Verrückt, ich sitze hier mit einem richtigen Helden am Tisch und niemand weiß davon.“

„Naja, so Held bin ich nun auch wieder nicht. Nicht alles, was ich in den Staaten gelernt habe, konnte ich je praktisch umsetzen. Aber so ist es wohl in allen Berufen oder Schulen. Du lernst tausend Sachen und im täglichen Leben brauchst du dann nur einen Bruchteil davon.“

Alina nickte vielsagend.

Caroline trat an den Tisch. Alle anderen Gäste hatten das Lokal bereits verlassen, und nachdem er auch bezahlt hatte, verließen die beiden das Restaurant.

„Du wirst mir noch viel über dich erzählen müssen“, fing Alina an, als sie im Wagen saßen.

„Und du von dir! Ich will alles über dich wissen. Über diese Frau, die mich innert kürzester Zeit überwältigt hat.

„Das wirst du, John. Das wirst du.“

Kapitel 10: Fortschritt

Um halb sechs Uhr verließ er das Haus, in dem Alina wohnte. Er dachte noch kurz an den für ihn abgeschlossenen Fall und verwarf den Gedanken an einen Zusammenhang zwischen ihrer Familie und dem Einbruch. Er war von Grund auf ein Zweifler an allem. Doch das schien sein Beruf mit sich zu bringen. Er wollte sich auf Alina einlassen und ihr Vertrauen. Er wollte auch diesen Gefühlen vertrauen.

Nachdem er sich in seinem Haus frisch gemacht hatte, ging er ins Büro. Gabriel Galliker hatte sich das ganze Wochenende nie gemeldet, was hieß, dass sich die Erpresser noch nicht gemeldet hatten. Sollten sie jedoch die Höllgrotten beobachtet haben, wären ihnen das Polizeiaufgebot sicherlich aufgefallen.

Der oder die Erpresser hatten sie einiges Einfallen lassen. Die Briefe vor Ort, um zu zeigen, dass sie wissen, was in den Höllgrotten lagert. Dann der zweite Brief mit dem Handy im Empfangsbereich der Firma. Das war gut durchdacht.

John Etter war sich sicher, dass auf der Besucherliste, die Susanne inzwischen sicher durchgeackert hatte, mindestens ein Name nicht stimmen würde. Oder die Person zum Namen.

Ein fröhliches Pfeifen riss John aus den Gedanken. Susanne betrat das Büro.

„Guten Morgen, Chef“, trällerte sie durch den Gang. „Kaffee kommt sofort. Wenige Minuten später betrat Susanne Johns Büro mit einer dampfenden Tasse Kaffee.

„Na, ein gutes Wochenende gehabt?“, fragte sie und schaute John tief in die Augen. Sie beantwortete die eigene Frage gleich selbst. „Ja. Hast du. Ich sehe das. Noch etwas müde?“

„Ja, äh nein … Ich meine ja, ein schönes Wochenende gehabt und nein, nicht müde. Reicht das als Antwort?“, gab John zurück.

„Für den Moment“, zwinkerte sie ihm zu. „Ich komme gleich noch mit ein paar Infos.“

Susanne bewegte sich trotz ihrem Gewicht leise und schnell über den alten Holzdielenboden.

„Also, Chef. Alle Besucher auf der Liste von Etter scheinen in Ordnung zu sein. Aber das heißt ja nichts. Es sind nur Namen. Vielleicht passt ein Gesicht nicht zu dem Namen, aber das kann ich dir nicht sagen. Da müsstest du nochmals bei Galliker nachfrag ...“

Johns Handy unterbrach Susanne.

„Oh, es ist Galliker. Vielleicht haben sich die Erpresser gemeldet. Moment.“

Susanne setzte sich und hörte zu.

„Gut. – Ja. – OK. – Sehr gut. Ich komme sofort.“

Susanne zog ihre Schultern hoch. „Gut, ich sehe, es kommt Fahrt in den Fall.“

„Ja und der Galliker hat alles richtig gemacht. Guter Mann. Bin dann weg. Kannst du noch was über die verschwundene Frau und ihren Partner im Spital herausfinden? Ich habe da bisher keine News von Erika.“

Susanne machte eine einladende Armbewegung. „Aber gerne und melde dich mal.“

„Mache ich“, verabschiedete sich John.

Ein Wagen, den John kannte, stand vor der Distillerie Etter. Es war Bruno Bärs Wagen.

Wenig später saßen Bruno Bär und John gemeinsam im Büro von Gabriel Galliker. Er ließ sich von den beiden auf den neuesten Stand bringen. Vor einer halben Stunde hatte sich jemand telefonisch gemeldet. Gabriel Galliker hatte das Gespräch mit einer App aufgezeichnet und spielte es nun auch John vor. Eine verzerrte Stimme forderte: „Sie haben entgegen unserem Wunsch die Polizei informiert. Daher ist unsere Forderung gleich noch viel höher. Wir fordern zweihundertfünfzigtausend Franken in gebrauchten Zweihundertfrankenscheinen. Ich melde mich in vierundzwanzig Stunden wieder. Bereiten Sie das Geld vor. Sollten Sie das nicht tun, werden wir als Warnung den Inhalt einiger ihrer im Handel stehenden Flaschen mit Farbe füllen. Ich warne Sie, keine Tricks. Bis Morgen.“

Dann war das Gespräch beendet. Der Anrufer hatte Gabriel Galliker keine Möglichkeit gelassen, zu reagieren.

Bär schaute John an. „Was meinst du?“

„Ich glaube, es handelt sich um einen Einzeltäter. Er sprach mal von wir und uns. So hat er auch den Brief verfasst. Aber im Gespräch hat er zweimal ich gesagt. Und wenn das eine bereits verschärfte Forderung war, wie viel hätte er ohne Polizei gefordert? Scheint mir ein Einzeltäter zu sein, der Zugang zu professionellem Werkzeug hat und auch einige Kenntnisse in der EDV besitzt. Aber allzu intelligent scheint er nicht zu sein.“

„Ja, ist mir auch aufgefallen.“

John fragte nach. „Habt ihr den Gesprächspartner orten können?“

„Unsere Techniker sind immer noch dran. Du kennst das ja. Es läuft nicht wie in den Krimis im Fernsehen, wo der Kommissar noch an einem Tatort den Befehl gibt: Orten! Und dann läuft‘s. Aber wir konnten die Formalitäten dieses Mal relativ schnell durchbringen und hatte die offizielle Erlaubnis. Der Anruf wurde über einen PC geführt und dieser hat sich sehr gut zu tarnen gewusst. Die Chancen stehen schlecht. Dies hier ist ein ausländisches Prepaidhandy in Euro ohne hinterlegten Nutzer. Das World Wide Web verschleiert die Herkunft des Gesprächs sehr gut. Wir müssen abwarten.“

Dann zu Galliker gewandt: „Können Sie so viel Geld in so kurzer Zeit bereitstellen?“

„Nein auf keinen Fall. Da würde auch keine Bank mitspielen. Unser Geld ist in den Erzeugnissen und dem Betrieb investiert.“ Hilfe suchend schaute er John Etter an.

„Es gibt verschiedene Möglichkeiten“, meinte dieser. Eigentlich müsste dieser Fall ohne Geld lösbar sein. Ich glaube nicht, dass es sich hier um einen Profi handelt, auch wenn das mit dem Anruf ziemlich gut gemacht wurde. Aber über das wie kann man sich heute auch im Internet schlaumachen und so schwer ist es leider nicht. Eine allfällige Übergabe sollte man so vorbereiten können, dass er spätestens dann gefasst werden kann, auch wenn dies eine gewisse Gefahr beinhalten kann.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Galliker nach.

„Nun, er kann einen Strohmann einsetzen und nur auf die Rückkehr dieses Mannes warten. Und wenn der dann nicht auftaucht …“

Bruno Bär nickte. „Ich schlage auch vor, dass wir echtes Geld nehmen und es nach einer neuesten Methode präparieren. Sollte dann der Mann nicht erwischt werden, müssten wir einfach abwarten, bis das Geld ausgegeben wird.“

„Das geht?“, fragte Galliker neugierig.

John erklärte kurz, dass es eine solche Methode gab, ohne genauer darauf einzugehen.

Bär nickte. „Ja, ich brauche noch ein paar Unterschriften, damit wir das bewerkstelligen können und dann melde ich mich. Und die Technik bekomme ich von John. Der hat immer das neueste Equipment. Mal wieder eine Rechnung, die John dem Kanton stellen kann. Aber ganz in meinem Sinn, falls es klappt. Dann können wir endlich auch wieder nachrüsten. Wir hängen da immer ein wenig hintendrein. Aber dank John konnten wir doch schon einiges aufholen.“

„Ich kann also dem Erpresser morgen zusagen, dass ich das Geld habe?“

„Ja, das können Sie.“

Und John fügte gleich an: „Aber sagen Sie das nicht sofort. Erklären Sie, dass Sie das Geld erst morgen Nachmittag auf der Bank abholen können. Vielleicht haben wir eine Chance, dass er Sie dabei beobachten wird. Geld macht viele Menschen dumm. Und schon einige Erpresser wurden so überführt.“

„Ich verstehe“, meinte Galliker. Und wenn ein gleicher Mensch das Geld abholt, ist die Chance groß, dass er auch der Erpresser ist.“

„Genau“, übernahm nun Bär wieder das Zepter. „Das wird dann eine größere Aktion vor und in der Bank werden mit einigen Beamten in Zivil, die die Menschen vor Ort beobachten. Wir werden noch einige Kameras unsichtbar anbringen und dann falls möglich, bei der Übergabe einen Abgleich machen. Eine kleine Chance, aber wir nehmen jede wahr. Und vielleicht erkennen Sie selbst einen der verdächtigen Besucher in Ihrem Betrieb wieder.“

„Und ich nehme an, du brauchst von mir noch ein paar unauffällige Leute …“, ergänzte John.

„Nein, diesmal kann ich das nicht vom Kanton bezahlen lassen.“

„OK. Ich nehme auf meine Kosten zwei meiner besten Beobachter bei der Geldabholgeschichte mit. Ich brauche dann aber Zugang zu Euren Ergebnissen.“

„Darüber sprechen wir nachher“, gab Bär zurück. Er wollte nicht vor Galliker über seine Schwierigkeiten und Sparmaßnahmen sprechen und über die Tatsache, dass John als privater Ermittler immer wieder etwas mehr involviert war, als Bärs Vorgesetzte wussten.

Sie verabredeten sich auf den nächsten Morgen früh um sieben in Galllikers Büro. Bär fuhr mit John in Johns Büro, um das Equipment abzuholen, und ließ sich wie immer auf einen Plausch mit Susanne ein.

„Na, du gebeutelter Familienvater, alles im Lot?“, begrüßte Susanne ihn und er gab gleich mit selber Münze zurück.

„Aber sicher, als kantonaler Angestellter habe ich Zeit, alles im Lot zu halten.“

Susanne lachte. „Du weißt, dass du jederzeit bei John als Partner einsteigen kannst, aber ich weiß nicht, ob ich zwei von eurer Sorte aushalten könnte.“

„Du wärst doch froh, einen wie mich jeden Tag um dich haben zu können!“, gab er zurück.

„Hmm, wenn du meinst, also gut, komm zu uns.“

„Du weißt, wenn ich keine Familie hätte, wäre ich schon bei euch. Aber beim Kanton habe ich eine sichere Stelle und meist gefällt es mir ja.“

„Na dann auf Wiedersehen nach der Volljährigkeit deines Sohnes.“

Bruno Bär verließ das Gebäude immer mit den selben Gedanken. „Soll ich oder soll ich nicht“, aber seine Frau war auch in diese Entscheidung einbezogen und ganz klar dagegen, auch wenn sie eine gute Freundin von John war.

John ließ Susanne seinen besten Beobachter für den Job anfordern. Es war noch nicht sicher, wann diese Aktion über die Bühne gehen würde, aber sie würde es.

Kapitel 11: Ein Koffer voller Geld

Gabriel Galliker fuhr zur Bank. Er parkierte im gegenüberliegenden Parkhaus und ging mit einem Pilotenkoffer ins Gebäude.

Hans Schweri, der Bankdirektor dieser Filiale, empfing ihn in der Empfangshalle persönlich.

„Willkommen, Herr Galliker. Ich hoffe, wir können ihnen helfen. Ihr Detektiv wartet bereits bei mir im Büro. Er wollte sicherstellen, dass ihn niemand bemerkt.“

Gemeinsam betraten sie das großzügige Büro. „Guten Morgen Herr Galliker.“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr John fort. „Ich habe einige Geldbündel bereits mit ultradünnen Trackern präpariert. Diese fallen nicht auf und einen etwas größeren Tracker werde ich nun im Koffer anbringen. Für alle Fälle.“

Galliker wunderte sich, als John Etter ihm den Tracker zeigte. „Und dies ist der größere Tracker? Nicht größer als ein Zweifrankenstück. Verrückt. “

„Ja, die Technik macht auch in diesem Bereich enorme Fortschritte. Dieser Tracker ist bereits freiverkäuflich auf dem Markt und die Batterie sendet etwa sechs Monate. Solche werden zum Beispiel bei teureren Fahrrädern versteckt angebracht. Ich gehe jedoch davon aus, dass der Koffer baldmöglichst entsorgt wird und lediglich die Geldpakete uns zum Täter führen. Die speziellen Tracker sind hauchdünn und ich habe sie in einige Banderolen, die die einzelnen Geldpakete zusammenhalten, versteckt. Wenn er nicht eine einzelne Banderole abtastet, hat er keine Chance, den Tracker zu entdecken.“

„Das scheint mir eine sichere Möglichkeit zu sein“, bemerkte Galliker und Schweri nickte beistimmend.

„Hier, tasten sie dieses Paket einmal ab.“ John Etter drückte Galliker ein Geldpäckchen in die Hand.

Dieser tastete es sorgfältig ab. „Stimmt, er muss ein sehr feines Gespür haben, um das zu bemerken. Ich glaube, wir werden ihn finden, wenn er unterwegs ist.“

„Davon bin ich auch überzeugt. Nun ist es wichtig, dass sie die Bank wieder verlassen und sich mit dem Koffer zurück ins Büro begeben. Haben sie das Handy dabei?“

„Ja, selbstverständlich.“

John Etter hatte in der Zwischenzeit den inneren Boden des Koffers an der Naht angeschnitten und den Tracker verstaut. Dann klebte er mit Sekundenkleber die Naht wieder zu.

„Sehen Sie etwas?“, fragte er den Bankdirektor und hielt ihm den Koffer unter die Nase?

„Nein. Alles sieht so aus, wie es aussehen muss. Ein nigelnagelneuer Koffer. Völlig unverdächtig.“

Nun packte John die Geldpakete in den Koffer. „Zweihundertfünfzigtausend Franken. Ein Haufen Papier und das alles in einem Pilotenkoffer.“

„Ich glaube, ich werde Menschen, die mit solchen Koffern unterwegs sind, in Zukunft etwas anders ansehen“, meinte Galliker. Die Anspannung schien ihm im Moment anzusehen. Es war ja auch nicht alltäglich, mit einer so großen Menge Geld durch die Fußgängerzone zum Parkhaus zu laufen.

Nachdem Galliker die notwendigen Papiere unterzeichnet hatte, nahm er den Koffer in die Hand. „Leichter, als ich es geglaubt habe.“

„Ich rufe jetzt Bruno Bär an, der ab jetzt von seinem Büro aus den Koffer verfolgen wird. Fahren Sie einfach ins Büro und dann müssen wir auf den Anruf des Erpressers warten. Das ominöse Handy wird ebenfalls abgehört und ich werde von Bär informiert, wenn sich etwas tut. Ich werde mich heute Abend telefonisch einmal bei Ihnen melden, falls sich bis dahin nichts ergeben hat. Wie ich Sie schon informiert habe, brechen viele Erpresser schon zu diesem Zeitpunkt ihr Unternehmen ab.“

Galliker verabschiedete sich von den beiden Herren und lief zur Tiefgarage gegenüber der Fußgängerzone. Ihm fiel niemand auf, der ihn speziell beobachtete. Auch keiner der Männer von John Etters Detektei, die weniger Galliker im Blickwinkel hatten, als die Menschen, die ihn beobachten würden.

John Etter wartete noch eine Zeit lang im Büro von Schweri ab, bevor auch er sich auf den Weg zurück in sein Büro machte. Als er dort ankam, rief er zuerst Bär an.

„Na Bruno, läuft‘s?“

„Ja, klar. Der Koffer ist nun im Gebäude der Distillerie angekommen. Bisher ist nichts Spezielles geschehen. Sämtliche Tracker funktionieren einwandfrei. Ich melde mich bei dir, wenn sich etwas tut.“

Ab jetzt würde es wieder langweilig werden. Das war der Teil, den er an seinem Beruf am wenigsten mochte. Sowohl früher als Polizist wie auch jetzt als privater Ermittler.

Kurze Zeit später betraten vier Männer und drei Frauen die Detektei. Susanne brachte Kaffee ins Sitzungszimmer und wenig später wurden die Aufnahmen der Helfer begutachtet. Galliker wurde von dem Moment an beobachtet, als er in die Tiefgarage einfuhr.

Nach zwei Stunden Begutachtung wurde die Aktion abgeblasen. Galliker schien nicht beobachtet zu werden. Die Leute wurden im Moment nicht mehr benötigt und verließen Johns Büro.

Susanne drückte die Türe zu, nachdem sie die Mitarbeiter verabschiedet hatte, und drehte sich zu John um. „Nichts?“

„Nein, leider nichts. Kein Einziger, der aufgefallen wäre. Wir behalten mal die Aufnahmen, aber ich glaube kaum, dass wir sie nochmals brauchen.“

Susanne hob die Achseln. „Na dann, warten wir, bis etwas geschieht. Bleibst du hier?“

„Ich glaube, ich werde mit Alina zu mittagessen und melde mich später, falls nicht etwas Außergewöhnliches geschieht. Mal schauen, ob sie Zeit hat.“

„Gut, dann halte ich die Stellung. Hast du noch etwas von der Barbara Rohner gehört?“

„Nein, immer noch nichts. Da sind die Zürcher Polizei und hier Erika Rogenmoser dran. Solange sich dort nichts bewegt, können wir nur abwarten. Aber ich denke, dass sich dort erst etwas tut, wenn im Fall Galliker wieder etwas geschieht. Oder Erika etwas von ihrem Freund erfährt. Ich rufe sie heute Nachmittag an. Der Schlag auf den Kopf von diesem Ruedi Iten war doch arger als gedacht.“

„OK. Dann grüß mir Alina unbekannterweise“, lächelte Susanne John an.

„Aber sicher, mach ich gerne“, zwinkerte er Susanne zurück.

Am Mittag saßen John und Alina auf einer Bank und schauten auf den See hinaus. Alina hatte nur eine Stunde Zeit und so lag es Nahe, sich dort zu treffen. John hatte beim Bahnhof zwei Dürüm und Mineralwasser besorgt und nachdem sie fertig waren, lehnten sie sich zurück und ließen sich von der Sonne bescheinen.

„Ärger im Geschäft?“, fragte John Alina.

„Hm, es geht. Warum fragst du?“

„Scheinst mit deinen Gedanken nicht ganz da zu sein. Stimmt’s?“

„Ja, mein Bruder meldet sich nicht. Er ist schon eine Zeit lang zurück in Hongkong und war auf dem Weg, eine neue Produktionsstätte in Shenzhen anzuschauen. Die liegt im Süden der Provinz und grenzt südlich an die Sonderverwaltungszone Hongkong, wo wir unsere Büros haben. Wir haben aber noch immer keinen Bericht von ihm erhalten. Das ist sonst nicht seine Art. Aber mein Vater ist dran. Tut mir leid. Komm, erzähl mir von deinen Anfängen als privater Ermittler, mein liebster Privatdetektiv.“ Sie zog Johns Gesicht mit beiden Händen zu sich und küsste ihn fest auf den Mund. „So, ein richtiger Dürümkuss.“

„Du darfst mich auch küssen, wenn du in eine Zwiebel oder in Knoblauch gebissen hast“, antwortete John, nahm seinerseits ihren Kopf in beide Hände und küsste sie leidenschaftlich.

„Nun, als meine Eltern gestorben waren, war die Detektei bereits gegründet. Aber ich habe zu jener Zeit lediglich kleine Aufträge angenommen, um im Training zu bleiben und auch um mich etwas von der Situation meiner sterbenden Eltern abzulenken. Erst, als sie verschieden waren, habe ich mir mehr dazu überlegt. Ob es eine gute Idee wäre, in einer so kleinen Stadt, mit gutem Image, eine Detektei zu führen. Doch ich hatte Glück. Schon nach wenigen Wochen, in denen ich noch ganz alleine tätig war, hatte ich drei Fälle gleichzeitig zu lösen und wusste, dass ich das nicht alleine bewältigen könnte. Für einen Fall brauchte ich etwas körperliche Hilfe und die suchte ich mir in einem Fitnessstudio. Dort holte ich mir die ersten zwei freien Mitarbeiter, die für einen Fall optimal passten. Dann lernte ich in einem Kaffee, in dem ich einen Fremdgänger observierte, Susanne kennen, die ein paar Wochen später meine Sekretärin und gute Seele der Detektei wurde. Ups, ja, von ihn soll ich dich grüßen!“

„So so, Susanne. Danke. Grüß sie zurück“, meinte Alina und setzte einen fragenden Blick auf.

„Ja, meine Büroperle. Aber musst nicht eifersüchtig sein. Sie ist nicht mein Typ und ich wohl auch nicht ihrer.“

„So so.“ Der fragende Blick blieb.

„Ja. Sie ist etwa einen Meter sechzig groß und etwa so viel Kilo schwer.“

„Sechzig. Ist doch nicht schlimm“, meinte Alina.

„Nein, hundertsechzig. Naja, ich gebe zu, das ist etwas übertrieben. Aber jetzt kannst du sie dir besser vorstellen. Aber: Sie ist eine wirklich tolle, fleißige, mit allen Wassern gewaschene Frau. Top ausgebildet und von den Meisten unterschätzt. Zu meiner Freude. Wirst sie sicher bald mal kennenlernen.“

„Da freu ich mich drauf. Aber leider muss ich jetzt wieder zurück. Vielen Dank für die angenehme Mittagszeit. Bist du heute Abend buchbar? Ich hätte da einen Auftrag für dich.“

„Auftrag?“, fragte John unsicher zurück.

„Ja. Ich kenne da eine Frau, die müsste unbedingt verwöhnt werden. Ich bin mir sicher, dass du diesen Auftrag zu meiner vollsten Zufriedenheit erfüllen würdest. Nimmst du den Auftrag an?“

„Gerne, wenn es meine Fälle heute Abend erlauben, sicher. Du weißt, ab und zu muss ich kurzfristig agieren. Dafür liegt auch einmal wieder ein verlängerter Mittag drin.“

Lächelnd verabschiedeten sie sich. John blieb noch etwas auf der Parkbank am See sitzen. Ein Vorteil seines Berufes war, dass er nicht immer im Büro sitzen musste.

Er holte das Handy raus und rief Erika an.

Erika war den ganzen Morgen im Spital und konnte ab und zu mit Ruedi Iten sprechen. Dieser kämpfte noch etwas mit seinen Schmerzen und einigen Erinnerungslücken. Immer wieder fragte er nach seiner Partnerin und wurde panisch, als er erfuhr, dass sie noch nicht aufgetaucht war. Doch nach einigen Stunden, in denen er mehr schlief, als sprach, mehr panisch war als ruhig, war für Erika Rogenmoser der Fall einigermaßen klar.

Ruedi Iten wollte seiner neuen Flamme die Höllgrotten zeigen. Sie fuhren gemeinsam auf dem Parkplatz, stellten den Wagen hin und beobachteten eine Schulklasse, die gerade im Begriff war, die Grotten zu besichtigen. So entschlossen sie sich, der Lorze entlang zu gehen. Als sie sich auf den Rückweg machten, war es zu spät, die Grotten zu besichtigen. Da sie hungrig waren, gingen sie zum Restaurant und Ruedi holte im Selbstbedienungsteil etwas zu essen. Dieses hätten sie dann etwas weiter vorne an der Lorze zu sich genommen. Erika fügte an, dass sie glaubte, dass sie sich vermutlich auch noch eine Zeit lang dort geliebt hatten, denn es gab einen Zeitsprung, den Ruedi nicht mit ausführlichen Antworten aufzufüllen fähig war.

Als es bereits eindunkelte, seien sie der Lorze entlang in Richtung Parkplatz gelaufen. Von Weitem hätten sie Lichter bei den Grotten gesehen und mehr aus Spaß, wollten sie schauen, was los sei. In der Zwischenzeit sei es dunkel gewesen.

Sie seien um den Kiosk gegangen und dann wusste er nichts mehr. Gemäß Erika waren keine verdächtigen Spuren in der Nähe des Kioskes gefunden worden, aber dies schien auch schwer möglich, wenn man wisse, wie viele Menschen sich jeweils dort aufhalten. Ruedi Iten konnte sich an keine weiteren Einzelheiten erinnern. Weder was mit seiner Freundin geschehen war, noch, wie er in sein Verlies gesperrt wurde. Seine erste Erinnerung nach dem Schlag fand im Krankenwagen statt.

„Also im Moment nichts Verwertbares“, fasste John zusammen.

„Scheint so. Ich hatte gerade eine Sitzung mit Bruno Bär. Wir arbeiten ab sofort zusammen an beiden Fällen. Du scheinst hier mal wieder den richtigen Riecher gehabt zu haben. Ich werde mich jetzt nochmals in Zürich schlaumachen und bin dann mit Bruno zusammen im Büro erreichbar. Ich nehme an, dass ab heute eine jetzt öffentliche Vermisstmeldung Barbara Rohner laufen wird. Vielleicht tut sich dort etwas. Was hast du noch vor?“

„Ich kann leider auch nur warten. Wir hören voneinander“, verabschiedete sich John von Erika.

Kapitel 12: Gute Zeiten

Schon lange hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt. Niemals zuvor hatte er auch nur annähernd so intensiv gesehen, gehört, gerochen. Sein eigenes Lachen war unglaublich klar, seine Stimme noch ruhiger als sonst. Auch wenn ihn die Fälle immer beschäftigten, noch nie hatte ihn eine Frau so in ihren Bann gezogen wie Alina.

Susanne nahm verwundert den Blumenstrauß in Empfang, den er ihr brachte. „ Als kleines Dankeschön für deinen Einsatz “, stand auf dem Kärtchen und als sie sich bei ihm bedankte, wirkte John so richtig glücklich. Nachdem er sich von Susanne verabschiedet hatte – er war nur nochmals kurz im Büro, um sich zu versichern, dass alles in Ordnung war - ging er einkaufen. Heute würde er Alina bekochen. Google sei dank, war das nicht mehr so schwierig wie vor Jahren. Er besaß kein einziges Kochbuch und für ihn waren die modernen Technologien nicht nur im Beruf ein Segen.

Nun stand John in der Küche. Alles war bereit, als das Handy läutete. „Bitte nicht. Bitte, bitte nicht.“ Er war sich sicher, dass Bruno oder Erika ihn nun zum Einsatz rufen würden. Erleichtert stellte er fest, dass Alina anrief, um ihn zu informieren, dass sie sich um zwanzig Minuten verspäten würde.

Das war kein Problem für John. So konnte er den Tisch, ohne sich zu beeilen, anrichten.

Er holte zwei Flaschen Rotwein aus dem Keller hoch, die ihm Gabriel Galliker empfohlen hatte. John war kein besonderer Freund von Schweizer Weinen, wusste aber schon, dass sich auch in der Schweiz einige Trouvaillen befanden. Von diesem Anbaugebiet hatte er noch nie etwas gehört. Nadine Saxer. Das Weingut in Neftenbach, im Winterthurer Weinland, pflegte gemäß Aussagen von Galliker einen naturnahen Anbau. Den Betrieb hatte sie im Jahre 2011 von ihrem Vater übernommen. John hielt Flasche mit der einfach und trotzdem edel gehaltenen, zweiteiligen Etikette in der Hand und begutachtete diese. Das A von Saxer stand auf dem Kopf und auf beiden Teilen der Etikette war jeweils ein Tropfen in Silber wie das A gehalten, sichtbar. Nobler Blauer stand in einfachen Lettern. John gefiel die Aufmachung und er war gespannt, wie ihm dieser Wein munden würde. Üblicherweise trank er eher schwere Cuvées, die vor allem teurer waren. Aber er ließ sich gerne positiv überraschen.

Er öffnete die erste Flasche und goss sich ein wenig in ein Glas ein. Zufrieden mit dem Ergebnis stellte er das leere Glas zurück. Er war überrascht. In der Nase präsentiert sich dieser Rotwein reiffruchtig mit einem Hauch Röstaromatik, im Gaumen geprägt durch einen schönen Schmelz, gehaltvoll und überraschend lang anhaltend im Abgang. Doch, zu seinem Essen würde der Wein passen.

Ein tolles Stück Fleisch, kurz heiß angebraten und dann mit Gemüse im Steamer zu Ende gegart. Es war wohl erst das zweite Mal, dass er mit diesem Steamer arbeitete. Doch er wusste von Brunos Frau Nina, dass fast nichts schiefgehen konnte. Dazu machte er noch Bratkartoffeln.

Alina stand plötzlich neben ihm. „Du hast auch Vertrauen in die Menschheit“, flötete sie.

„Nun ja, ich war mir sicher, dass sich niemand anders als Du sich hierher verlaufen würde“, antwortete er gefasst, umarmte sie und sie küssten sich.

„Ich bin gleich so weit. Möchtest du noch einen Apéro?“

„Hmm, wenn du so fragst, gerne. Hast du Martini?“, fragte Alina.

„Und ob. Ich habe erst vor einigen Monaten wieder einmal einen eingekauft. Vorher hatte ich wohl über zehn Jahre keinen mehr. Vermutlich hatte ich einmal eine Überdosis“, erzählte er lächelnd. „Mit Eis?“

„Gerne“, antwortete Alina.

„Darf ich raten – pur?“

Alina nickte und John brachte die beiden Gläser zum Sofa, wo sich Alina in der Zwischenzeit hingesetzt hatte.

„Auf einen schönen Abend“, zwinkerte Alina ihm ein Glas aus der Hand nehmend zu.

„Auf einen ganz schönen Abend“, gab John zurück und küsste sie.

Während dem Essen und dem Genießen des Weins fragte John Alina ihn wiederholt über ihre Firma aus.

„Es ist alles bestens. Mein Bruder ist wieder zum Vorschein gekommen. Aber etwas hat meinen Vater erzürnt. Er wollte mir heute Nachmittag nicht sagen, worum es sich handelte, aber es scheint, dass mein Bruder irgendetwas verbockt hat. Sonst hätte mein Vater nicht so ausfällig reagiert.“

„Ausfällig?“, fragte John nach.

„Ja, ich habe ihn in seinem Büro ins Telefon schreien gehört. Worte, die ich in meinem ganzen Leben noch nicht von ihm gehört hatte. Ziemlich schlimm und als er den Hörer auf die Gabel geknallt hatte, waren die Tiraden noch nicht zu Ende. Ich konnte nur verstehen, wie er zum Schluss noch verwöhntes, dummes Muttersöhnchen sagte. Ich habe dann sein Büro betreten und gefragt, was denn los sei.“

„Verständlich - aber …“, fragte John.

„Aber … ja, aber er meinte, er wolle sich nicht länger darüber aufregen und verabschiedete sich von mir. So überhastet hat er noch nie die Firma verlassen. Der Rollstuhl ist in der Kurve im Gang fast gekippt. Als er dann verschwunden war, habe ich auf dem Telefon nachgesehen, mit wem er zuletzt telefoniert hatte und es war die Direktwahl zu meinem Bruder in seinem Appartement in Hongkong.“

„Und dann?“

„Dann habe ich meinem Bruder eine SMS geschrieben, ob alles in Ordnung sei und innert weniger Minuten kam seine Antwort, dass alles bestens sei. Ich werde wohl morgen mit meinem Vater sprechen. Hoffentlich hat er sich bis dahin beruhigt.“

„Hoffen wir“, antwortete John in beruhigendem Ton.

John holte die zweite Flasche Wein. „Ich nehme an, du bleibst diese Nacht hier?“

„Gerne. Heute habe ich ein, zwei Gläser mehr verdient.“

John schenkte nach und nachdem er den Tisch abgeräumt hatte, zogen sie sich aufs Sofa zurück.

„Musik?“, fragte er Alina.

„Ja, gerne. Was hörst du zur Zeit?“

„Meist lasse ich im Hintergrund den Sender Swisspop laufen. Der unterbricht nicht ständig mit Nachrichten oder Werbung und die Musik gefällt mir meist gut. Hören wir doch einfach rein“.

Alina schmiegte sich nahe an John und genoss den Augenblick. Es war für sie auch seit langer Zeit wieder ein Stück Zweisamkeit, die sie lange vermisst hatte.

„John und Alina, das tönt gut, finde ich“, unterbrach sie die Stille, stellte das leere Glas auf den Glastisch neben dem Sofa. Auch Johns Glas war leer. Sie nahm es ihm aus der Hand und stellte es neben ihres. Dann drehte sich sie mit einem eleganten Schwung herum und sass auf Johns Schoss.

Der Musik im Hintergrund hörten sie nur noch stellenweise zu. Meist waren sie nun zu sehr gegenseitig beschäftigt und der Morgen kam viel zu schnell.

Sie lagen eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa, als Alinas Handy auf dem Boden summte. Sie drehte sich etwas und sah in die Augen von John.

„Guten Morgen, mein Lieber. Ich muss leider schon wieder gehen.“

„Kaffee?“

„Ja, gerne. Kann ich noch schnell duschen?“

„Schnell oder gemeinsam?“, fragte John nach.

„Diesmal schnell und das nächste Mal gemeinsam lange, versprochen. Aber ich habe heute eine frühe Videokonferenz mit verschiedenen Geschäftsführern unserer Gruppe und meinem Bruder. Vielleicht erfahre ich etwas mehr, was vorgefallen ist. Sorry, John, ist wichtig. Und du – du bist mir auch in kürzester Zeit wichtig geworden! Wirklich!“ Um ihren Worten Nachdruck zu verpassen, umarmte sie ihn fest und küsste ihn.

„Also dann, meine Liebe, ab ins Wasser, ich bringe dir den Kaffee dann ins Bad.“

„Daran könnte ich mich gewöhnen.“

„Ich mich auch“, antwortete John verträumt dreinschauend.

Kapitel 13: Schlechte Zeiten

„Ich will hier raus! Hörst du! Ich will hier raus“, schrie Barbara Rohner gegen die Türe polternd. „Was willst du von mir?“

Sie hatte draußen Schritte wahrgenommen.

„Geh zurück in die Ecke und ich komme rein. Ich habe Essen und Getränke für dich und einen neuen Kübel. Und keine Angst. Lange wirst du nicht mehr hierbleiben müssen. Schon bald kommst du hier raus. Also, zurück in deine Ecke.“

Einige Sekunden später öffnete er draußen das Vorhängeschloss und drückte die Türe auf. Wie die letzten Male schon, hatte er eine Kappe über den Kopf gezogen, welche nur die Augenpartie etwas offen ließ. Er beobachtete Barbara ganz genau. Hätte sie sich in seine Richtung bewegt. Wäre genügend Zeit geblieben, sich zurückzuziehen und die Türe zu verschließen. Sie hatte keine Chance, zu entkommen.

Er stellte eine Einkaufstasche voller Lebensmittel auf den Boden und das Mineralwasser daneben. Dann holte er den draußen neben der Tür stehenden Eimer hinein und nahm den vollen mit.

„Ich bekomme bald meine Tage. Ich brauche was“, meinte Barbara aus ihrer Ecke.

„Was für Tampons brauchst du?“, fragte der Entführer nach.

„OB. Regular.“

„Gut. Hast du heute Abend. Aber vielleicht brauchst du die hier nicht mehr. Wenn alles klappt, bist du schon morgen Abend hier raus. Versprochen.“

„Und wie geht es meinem Freund?“, fragte sie zum X-ten mal.

Und zum x-ten Mal lautete die Antwort: „Gut. Alles Gut.“

Auch wenn der Entführer keine Ahnung hatte, wie es dem Mann wirklich ging. Heute hatte er in einer Online-Zeitung die Meldung gelesen, dass seine Gefangene gesucht wurde. Von einem Freund war nichts zu lesen und er ging davon aus, dass er inzwischen wirklich gesund gefunden wurde. Die Presse hatte von keinem Vorfall bei den Höllgrotten etwas berichtet. Aber es war unwahrscheinlich, dass der Mann noch nicht gefunden wurde. Tot war er auf keinen Fall. Das hätte man bestimmt kommuniziert.

„Bestimmt, du lässt mich morgen frei?“, fragte Barbara nach.

„Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle – dann ja“.

„Und sonst?“

„Sonst muss ich mir etwas Neues überlegen. Werde ich dann entscheiden. Also. Einfach ruhig sein und warten. OK?“

„Ja, OK. Werde ich. Danke.“ Dieses Danke war von Barbara absichtlich angefügt. Sie wollte freundlich sein zu diesem Mann. Sie wollte, dass er sie nicht als Feindin sehen würde. Sie hatte sich alle möglichen Szenarien durch den Kopf gehen lassen. Aber sie hatte keine Chance, an ihm vorbei zu kommen. Der Raum ließ es nicht zu, dass sie an ihm vorbeirennen könnte und körperlich war sie sich nicht sicher, ob sie wirklich stärker war. Hätte sie ihn angegriffen und den Kampf verloren, wäre das für ihre Zukunft sicher nicht förderlich gewesen. Im Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als sich so gut wie möglich mit der Situation abzufinden.

Sicherlich würde sie schon länger gesucht, dachte sie und noch viel mehr hoffte sie, dass Ruedi wohlauf gefunden worden war.

Kapitel 14: Max

Der Mann verließ den Keller und verschloss die Türe von außen wieder sorgfältig. Dann ging er die Treppen hoch und verschloss die obere Türe ebenfalls. Einige Schritte später stand er draußen vor dem alten Haus, welches einsam in einer Waldlichtung stand.

Er ballte beide Hände zu einer Faust, wie um sich selbst Mut zu machen und sagte lächelnd vor sich hin: „Max, bald bist du reich. Max Iten, bald musst du nicht mehr untendurch und bald wird alles gut.“

Dann kontrollierte er nochmals nach, ob die Haustüre gut verschlossen war, schaute sich nochmals um und verließ das abgelegene Haus.

Das Haus, das er schon als kleines Kind verfluchte. Das Haus, in dem er bei seinen Großeltern aufgewachsen war. Das Haus, in dem ihm immer wieder vor Augen geführt wurde, dass er ein Versager sei. Ein Versager, der es nie zu etwas bringen würde.

Als seine Großeltern körperlich nicht mehr in der Lage waren, sich um den Hof zu kümmern und in ein Altersheim überwiesen wurden, war er kurz vor dem Ende seiner Lehre als Mechatroniker.

Er war während der gesamten Schulzeit ein Außenseiter, dem nichts gelang und dem niemand etwas zugetraut hatte. Aber er hatte die Fähigkeit erlangt, sich immer wieder durch unangenehme Situationen durchzuschlängeln. Nach der Schule war es ihm dank der Hilfe eines Berufswahlzentrums gelungen, eine Lehrstelle zu beginnen. Der Lehrmeister in diesem Betrieb war wohl der erste erwachsene Mensch in seiner Umgebung. Er forderte und förderte Max und Max schien auf einen guten Weg zu gelangen.

Als Automobil-Mechatroniker erlernte er vielseitige Aufgaben und das selbstständige Arbeiten an Personenwagen und Nutzfahrzeugen. Er setzte vielfach computergesteuerte Mess- und Diagnosegeräte ein. Damit prüfte er die Funktionsfähigkeit von Motor, Antrieb, Fahrwerk oder Fahrzeugelektronik. Anhand der Messresultate und mit einer guten Portion Kombinationsgabe ortete er Fehlfunktionen. Die defekten Aggregate reparierte und revidierte er mit Spezialwerkzeugen und elektronischen Testgeräten.

Er fand gefallen am Arbeiten mit dem Computer. Schon bald hatte er einige Freunde, mit denen seine Freizeit im Hause seiner Großeltern an verschiedensten Computern verbrachte.

Mit der Zeit wurde er ein richtiger Computerfreak. Noch vor dem Ende der Lehre war er der Beste der Gruppe. Was mit vielen Spielen begann, endete mit diversen Versuchen, illegale Wege im Netz zu finden, um zu Geld zu kommen. Oder dann wenigstens kein Geld für diverse Spiele auszugeben. Dann kam die Zeit, in denen Sie mit aus den Schwimmbädern in der Umgebung gestohlenen Kreditkarten auf Einkaufstour gingen. Er war nicht der intelligenteste der Gruppe, aber er entwickelte eine Bauernschläue, die es der Gruppe ermöglichte, unerkannt an die bestellte Ware zu gelangen. Sie bestellten Pakete an Adressen, die es gab, und warteten ab, bis die Ware geliefert wurde. Dann holten sie die Pakete vor Ort einfach ab. In den meisten Fällen gelang diese Masche.

Immer tiefer drangen sie ins vorerst kleinkriminelle Milieu ein. Max ließ die Berufsschule sausen, und als auch der Lehrmeister keine Geduld mehr mit ihm hatte, verlor er die Arbeitsstelle. Bisher konnte er sich mit dem kleinen Verdienst und der kleinen Erbschaft über Wasser halten. Doch lange würde das nicht gut gehen – das sah er bald ein.

Und so drang er immer mehr ins Darknet ein. Bestellte sich auch Waffen, die er weiterverkaufte. Für sich wollte er keine. Waffen lehnte er ab, aber zum Geldverdienen waren sie interessant. Hinter dem alten Haus seiner Eltern pflanzte er Hanf an und wurde in der Region schon bald einer der besten Lieferanten für Haschisch mit einem außergewöhnlich hohen THC-Anteil bis zu 15% an. Mit diesen regelmäßigen Nebenverdiensten war ein gutes Leben möglich.

Max besaß die Fähigkeit, sich immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufzuhalten. Wenn irgendwo eine Razzia stattfand – Max war nie vor Ort und seine kleine Plantage hinter dem alten Haus war von der weit unten im Tal durchführenden Straße nicht erkennbar. Für die Polizei war er ein unbeschriebenes Blatt und vom Handel mit Rauschgiften aller Art, die er im Darknet organisierte, kam bald eine ansehnliche Summe zusammen. Schon bald konnte er sich ein Auto leisten und sein Tätigkeitsgebiet ausweiten. Die Geschäfte liefen gut und vom abgelegenen Haus seiner Großeltern eröffnete er immer neue Geschäftsfelder.

Bis zu jenem ominösen Neujahrstag vor fünf Jahren. Es lag kein Schnee und Max lag mit den für diesen Tag üblichen Kopfschmerzen im Bett. Irgendetwas weckte ihn. Er schaute irritiert auf die Uhr. Sieben Uhr morgens. Er hatte noch keine drei Stunden geschlafen und hörte in die Dunkelheit hinein. Es waren mindestens zwei Fahrzeuge, die sich dem Haus näherten. Seine Alarmglocken schrillten, er stand auf und schaute zum Fenster hinaus.

„Erwischt“, dachte er. Max war sofort klar, dass das zwei zivile Fahrzeuge von der Polizei waren, die sich dem Haus näherten. Schnell stürzte er sich in seine Kleider, ging nach unten und holte eine Tasche aus dem Vorratsraum. Schnell schlüpfte er in eine wärmende Jacke und festes Schuhwerk. Dann verließ er das Haus durch den Hintereingang und rannte dem Wald entgegen.

Schon wenige Minuten später hielten die beiden Wagen vor dem Haus und drei Männer und eine Frau in Zivil verließen diese. Dass es sich wohl um Polizisten handeln musste, erkannte Max aus der Ferne, als er sah, dass alle eine Pistole zogen und sich die drei Männer rund um das Haus postierten, während die Frau zur Tür ging. Max hatte wohl in letzter Zeit zu auffällig agiert oder seine Ware an eine falsche Person verkauft. Oder einer seiner Kontakte hatte ihn verraten. Auf alle Fälle war es ihm nun klar, dass er verschwinden musste.

Einige Stunden später stand er an einer Haltestelle einer S-Bahn und löste ein Billett nach Zürich. In Zürich zog er ein weiteres Billett nach St. Gallen. Bevor er den Zug in nach St. Gallen betrat, entsorgte er sein Handy. In St. Gallen betrat er später einen Zug in Richtung Sargans. Was wie eine Irrfahrt aussah, war für ihn der logische Weg. Er würde irgendwann für ihn Verfolgende verschwinden. Er bemühte sich, nicht aufzufallen, und stieg bei der Fahrt nach Sargans bereits in Buchs aus. Hier verließ er den Bahnhof und ging zu Fuß bis über die Grenze ins Fürstentum Liechtenstein. Von Schaan aus nahm er den Bus in Richtung Feldkirch. Schon fünfundzwanzig Minuten später war er in Österreich, ohne dass er je kontrolliert wurde. In der Zwischenzeit hatte er unterwegs jede Kreditkarte, jeden Ausweis, auf den sein Name verzeichnet war, entsorgt. Ab heute hatte er einen neuen Namen. Seine Bauernschläue hatte ihn schon frühzeitig darauf vorbereitet, dass er vielleicht einmal verschwinden musste. Durch seine Verbindungen und das Darknet war es ein Leichtes, sich verschiedene Identitäten anzueignen. Er besaß drei Schweizer Identitätskarten mit verschiedenen Namen, einen österreichischen Pass und verschiedenste Kreditkarten. In der Tasche befand sich neben diesen Ausweisen noch bündelweise Bargeld in Schweizer Franken und Euro. Es würde für lange Zeit reichen.

Die Waffe, die er unterwegs im Bus von Schaan nach Feldkirch aus der Tasche genommen hatte und unter dem Pullover in den Gurt gesteckt hatte, brauchte er glücklicherweise nicht. Am heutigen Neujahrstag waren keine Kontrollen angesagt. Zum Glück für Max. Zum Glück für die Kontrollierenden.

Gegen acht Uhr abends nahm er den Zug nach Innsbruck und war schon zwei Stunden später in der Tiroler Hauptstadt. Hier kannte er einen Kontaktmann, über den er schon diverse Lieferungen Rauschmittel erhalten hatte. Dieser Mann brachte seine Lieferungen jeweils persönlich mit einem Personenwagen in die Schweiz und ließ sich bar bezahlen. Auf dem Bahnhof ging Max zuerst in eine öffentliche Toilette. Dort nahm er einen Schweizer Ausweis hervor, prüfte ihn. Markus Gerber, damit könnte er leben, aber er würde sich die Haare vom Kopf rasieren müssen. Als er den Ausweis in Rumänien anfertigen ließ, schickte er dem Ausweishersteller ein bearbeitetes Foto, auf dem er sich die Haare entfernte. Max dachte immer einen Schritt weiter. Er würde so schnell wie möglich seine lange, blonde Mähne loswerden und hätte dann ein völlig neues Auftreten. Max war sich sicher, dass seine Großeltern ihn mit Glatze nicht erkannt hätten.

Er holte das Handy hervor, welches er unterwegs im Zug aufgeladen hatte und steckte eine Prepaid-SIM-Karte ein. Dann rief er die österreichische Telefonnummer an.

Von diesem Tag an war Max für die Schweizer Behörden ein gesuchter Mann, der sich kurz vor seiner geplanten Festnahme durch Flucht entzogen hatte.

Das war vor fünf Jahren.

Kapitel 15: China?

John Etter stellte seinen Wagen ab. Seine Gefühle waren voller Zweifel. Er hatte zwei Fälle, bei denen er nichts anderes tun konnte, als abzuwarten. Keine neuen Hinweise, keine neuen Spuren. Einfach nichts.

Von der entführten Barbara keine Spur. Ihr Freund, Ruedi Iten, war mit seinen Aussagen auch keine große Hilfe. Und im Fall der Erpressung geschah auch noch nichts. Der Erpresser hatte sich nicht mehr gemeldet.

Für John Etter in deutliches Zeichen dafür, dass der Erpresser kalte Füße bekommen hatte. Wie in den meisten Fällen von Erpressung.

Auf der anderen Seite der Gefühle ließen die Gedanken an den gemeinsamen Abend mit Alina ihm ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Diese Frau war fähig, alle seine negativen Gedanken wegzuzaubern. Und diesen Zauber würde er behalten wollen.

Als er eine halbe Stunde später aus der Dusche kam, war er sich nicht sicher, ob er sein Handy gehört hatte. Er hörte nochmals genauer hin, doch nichts war zu hören. Er machte sich bereit für einen wunderschönen Abend und ging wieder hinunter in die Küche.

Als er sein Handy zur Hand nahm, sah er es. Zwei Anrufe in Abwesenheit und eine SMS von Alina.

Tut mir leid, ist etwas dazwischengekommen. Melde mich später , stand in der SMS.

Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte sich so auf den Abend mit Alina gefreut. Heute wollte er ihr seine Liebe und seine Zukunftsabsichten erklären. Er wollte heute von Alina erfahren, ob ihre Gefühle auch so stark waren wie seine und ob sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen könnte.

„Mist“, sagte er enttäuscht zu sich und holte eine Flasche Johnett hervor. Auch wenn Alkohol die Situation nicht verbessern würde, ein Gläschen würde ihm gut tun. Davon war John überzeugt.

Er setzte sich auf einen Liegestuhl im Garten, beobachtete die Umgebung und fühlte sich allein. In Liebesdingen hatte er bisher kein gutes Händchen bewiesen. Und mit Alina konnte er sich vorstellen, dass sich diese Situation ändern konnte. Immer wieder schaute er aufs Handy und überlegte, sie anzurufen.

Aber er wollte nicht aufdringlich wirken. Und so schenkte er sich noch ein Glas ein und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen.

Kurz nach zweiundzwanzig Uhr vibrierte sein Handy. Alina war dran. Endlich.

Er drückte die grüne Taste. „Hey, mein Schatz, ist was passiert?“

„Und ob. Das kannst du laut sagen. Seit heute Mittag sitzen wir in der Firma zusammen und suchen nach Lösungen. Mein Bruder sitzt in Hongkong in einer Zelle.“

„Ups, das tönt nicht gut. Willst du vorbeikommen?“, fragte John dazwischen.

„Ich weiß nicht, ich glaube, ich bin zur Zeit nicht gerade eine gute Unterhalterin für dich.“

„Um das geht’s doch jetzt nicht. Komm vorbei und wie essen etwas oder trinken ein Glas Wein. Dann kannst du mir erzählen, was geschehen ist. Vielleicht hilft es dir, etwas herunter zu kommen.“

Alina musste nicht lange nachdenken. Sie wollte John auch sehen. „Wir haben hier in der Firma bereits Pizza gehabt, aber ein Glas Wein mit dir würde mir bestimmt guttun. Vielleicht habe ich auch einen Auftrag für dich. Soll ich bestimmt kommen?“

„Bestimmt. Bis bald“, unterstrich John seinen Wunsch.

Eine halbe Stunde später sass Alina neben John im Garten. Das Glas war schon bereit. John hatte anlässlich seines letzten Besuchs in der Distillerie Etter einen Karton Aalto gekauft und jetzt eine Flasche geöffnet.

„Auf uns!“, prostete John Alina zu.

„Auf dich, und dass du viel Geduld mit mir hast“, antwortete Alina.

„Also komm, erzähl von deinem Tag.“

Alina atmete tief ein und bevor sie zu erzählen begann, stand sie nochmals auf, bückte sich zu John hinunter und küsste ihn. Als sie sich wieder gesetzt und einen tiefen Schluck aus dem Glas genommen hatte, begann sie mit den Ausführungen.

„Ich bin heute Morgen, wie immer so gegen sieben Uhr im Büro gewesen, als mein Vater mich anrief. Ich sollte ihn Zuhause abholen, es sei was Dummes geschehen. Ich sollte auch alle verfügbaren Leiter der einzelnen Divisionen zusammentrommeln und eine Sitzung um zehn Uhr einberufen. Ich habe daraufhin seine Sekretärin mit dem Sitzungszeug beauftragt und bin zu meinem Vater gefahren. Er sass bereits am Ausgang des Hauses im Rollstuhl. Kurz darauf waren wir wieder auf dem Rückweg in die Firma. Ich fragte ihn, was geschehen sei. Er meinte nur, dass er fast nicht wisse, wo er anfangen solle, aber das Wichtigste sei, dass alles wieder gerade gerückt werden könne. Er informierte mich lediglich darüber, dass mein Bruder in Hongkong verhaftet worden sei. Wir fuhren in die Firma und um zehn Uhr trafen wir uns im großen Sitzungssaal. Mein Vater wollte vorher in seinem Büro alleine gelassen werden.“

In der Zwischenzeit war Alinas Glas leer. Zwischen den Sätzen hatte sie immer wieder einen kleinen Schluck Aalto getrunken.

„Darf ich dir nachschenken, Liebes?“, fragte John und Alina hielt als Antwort ihm das leere Glas entgegen.

„Und dann? Ließ der alte Herr die Katze aus dem Sack?“

„Das kann man wohl sagen. Er hatte genügend Zeit gehabt, sich auf dieses Gespräch vorzubereiten. Aber es fiel ihm schwer. Zuerst informierte er uns darüber, dass Daniel Schmid, mein Bruder, verhaftet sei. Informiert habe ihn letzte Nacht der Geschäftsführer einer chinesischen Produktionsfirma telefonisch. Scheinbar sei Daniel auf frischer Tat ertappt worden, dass er zusammen mit einigen zwielichtigen Chinesen vorhatte, ein Kasino zu betrügen. Viel mehr konnte der Mann auch nicht aussagen.“

Alina nahm wieder das Glas zur Hand und nahm einen großen Schluck.

„Glaubst du das?“, fragte John.

„Ich weiß es nicht. Aber mein Vater hatte daraufhin den Geschäftsführer der chinesischen Tochterfirma angerufen. Dieser habe ihm bestätigt, dass etwas mit den Büchern nicht stimme. Vermutlich hatte Daniel Geld abgezweigt, um dieses in verschiedenen Spielcasinos auszugeben. Dies sei erst vor zwei Tagen entdeckt worden. Ein Buchhalter hatte herausgefunden, dass eine neu gekaufte Firma nicht existierte und das Geld auf Umwegen auf ein Konto von Daniel gelangte. Dieser hätte Daniel darauf angesprochen und Daniel habe von einem Missverständnis gesprochen und dass der Fall schnell geklärt sei.“

„Geht es um viel Geld?“, wollte John wissen.

„Mehrere Millionen Franken. Genaueres wissen wir zur Zeit auch nicht. Wir waren dann den halben Nachmittag damit beschäftigt, die europäischen Niederlassungen zu prüfen. Doch gottseidank war alles in Ordnung. Das Problem ist nun aber, dass wir nicht in der Lage sind, in China die laufenden Geschäfte zu bezahlen. Nach längerem Hin und Her war klar, dass ich nach China fliegen muss, um den Schaden so klein wie möglich zu halten. Kannst du mich begleiten?“

John war überrascht.

„Ich glaube nicht, dass ich dir vor Ort von großem Nutzen wäre. Ich kenne die Gegebenheiten nicht und habe auch keine nützlichen Kontakte in China. Abgesehen vom Fall wäre es sehr reizvoll, dich so lange an meiner Seite zu wissen. Aber vom Nutzen für eure Firma her gesehen kaum.“

Alina schien diese Antwort geahnt zu haben. „Ist schon gut. Ich habe diesen Gedanken wohl nur in mir getragen, weil ich dich nun doch einige Zeit nicht mehr sehen kann. Und ganz ehrlich, das tut mir weh.“

Alina hatte John damit die Antwort auf die Frage gegeben, die er eigentlich heute hatte stellen wollen. Für sie war es auch mehr als nur ein kurzes Abenteuer.

John stand auf und drückte sich auf den Sitz von Alina. „

Genau über diese Gefühle wollte ich heute Abend mit dir reden. Und genau so geht es mir in diesem Moment auch. Zu wissen, dass du einige Tage oder Wochen weg bist, zeigt mir, wie viel du mir schon jetzt bedeutest.“

Alina stellte ihr Glas auf den Tisch und umarmte John mit einer Träne im Auge. Sie war sich selbst nicht ganz sicher, ob es eine Träne der Trauer, dass sie ihn einige Zeit nicht mehr sehen konnte, oder eine Träne der Freude, über das, was John gerade sagte, war.

Es wurde eine lange Nacht für das Paar. Alina würde so schell wie möglich nach China fliegen und niemand wusste, für wie lange Zeit.

Kapitel 16: Gescheitert

Alina weckte John mit einem zärtlichen Kuss auf. „Ich muss leider gehen. Bleib nur liegen. Ich melde mich telefonisch bei dir, sobald ich mehr weiß.“

Schlaftrunken küsste John Alina und blieb noch eine Weile im Bett liegen. Das Wort Glücklich machte in seinen Gedanken die Runde, als das Handy ihn aus den Tagträumen holte.

„Guten Morgen Bruno. Any news?“ John gab sich alle Mühe, wach zu wirken.

„Guten Morgen John. Ja. Es geht los. Der Erpresser hat sich vor einer halben Stunde gemeldet. Gabriel Galliker muss ab jetzt Stand-by sein. Er würde sich innert einiger Stunden wieder melden.“

„Gut. Ich nehme an, ich kann noch nichts machen. Richtig?“

„Richtig“, bestätigte Bär. „Ich melde mich bei dir, sobald es losgeht. In der Zentrale überwachen wir die GPS-Sender und alles andere ist davon abhängig, wie der Erpresser vorgeht.“

„Gut. Ich bin bereit. Hast du etwas Neues von Barbara Rohner? Das läuft ja auch schon einige Tage.“

„Nein, leider noch gar keine Spur. Erika und Karl Rogenmoser waren mit Hunden bei den Höllgrotten und versuchten, mit Kleidern des Opfers Spuren zu finden. Doch die Hunde verloren die Spur schon kurz nach dem Parkplatz. Leider ist noch kein Hinweis auf die Vermisstenanzeige eingegangen, die zielführend wäre. Alles nur Fehlanzeigen.“

„Gut. Du erreichst mich im Büro. Vielleicht schau ich mich auch nochmals bei den Höllgrotten um. Dort habe ich keinen Handyempfang, aber du kannst beim Kiosk anrufen oder dann beim Restaurant. Am Nachmittag komme ich sicher schnell vorbei.“

Die beiden Freunde verabschiedeten sich und John Etter fuhr kurze Zeit später ins Büro. Wie immer war Susanne fleißig. Wenn gerade nichts Aktuelles zu tun war, suchte sie nach weiteren Hinweisen in aktuellen Fällen. Für die freien Mitarbeiter, aber auch für John. Sie stand mit dem Rücken zum Eingang und John hatte es sich angewöhnt, sehr leise einzutreten. Er näherte sich Susanne und klopfte auf ihre Schulter.

Sie erschrak, wie immer, drehte sich um und schaute mit ihren blauen Augen John böse an. „Irgendwann, irgendwann erwische ich dich so, dass du in Ohnmacht fällst. Ich garantiere es dir!“ Und schon hatte sie wieder ein Lächeln auf dem Gesicht.

„Ja, aber ich bin überzeugt, das wird noch sehr lange nicht geschehen. Ich mache weiterhin dein Herztraining und bin jedes Mal froh, wenn du nicht zu Boden gehst. Gibt’s was Neues?“

„Leider nein. Bruno hatte ich gerade noch am Draht, aber den hattest du auch schon live. Bei den Männern und Frauen draußen läuft alles gut und ich habe allen ein Foto von Barbara ausgehändigt. Wer weiß, vielleicht landen wir einen Glückstreffer.“

„Glückstreffer. Aber Susanne, wir sind doch nicht bei der Polizei“, nahm er seine alten Kollegen hoch. Susanne wusste diese Äußerung richtig zu deuten und lachte.

„Ich habe gegenüber den Rohners ein schlechtes Gewissen. Wir haben absolut keine Ahnung, wo sich ihre Tochter aufhält und wie es ihr geht.“

„Wir machen, was wir können. Das ist alles, was wir vermögen und ich bin überzeugt, dass sie das wissen. Auch wenn das ein schlechter Trost ist“, beruhigte Susanne John.

„Ja, trotzdem.“ John ging in sein Büro. Die abzuarbeitende Post hielt sich in Grenzen. Schon bald machte er sich auf den Weg zu den Höllgrotten und wollte sich verabschieden. Susanne drückte ihm noch ein altes Funkgerät in die Hand.

„Danke, meine Perle. Du bist unbezahlbar“, verabschiedete er sich. Er war nun auch im Lorzentobel, bei den Höllgrotten erreichbar. Wenigstens draußen.

Kurze Zeit später begrüßte ihn Robby, der vor dem Kiosk stand. „Hallo John. Na, tut sich was in deinem Fall?“

„Leider nein. Ist dir in den letzten Tagen etwas aufgefallen?“

„Ebenfalls leider nein“, antwortete Robby. „Willst du an einer Führung durch die Höllgrotten teilnehmen? Dort geht gerade eine Gruppe den Weg hoch.“

„Gerne, wenn du meinst, das geht.“

Robby rief den Mann, der die Gruppe anführte. Dieser drehte sich um und Robby machte unmissverständliche Gesten, dass John auch noch mit sollte. John bedankte sich, lief den Weg ebenfalls hoch und schloss sich der Gruppe an. Etwas Besseres konnte er zur Zeit nicht machen. Im Moment war es so, wie damals bei der Polizei oder zu Zeiten des Militärdienstes. Warten, warten, hetzen, warten, warten. Zu verlieren hatte er im Moment nichts.

Er erfuhr viel Neues und einiges, was er früher schon wusste, wurde wieder ins Gedächtnis gerufen. Und einiges hatte ihm Julia, die Wirtin des Höllgrottenrestaurants, bereits erzählt.

Der ältere Herr erzählte lebendig und interessant: „Auch wenn es im Berginneren düster ist und vielleicht moderig riecht, mit Hölle hat der Name dieses Höhlensystems gar nichts zu tun. Vielmehr stammt er vom mundartlich verbreiteten Ausdruck häl für glitschig und rutschig ab. Tatsächlich ist die Oberfläche der abgelagerten Tropfsteine äußerst glatt.

An dem Ort, in der engen Schlucht der Lorze, wurde schon seit längerer Zeit Tuffstein abgebaut. Dieses Baumaterial war sehr beliebt, weil es leicht zu bearbeiten und dank der löcherigen Struktur sehr leicht ist. Bei diesem Abbau entdeckten die Arbeiter in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine der größeren Höhlen, der heute Dom genannt wird. Wenige Jahre später wurden die Bärenhöhle und das Zauberschloss freigelegt. Glücklicherweise erkannte der Besitzer des Steinbruchs die Bedeutung dieser prächtigen Naturphänomene und machte sie für die Öffentlichkeit zugänglich. Dank gesicherter Wege und Treppen im Berginneren und dank einer fantastischen Licht-Show können wir die wundervoll geformten Stalagmiten und Stalaktiten bewundern und bestaunen.

Das kalkhaltige Wasser tritt an einer undichten Stelle des über der Höhle liegenden Erdreichs oder Felsen aus und tropft stetig auf den Boden hinab. Durch die Verdunstung des Wassers scheidet sich der Kalk aus und bildet an der Decke dünne Röhrchen, die irgendwann, wenn das Wasser an dessen Außenseite herunter fließt, auch in die Dicke wachsen. Wo die Tropfen auf dem Boden auftreffen, bildet sich durch das Spritzwasser ein anfangs vogelnestähnliches Gegengebilde. Dieser Stalagmit ist immer dicker als der obere Stalaktit.

Wird der Stalaktit zu schwer, kann er sich nicht mehr an der Decke halten und bricht ab. Wachsen die beiden zusammen, entsteht eine Tropfsteinsäule oder Stalagnat genannt. Sollte sich im Umgebungs-Gestein die Tropfstelle verschieben, können sich ganz Vorhänge bilden, die den exakten Verlauf der Verschiebung abbilden.“

Er ließ die Besucher an den vielfältigen Figuren, die sich je nach Fantasie erahnen ließen, teilhaben. Als sie in den unteren Teil der Grotten kamen, die über einen kurzen Weg außerhalb erreicht werden kann, erkannte John den Teil der Grotte, wo im hinteren Teil die Whiskyfässer der Firma Etter lagerten. Sie wurden zwar an der Informationstafel beschrieben, doch erst, als jemand mit einer Taschenlampe nach hinten leuchtete, waren sie gut sichtbar.

Die Gruppe verließ langsam die Grotte und John blieb zurück. Der Erpresser musste also einen unwegsamen Weg im Wasser zu den Whiskyfässern laufen. Das wäre nicht so einfach. Auf alle Fälle würde er nass oder er müsste einen Neoprenanzug anhaben. Oder mindestens Hüftstiefel, so wie Angler sie besaßen. Ein eigentlich unnötiges Unterfangen. Allein der Brief an der Hinweistafel hätte bestimmt seine Wirkung erzielt.

John stellte sich den Mann vor, wie er hier in der Grotte war. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Das war bestimmt kein Profi. So viel Aufwand wäre niemals nötig gewesen. Er hätte, so wie er, einer Gruppe folgen können und dann den Brief anbringen. Das hätte bestimmt gereicht.

John verließ die Grotte und schaute sich die Spuren an der Türe nochmals an. Hier hatte sich der Täter sehr professionell verhalten. Er hatte das Schloss aufgebohrt und war so nach draußen gelangt. Und wieder ging John in Gedanken den Weg ab. Der Täter musste irgendwann am späten Abend die Grotte verlassen haben. Und dann ist er auf das Liebespaar Rohner und Iten gestoßen.

Von hier aus gab es eigentlich nur zwei Wege, die man mit einer Geisel gehen könnte. Der Lorze entlang in Richtung Baar oder dann das Lorzentobel hinauf Richtung Ägerital. Und wenn sich der Täter nicht auskannte, war der Weg nach oben eigentlich keine Alternative. Er muste irgendwie in Richtung Baar gefahren sein. Aber diese Gedanken brachten John auch nicht weiter. Niemandem ist irgendetwas aufgefallen. Es war zum Verzweifeln. Er dachte an die Eltern von Barbara, denen es noch viel schlimmer ergehen musste und natürlich auch an Barbara selbst. Zum ersten Mal dachte er daran, dass Barbara vielleicht nicht mehr am Leben war. Doch er war Profi genug, diesen Gedanken wieder beiseitezuschieben. Solange keine Leiche gefunden war, lebt die Person.

Robby unterbrach seine Gedanken. „Na, wenn du nicht auch arbeitsmäßig hier durchgelaufen wärst, wäre das doch ein tolles Erlebnis, nicht?“

„Da kann ich dir nur recht geben. Ich komme bestimmt einmal mit meiner Partnerin vorbei. Es ist wirklich ein Erlebnis. War noch was? Wurde ich gesucht?“, fragte John und Robby schüttelte den Kopf.

„Nein, erwartest du einen Anruf? Hast ja dein Funkgerät dabei. Hier draußen sollte das funktionieren.“

„Gut beobachtet. Aber es hätte sein können, dass Bruno Bär mich sucht. Der weiß nicht, wie er mich sonst erreichen kann.“

John genehmigte sich bei Robby noch einen Kaffee in der Hoffnung, noch etwas zu erfahren. Doch Robby musste ihn enttäuschen. Zu viele Menschen kreuzten bei schönem Wetter seinen Weg.

Im Kiosk läutete das Telefon und fast gleichzeitig krächzte es aus dem Funkgerät. Robby ging in den Kiosk und John drückte auf das Funkgerät.

„Ja, Susanne, was ist?“

„Es geht los. Bruno sucht dich. Sie hatten Kontakt.“

„Ich fahre sofort ins Präsidium.“

Robby winkte aus der Tür und John fragte: „Ist es Bär? Bruno Bär?“

„Ja“, antwortete Robby.

„Sag ihm, ich komme sofort zu ihm.“ Robby verschwand im Kiosk und ohne sich zu verabschieden und den Kaffee auszutrinken rannte John zu seinem Wagen.

Keine zwanzig Minuten später betrat er die Einsatzzentrale. Gespannt wartete ein Team, dass sich noch etwas tat.

Bruno Bär begrüßte John. „Er hat Galliker eine SMS geschickt. Er soll in Richtung Affoltern fahren und das Handy mitnehmen.“

„Oje, das tönt nach einer Irrfahrt durch die Gegend, damit der Täter irgendwo feststellen kann, dass er Galliker nicht verfolgt wird.“

„Ja, das habe ich auch als Erstes gedacht“, antwortete Bär.

„Na dann, lass uns etwas fernsehen. Habt ihr alle Signale?“

„Ja, funktionieren tadellos. Keine Sorge um deine Babys.“

John lächelte. „Habe keine Angst. Jedes, welches den Weg zu mir zurück nicht findet, wird dir in Rechnung gestellt.“

Bär atmete tief durch. Diese Rechnung würde er wieder erklären müssen. Aber, wenn der Fall aufgeklärt würde, wäre das kein Problem.

Vier Beamte schauten auf den Bildschirm. Die kleinen, leuchtenden Punkte bewegten sich auf der Autobahn in Richtung Affoltern. Daneben sah man auf einem Bildschirm eine Handyübersicht. Man sah zeitnah alles, was auf dem Handy geschah und hörte auch, was gesprochen würde. Aber das Handy blieb still.

Die Punkte verließen die Autobahn und nun fuhr er ins Dorfzentrum von Affoltern. Nichts geschah. Galliker hielt den Wagen scheinbar auf dem Bahnhof kurz an und drehte um. Langsam verließ er Affoltern wieder auf dem selben Weg, wie er gekommen war.

Das Bild von Handy auf dem Bildschirm leuchtete auf.

Fahren sie jetzt zum Seleger Moor. Auf dem Parkplatz erhalten sie weitere Anweisungen.

Die Punkte auf dem Bildschirm bewegten sich aus Affoltern in Richtung Rifferswil, wo das Seleger Moor eine Touristenattraktion war. Zehn Minute später stellte Galliker den Wagen ab und wartete.

Das Team um Bär wartete ebenfalls. Ein Team in Zivil wurde nach Zug beordert und musste dann in großem Abstand den Anweisungen Bärs folgen.

Ab jetzt gilt es ernst. Ich habe sie bisher nur geprüft. Fahren sie jetzt an den Zugersee zurück.

Galliker wendete den Wagen und fuhr nun absichtlich die Hauptstraße nach Zug zurück. Der Erpresser hatte nicht vorgegeben, welchen Weg er nehmen sollte. Vielleicht würde er im Rückspiegel einen Wagen sehen, der ihn verfolgte. Doch alle Wagen, die er ab und zu im Rückspiegel sah, fuhren irgendwann einen anderen Weg. Er fuhr mitten in die Stadt Zug.

Fahren sie an den Ägerisee. Morgartendenkmal. Parkplatz.

Galliker wurde langsam unruhig. Was sollte dieses Spiel? Doch er machte gute Miene zum schlechten Spiel und fuhr nun den Berg hinauf an den Ägerisee.

Eine halbe Stunde später hielt er auf dem Parkplatz an. Etwa zehn Minuten tat sich nichts.

Nehmen Sie den Koffer und gehen Sie zum See.

Galliker verließ den Wagen, öffnete die hintere Tür und holte den Koffer hervor. Dann lief er über die Straße an den See.

Gehen Sie bei der Haltestelle an den See hinunter. Befestigen Sie den Koffer auf dem Bodyboard. Drehen Sie es in Richtung Unterägeri und bleiben sie dort. Nehmen Sie das Handy mit.

Erst jetzt erblickte Galliker das Bodyboard im Wasser. Eine ganz einfache Schwimmhilfe in Boardform. Es war mit einer Schnur festgemacht. In der Mitte des Boards war eine Netzvorrichtung angebracht, die es Galliker erlaubte, den Koffer zu befestigen. Dann löste er die Schnur und drehte das Board in Richtung Unterägeri am unteren Ende des Sees. Erst jetzt erkannte er die Antenne, die hinten ein wenig aus dem Wasser ragte und an deren Ende ein Motor am befestigt war.

Ein leises Geräusch setzte ein, wie das Gurren von Tauben und das Bodyboard entfernte sich langsam vom Ufer. Als Fahrtrichtung konnte Galliker erkennen, dass das Bodyboard in Richtung Wald auf der anderen Seite des Sees fuhr. Galliker blieb wie geheißen stehen und beobachtete das gegenüberliegende Ufer. Doch er konnte niemanden ausmachen. Gegenüber von seinem Standort wäre es ein Leichtes gewesen, jemanden zu sehen. Doch das Gerät fuhr weiter Richtung Bergwald. Vom Ende des Sees kam ein Segelboot entgegen, doch er fuhr nicht in Richtung des Boards. Dennoch kreuzten die Wellen, die das Boot hinter sich herzog das Bodyboard.

Üblicherweise waren solche Wellen kein Problem. Doch üblicherweise lag auch ein Mensch mit dem Oberkörper drauf. Die Wellen schafften es, das Board in eine Schräglage zu bringen und ausgerechnet der Motor schaffte es, die Schwimmhilfe vollends umzudrehen.

Entsetzt sah Galliker dem Geschehen zu. Er hoffte, dass wenigstens der Koffer am Board sich nicht löste.

Abbruch. Retten sie das Geld. Ich melde mich wieder.

Gabriel Galliker lief die Treppen hoch zur Straße, überquerte sie und lief in Richtung Restaurant Buechwäldli. Er brauchte dringend jemanden mit einem Boot. Hier wurde er bereits von zwei Beamten in Zivil empfangen. Einer der beiden machte sich gerade mit dem Besitzer eines Bootes auf und wies Galliker an, sie zu begleiten.

„Sicher ist sicher. Und wenn der Täter uns beobachtet, ist es gut, wenn er Sie auf dem Fischerboot sieht.“

Bruno Bär rief John an. Er hatte selbstverständlich mit den anderen Beamten im Überwachungsraum festgestellt, dass die GPS-Daten mitten auf dem See stehen geblieben waren.

Nachdem John Bruno über das Kentern des Boards informiert hatte, gingen die Beamten im Tal wieder auf Stand-by.

Die drei verließen kurz darauf das Restaurant und gingen zu einer Bootsanlegestelle in der Nähe. In der Ferne konnten sie das umgedrehte Board mit dem Antrieb nach oben sehen.

Als sie das Ziel erreicht hatten, wies der Polizist Galliker an, den Koffer persönlich an Bord zu nehmen. Nachdem dies geschehen war, nahmen sie das Board ins Boot und fuhren zurück.

Der Polizist in Zivil untersuchte das Board näher. Es handelte sich um das Modell Wave Rebel Vector 42" und lag wohl preislich über dem Durchschnitt dieser Art Boards. Später googelte John nach dem Board und fand heraus, dass dieses in der Schweiz nicht offiziell erhältlich war. Ein Anhaltspunkt dafür, dass der Besitzer es wohl im Internet erworben hatte. Vielleicht hatte der Erpresser es aber auch nur irgendwo gestohlen. Bruno Bär würde sich darum kümmern. Vielleicht gab es einen Hinweis auf einen Käufer aus der Schweiz.

Sie betraten zu dritt das Restaurant und bestellten sich je ein Bier. Das hatten sie jetzt verdient. Gabriel Galliker schaute immer wieder auf das Handy, doch nichts tat sich.

„Ich glaube, der Erpresser ist im Moment mit der Flucht aus dem Ägerital beschäftigt. Ich nehme nicht an, dass er das Tal auf den Hauptstraßen verlassen wird. Was meinen Sie?, fragte er den Polizisten.

„Kaum. Wir überwachen auch nicht jede Straße. Er kann auf so vielen Wegen zurück ins Tal und wir haben absolut keine Anhaltspunkte. Es wäre gut gewesen, hätte er den Koffer erhalten. Das war einfach Pech.“

John Etter und Gabriel Galliker nickten ihm zu. Ab jetzt war wieder warten angesagt und die drei verließen gestaffelt das Restaurant und machten sich auf den Rückweg.

John Etter rief von unterwegs Gabriel Galliker an.

„Ich glaube kaum, dass der Erpresser heute nochmals eine Übergabe vorschlagen wird. Fahren Sie nach Hause. Ich begebe mich in die Zentrale und werde live erfahren, wenn er sich wieder meldet.“

„OK. Ich melde mich sonst morgen früh einmal bei Ihnen“, verabschiedete sich Galliker von Etter.

Zwanzig Minuten später sass John neben Bruno Bär in der Zentrale. Die GPS-Punkte waren wieder in der Distillerie Etter angekommen. Vermutlich hatte Galliker den Koffer wieder im Büro versteckt.

„Ich nehme nicht an, dass diese Nacht noch etwas Wichtiges geschehen wird“, bestätigte Bruno ungefragt Johns Gedanken. Geh du mal nach Hause. Wir melden uns.“

Es war ungewöhnlich, dass gar keine Nachricht mehr auf dem Handy bei Galliker hereinkam. Aber John nahm den Rat seines Freundes gerne an. Er würde gleich noch zu Alina fahren. Vielleicht war sie ja noch wach. Unterwegs rief er sie an und Alina war froh, dass John sich meldete.

Wenig später parkte er seinen Wagen vor ihrem Haus. Sie erwartete ihn mit zwei Gläsern Rotwein in den Händen. John nahm ihre Wehrlosigkeit war, umarmte sie fest und küsste sie hemmungslos. Alina wehrte sich nicht. Als sie sich wieder lösten, reichte sie ihm ein Glas und sie stießen an.

„Auf die Zukunft“, meinte Alina und John stellten sich die Haare auf dem Unterarm.

„Oh, ja, auf unsere Zukunft“, antwortete er.

„Auf eine Zukunft, die am Anfang viel Geduld und Vertrauen braucht.“

John stutzte, doch er konnte sich ausmalen, was Alina meinte.

„Wann musst du weg?“

„Ich fliege morgen Mittag und habe nur den Flug nach Hongkong gebucht. Ich habe keine Ahnung, wann ich zurück bin. Leider.“

„Weißt du schon mehr über deinen Bruder. Wie geht es ihm? Ist er noch im Gefängnis?“

„Nein, keine Ahnung und ja“, antwortete Alina wie aus der Pistole geschossen. „Aber heute Abend und in dieser Nacht will ich keine Gedanken an meinen Bruder verlieren. Ich kann dir dann, wenn uns nichts anderes übrig bleibt, als zu telefonieren oder zu skypen, darüber erzählen.“

„Gute Idee“, meinte John.

Alina nahm in bei der Hand, zog ihn, der immer noch an der Türe stand, in die Wohnung und direkt in Richtung Schlafzimmer.

Kapitel 17: Zwischenspiel

Der Abschied am folgenden Morgen fiel kurz aus. Viel zu kurz für John. Viel zu kurz für Alina.

John erhielt einen Anruf aus dem Kommissariat von Erika Rogenmoser, die von Bruno die Nachtschicht übernommen hatte. Schon bald war er auf dem Weg ins Kommissariat. Alina würde für mindestens eine Woche in Hongkong sein, aber sie würden sich so häufig wie möglich telefonisch hören oder via Skype hören und sehen.

Sie hatten sich beide daran gehalten und keine beruflichen News ausgetauscht. Zu sehr waren sie miteinander beschäftigt.

„Hallo John“, begrüßte in Erika mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. „Kann es sein, dass ich dich gestern in den selben Kleidern im Kommissariat gesehen habe?“

John ging nicht auf ihre Anspielung ein. „Was gibt’s Neues?“

„Der Erpresser hat sich wieder gemeldet. Vor etwa einer Stunde.“ Erika zeigte auf den Bildschirm.

Ich melde mich heute Vormittag wieder. Seien sie bereit!

„Wieder warten. Hast du mir einen Kaffee?“, fragte John Erika.

„Sicher, als ehemaliger Kollege hast du das doch verdient“, antwortete sie nicht ohne Unterton. Demonstrativ drückte sie dem Beamten, der vor den Bildschirmen sass, auf die Schulter. „Willst du auch noch einen?“

„Gerne. Mit Milch und Zucker.“

Minuten später kam sie zurück. „Einmal mit Milch und Zucker und einmal schwarz mit Zucker.“ Sie wusste es immer noch, auch nach Jahren. Und nach nur einer gemeinsamen Nacht. Sie arbeiteten als Polizisten zusammen in der selben Dienststelle, aber nur in Ausnahmefällen gemeinsam an der selben Sache. Zum Glück.

Wie versprochen rief John Etter Gabriel Galliker an.

„Alles in Ordnung. Fühlen Sie sich gut genug, um es heute nochmals zu versuchen?“

„Kein Problem. War riesiges Pech gestern. Ich hoffe, heute klappt es mit der Übergabe. Reichen die Batterien in den Geldpaketen noch?“

Gabriel Galliker war ein Mann, der mitdachte. Das gefiel John. Er checkte die Anzeige auf dem Bildschirm. „Ja. Kein Problem. Die halten bei diesen Temperaturen länger als geplant. Machen Sie sich keine Sorgen.“

John Etter verabschiedete sich von einem seiner Auftraggeber und dachte sofort an die Familie Rohner, die immer noch kein Lebenszeichen von ihrer Tochter hatte.

Bruno Bär betrat das Büro. „Wie schätzt du den Täter ein?“, war seine erste Frage an John.

„Nun, ich denke, er ist noch sehr jung und unsicher. Seine Schreibweise zeigt deutliche Zeichen von Obrigkeitsgehorsam. Er scheint daran gewohnt, freundlich zu sein. Was meinst du?“

„Ja, eine Profilerin hat mir dasselbe gesagt. Leider bringt uns das nicht weiter.“

„Ich hoffe nur, dass er Barbara in seiner Nähe hat. Vielleicht haben wir dann die Chance, sie zu befreien, wenn er sich in Sicherheit wägt.“

„Dein Wunsch in Gottes Ohr“, meinte Erika dazu.

„Na, den lassen wir hier besser außen vor und machen unseren Job hoch professionell.“

Bruno nickte ihm zustimmend zu. Beide konnten mit Gott, Göttern und anderen gottähnlichen Figuren nichts mehr anfangen. Dazu hatten sie in ihrem Beruf zu viele schreckliche Taten miterlebt.

„Ich habe da so eine Idee. Komm mal mit.“ Bruno zog John am Arm und zog ihn vor das Büro. Als die Türe verschlossen war, fuhr er fort. „Was hältst du von der Idee, dem Erpresser, der höchstwahrscheinlich auch der Entführer von Barbara Rohner ist, ein Austauschangebot zu unterbreiten?“

John Etter überlegte kurz. „Und wenn diese Barbara Rohner nicht mehr lebt oder er sie nicht hat?“

„Wie groß meinst, du sind die Chancen, dass er nicht weiß, wo sich Barbara Rohner aufhält?“, erwiderte Bär.

„Schon sehr klein. Aber wenn wir das tun, weiß er, dass wir mehr wissen, als er wohl denkt. Immerhin läuft eine schweizweite Suche nach Barbara und in den großen Zeitungen wurde der Fall auch gestern noch als Vermisstenfall gehandelt. Er sieht sich sicher in diesem Fall auf der sicheren Seite.“

John überlegte und fügte an: „Meinst du nicht, wir sollten ihm die Gelegenheit geben, das Geld zu übernehmen. Die Chancen, ihn dann zu erwischen scheinen mir ungleich größer. Und wenn wir ihn einmal festgesetzt haben, wird er wohl wissen, dass seine Chancen auf eine angemessene Strafe besser sind, wenn er uns mitteilt, was er über Barbara Rohner weiß. Meinst du nicht?“

Bär nickte. „Mir ist einfach nicht wohl, beim Gedanken, dass wir noch absolut keine Spur von Barbara Rohner haben. Ich habe gegenüber den Eltern ein schlechtes Gewissen, auch wenn ich ihnen nie begegnet bin“.

„Verstehe ich doch“, entgegnete John. „Aber so viel ich weiß, wurde in der Zwischenzeit alles getan, um eine Spur zu finden.“

„Ja, das haben wir. Wir waren noch ein weiteres Mal mit Hunden unterwegs. Dann war ein Hubschrauber mit Wärmekamera über den Wäldern rund um das Höllgrottengebiet unterwegs. Die Presse macht schön mit. Aber du weißt, wie groß die Chancen stehen, wenn eine Person so lange vermisst wird. Wir müssen diesen Erpresser so schnell wie möglich ergreifen.“

„Ich glaube, wenn der Erpresser Barbara Rohner als sagen wir mal Pfand gefangen hält, ist die Chance groß, dass ihr nichts oder wenigstens nicht viel geschieht. Sollte er in Besitz des Geldes gelangen, wird er sie wohl freilassen. Meinst du nicht?“

„Eine Möglichkeit, ja. Aber nur eine.“ Bruno schaute John mit einem Blick an, der jeden Ausgang dieses Falles offen ließ.

Ihr Gespräch wurde von Erika Rogenmoser unterbrochen. „Kommt rein. Es geht wieder los!“

Unverzüglich begaben sich die beiden in den Kommandoraum.

Es geht heute Abend um zwanzig Uhr los. Wenn sie die Polizei involvieren, geschieht etwas Schreckliches! Diesmal wird die Übergabe klappen.

„Was soll diese Drohung?“, fragte Erika. Für den Täter hat sich doch nichts verändert. Er konnte doch selbst feststellen, dass es nicht die Schuld von Galliker war.“

John und Bruno schauten sich zunickend an. „Vielleicht kommt jetzt die entführte Barbara Rohner ins Spiel“, meinte Bruno zu Erika, die diesem Gedankengang sofort folgen konnte. Auf alle Fälle müssen wird dafür sorgen, dass die Geldübergabe zu hundert Prozent gelingt und er sich in Sicherheit wähnt.“

Alle im Raum nickten.

„Dann haben wir vermutlich den ganzen Nachmittag Zeit. Ich werde zu Galliker fahren und die kleinen Batterien in den Geldpaketen auswechseln. Ich möchte nur ganz sicher sein. Damit es nicht auffällt, werde ich mich, sollte es eine Führung durch die Firma geben, dieser Gruppe anschließend und bleibe bis nach der Führung vor Ort. Wie mir Gabriel Galliker einmal erklärt hatte, finden die meisten Führungen in den letzten Arbeitsstunden der Firma statt und dauert rund neunzig Minuten.“ John holte das Handy hervor und rief in der Firma Etter an. Kurze Zeit später verabschiedete er sich von seinen ehemaligen Kollegen. „Also dann, bis heute Abend. Erholt euch bis dahin.“

Kurz nach halb vier Uhr stand John Etter bei Gabriel Galliker im Büro und tauschte die Batterien aus. Für sechzehn Uhr war eine Gruppe Leute angemeldet, die sich für eine Führung angemeldet hatte. Nach einem kurzen Gespräch mit Galliker bemerkte John, dass Galliker die neuerliche Geldübergabe sehr abgeklärt sah. Das war für das Vorhaben von Vorteil. John hatte schon einige solcher Fälle begleitet. Es blieb den beiden nur eins, abzuwarten.

Das Gespräch lief zwangsläufig auf Erpressungen und die Erfahrungen von John Etter zu. Nur zu gut erinnerte er sich an die Anfangszeiten als Polizist und an die Zeiten, als Erpressungsversuche bei Firmen eine richtige Hochzeit hatten.

Kapitel 18: Dagobert

Die meisten solcher Fälle erlebte John Etter noch als Polizist, als es viele Trittbrettfahrer gab, die meinten, eine Erpressung sei eine einfache Sache. Ein berühmter Fall aus Deutschland machte zu jener Zeit, als er gerade Polizist in Zug wurde, Schlagzeilen. Das war etwa fünfundzwanzig Jahre her und der Erpresser wurde Dagobert genannt.

Im Juni 1992 erschien im "Hamburger Abendblatt" eine seltsame Anzeige: "Onkel Dagobert grüßt seine Neffen." Was klang wie ein Scherz eines überzeugten Walt-Disney-Fans, war eine vom Kaufhaus-Konzern Karstadt geschaltete Nachricht. Der verabredete Text signalisierte einem Erpresser die Zahlungsbereitschaft des Unternehmens. Eine Million Mark fordert der Erpresser, sonst werde er Bomben in den Kaufhäusern zünden. Tatsächlich ließ er in der folgenden Nacht eine Rohrbombe in der Porzellanabteilung einer Hamburger Karstadtfiliale explodieren, um der Forderung Nachdruck zu verleihen.

Die Polizei vermutete in dem Erpresser einen alten Bekannten. Bereits 1988 wurde das Berliner Kaufhaus KaDeWe um eine halbe Million Mark erpresst. Auch damals explodierte nachts ein Sprengsatz im Kaufhaus; das Lösegeld warfen Polizeibeamte auf Anweisung des Erpressers aus einer fahrenden S-Bahn. Vier Jahre später nun die gleiche Handschrift: Auch diesmal soll das Geld aus einem fahrenden Zug abgeworfen werden.

Beim Karstadt-Erpressungsfall 1992 verfeinerte der Täter den Übergabeplan. Damit er selbst über den Ort des Abwurfs bestimmen konnte, installierte er eine magnetische Metallhalterung an einem Zug auf der Strecke Berlin - Rostock. Per Fernsteuerung sollte sich die Vorrichtung vom Waggon lösen. Nach einem Fehlversuch löste sich der Magnet im zweiten Anlauf planmäßig. Der Erpresser floh mitsamt Geldtasche auf einem Fahrrad. Doch in der Tasche befanden sich nur wenige Scheine - der Rest war mit Papierschnipseln aufgefüllt.

Der Täter gab sich mit der geringen Summe nicht zufrieden und beharrte auf seiner Forderung. In den folgenden zwei Jahren lieferte sich "Dagobert" - wie der Täter aufgrund der ersten Zeitungsanzeige inzwischen von der Presse genannt wurde - ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Bei rund dreißig versuchten Geldübergaben konnte Dagobert immer wieder entkommen. Vier weitere Bomben zündete er in norddeutschen Karstadtfilialen, dazu eine in Berlin. Wie durch ein Wunder wurden bei den Detonationen lediglich zwei Menschen leicht verletzt: Zwar zündet "Dagobert" die meisten Sprengsätze nachts, doch in zwei Fällen explodieren seine Bomben in Fahrstühlen, während sich Kunden und Mitarbeiter in den Kaufhäusern aufhielten.

Dennoch sympathisierte die Öffentlichkeit mit dem findigen Kaufhauserpresser. Der namensgebende Comic regte die Fantasie der Menschen an. Die Raffinesse seiner technischen Konstruktionen, mit denen der Erpresser an das Geld kommen wollte, erinnerten stark an den Erfinder Daniel Düsentrieb. Auch die Medien griffen das Comic-Vokabular bereitwillig auf: "Düsentriebtäter Dagobert" oder "Dagoberts Gullytrick - gluck, gluck, weg" lauteten die Schlagzeilen der Boulevardpresse.

Immer wieder überraschte "Dagobert" die Polizei mit überaus kreativen Geldübergaben. So platzierte er eine Streusandkiste auf einem Gullydeckel in Berlin. Von unten öffnete er das Versteck und entkam wieder einmal mit einer Tasche. Darin: wenige Geldscheine und viel wertloses Papier. Dazu kamen Fahndungspannen der Ordnungshüter. Bei einem Zugriffsversuch entkam der Erpresser, weil der verfolgende Polizist just in dem Moment ausrutscht, als er den Flüchtenden am Kragen packen wollte.

Für viel Aufsehen sorgte ein spektakulärer Übergabeversuch im Januar 1994: Mit einer selbst gebauten Mini-Lore wollte "Dagobert" das Geld zu einem Versteck fahren lassen. Dafür hatte er ein stillgelegtes Gleis in Berlin präpariert. Dank Stolperdrähten und Feuerwerkskörpern konnte das Mini-Fahrzeug die Beamten auf der etwa einen Kilometer langen Strecke erfolgreich abhängen. Doch 30 Meter vor dem Ziel kippte die Lore aus den Schienen. Besonders ärgerlich für "Dagobert": In diesem Fall lagen tatsächlich die inzwischen geforderten 1,4 Millionen Mark in der Tasche.

Am 22. April 1994 endete einer der längsten und aufwendigsten Erpressungsfälle in der deutschen Kriminalgeschichte. Gut zwei Jahre lang hatte "Dagobert" die Polizei genarrt, die Öffentlichkeit mit seinen Tricks fasziniert und ein Unternehmen viele Nerven gekostet. In einer Berliner Telefonzelle schnappt die Polizei schließlich den Erpresser Arno Funke. Der war froh, dass es vorbei war. Und er war wider Erwarten kein Walt-Disney-Fan, denn sein Pseudonym war rein zufällig gewählt: Auf der Suche nach einem markanten Satz, mit dem Karstadt Zahlungsbereitschaft signalisieren sollte, war sein Blick im Juli 1992 auf eine Tasche mit aufgedruckter Dagobert-Duck-Figur gefallen.

Das Motiv des arbeitslosen und depressiven Arno Funke war Geld. Er hatte an Selbstmord gedacht und mit der Erpressung seinem Leben eine Wende geben wollen, so Funke vor Gericht. Sieben Jahre und neun Monate Haft wegen schwerer räuberischer Erpressung sowie 2,5 Millionen Euro Schadenersatzzahlung lautete das Urteil am 17. Januar 1995. Während seiner Haftzeit wurden bei Funke Hirnschädigungen durch Lösungsmittel festgestellt, die er während seiner Tätigkeit als Kunstlackierer in einer Werkstatt eingeatmet hatte. Diese Schädigungen und die daraus resultierenden Depressionen wirkten bei der Revision des Falls 1996 strafmildernd - sonst wären es wohl mehr als neun Jahre Freiheitsstrafe für den damals 46-Jährigen geworden.

Funke, dem in einem Gutachten ein hoher Intelligenzquotient attestiert wird, unterzog sich in der Haft einer erfolgreichen Therapie. Gleichzeitig schrieb er eine Autobiografie und begann, Karikaturen für das Satiremagazin "Eulenspiegel" zu zeichnen. Der gelernte Schilder- und Lichtreklamemacher lebte seit seiner Entlassung im August 2000 als Grafiker und Buchautor in Berlin. Immer wieder suchte Funke die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, trat in Talk- und Fernseh-Shows auf.

John erinnerte sich noch gut an die folgenden Jahre. Erpressungen aller Art wurden von Trittbrettfahrern meist erfolglos durchgeführt. Er selbst hatte bei vielen solchen Ermittlungen mitgearbeitet. Bei sämtlichen ihm bekannten Fälle, wurden die Erpresser geschnappt. Vielleicht gab es einige Erpresste, die die Polizei nicht eingeschaltet hatten, aber bei den Fällen, die er mitbetreute, kam kein Erpresser lange davon.

Die Schilderungen über die Ergebnisse ließen Galliker zufrieden im Sessel zurücklehnen. In wenigen Minuten würde die Führung durch die Firma beginnen.

Kapitel 19: Mehr als „Schnaps“

John Etter begab sich in den Empfangsbereich der Distillerie. Wenige Minuten später war eine Gruppe von einem Dutzend interessierter Menschen versammelt. Er mischte sich unter die Menschen und schon bald übernahm ein pensionierter Lehrer die Führung.

Er erzählte die interessante Geschichte der Familie Etter, die keinen Bezug zu John Etter hatte. Die Namensgleichheit war wirklich zufällig. John hatte schon früher kurz recherchiert, aber keine Verwandtschaft ausmachen können.

Neben vielen Nebenschauplätzen folgten einige Hauptpunkte der Geschichte der Familie.

1823 wurde die Kirschherstellung aus eigenen Kirschen auf dem Bauernhof «Bergli» in Menzingen, einem damals kleinen Dorf hoch über dem Zugersee, erstmalig erwähnt. Bauer Johann Baptist Etter betrieb dort das Brennen als Nebenerwerb und legte so den Grundstein für diese Erfolgsgeschichte. 1870 gründete der direkte Nachkomme Paul Etter die gewerbliche Brennerei ETTER an der Poststraße in Zug und 1923 übernahmen die beiden Brüder Johann und Josef Etter das Unternehmen. Drei Jahre später begann der Bau einer neuen Brennerei an der Baarerstraße, am damaligen Stadtrand von Zug. Johann Etter führt die Geschicke der Brennerei bis ins hohe Alter von 85 Jahren.

1974 fand die Übergabe an die 3. Generation statt. Hans Etter übernahm als 25-Jähriger die Leitung des Familienunternehmens. Sechs Jahre später folgte der Neubau am heutigen Standort der Firma in der Chollermühli in Zug. Nachdem man sich über hundert Jahre ausschließlich mit der Kirsch-Destillation beschäftigte, begann nun die sukzessive Ausweitung des Sortiments auf andere Fruchtsorten.

Jetzt kam Johns Lieblingsteil. Im Jahr 2007 wurde der erste JOHNETT Swiss Single Malt gebrannt und dieser kam 2010 zum ersten Mal auf den Markt.

Sein Gesprächspartner in der Firma Etter, Gabriel Galliker, ist mit der Tochter des ehemaligen Patrons und Namensgeber des Whiskys, Eveline Etter, verheiratet und seit 2012 Geschäftsführer.

Für John war es schon in allen früheren Fällen wichtig, sich ein großes Bild vom Ganzen zu machen. Und dieses Bild hatte sich nach dieser Führung komplettiert. Aber die Frage, warum ausgerechnet diese Firma zum Ziel des Erpressers wurde, konnte er sich noch immer nicht beantworten. Immerhin hatte er erfahren, warum man heute nicht mehr abschätzig Schnaps zu diesen Edelbränden sagt, handelt es sich doch um aufwendig und mit viel Hingabe destillierte Produkte, die weltweit den Kanton Zug repräsentieren.

Da die Distillerie Etter auch eine ausgezeichnete Weinauswahl hatte, ließ er sich noch einen Karton „Moscato Saracco“ bringen. Er war sich sicher, dass dieser süßliche Moscato Alina munden würde. Und schon wieder glitten seine Gedanken zu Alina, wie schon so oft in letzter Zeit.

Die Besucher der Führung durch das Haus verließen die Firma und John Etter setzte sich gegenüber Gabriel Galliker hin.

„War etwas inzwischen?“, fragte John.

„Nein, eigentlich nicht. Nur Bruno Bär hatte sich erkundigt, ob alle Batterien ausgetauscht wurden, was ich ihm bestätigte. Er konnte auf alle Fälle noch alle orten.“

„Sehr gut“, antwortete John und ließ sich von Galliker noch ein paar Geschichten aus der Firmengeschichte anvertrauen. Vor allem, um Galliker abzulenken und um die Zeit totzuschlagen. Lange mussten sie die Zeit nicht verkürzen.

Kapitel 20: Wie lange noch?

Der dichte Nebel lag schwer auf dem noch schlafenden Kanton. Grau und öde wirkte die Umgebung, während der Nebel es zusehends schwerer machte, durch ihn hindurch zu schauen. Dunkle Wolken zogen sich schon am frühen Morgen am Horizont zusammen. Die Bäume verbogen sich im Wind, während der Regen sich auf die Erde entlud. Unaufhaltsam schlug der Regen auf den Boden nieder. Prasselte gegen die Fensterscheiben der Häuser. In einem dieser Häuser lag sie, irgendwo in der nebelgeschwängerten Umgebung.

Die Decke hatte sie sich über den Kopf gezogen. Murrend drehte sie sich auf die andere Seite.

Es war für sie wieder Tag, da das Licht wieder angezündet wurde. Sie lauschte, ob sie irgendwelche Schritte hören konnte. Aber wie meistens war es still. Barbara stellte den zur Hälfte gefüllten Eimer nahe an die Türe.

Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was ihr Entführer mit ihr vorhatte, war die Angst nicht mehr so groß wie vor wenigen Tagen. Der Mann schien sehr unsicher zu sein, um nicht zu sagen, nett. Irgendetwas war nicht so gelaufen, wie er es sich ausgedacht hatte. Beim letzten Mal, als er den Raum betrat, meinte er, dass sie sich noch etwas gedulden müsse. Auf die Nachfrage von Barbara, wie lange noch, bekam sie keine Antwort. Er hatte ihr wieder eine große Tüte mit Essbarem hingestellt und sechs Flaschen Mineralwasser dazu.

Barbara hatte begonnen, sich fit zu halten. Sie machte Liegestütze, Kniebeugen und Rennen an Ort. Dann nahm sie zwei Flaschen Wasser und machte damit Turnübungen. Einerseits, um fit zu bleiben, andererseits, um die Zeit zu verkürzen.

Jetzt hörte sie Schritte. Er kam wieder.

Dasselbe Prozedere wie immer wiederholte sich. Er verlangte von ihr, sich in die Ecke zu stellen und an die Wand zu schauen. Er fragte nach, ob sie der Aufforderung nachgekommen sei, sie bejahte und er öffnete die Tür.

Diesmal fragte sie ihn, als die Türe offen war: „Wie lange noch? Wie lange muss ich noch in diesem Keller bleiben? Bitte sag es mir, damit ich mich darauf einstellen kann.“

„Noch ein, zwei Tage. Hab Geduld“, war seine knappe Antwort.

„Und dann lässt du mich einfach so frei? Was mussten meine Eltern dafür tun? An mir hast du scheinbar kein Interesse, du erpresst irgendwen mit meiner Entführung. Aber meine Eltern haben nicht viel Geld. Vermutlich hast du die Falsche erwischt.“ Barbara war überzeugt davon, dass der Täter jemanden bewusst ausgesucht hatte und mit ihr einen Fehlgriff tat. Er war so plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht, hatte ihren Freund geschlagen und dann sie ebenfalls.

„Weißt du, wie es meinem Freund geht?“, fragte sie nach, als er keine Antworten auf ihre anderen Fragen gab. „Geht es ihm gut?“, hakte sie nach.

„Ja, es geht ihm gut. Und jetzt noch ein wenig Geduld.“ Der Erpresser hatte den Eimer in der Zwischenzeit wieder ausgetauscht und verließ ohne weitere Worte ihr Gefängnis.

Tränen auf ihrem Gesicht zeigten, dass es sie viel mehr berührte, als sie zu zeigen bereit war. Sie wollte keine Schwäche zeigen und das würde sie auch in den nächsten Tagen noch so durchhalten. Sie legte sich aufs Bett und heulte, als sie sicher war, dass der Mann weg war, hemmungslos.

Eine gefühlte Stunde später sah sie nach, was für Lebensmittel in der Einkaufstüte waren. Zu ihrer Überraschung lag ein Buch obenauf. Sie las die Überschrift. Tortura, Leben-Lieben-Leiden, ein Zeitreiseabenteuer und drehte das Buch um, um sich über den Inhalt schlauzumachen.

Nahe von San Gimignano in der Toskana entdeckt der nach fünfzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassene Rinaldo einen Durchgang zur Vergangenheit. Findet er im Mittelalter Hilfe, um seine Unschuld zu beweisen? Wurde er Opfer einer Verschwörung aus dem nächsten Umfeld? Wer war der Mörder seiner Geliebten und wer treibt noch heute sein Unwesen in San Gimignano? Haben die neuen, ungleichen Liebenden eine gemeinsame Zukunft und was hat ein Henker damit zu tun? Begleiten Sie Rinaldo durch seine spannendste Zeit und erleben sie das wahre Leben von heute und gestern in der einzigartigen Landschaft der Toskana.

Barbara war es egal, welches Buch sie in Händen hielt, solange sie sich die Zeit verkürzen konnte. Sie durchsuchte die Tüte weiter und holte sich einen Schokoladenriegel hervor. Auch das war neu. Dem Täter schien es wirklich leidzutun, dass sich die Sache hinzog.

Kapitel 21: Umgekehrtes Stockholm-Syndrom?

Barbara setzte sich auf ihr Bett, legte das Buch zur Seite und machte sich Gedanken über das Stockholmsyndrom. Von diesem Syndrom hatte sie vor nicht zu langer Zeit in einem Buch gelesen. Sollte der Täter sie doch noch länger als zwei Tage einsperren, könnte sie dieses Wissen vielleicht als List anwenden, um zu entkommen. Sie könnte ihn vielleicht dazu bringen, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Barbara ließ die Geschichte nochmals vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen.

Es ging um das "Stockholm-Syndrom" und die Frage, wie Geiseln Sympathie für ihre Peiniger entwickeln, sich gar in sie verlieben können? Ein spektakulärer Banküberfall im August 1973 gab einem psychologischen Phänomen seinen Namen, das bis heute umstritten ist.

Das Verbrechen begann am Morgen des 23. August 1973. Um zehn Uhr betrat ein Mann mit einer Maschinenpistole die Filiale der Svenska Kreditbanken, feuerte eine Salve in die Decke und brüllte: "Die Party hat begonnen!" Zwei Polizisten stürmten in die Bank, der Mann schoss und verletzte einen der beiden. Danach ließ er 56 Menschen frei und behielt drei Frauen und einen Mann - alle Angestellte der Bank - in seiner Gewalt. "Norrmalmstorgsdramat", das Drama vom Norrmalmstorg, hat begonnen.

Geiselnahmen hatte es zuvor auch schon in Schweden gegeben, allerdings noch nie unter diesen Bedingungen: In Windeseile verbreitete sich die Nachricht, die ersten Medienvertreter trafen fast zeitgleich mit der Polizei ein. Zum ersten Mal wurde über einen schwedischen Kriminalfall live berichtet.

Der Mann mit der Waffe war Jan-Erik Olsson, damals 32, wenige Wochen zuvor noch Häftling im Stockholmer Gefängnis. Seine Forderung: drei Millionen Kronen und die Freilassung von Clark Olofsson, seinen ehemaligen Zellengenossen. Olsson verschanzte sich mit den vier Opfern, rief das Büro vom damaligen Ministerpräsidenten Olof Palme an und brüllte: "Wenn wir die Bank nicht verlassen können, werden die Geiseln sterben!"

Wie musste es Menschen ergehen, die als Geiseln mit dem Tod bedroht sind? Sie können ihrer eigenen Wahrnehmung kaum noch trauen und nicht einschätzen, was um sie herum und was draußen geschieht. Sie sind isoliert, verzweifelt, wollen überleben und eine gefährliche Eskalation vermeiden. In ihrer eigenen Ohnmacht erleben sie die Geiselnehmer als allmächtige Herren über Leben und Tod. Über Tage oder gar Wochen und Monate suchen sie nach einem Ausweg. Und entwickeln mitunter mehr Vertrauen zu den Tätern als zur Polizei.

Am nächsten Tag wurde Clark Olofsson zur Bank gebracht. Olsson meldet sich wieder bei der Polizei, forderte einen schnellen Fluchtwagen. Gegen Nachmittag klingelte erneut das Telefon von Olof Palme. Diesmal sprach eine der Geiseln - Kristin Enmark: "Palme, du enttäuscht mich sehr! Mein ganzes Leben lang war ich Sozialdemokratin, und jetzt schacherst du mit unserem Leben. Lasst uns doch einfach laufen. Ich habe keine Angst vor diesen Männern. Sie beschützen uns."

Zeitungen und Fernsehsender verbreiten den Inhalt des Gesprächs und schildern detailreich den gesamten Verlauf des Dramas. Und ganz Schweden fragte sich, was mit dieser Frau nicht stimmte, die ihre Peiniger in Schutz nahm.

In diesem Fall war der scheinbare Gegner der Geiseln die Stockholmer Polizei. Die beging reihenweise taktische Fehler, was alle in der Bank nur noch mehr unter Druck setzte. Die psychische Belastung war enorm.

Am dritten Tag wurde es zusehends dramatischer. Olsson und Olofsson hatten sich mit ihren Geiseln in den Tresorraum zurückgezogen, die Polizei schloss von außen die Tür. Wasser- und Nahrungsvorräte waren schnell aufgebraucht, es war dunkel, bald stank es nach Kot und Urin. Am Abend verbreitete das örtliche Radio den Polizeiplan, ein Loch in den Tresorraum zu bohren und die Insassen mit Gas zu betäuben. Jan-Erik Olsson hat das in den Nachrichten erfahren und legte seinen Geiseln die Schlingen um. Clark Olofsson versuchte, sie zu beruhigen.

Kristin Enmark hatte 2015 ein Buch über ihr Martyrium veröffentlicht ("Ich hatte das Stockholm-Syndrom") und der schwedischen Zeitung "Norran" ein Interview gegeben. "Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde die Polizei zur Bedrohung", sagte sie. "Die Geiselnehmer waren auf einmal die Guten in diesem Spiel. Wir verloren die Kontrolle." Es ist der Moment, in dem "eine rational willkürlich erfolgende Verhaltensanpassung in ein nicht mehr willkürlich gesteuertes psychisches Syndrom übergeht", wie es Psychologe Wieczorek beschreibt.

In den folgenden beiden Tagen bohrte die Polizei trotz der Drohungen weiter Löcher in den Tresorraum. Wasser drang ein, Opfer und Täter konnten nur noch im Sitzen schlafen. Immerhin: Die Löcher waren groß genug, um Essen und Trinken durchzureichen. Und eine Kamera, die das berühmte Foto schoss, das durch die Weltpresse ging.

Am 28. August, Tag sechs, verlor Jan-Erik Olsson die Nerven. Er feuerte in die Löcher an der Decke und verletzt einen der Beamten an der Hand. Die Geiseln blieben unversehrt. Ihr Selbsterhaltungstrieb hatte sie bislang vor Übergriffen bewahrt. Vor Gericht sagte Olsson später: "Sie machten es mir unmöglich, sie zu töten." Gegen 21 Uhr strömt plötzlich Gas in den Innenraum und löst Panik aus. "Zum Teufel mit dem Gas", brüllt Olsson, "wir ergeben uns!"

Als die Polizei den Raum stürmte, um Olsson und Olofsson zu überwältigen, schrie Kristin Enmark: "Tut ihnen nicht weh, sie haben nichts getan!"

Draußen, vor all den Kameras und Mikrofonen, rief sie Olofsson nach: "Wir sehen uns wieder!" Alle Geiseln waren unverletzt. Die Geiselnahme war beendet. Nur nicht für die Geiseln.

Ihr Verhalten, vor allem das von Enmark, war anschließend Thema der schwedischen Öffentlichkeit. Der Stockholmer Polizeipsychologe Nils Bejerot prägte den Begriff "Stockholm-Syndrom", die ungewöhnliche und verstörende Zuneigung der Geiseln zu den Geiselnehmern hatte einen Namen, wie etwas später im spektakulären Fall der 1974 entführten Millionenerbin Patty Hearst.

In den Tagen nach dem Ende des Dramas wurden Enmark und ihre Leidensgenossen mehrfach von Psychologen und Therapeuten befragt. "Bloß wollten alle etwas über das 'Stockholm-Syndrom' wissen", erinnert sich Enmark in ihrem Buch, "niemand kümmerte sich um unsere Bedürfnisse, niemand half uns."

Für die Geiseln begann danach ein neues Leben, insbesondere für Kristin Enmark. Sie kündigte bei der Bank, studierte Soziologie, arbeitete in der Drogenhilfe und danach als Psychotherapeutin. Zu Clark Olofsson hatte sie bei der Geiselnahme tatsächlich eine besondere Beziehung aufgebaut. In ihrem Buch erzählte Enmark, dass sie in den Wochen und Monaten nach der Tat Kontakt zu Olofsson pflegte, ihn mehrfach im Gefängnis besuchte und sich sogar eine kurze Beziehung entwickelte. Bis heute bestünde Briefkontakt.

Kristin Enmark beschäftigte sich weiterhin mit diesem Thema. Sie konnte gar nicht anders: "Seit 43 Jahren verarbeite ich, was damals geschehen ist. Aber überwunden habe ich es noch lange nicht", sagte sie im Zeitungsinterview. "Nicht, weil ich als Geisel gehalten wurde, sondern weil man mir mit dem Stockholm-Syndrom lieber einen Stempel aufdrückte, statt wirklich zu verstehen, was damals eigentlich passierte."

Barbaras Fantasie schlug Purzelbäume. Für den Moment schüttelte sie die letzten Gedanken ab, nahm einen Apfel und lenkte sich mit dem Buch Tortura ab, das ihr der Entführer gelassen hatte. Auch wenn der Titel nichts Gutes versprach, fesselte sie die Geschichte und die Zeit verrann schneller.

Kapitel 22: Neuer Versuch

Galliker wollte auch von John Etter noch einige Details zu Erpressungsfällen wissen, doch bevor John zu einigen Ausführungen ansetzen konnte, vibrierte das Handy auf dem Pult.

Fahren Sie jetzt ab. Autobahn Richtung Luzern. Mehr folgt unterwegs.

„Gut, Herr Galliker. Fahren Sie jetzt los. Ich werde kurze Zeit später das Haus ebenfalls verlassen und mich in die Polizeizentrale begeben. Viel Glück!“

„Danke und hoffentlich bis bald.“

„Keine Sorge, wird schon gut gehen“, gab John ihm noch auf den Weg mit.

Kurze Zeit, nachdem Gabriel Galliker das Haus verlassen hatte, schaute sich John Etter auf der Treppe vor der Firma um. Er wollte sicher sein, dass niemand das Haus beobachtete. Doch es schien alles in Ordnung und er fuhr ebenfalls vom Platz.

Bruno Bär sass gespannt vor den Bildschirmen und beobachtete die Signale, die sich bereits von Zug entfernten.

„Na, läuft‘s?“, unterbrach John die Stille, als er eintrat.

„Läuft“, antwortete Bär knapp. Neben Bär sass noch ein weiterer Beamter, der vor allem den Bildschirm mit dem Handy im Blick hielt.

John holte sich einen Stuhl und setzte sich zwischen die beiden Beamten.

„Drücken wir die Daumen, dass es diesmal klappt. Any news von Barbara Rohner?“, fragte John, als gerade Erika Rogenmoser den Raum betrat.

„Leider noch immer nichts, aber in der Zwischenzeit sind wir alle davon überzeugt, dass der Erpresser sie in seiner Hand hat“, antwortete sie und setzte sich hinter John ebenfalls hin.

„Mit dieser Hoffnung müssen wir leben, leider“, antwortete Bär.

Gabriel Galliker hatte schon bald die Stadtgrenze von Luzern erreicht. Der Täter hatte erstmals den Kanton gewechselt. Der Nebel lichtete sich, der Regen hatte nachgelassen und in der Ferne sah Galliker bereits die Sonnenstrahlen sich einen Weg durch die Wolken suchen.

Via Meggen nach Küssnacht am Rigi.

Galliker nahm die nächste Ausfahrt und fuhr auf Hauptstraßen in Richtung Meggen.

Bruno Bär schaute zu Erika und John. „Was meint ihr, überwacht der Täter irgendwo, ob er von Sicherheitspersonal bewacht wird?“

„Keine Ahnung. Kann sein, dass er irgendwo auf der Strecke steht und die Wagen beobachtet, die an ihm vorüberziehen und das an einem anderen Ort wieder tut oder schon getan hat“, antwortete Erika Rogenmoser.

„Wir müssen uns keine Sorgen machen, da er nicht überwacht wird. Oder?“, fragte John nach.

„Nein. Wir lassen Galliker bewusst freie Fahrt. Unsere Überwachung beschränkt sich auf die GPS-Sender.“

Galliker brauchte bis nach Meggen knappe zwanzig Minuten. Kurz nach Meggen kam die nächste Nachricht.

Nach Küssnacht weiter nach Greppen, Seestraße an den See.

Bis dorthin waren es noch einmal knappe zwanzig Minuten. Bär zoomte auf einem weiteren Bildschirm das Gebiet um den See heran.

„Könnte ein weiterer Übergabeort sein“, meinte er zu seinem Team. „Sollen wir jemanden von hier aus aufbieten? Wir wären etwa zeitgleich vor Ort, wenn wir direkt dorthin fahren? Wobei es auch nur ein weiterer Zwischenhalt sein könnte.“

Erika meldete sich zu Wort: „Wir haben mit den Sendern eine gute Alternative. Bleiben wir beim ursprünglichen Plan. Was würde vor Ort geschehen. Wir könnten den Täter vielleicht identifizieren, liefen aber auch Gefahr, aufzufliegen. Ich glaube, für die Suche nach Barbara Rohner ist es besser, einfach nur dem Geld zu folgen.“

John Etter nickte ihr zu.

„Also dann, weiter wie gehabt“, entschied Bär.

Die GPS-Punkte näherten sich langsam der Seestraße in Greppen, einem ruhigen Ort an fantastischer Lage am Vierwaldstättersee mit etwas mehr als tausend Einwohnern.

Zur Bootsanlegestelle. Am Holzlager vorbei, beim Spielplatz parkieren. Anweisung im PET-Sammeleimer.

Galliker erreichte den genannten Ort etwa zehn Minuten später. Er parkierte den Wagen neben einigen Booten, die hier an Land abgestellt waren. Er stieg aus und schloss den Wagen.

Schon bald hatte er die genannte PET-Sammelstelle erreicht, hob den Deckel und sah ein in ein Plastikmäppchen gestecktes Blatt A4. Er nahm das Mäppchen hervor, drehte es um und las die Anweisungen.

Er musste zu den letzten zwei Booten in der ersten Reihe im Wasser. Dort würde er ein ihm bekanntes Hilfsmittel finden. Weitere Anweisungen wären auf dem Bodyboard.

Galliker schaute sich um und sah die Boote in mehreren Reihen im See. Schnell war er in der ersten Reihe und konnte das Bodyboard zwischen den letzten Booten sehen. Es war mit einer Schnur, die bis ans Land reichte, angeleint.

„Mutig“, dachte sich Galliker, aber er war weit und breit der einzige Mensch. Er zog das Bodyboard an Land. Unter dem ihm bereits bekannten Netz war eine Tasche angebracht. Er klaubte die Tasche unter dem Netz hervor und schaute hinein. Drinnen fand er ein weiteres Mäppchen.

Geld in Tasche wechseln. Dann Tasche unter Netz befestigen. Board am äußersten Bootsplatz ins Wasser lassen.

Galliker nahm die Tasche und ging zurück zum Wagen. Dort öffnete er den Koffer und wechselte die Geldbündel in die Tasche. Zum Glück hatte John ihn auf eine solche Situation vorbereitet. Er nahm die obersten Geldbündel und legte sie zur Seite. Dann packte er die unteren Geldbündel unten in die Tasche und packte dann die anderen oben drauf.

Dann hörte er ein Geräusch. Vom Wasser her näherte sich eine Drohne und blieb über der Bootsanlegestelle stehen.

Gabriel Galliker ging zurück zum Board, holte es aus dem Wasser und verstaute die Tasche unter dem Netz. Diesmal war das Gesamtgewicht wegen der Tasche deutlich geringer als mit dem stabilen Koffer. Der Täter dachte mit.

Danach lief er zur vordersten Stelle und ließ das Bodyboard ins Wasser. Der Motor war immer noch derselbe, aber der Täter hatte unter dem Board zwei Stabilisatoren angebracht, die ein Kentern vermeiden sollten.

Gabriel blieb eine Weile stehen, doch nichts geschah. Die Drohne entfernte sich von der Stelle und flog mitten auf den See, wo sie plötzlich an Höhe verlor und in den See stürzte. Nun begann der Motor am Board zu surren und das Board entfernte sich. Er sah ihm nach, wie es sich vorerst in Richtung Mitte des Sees bewegte. Dann machte es eine Kurve und fuhr dem Ufer entlang. Galliker sah den etwas weiter unten beginnenden Wald. Vermutlich war der Täter dort irgendwo versteckt und navigierte das Board zu sich. Schon bald konnte er das Board nicht mehr sehen und er ging zurück zum Wagen. Er fuhr los und kurz außerhalb des Ortes hielt er wieder an. Nun war er sich sicher, dass er nicht mehr beobachtet wurde, und rief John Etter an.

Dieser sah gespannt auf den Bildschirm und verfolgte das Geld. Noch war auch das GPS-Signal vom Koffer auf dem selben Ausschnitt zu erkennen. Das Geld näherte sich dem bewaldeten Uferbereich.

„Herr Galliker, gratuliere. Es scheint geklappt zu haben. In diesem Moment erreicht das Geld wieder das Ufer. Fahren sie nun wieder zurück in die Firma. Ich werde mich melden, wenn sie da sind.“

„Kann ich sonst noch etwas tun?“, fragte Galliker nach.

„Nein, ab jetzt sind wir dran. Gute Fahrt“, verabschiedete sich John.

Das GPS-Signal des Koffers entfernte sich aus den überwachten Bereich und John, Erika Rogenmoser, Bruno Bär und ein weiterer Beamter verfolgten nun den Weg des Geldes.

Eine kurze Zeit hielt sich die Tasche im Wald auf. Vermutlich bestaunte der Täter das Geld. Dann entfernte sich das Geld erst langsam, dann schneller vom Wald. Überraschend für alle, verließ der Täter den Ort in Richtung Süden.

„Mal abwarten“, meinte Bär.

Sie verfolgten ihn weiter auf der Straße nach Vitznau, weiter nach Gersau um dann nach Schwyz abzubiegen.

„Uff“, meinte Bär erleichtert. „Habe schon befürchtet, er macht sich auf den Weg nach Italien, um in die Dolce Vita zu verschwinden.“

Kopfnickend pflichtete ihm John bei.

Das GPS-Signal nahm nun die Straße in Richtung Sattel. Ein Ort, wo der Täter sowohl zurück in den Kanton Zug fahren konnte oder auch den Weg in Richtung Kanton Zürich.

Auf Höhe der Ortschaft Sattel bog das Signal in Richtung Zug ab. John hielt die Hand zu Bär hin, der die Wette, dass das Signal in diese Richtung verlassen würde, verloren hatte.

„Bruno, so langsam müsstest du es wissen“, meinte Erika Rogenmoser. „Hast du schon je gegen John eine Wette gewonnen?“

„Nun ja“, antwortete Bär, die Augen gegen die Bürodecke drehend. „Doch, ein oder zwei Mal.“

„Gratuliere“, meinte Erika nun zu John. „Du nimmst deinen Freund ja richtig aus“.

„Und wie! Wenn du wüsstest“, lachte John, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.

Die Fahrt ging weiter in Richtung Ägerisee. Der Kreis war bald geschlossen.

„Worauf tippst du als Zielort?“, forderte Erika John heraus.

„Mit dir wette ich nicht, das könnte ich verlieren“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. „Ich hole mir mein Geld immer bei Bruno.“

„Ja, ja, immer auf die kleinen Beamten“, meinte dieser.

„Oh du Armer, weißt du was? Ich lade dich und Nina und euren Nachwuchs wieder einmal zum Essen ein, wenn dieser Fall gelöst ist. Gut?“

„Sehr gut. Nina löchert mich sowieso immer wieder, wann wir mal wieder etwas gemeinsam unternehmen. Wen bringst du mit?“, fragte Bär.

„Wie kommst du darauf?“

„Nun, Nina hat dich frisch verliebt mit einer hübschen Frau im the blinker gesehen. Du hattest aber nur Augen für dein Gegenüber und hast sie nicht gesehen. Ist es wirklich Alina Schmid?“

„Schau, er biegt ab“, unterbrach John Bärs Ausführungen.

Inzwischen war der Täter mit dem Geld bereits am Ägerisee vorbeigefahren und war später in Richtung Edlibach, einem Schlafkaff oberhalb von Zug und Baar abgebogen.

„Würde mich nicht wundern, wenn der am Schluss in der Nähe der Höllgrotten hält“, meinte John.

„Ich wette nicht“, antwortete Bruno Bär.

Und John Etter sollte recht behalten. Das Signal verließ die Hauptstraße und hielt vor einem Haus, welches früher einmal ein Bauernhaus war.

Sie warteten noch eine Weile. Doch das Signal kam immer vom selben Ort. Sie schauten sich auf dem Bildschirm die Umgebung an und Bruno Bär wies den Beamten an, drei Polizisten in Zivil an drei Punkte, die er festsetzte, zu positionieren. Nur das Haus beobachten. Keine Aktionen.

Der Beamte druckte einen Situationsplan aus und verließ die Kommandostelle.

„Bleibst du noch?“, fragte Bär John.

„Ja, wenn ich darf. Ich gehe nur noch zu Galliker, um ihn zu informieren, und um das Handy zu holen. Vielleicht können wir eine Kommunikation zum Täter herstellen.“

„Ja, mach das. Bis später.“

John verließ nun ebenfalls die Zentrale, während sich Erika daran machte, herauszufinden, wer in dem Haus wohnte.

Kurze Zeit später war Gabriel Galliker erfreut, zu hören, dass die Übergabe dieses Mal ohne Probleme verlief und die Signale aus den Geldbündeln funktionierten. John gab keine weiteren Details bekannt. Er beruhigte Galliker aber dahin gehend, dass der Täter wohl bald bekannt sei. Für ihn sei die Geschichte vorderhand zu Ende und Galliker solle sich mit seiner Familie etwas erholen und abwarten, bis die Polizei oder er sich wieder melden würden.

Er nahm das Handy an sich und Galliker übergab noch das Ladegerät.

„Schön, wenn Menschen aktiv mitdenken“, sagte John, als er das Ladegerät an sich nahm, und verabschiedete sich.

Kapitel 23: Feinjustierung

Erika hatte in der Zwischenzeit eine Namensliste der Bewohner des Hauses ausgedruckt und ließ die Namen durch die Datenbank. Keine Auffälligkeiten. Zwei Familien mit Kindern und ein etwa dreißigjähriger Mann, alleinstehend, der vor einigen Jahren einmal ein Drogenproblem hatte. Dieser Mann, Karl Dürst, wurde genauer unter die Lupe genommen.

Alles, was sich über Dürst herausfinden ließ, war, dass er nach der Gerichtsverhandlung, bei der er auf Bewährung verurteilt wurde, einem Entzug unterzogen hatte und nicht mehr auffällig geworden war. Er arbeitete bei einer Zuger Computerfirma, was den Hinweis lieferte, dass er wohl der Täter sein konnte. Er verfügte bestimmt schon einmal über die Grundkenntnisse, die es brauchte, um seine Telefonspuren so deutlich zu verschleiern.

Es war mitten am Nachmittag, als Erika seine Arbeitsstelle herausgefunden hatte und dort anrief. Erstaunt ließ sie sich erklären, dass Karl Dürst für noch weitere drei Wochen in Frankfurt an einem Projekt für einen Zuger Rohstoffhandelsriesen arbeite. Auf die Nachfrage, ob Dürst sich heute dort aufhalte, wurde ihr dies bestätigt. Erika ließ sich die Handynummer geben und rief Karl Dürst an.

„Guten Tag, Herr Düst, hier spricht Erika Rogenmoser von der Kantonspolizei Zug. Wo sind sie zur Zeit?“

„In Frankfurt, aber warum? Was ist los? Warum Polizei?“, antwortete Dürst perplex.

„Keine Angst. Wir haben nur einen Hinweis verfolgt. Eine Frage noch: Wohnen sie alleine in ihrer Wohnung im Kanton Zug?“

„Ja, klar. Warum?“

Erika bemerkte, wie ihr Gegenüber unruhig wurde.

„Wir sind auf der Suche nach einem Unbekannten und es könnte sein, dass sich dieser in diesem Haus aufhält.“

„Nein, ich lebe allein. Ich bin schon seit über drei Wochen in Frankfurt und werde es noch ein paar Wochen sein. In der Zwischenzeit war ich nie in der Schweiz, das können Sie bestimmt überprüfen. Bei mir kann das nicht sein. Da müssten sie bei meinen Nachbarn fragen. Die haben öfters Besuch.“

„Gut, werde ich tun. Vielen Dank für die Angaben“, verabschiedete sich Erika.

Bär wies die Beamten, die in der Zwischenzeit ihre Beobachtungsposten bezogen hatten an, aufzupassen, ob jetzt jemand das Haus verlassen würde. Er hatte folgerichtig darauf getippt, dass, falls jemand wissentlich bei Karl Dürst einquartiert war, wohl von diesem jetzt gewarnt würde. Aber in den folgenden dreißig Minuten geschah nichts.

John bot an, die Nachtschicht zu übernehmen, aber Bär schüttelte nur den Kopf.

„Wenn unsere Vorgesetzten nur schon bemerken, dass du hier bist, reißen die mir den Kopf ab und das weißt du. Geh jetzt besser. Wir werden dich auf dem Laufenden halten.“ Bär sah mit einem bestimmenden Blick in Richtung Tür und John verabschiedete sich.

Draußen rief er Gabriel Galliker an, um sein Kommen anzukünden. Wenig später sass er ihm gegenüber.

„Mein Job ist für den Moment erledigt. Die Polizei überwacht das Haus, in dem der Täter vermutet wird. Ich nehme an, dass er in ein oder zwei Tagen verhaftet wird. Ich habe ja angetönt, dass sich bei dem selben Täter vermutlich noch eine Geisel aufhält. Das Leben dieser Geisel zählt natürlich mehr, als das Geld. Aber ich bin mir sicher, dass Sie ihr Geld bald wieder erhalten werden.“

„Nun, dann bleibt mir vorerst nur, mich zu bedanken und in diesem Falle, abzuwarten“, entgegnete Galliker. „Möchten Sie einen speziellen Whisky degustieren? Ich glaube, den haben wir uns beide verdient.“

John blieb für den heutigen Tag nichts anderes übrig als abzuwarten.

„Gerne.“

Galliker verließ für kurze Zeit das Büro und kam mit einer nummerierten Flasche Johnett zurück.

„Dieser Whisky ist der selbe, wie der, den Sie zu Hause haben. Aber er wurde ein weiteres Jahr in einem ehemaligen Rumfass gelagert. Das gibt ihm eine ganz spezielle Note.“ Galliker füllte das Degustierglas bis zur Hälfte. „Heute darf es sicher ein bisschen mehr sein.“

„Zum Wohl“, meinte John und roch erst, bevor er einen kleinen Schluck nahm. „Wow, überraschend fein und rinnt richtig weich in den Gaumen und weiter. Wirklich ein ausgesprochen feiner Whisky. Aus diesem Fass können Sie für mich gleich eine Flasche beiseitelegen.“

„Mache ich gerne. Was geschieht jetzt weiter mit dem Erpresser?“

„Nun“, begann John Etter. „Vorerst wird er überwacht und wir hoffen, dass sich die Geisel in dem Haus befindet. Das scheint jedoch nicht sicher. In diesem Haus wohnen noch mehr Bewohner und die Entführte könnte sich bei Abwesenheit des Täters bemerkbar machen. Ich gehe davon aus, dass sie sich an einem anderen Ort befindet. Der Täter wird überwacht, bis er die Polizei zum Opfer führt. Dann folgt die Verhaftung, dann die Sicherstellung ihres Geldes. Alles Weitere wir dann die Staatsanwaltschaft in die Finger nehmen. Wie gesagt, ich hoffe, dass die Aktion in ein oder zwei Tagen vorüber ist.“

John Etter verabschiedete sich eine halbe Stunde später, mit dem besagten Whisky in den Händen, von Gabriel Galliker.

„Wir hören voneinander.“

John fuhr nach Hause. Sein Haus war, wie immer, leer und er wünschte sich Alina zu sich. Wenigstens hatte er jetzt Zeit, mit ihr zu skypen. Ihr wenigstens so etwas nahe zu sein.

Eine Stunde später klappte der Kontakt zu ihr und er erzählte ihr, wie sein Tag war und danach fragte er Alina, wie lange sie noch in Hongkong bleiben müsse.

„Leider doch noch einige Zeit“, antwortete Alina mit traurigen Augen. „Ich wäre viel lieber jetzt gleich bei dir. Aber mein Bruder hat hier so richtig Mist gebaut. Er hat nicht nur ein Spielcasino betrügen wollen. Er hat auch fast sämtliche Gelder unserer Firmen in China veruntreut und verspielt. Millionen Dollar! Verstehst du? Millionen Dollar.“

Jetzt war Alina die Verzweiflung anzusehen. „In seiner Not hat er einige unserer langjährigen Partner ebenfalls über den Tisch gezogen und Scheingeschäfte eingefädelt. Kannst dir ja in etwa vorstellen, was hier alles abläuft. Ich habe heute Morgen Hongkongzeit drei Leute von unserer Gesellschaft in Zug abgezogen und die sind jetzt auf dem Weg zu mir. Zuerst ist hier das große Aufräumen angesagt. Und wenn das hinter uns ist, müssen wir hier fast bei null anfangen. Kannst dir ja denken, was unsere Zulieferer von uns halten. Da ist meine Hauptaufgabe, das Vertrauen wieder herzustellen. Und das ist bei den Chinesen eher eine aufwendige Aufgabe, die von mir alles fordert.“

„Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Aber von diesen Dingen verstehe ich leider nichts. Was ist mit deinem Bruder?“

„Der …. Der sitzt immer noch ein. Zu seinem Glück. Wenn ich den in die Finger kriege, ich weiß nicht, was ich dann mit ihm machen werde. Auf alle Fälle ist es für ihn besser, wenn er noch etwas im Gefängnis von Hongkong verbringt. Papa hat ihn heute Morgen enterbt und auch in der Schweiz die Anwälte beauftragt, ihn zu verklagen.“

„Und davon war anlässlich des Besuchs vor einigen Wochen noch gar nichts zu spüren?“

„Nein, wie gesagt, ich habe ihn während diesen Tage auch nur einen Abend lang gesehen und wie ich jetzt weiß, mein Vater ebenfalls. Vermutlich hat er auch in der Schweiz versucht, Geld aufzutreiben. Keine Ahnung … Ach, ich will jetzt gar nicht mehr darüber sprechen. Ich möchte am liebsten von dir in die Arme genommen werden …“

„Oh ja, das wünsche ich mir auch“, seufzte John.

Kapitel 24: Verschwunden?

Um sechs Uhr früh holte das Handy John aus dem Bett. Sein Notebook lag noch auf dem Stuhl neben ihm.

„Hallo John, bist du wach?“

„Es geht so, wurde etwas später gestern. Any news?“

„Ja, und keine Guten. Nachdem sich in der Wohnung bis Mitternacht nichts getan hatte, haben wir die Wohnung durchsucht. Das meiste Geld wurde gefunden. Er hat lediglich zwei Geldbündel mitgenommen. Wir haben eine Kamera installiert und hören jetzt sein Festnetz ab. Computer oder Notebook haben wir keines gefunden. Nur ein Drucker stand in einer Ecke. Ich nehme an, er hat ein Notebook mit dabei. Eine Fahndung haben wir noch nicht eingeleitet. Vermutlich feiert er irgendwo in einem Puff seinen plötzlichen Reichtum.“

„Mist. Bist du immer noch überzeugt, dass er die Frau hat?, fragte John.

„Ja, leider haben wir jedoch keine Ahnung, wo. Wir wissen auch nicht, um wen es sich handelt. Wir haben ein gebrauchtes Glas aus der Wohnung mitgenommen, um Fingerabdrücke zu nehmen. Dank dem vorhandenen Beschluss ist dies rechtsgültig. Der Abgleich läuft. Sollte er schon mal in Erscheinung getreten sein, werden wir bald einen Namen haben.“

„Gut. Ich bleibe auf Stand-by. Und du, geh mal schlafen, tönst müde.“

„Ja, das habe ich vor. Nina hat mich auch gerade angerufen. Die hat mich auch schon zwei Tage nicht mehr gesehen …“

„... und jetzt sieht sie dich schlafend. Pass auf euch auf, gell. Ich möchte in Zukunft auch wieder mit euch essen gehen!“

„Jetzt tönst du wie Nina. Gute Nacht, Schatz!“, verabschiedete sich Bruno von seinem Freund.

Den ganzen Morgen verbrachte John in seinem Büro. Susanne war sein Papierkorb und hörte ihm geduldig zu. Nach dem gemeinsamen Kaffeekränzchen machte er sich an die Arbeit, die in den letzten Tagen liegen geblieben war.

John wusste, dass Susanne diese Kaffeekränzchen genoss. Sie war gerne über den aktuellen Stand der Dinge informiert. Im Gegenzug informierte sie John, was seine Leute in den letzten Tagen alles geleistet hatten. Auch diese hatten ihre Augen offen und suchten nach der verschwundenen Frau, soweit ihre aktuellen Fälle dies zuließen.

Susanne hatte alle erschienenen Artikel über die vermisste Barbara Rohner gesammelt und John auf sein Pult gelegt. Nachdem er die Post abgearbeitet hatte, las er einige Artikel. Dann klickte er den Aufruf der verzweifelten Mutter in Facebook an. Er hatte wieder dieses schlechte Gewissen der Familie gegenüber und wollte sie wenigstens auf dem Laufenden halten. Schon nach dem ersten Klingeln hatte er Pfarrer Rohner am Draht.

John bemerkte, dass Rohner wohl den Anruf eines Entführers oder Erpressers erwartete und die Anspannung verlor, als John sich meldete.

„Hat sie die Polizei vor Ort bereits über die Aktion bei uns informiert?“

„Ja, wenn Sie damit meinen, dass man dem Täter auf der Spur ist. Darüber hat uns vor Kurzem eine Beamtin informiert. Jetzt ist auch eine Frau von einem Care-Team hier, die sich um meine Frau kümmert. Für sie scheint alles zu viel zu sein.“

„Das ist verständlich. Wie geht es Ihnen?“

„Nun, ich versuche, mich mit meiner Arbeit etwas abzulenken, was eher schlecht als recht funktioniert. Was meinen Sie, wie groß schätzen Sie die Chancen ein, dass wir unsere Tochter bald wieder sehen können?“

„Ich glaube, dass sie bald wohlbehalten auftaucht. Wenn es sich erhärtet, dass sie nur als zufälliges Pfand in der Hand des Erpressers war, nehme ich an, wird sie bald freigelassen. Die nächsten wenigen Tage werden entscheiden. Erpresser sind häufig nicht gewalttätige Menschen und das bestärkt meine Einschätzung.“

„Danke, dass Sie mir wenigsten etwas Mut machen. Können wir irgendetwas tun?“

„Nein,“ im Moment nicht. Stehen Sie Ihrer Frau bei und machen Sie ihr Mut. Mehr können Sie zur Zeit nicht tun.“

Rohner verabschiedete sich von Etter. John machte sich nochmals einen Kaffee. Dann holte er sich eine Übersichtskarte von der Umgebung der Höllgrotten und dem Haus des Verdächtigen auf den Bildschirm.

Das Wohnhaus, in dem sich der vermeintliche Entführer aufhielt, war nur einige hundert Meter Luftlinie von den Höllgrotten entfernt. Dank den Höhenangaben auf der Karte konnte John feststellen, dass sich das Haus etwa hundertdreißig Höhenmeter höher befand. Dann suchte er die Umgebung nach frei stehenden, nicht gut zugänglichen Ställen oder Gebäuden ab, die man nicht einfach finden konnte. Er druckte sich die Karte aus und machte drei Kreuze. Dort würde er als Wanderer zufälligerweise vorbeilaufen. Vielleicht konnte er so etwas entdecken.

John teilte Susanne mit, wo er sich in den nächsten Stunden aufhielt und diese gab ihm das Funkgerät mit auf den Weg.

„Von wegen Funkloch und so …“, verabschiedete sie ihn.

„Du bist die Beste!“

Eine Stunde später bewegte sich John im Gebiet und suchte die angekreuzten Stellen. Doch auch bei der dritten Stelle wurde er nicht fündig. Die ersten beiden Orte waren nur Brettverschläge und er konnte schnell feststellen, dass sich hier Barbara Rohner nicht aufgehalten hatte. Und wenn, hätte sie sich schnell befreien können. Außer, sie wäre gefesselt.

Beim dritten Ort handelte es sich um einen alten Stall, und als John versuchte, einzudringen, wurde er von Weitem zurückgerufen. Ein Bauer lief auf ihn zu.

„Was wollen Sie hier? Hier hat es nichts drin, für das sich ein Einbruch lohnen würde.“

John stellte sich vor und um seine guten Absichten zu untermauern, holte er eine Visitenkarte hervor.

Der Bauer setzte sich auf die Bank neben der Tür.

„Leute gibt es. Leute“, meinte er.

„Da haben Sie recht. Darf ich?“, fragte John und zeigte auf den Platz neben dem Bauern.

„Aber sicher. Sie können sich auch erst im Stall umsehen. Aber da ist nichts drin. Sie suchen also eine entführte Frau? Diese Barbara irgendwas aus der Zeitung?“

„Genau. Die Chancen sind groß, dass sie irgendwo in einem Keller in der Nähe festgehalten wird. Oder in einem abgelegenen Haus.“

„ …. oder in einem Bunker“, fügte der Bauer an.

„Bunker?“

„Ja, hier hat es im ganzen Kanton viele davon. Einige, die alle kennen und andere, die verlassen und vergessen scheinen.“

Nun hatte John Etter Blut geleckt.

„Die verlassenen und vergessenen Bunker interessieren mich jetzt aber schon. Wissen Sie mehr darüber?“

„Und ob“, lächelte der Bauer. Er schien sich wohlzufühlen beim Gedanken, dass er helfen konnte.

„Mein Großvater hat während seiner Dienstzeit im Militär persönlich mitgeholfen. Sie wissen wohl nicht viel über diese Bauten?“

„Nein, nicht wirklich. Nur über einige wenige große Bauten, auch im Kanton Zug. Ich war vor vielen Jahren einmal im Militärdienst in Graubünden und habe die Festung Crestawald gesehen. Hier im Kanton kenne ich nur die auf dem Gubel.“

„Ja, dann wissen Sie wirklich wenig. Im Kanton Zug sind diese Festungen in großem Masse vorhanden. Ob von kleinem Militärunterstand, über Kavernen bis hin zu Kommando- und Infanteriebunker. Es ist fast alles noch vorhanden. Das bekannteste Objekt ist sicherlich die Ihnen auch bekannte Bloodhound 64 Lenkwaffenstellung auf dem Gubel. Ich glaube, es gab so um die hundertfünfzig Objekte früher im Kanton Zug. Heute sind es vermutlich nur noch etwa hundert Objekte. Einige können Sie auch bei Führungen anschauen.

Irgendeine Stiftung macht solche Führungen und ich war mal bei einer in Unterägeri. Dort besichtigten wir unter anderem die Philippsburg, der Bunker Hinterwald III, einige weitere Bunker und die Artillerieunterstände Schlüsselbach. Außerdem sind etwa sechs Artilleriestellungen für Haubitzen mit drei Unterständen im Hürital begehbar.“ Der Bauer bekam beim Erzählen glänzende Augen. Er war wohl früher einmal gerne ein strammer Soldat.

„Und wo hat es noch solche, die nicht öffentlich begehbar sind?“, fragte John nach.

„Unzählige. Wirklich Unzählige. Wir hatten selbst einige kleinere Bunker zu Kellern umgebaut, um Kartoffeln oder Äpfel einzulagern. Das war noch zu Zeiten, als es nicht überall Kühlräume und Kühlschränke gab.“

John hörte aufmerksam zu. Seine Wanderung schien Früchte zu tragen. Er holte die Karte heraus, auf der auch der jetzige Standpunkt eingezeichnet war.

„Können Sie mir in etwa sagen, wo sich die Bauten befinden?“

Ohne auf die Karte zu schauen, führte der Bauer aus: „Die Achse Sihl bis Schwyz wurde vor allem durch die Abschnitte Sihl bis Zugersee stark ausgebaut. In der Region Unterägeri bis Raten sind noch viele dieser Gebäude erhalten. Bei uns gibt es wie gesagt eher kleinere, versteckte Bunker, die vermutlich noch einigermaßen intakt sind.“ Er nahm John die Karte aus der Hand und zeigte zwei Stellen an.

„Die meisten anderen Bunker und Stellungen sind etwas weiter in Richtung Süden. Hier sind unsere beiden Bunker, die wir als Lager einmal brauchten. Aber die sind schon bestimmt seit über zwanzig Jahren nicht mehr genutzt worden.“

John merkte sich die Stellen.

„Sie haben mir sehr geholfen. Vielen Dank. Ich mache mich mal auf den Rückweg.“ John Etter verabschiedete sich und lief abwärts in Richtung Höllgrotten.

Es dauerte ziemlich lange, bis er den ersten Eingang zu einem Bunker fand. Hier war in den letzten Jahren bestimmt niemand gewesen. Alles war vollgewachsen und vor dem Eingang gab es keine Spuren, die auf Menschen hindeuteten.

Die zweite Stelle fand er nicht und ging bis zum Kiosk der Höllgrotten hinunter.

Robby begrüßte ihn schon von Weitem. „Bin gerade am Schließen. Willst du noch in die Grotten?“

„Nein, danke, heute nicht. Trinken wir einen Kaffee zusammen?“

„Aber klar doch. Immer gerne“, antwortete der Grottenwart.

Sie setzten sich gemeinsam im Kiosk hin. Die Kameras schienen hier vierundzwanzig Stunden zu laufen und alles aufzuzeichnen.

„Kann ich mal die Aufzeichnung von dem Tag sehen, als hier eingebrochen wurde?“, fragte John.

„Aber sicher. Doch die Polizei hat die Aufnahmen alle geprüft und ihnen ist schlussendlich nichts aufgefallen.

Robby machte sich am Computer zu schaffen und John erkannte anhand des Datums, dass nun die Aufzeichnung lief. Vier Kameras waren gleichzeitig sichtbar.

„Kannst du nur die Kamera groß schalten, welche den Grotteneingang aufzeichnet?“

Kaum gesagt, hatte Robby dem Wunsch entsprochen. Er schaltete die Bildfolge auf etwas schneller und immer, wenn keine Menschen sichtbar waren, spulte er vor.

Das Funkgerät an Johns Gürtel knackte und Susanne meldete sich.

„Hörst du mich? John? Hörst du mich?“

John nahm das das Gerät und antwortete: „Ja, Susanne. Ich höre dich. Any news?“

„Ja und nein. Erika hat gerade angerufen, dass sich niemand mehr der Wohnung genähert hat. Der Mann scheint ausgeflogen zu sein.“

„Ohne das Geld?“

„Ja, das Geld ist immer noch in der Wohnung. Er scheint seinen Reichtum etwas länger zu feiern.“

„Na, dann bleibt uns leider nichts Weiteres, als abzuwarten.“

„Sehe ich auch so. Ich mache mich jetzt auf den Heimweg. Noch etwas zu tun für mich?“

„Nein, Susanne. Ich wünsche dir einen schönen Abend. Ich sehe dich morgen früh.

„Robby, ich will dich nicht länger aufhalten. Kannst du mir eine Kopie von dieser Kamera ziehen und auf den Stick laden?“ John holte seinen Schlüsselbund hervor und zeigte auf den Anhänger.

Robby schaltete sofort. „Wenn alles drauf Platz hat, kein Problem.“

Eine Stunde später bereitete sich John zu Hause auf einen langweiligen Videoabend der besonderen Art vor.

Kapitel 25: Bald frei?

Das Licht ging wieder an und Barbara drehte sich auf dem Notbett um. Schon lange hatte sie der Entführer nicht mehr besucht. Die Vorräte und vor allem das Wasser gingen zur Neige.

„So langsam halte ich es hier nicht mehr aus!“, schrie Barbara gegen die Tür. Nichts tat sich.

Das Buch hatte sie bereits ausgelesen und sie hielt sich wieder mit Körperdehnübungen und Liegestütze fit. Dann bewegte sie sich nach hinten zum Holzregal. Es handelte sich um eine früher verbreitete Obsthurde, die Barbara noch von einem unfreiwilligen Kelleraufenthalt bei ihrer Großmutter kannte.

Sie hätte versuchen können, einzelne Holzbretter zu entfernen, doch sie erkannte keinen Einsatzzweck. Um die Bretter als Waffe zu gebrauchen, waren sie zu dünn, und auch wenn sie diese eingesetzt hätte, sie war zu weit vom Eingang entfernt, um den Täter beim Betreten anzugreifen. In den Filmen sah es immer einfach aus, wie man sich aus ganz normalen Gegenständen Hilfsmittel basteln konnte. Sie erinnerte sich an die Serie MacGyver, doch nutzte dieser Gedanke auch nichts. Sie müsste sich darauf verlassen, dass sich der Täter daran halten würde und sie bald frei käme.

Sie holte den letzten Apfel aus der Tüte und aß ihn mit Bedacht. Das war ihr letztes Nahrungsmittel. Danach gab es nichts mehr, bis der Entführer zurückkäme. Die letzten Schlucke Wasser wollte sie sich noch aufheben.

Aus dem Kübel beim Eingang roch es auch schon mehr als früher. Wie lange war sie schon eingesperrt? Wurde nach ihr gesucht? Sie sass auf dem Klappbett und ließ ihren Tränen freien lauf.

Einige Zeit später - gefühlte Stunden - klopfte es an die Tür.

„Geh zurück an die Wand. Dreh dich wie immer um!“, befahl die Stimme draußen.

Sie stand auf und ging nach hinten und überlegte, ob sie es schaffen könnte, an ihrem Entführer vorbeizukommen. Doch dieser Plan schien aussichtslos. Die Distanz war einige Schritte zu weit. Er hätte jederzeit frühzeitig reagieren können. Und was daraufhin mit ihr passieren konnte, wollte sich Barbara nicht weiter ausmalen.

„OK?“

„Ja, OK“, antwortete sie mit fester Stimme.

Die Türe öffnete sich und als Erstes nahm der Mann den Kübel nach draußen. Danach stellte er wieder einen Leeren hinein.

„Wie lange noch?“

„Nur noch Stunden. Ich muss noch einige Kleinigkeiten erledigen, dann bist du frei. Also keine Tricks! Du bist bald wieder zu Hause.“

„Danke“, war das Einzige, was sie über die Lippen brachte.

Der Entführer stellte ihr wieder eine Tasche voller Lebensmittel hin und einige Flaschen Wasser. Die Türe wurde wieder verschlossen und der Täter entfernte sich.

Barbara schlich schnell an die Tür und hörte auf die Schritte. Weit war der Weg nach draußen nicht. Der Mann hatte eine nach Eisen tönende Tür schnell erreicht und verschloss diese wieder.

Barbara hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Aber es schien sich nicht um einen normalen Keller zu handeln.

Kapitel 26: Alter Bekannter

John Etter drückte die Stopptaste. Diesen Mann kannte er. Das konnte kein Zufall sein. Diesen Mann kannte er. Er hatte sich einer Gruppe Menschen angeschlossen und die Grotten betreten. John näherte sich dem Fernseher und schaute sich das Standbild genauer an.

„Stephan Meier“, entfuhr es John. Sofort griff er zum Handy und drückte die Schnellwahltaste für Bruno Bär.

„Was um Himmels Willen willst du mitten in der Nacht von mir?“

„Wo ist euer Stephan Meier?“

„Was. Stephan Meier? Darum weckst du uns mitten in der Nacht?“

„Nur dich, mein Freund. Grüß Nina von mir und wünsch ihr einen guten Schlaf.“

„Depp.“

„Stimmt, aber fleißiger Depp“, lächelte John in sein Handy. „Also komm, sag schon. Wo ist Stephan Meier?“

„Der meldet sich alle drei Tage auf einem Polizeiposten der Stadt. Wir haben ihm fast alles abgenommen. Aber bis und mit gestern hat er sich bestimmt immer gemeldet. Sonst wüsste ich das. Warum?“

„Er war in den Höllgrotten! Hörst du, er war dort!“

„Ja wie Hunderte andere auch“, meinte Bär genervt.

„Überleg mal. Das kann kein Zufall sein. Er betritt die Grotten mit einem großen Rucksack und auf den anderen Bildern draußen ist er nicht mehr zu sehen. Ich schaue mir noch den Rest der Aufnahmen an. Aber ich sage dir: Der hat Dreck am Stecken. Wetten?“

„Nicht schon wieder. Wo bist du?“, fragte Bär.

„Zu Hause. Komm vorbei. Ich bin mir sicher, dass er was mit dem Fall zu tun hat. Komm einfach vorbei“, forderte John mit Nachdruck.

„Wenn du meinst, es ist ….“, Bär schaute auf den Wecker, während er aufstand. „Um zwei Uhr fünfzehn.... Schläfst du eigentlich nie?“ Bär küsste Nina und verließ das gemeinsame Schlafzimmer.

Eine halbe Stunde später sass er neben John Etter auf dem Sofa.

„Na, Kaffee für den Morgen oder noch ein Glas Wein für den ausklingenden Abend?“, fragte John.

„Kaffee“, tönte Bruno mürrisch.

„Schau dir in der Zwischenzeit die Bilder an, die ich ausgedruckt habe. Er hat am späteren Nachmittag mit einer Gruppe die Grotten betreten. Und jetzt such mal auf allen Kameraaufzeichnungen danach den selben Mann. Bisher keine Spur. Bin jetzt bei ungefähr ein Uhr nachts.“

„Na, habe ich recht?“, meinte John, als er mit zwei Tassen Kaffee zurückkam.

„Ja. Schauen wir mal, ob noch was zu sehen ist. Meine Leute haben das Band vor und zurück durchsucht und denen ist nichts aufgefallen.“

„Tja, mir wäre er auch durch die Lappen gegangen, hätte ich ihn nicht vor kurzer Zeit bei einem Einbruch erwischt. Warum ist der überhaupt auf freiem Fuß?“

„Keine Fluchtgefahr. Keine große Strafe in Aussicht. Meldeauflagen. Rechtsstaat halt.“

„Super. Ist er immer noch im Hotel Ochsen?“, fragte John.

„Ich nehme es an. Mir ist kein anderer Aufenthaltsort bekannt.“

„Nächste Wette: Er ist nicht mehr dort.“ Wann muss er sich bei der Stadtpolizei wieder melden?“

„Morgen. Nein natürlich heute.“

„Na, dann werde ich mich dann mal dort in der Nähe aufhalten.“

„In die überwachte Wohnung ist auch keiner mehr zurückgekommen?“

„Nein. Und ja, das Geld ist immer noch dort. Die Batterien funktionieren immer noch einwandfrei.“

John und Bruno sahen sich an. Weitere Worte waren nicht mehr nötig und sie schauten sie das Überwachungsvideo weiter an.

In der Dunkelheit war nicht viel zu erkennen. Einige Schatten querten einmal den Weg. Tiere, wie es sich bei genauerem Hinsehen herausstellte.

„Du weißt ja, aus welcher Türe er herausgekommen ist. Und wenn er der Täter ist und die Rohner in den unten stehenden Keller verfrachtet hat, kann es gut sein, dass wir ihn nirgends erkennen können. Was aber gewiss ist: Während den Öffnungszeiten war er nicht mehr in der Nähe zu erkennen gewesen. Er musste am Abend noch in den Grotten gewesen sein“, führte John aus.

„Traust du ihm diese Kaltblütigkeit zu? Gleichzeitig unter Beobachtung zu sein und gleichzeitig eine solche Aktion durchzuführen?“

John nickte. „Du kennst die Menschen so gut wie ich. Alles ist möglich.“

„Habt ihr noch gar keine Anhaltspunkte auf die Herkunft von diesem Stephan Meier?“

„Nein. Aber jetzt, wo du es sagst. Wir haben aus der überwachten Wohnung ein Glas mitgenommen, um die Fingerabdrücke zu vergleichen. Ich werde mich gleich morgen… nein heute… also in ein paar Stunden, darum kümmern.

„OK. Mach das. Ich werde mich morgen mal etwas vor dem Polizeigebäude der Stadt aufhalten und Ausschau nach Stephan Meier halten.“

„Wie spät?“, fragte Bär.

„Fünf“, antwortete John.

„Na super. Dann kann ich jetzt gleich ins Büro gehen.“

„Tu das mein Freund. Tu das. Und grüß Nina nochmals von mir. Ich werde sie bestimmt für die nächtliche Weckaktion entschädigen.“

„Da freu ich mich drauf“, meinte Bär und John entgegnete trocken: „Ich schenk ihr einen großen Blumenstrauß.“

„Mach nur noch mehr Druck“, schüttelte Bär den Kopf, wissend, dass John das nicht tun würde. Er war schließlich ein Freund. Ein guter Freund, der ihn nicht als schlechten Ehemann dastehen lassen würde.

„Wir hören uns.“

„Ja, das tun wir“, meinte Bär, als er das Haus verließ.

Kapitel 27: Verfolgung

Max hatte die ganze Nacht gut geschlafen. Die beiden Mädchen hatten ihm die ganze Nacht verkauft und er hatte es sich gut gehen lassen. Schon drei Tage war er nicht mehr in seinem Unterschlupf und noch immer hatte er genügend Geld. Einen Teil hatte er in seinem Portemonnaie und den größeren Teil in seinem Wagen versteckt.

Geldsorgen würde er keine mehr haben, sein Leben lang. Davon war Max überzeugt. Heute würde er es sich gut gehen lassen und nochmals irgendwo in netter Gesellschaft übernachten. Dann würde er zum letzten Mal seinen Pflichten nachkommen und ins Ausland verschwinden. Es war für ihn eine aufregende Zeit, hier in der Schweiz. Aber eine sich lohnende.

Er stand auf. Die beiden Mädchen blieben liegen. Als er sich geduscht hatte, kontrollierte er sein Portemonnaie. Auf den ersten Blick war noch alles da und er holte zweihundert Franken raus und legte sie als Trinkgeld auf den Nachttisch. Die besonderen Leistungen hatte er bereits im Voraus bezahlt.

Er stieg in den Wagen und fuhr in die Stadt. Erst würde er im Grand Café ein Frühstück einnehmen. Dann seine Pflichten erfüllen und sich auf seine Reise vorbereiten. Sein innerer Frieden war ihm anzusehen. Er strahlte mit der Sonne um die Wette.

Was er nicht wusste, er wurde erwartet. Max erkannte John nicht. Denn als Max das Café betrat, zog sich John zurück und verließ, so schnell er konnte, das Café.

Der Strick zog sich langsam zusammen.

John setzte sich gegenüber auf dem Parkplatz in seinen Wagen und schaute sich das Treiben auf dem Platz an. Max sass am Fenster und ließ sich ein großes Frühstück bringen. Dazu las er die Zeitung.

John klaubte das Handy hervor und rief Bär an. „Hey, Bär. Ich hab ihn. Er sitzt im Grand Café.“

„Hey John, ich hab ihn auch. Die Fingerabdrücke sind in der Datenbank. Der Stephan Meier heißt in Wirklichkeit Max Iten. War vor einigen Jahren straffällig geworden und spurlos verschwunden. Drogendelikte und einiges Anderes, was ihm zur Last gelegt wurde. Er hat sich in Luft aufgelöst. Und jetzt ist er als Stephan Meier wieder aufgetaucht. Wir wissen noch nicht, wo er sich in der Zwischenzeit aufgehalten hat. Ich nehme an, im Ausland. Wir sind dran.“

„Der hat sich also von einem Unbekannten zu einem Einbruch verleiten lassen. Wurde erwischt. Ist auf freiem Fuß. Erpresst erfolgreich ein Unternehmen und entführt Barbara Rohner? Ein und dieselbe Person?“

„Ja, so sieht es aus. Ich schicke gleich Erika zu dir. Als Paar könnt ihr ihn besser beobachten.“

„Erika?“, fragte John erstaunt.

„Ja, ich weiß. Aber ich habe keine weiteren Leute mehr zur Verfügung. Das Haus wird überwacht und bindet Leute. Ich habe nur gerade sie. Meine Leute müssen auch manchmal schlafen. Heißen nicht alle John Etter – der Schlaflose“, witzelte Bär.

John seufzte.

„Aber keine Aktion ohne Rücksprache. Wenn er zu seiner Wohnung fährt, lasst genügend Abstand. Wir müssen wissen, wo sich die Geisel aufhält. Falls sie noch lebt, wird er sie bestimmt bald freilassen. Oder er hat noch nicht genug und wird nochmals jemanden erpressen. Dann würde er sie als Pfand behalten. Wo bist du zur Zeit?“

„Ich stehe auf den Parkplatz vor dem Grand Café“, antwortete John. „Ich kann es fast nicht erwarten, mir die Zeit mit Erika um die Ohren zu schlagen“, fügte er in zynischem Ton an.

„Wir hören uns“, verabschiedete sich Bär.

John legte sein Handy aufs Armaturenbrett und schaute sich um. Erika war noch nicht zu sehen. Er hoffte insgeheim, dass dieser Max sich erheben und den Ort des Geschehens verlassen würde. Dann hätte er eine Ausrede, um Erika aus dem Weg zu gehen.

Eine Frau mit langen schwarzen Haaren näherte sich dem Wagen. Sie nahm, kurz bevor sie den Wagen von John erreichte, die Sonnenbrille ab, blinzelte ihm zu. Er hatte sie nicht erkannt. Max hatte sie in der Nacht, als er verhaftet wurde, ebenfalls im Präsidium gesehen und sie wusste das auch.

„Sehr professionell“, begrüßte John Erika. „Bist richtig hübsch.“

„Danke“. Erika überhörte die versteckte Beleidigung ebenso professionell.

„Hier, ein Jugendbild von Max, alias Stephan Meier.“

„Ja, das ist er“, stellte John fest. „Also, müssen wir dranbleiben. Bekommen wir später noch Verstärkung?“

„Nur die, die zur Zeit vor der Wohnung postiert sind. Also höchstens noch zwei.“

„Na dann. Ich informiere mal Susanne, dass sie mir mitteilt, welche meiner Leute in der Umgebung sind und uns im Notfall helfen könnten.“

„Tu das“, meinte Erika. „Aber glaub nicht, dass du uns das verrechnen kannst.“

„Reine Sicherheitsmaßnahme, falls die Situation eskaliert.“

„Wer bezahlt eigentlich deine Arbeit heute?“, fragte Erika.

„Nun, ich werde das wohl irgendwie splitten. Ein Teil geht an die Firma Etter und ein Teil, falls wir Barbara Rohner finden, an die Familie. Und einen Teil der Rechnung bezahlt ihr. Das Equipment war schließlich von mir gestellt.“

„Immer auf der sauberen Seite unterwegs, mein Ex-Lover. Könntest doch zweimal abkassieren, nicht?“

„Könnte ich. Mach ich aber nicht!“ John überhörte die Lover-Spitze und den Ton in ihren Worten.

„Lebst du eigentlich gut von deiner Arbeit? Ich war mal auf deiner Homepage. Da arbeiten ja viele Menschen für dich. Die müssen alle bezahlt werden.“

Erika schien interessiert, als John antwortete. „Nun, eigentlich sind wir nur zu zweit. Susanne kennst du ja. Alle anderen übernehmen im Auftrag ihre Fälle, die Susanne koordiniert. Der größte Teil der Entschädigungen geht so an die freien Mitarbeiter und wir behalten einen Teil für uns. Als Aufwandsentschädigung für die Rechnungsstellung, Marketing et cetera.“

Erika hakte nach. „Und, suchst du noch Leute?“

„Hmm, so direkt? Nein, eigentlich nicht. Ich möchte alleine arbeiten und kann mir eine größere Firma nicht vorstellen. Ich möchte nicht von internen Abläufen und anderen Widrigkeiten erschlagen werden. Dann hätte ich auch bei eurer Truppe bleiben können. Warum fragst du? Gefällt es dir nicht mehr bei deinem Verein?“

„Doch, schon. Aber ich habe Bruno schon zweimal dabei erwischt, wie er deine Homepage angeschaut hat. Will er wechseln?“

„Nein, bestimmt nicht. Wir haben schon mal darüber gesprochen, aber so lange er für seinen Nachwuchs sorgen muss, ist das noch kein Thema. Vielleicht danach. Aber soviel ich weiß, will Nina noch ein zweites Kind. Kannst dir ja ausrechnen, wie alt er wäre, wenn er wechseln würde.“

„Dann bleibst du wohl ein kleineres Unternehmen?“, folgerte Erika, was John mit einem Kopfnicken bejahte.

„Wie lange bleibt der noch in dem Café?“, lenkte John vom Thema ab.

„Polizeialltag“, konterte Erika. „Warten, hetzen, warten.“

In diesem Moment erhob sich Max Iten im Café.

„Endlich“, seufzte Erika. „Er kommt.“

„Ich nehme an, er läuft jetzt zum Polizeiposten, um sich zu melden, und ist bald wieder draußen auf dem Trottoir. Warten wir hier ab. Ich weiß nicht, ob er mit einem Wagen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder wie er unterwegs ist. Sonst hätte ich dem Wagen schon längst einen Sender verpasst.“

„Kluger Bursche“, meinte Erika.

„Nein, aufwandsfaul und effizient wären wohl die richtigen Begriffe für mein Tun. Ich halte mich noch immer an meine drei Begriffe: einfach, sicher, zuverlässig.“

„Macht Sinn. Er kommt raus.“

Max Iten ging, wie vorauszusehen war, über die Straße und betrat den Polizeiposten der Stadt. Wenige Minuten später verließ er den Ort und lief in Richtung Zentrum.

„Mist. Laufen oder fahren?“, fragte Erika.

„Du laufen, ich fahren. Ich habe ja das Fahrzeug.“

Erika machte eine abschätzige Handbewegung und verließ den Wagen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lief sie etwa zwanzig Meter hinter Max her.

John wartete ab, bis Erika aus dem Sichtfeld verschwunden war und drückte den Startknopf des Wagens. Langsam fuhr er auf die Straße und fuhr zuerst an Erika, dann an Max vorbei. Einige hundert Meter weiter vorne sah er einen Parkplatz und stellte den Wagen hin. Im Rückspiegel sah er, wie Max sich einem Wagen näherte, den Schlüssel hervor nahm und die Fernbedienung drückte. Ein etwas weiter hinter ihm stehender Wagen blinkte auf.

Doch Max drückte nochmals auf den Schlüssel und der Wagen war wieder verschlossen. Max lief am eigenen Wagen vorbei, passierte John und ging an den etwas weiter vorne liegenden Kiosk.

John Etter reagierte schnell. Er öffnete das Handschuhfach und holte einen Sender hervor. Zwei kurze Handgriffe später und das Gerät war einsatzbereit. John stieg aus und lief auf der Straßenseite nach hinten. Auf Höhe von Max’s Wagen ging er kurz in die Knie. Der Sender war schnell im hinteren Radkasten magnetisch verstaut. Dann stand er auf und winkte Erika herbei. Erika querte die Straße. Sie küssten sich kurz zur Tarnung, stiegen in den Wagen ein und fuhren los.

„Hier, nimm du mein Handy“, sagte John zu Erika. Das Ortungssystem zeigte bereit den Standort von Max Wagen an.

„Na dann, du kleiner Scheißer. Heute bist du dran“, meinte Erika und freute sich, mit John die Verfolgung aufzunehmen.

„Ich werde mindestens einen halben Kilometer Abstand halten. Mindestens.“

John war in eine Querstraße abgebogen und wartete am Straßenrand, dass sich Max Wagen in Bewegung setzte.

„Jetzt fährt er los. Scheint die Hauptstraße stadtauswärts zu nehmen. Jetzt ist er an uns vorbei.“

John fuhr los und nahm eine Querstraße entfernt die Verfolgung auf.

Max fuhr stadtauswärts und fuhr auf einen Parkplatz bei einem Geschäft.

„Ich nehme an, er geht was einkaufen. Er war einige Tage nicht zu Hause. Hoffentlich fährt er jetzt dorthin oder noch besser, zum Versteck von Barbara Rohner. Aus der Ferne beobachteten sie Max. Wenig später verließ er das Geschäft. Er trug eine Tasche und ein Sixpack Wasser mit sich. Dann fuhr er weiter in Richtung Norden davon.

„Verdammt, wohin will er? Zum Versteck? Brauchen wir Verstärkung?“

„Nein. Auch wenn er jetzt dorthin fährt. Er wird sie vielleicht frei lassen und wenn nicht, sind wir in der Nähe.“

Max verließ den Kanton Zug und wechselte in den Kanton Zürich. Eine halbe Stunde später stellte er den Wagen vor einem Bordell ab.

John fuhr am Bordell vorbei und parkierte seinen Wagen einige hundert Meter entfernt.

„Warten angesagt“, meinte er zu Erika, die schon die Augen verdrehte.

„Hoffentlich nicht die ganze Nacht?“, meinte sie.

„Ist aber anzunehmen. In seinem Unterschlupf war er ja einige Nächte nicht mehr.“

„Ich habe Hunger. Willst du auch etwas?“

John nickte.

„Ich gehe schnell an die Tankstelle da vorn. Einen speziellen Wunsch?“

„Wasser, Eingeklemmtes und vielleicht Früchte, Schokolade und Kaffee, wenn die das haben.“

„Zu Befehl. Ich melde mich noch bei Bruno Bär ab. Nicht, dass der noch eine Suchmeldung für mich durchgibt. OK?“, meinte Erika.

„Ja, gut. Grüß ihn von mir.“

Erika verließ das Fahrzeug und ging in Richtung Tankstelle. John schaute ihr nach. Er war nach wie vor davon überzeugt, dass er damals richtig gehandelt hatte. Etwas spät, aber nicht zu spät. Nicht dass Erika keine annehmbare Partnerin war, aber jetzt hatte er endlich einen Vergleich. Alina.

Er klaubte das Handy hervor und rief sie an.

„Hey, mein Schatz, schön das du mich anrufst“, begrüßte ihn Alinas Stimme. „Wie geht’s?“

„Danke, gut. Ich vermisse dich.“

„Ich dich auch. Aber nächste Woche komme ich für ein paar Tage zurück. Ich muss vieles erledigen. Ich freue mich auf dich. Wie läuft es bei dir?“

Sieht nach einer langen Nacht aus. Sind am Beobachten eines Erpressers, der wohl auch noch eine Geisel hat. Ist im Moment in einem Bordell.“

„Du Armer. Solange du nicht ins Bordell musst. Ich bin ja bald wieder zurück und ich verspreche dir, nicht nur zum Arbeiten.“ Alina war sich sicher, dass John jetzt lächeln würde.

Und John lächelte.

„Ich freue mich. Wir hören uns morgen wieder. Dir einen so angenehmen Tag wie möglich. Kuss, mein Schatz.“

„Und dir eine möglichst kurze Nacht. Ich drücke dich, mein Lover. Bis bald.“

Die Wagentüre wurde geöffnet. Erika streckte ihm ein ganzes Tablett voll Leckereien hin.

„Inklusive frischem Kaffee“, betonte sie, als sie sich neben John setzte.

„Danke. Hast du gut gemacht. Wie lange hat die Tankstelle offen? Vielleicht möchte ich noch ein Dessert“, scherzte John.

„Aber ich bin doch da“, nahm Erika den Scherz auf.

„Kulinarisch, meine Liebe. Kulinarisch.“

„Ja ja, ich weiß. Der unnahbare Detektiv und Frauen. Ein ganz heikles Thema.“

„Nein, nicht mehr. Ich scheine in festen Händen“, antwortete John in der Absicht, Erika auf Distanz zu halten.

„Oh, erzähl! Wer hat dein Herz endlich erobern können? Kenne ich sie? Wie ist sie? Woher kennst du sie? Komm schon, erzähl.“

In diese Redefalle hatte sich John selbst gelockt und er wusste, dass er nicht darum herumkommen könnte, Erika ein paar Informationen zu geben. Selber Schuld, dachte er.

„Also, sie heißt Alina und du kennst sie nicht.“

„Alina?“, unterbrach Erika seinen ersten Satz. Was für eine Alina? Ich kenne nur diese Alina Schmid aus der Zeitung. Die schwerreiche Alina. Ist es die?“

John war gefangen. Er wusste, dass er Erika nicht belügen konnte. Sie würde es bemerken.

„Ja, diese Alina Schmid. Woher kennst du sie?“

„Nur aus der Zeitung und vom Hörensagen. Also weiter.“

„Nun ja, da gibt es nicht viel zu sagen. Wir haben uns vor Kurzem kennengelernt. Ich war im Rahmen von Ermittlungen anlässlich eines Einbruchs und der Sache Distillerie Etter unterwegs.“

„Dann ist das ja noch ganz frisch?“ Schon wieder unterbrach Erika John.

„Ja, kurz und heftig. Und leider ist sie zur Zeit in Hongkong und muss etwas geradebiegen, dass ihr Bruder in den Sand gesetzt hat.“

„Daniel?“, fragte Erika nach.

„Du scheinst die Familie aber gut zu kennen“, bemerkte John.

„Ja, da war mal was mit einer illegalen Spielhölle in Zug. Er wurde mit mehreren Verdächtigen festgenommen. Ich weiß nur noch, dass er bei den sogenannten Spielkollegen Schulden hatte. Große Schulden. Die Sache war aber schnell erledigt und Papa Schmid hatte irgendwie alles unter den Teppich kehren können. Du verstehst?“

„Ja, ich verstehe. Aber gab es keine Anklage?“

„Doch, schon. Aber nur der Spielhöhlenbetreiber musste, weil er schon eine Bewährungsstrafe hatte, kurz einsitzen. Die anderen wurden in Abwesenheit zu Bussen und Bewährungsstrafen verurteilt. Hatte einen guten Anwalt. Und Papa Schmid hielt die Presse raus. Irgendwie.“

„Thomas Berger?“, fragte John. „Der Anwalt, hieß er Thomas Berger“, wiederholte er, nachdem ihn Erika fragend ansah.

„Ja, kann sein. Warum kommst du drauf?“

„Nun, er ist mir in letzter Zeit schon einige Male aufgefallen. Er hat doch auch diesen Max da vorne“, er zeigte aufs Bordell, „verteidigt.“

„Ja, stimmt. Aber der nimmt jeden Fall an, der ihm Geld einbringt. Der steht immer Gewehr bei Fuß, wenn etwas läuft.“

„Vielleicht etwas zu Gewehr bei Fuß“, meinte John.

„Weißt du, wer den Gerber in Sachen Max engagiert hat?“

„Nein, keine Ahnung. Ich frage morgen mal nach.“

Eine Weile später fing sie wieder an: „Und, was läuft jetzt mit Alina Schmid?“

John seufzte. Er sass neben einem lebenden Lügendetektor und wusste, dass es kein Entkommen gab. Außer, dieser Max würde das Bordell bald verlassen. Doch Max oder Markus, wie er sich nannte, tat ihm diesen Gefallen nicht.

Er sass gefangen im Verhörraum namens eigener Wagen und mit Erika hatte er die beste Befragerin der Polizei neben sich.

„So ein Pech“, meinte er.

Erika lächelte siegesgewiss. „Also, erzähl!“

Kapitel 28: Kalt und dunkel

Barbara erwachte. Etwas war anders. Der Ofen war aus und auch das Licht war seit längerer Zeit nicht mehr an. Die fallende Temperatur hatte sie geweckt.

Im Moment dachte sie noch nichts Schlimmes, drehte sich um und mummelte sich besser in die Decke ein.

„Mist“, sagte sie laut vor sich hin.

Jetzt war sie wieder wach und konnte nicht schon wieder einschlafen. Gedankenspiralen drehten sich im Kreis. Wann hatte das hier endlich ein Ende?

Der Mann hatte versprochen, dass es nicht mehr lange dauern würde. Etwas in ihr ließ sie glauben, was er sagte. Er würde sie doch nicht einfach hier sterben lassen.

„Das macht keinen Sinn“, sprach sie zu sich selbst. „Der füttert mich doch nicht durch, um mich dann hier unten krepieren zu lassen. Das tut er doch nicht. Oder doch?“, fragte sie sich selbst.

Sie stand auf und ging vorsichtig in Richtung Türe. Mit dem Fuß prüfte sie den Weg. Sie wusste, dass der Kübel, den sie nun berührte, gleich links von der Türe stand. Dann berührte sie die Türe und hoffte insgeheim, dass der Entführer sie bereits, während sie schlief, geöffnet hatte.

„Bitte, bitte“, flehte sie die Türe an und suchte das kurze Stück, an dem sie die Türe aufziehen konnte. Sie fand es und zog daran.

Nichts. „Scheiße, scheiße, scheiße. Lass mich raus,“ schrie sie laut.

Nichts.

Sie blieb noch eine Weile vor der Türe stehen und hörte in die Dunkelheit. Nichts. Absolut nichts.

Sie drehte sich um und ging den Weg langsam zurück zum Bett.

Dass sie hier unten sterben würde, daran hatte sie bis jetzt nie gedacht. Warum sollte jemand sich die Mühe machen und sie durchfüttern und sogar den Eimer mit ihrer Notdurft regelmäßig austauschen.

Sie tastete sich zum Ofen vor. Kalt. Dann packte sie das Kabel, welches den Ofen mit Strom versorgte und zog daran. Das Kabel verlief unter der Türe hindurch. Sie versuchte, daran zu ziehen, doch das Kabel bewegte sich nicht.

Dann bewegte sie sich zurück zum Bett. Neben dem Bett stand die Tüte mit den Lebensmitteln. Sie grapschte hinein. Für eine kurze Zeit würden die Vorräte noch reichen. Dann griff sie ins Dunkel neben der Tasche. Zwei volle Flaschen und eine fast leere waren da. Also noch etwas mehr als drei Liter.

„Das sollte für zwei oder drei Tage reichen, hoffe ich“, sagte sie wieder zu sich. „Wenn ich sparsam bin, vielleicht auch fünf“, meinte sie sich selbst wieder Mut machend.

„Ich komme hier raus, hörst du? Ich komme hier raus!“, schrie sie in die Dunkelheit und legte sich wieder hin.

Kapitel 29: Lange Nacht

„So, jetzt weißt du alles“, meinte John zu Erika. „So detailliert gibt dir kein Verdächtiger je etwas Preis, wie ich jetzt. Ich hoffe, es reicht dir jetzt mit Informationen über Alina und mich.“

„Nun, es ist noch dunkel. Wer weiß, über den Sex haben wir noch nicht gesprochen. Ist er gut?“, fragte Erika.

„Nein, Erika. Jetzt reicht es. Wirst du eigentlich nie müde? Schlaf doch eine Runde und ich beobachte das Haus weiter. Ich glaube, die letzten Stundenfreier sind schon weg. Nur in zwei Zimmern brennt noch Licht. Die meisten Mädchen scheinen auch schon weg zu sein. Der hat bestimmt die ganze Nacht gelöhnt und schläft sich aus oder so.“

„Also gut. Gebe mich geschlagen. Aber schlaf nicht auch ein!“, meinte Erika zufrieden lächelnd. Sie hatte ihr Ziel erreicht und aus John eine richtige Antwortmarionette gemacht. Gelernt war gelernt.

John drückte den Knopf am Wagenhimmel, damit das Licht nicht anging, wenn er den Wagen verließ. Er würde schnell zur Tankstelle gehen, um sich zu erleichtern. Es konnte nichts passieren. Der Wagen von Max stand da und der GPS-Sender funktionierte einwandfrei. Wenige Minuten später war er zurück. Der Wagen stand noch da und er setzte sich auf einen Stein, der in der Nähe stand.

Erika hatte ihn wieder einmal geschafft. Für John war sie die mit Abstand beste Lügendetektorin der Polizei, was sie wieder mit Bravour bewiesen hatte. Er lächelte vor sich hin. Während er Erika von Alina erzählte, bemerkte er immer wieder, dass das, was an Gefühlen zu Alina da war, ihm so richtig tief ging.

Etwas später setzte er sich in den Wagen. Erika schlief tief und fest. Sie hatte nicht bemerkt, dass er zurückkam.

Langsam wurde es heller und John Etter verließ den Wagen erneut. Erika hatte wirklich einen tiefen Schlaf. Aber so ein Verhör brauchte wohl auch bei ihr Energie.

John ging wieder zur Tankstelle und kehrte mit frischem Kaffee und Brötchen zurück.

„Aufwachen, Faulpelz. Kann nicht mehr allzu lange gehen, bis unser Mann auch wieder zum Vorschein kommt. Schau, ein Wagen eines Reinigungsdienstes ist vorgefahren und drei Damen, die bestimmt nicht auf einen Zusatzverdienst im Liegen aus sind, machen sich auf den Weg ins Bordell. Da ist es mit Schlafen für Max auch bald vorbei.“

Erika war überrascht, dass John ihr einen Kaffee und Brötchen brachte.

„Danke, Morgenretter. Hast du gut gemacht. So ein Kaffee am Morgen ist eben doch das Beste, was einem geschehen kann.“

„Naja, muss ja nicht im Dienst und in einem Wagen sein. Dann ja“, antwortete John.

„Nun, mich hat schon länger kein Mann mehr mit Kaffee geweckt. Muss ich wohl auf der Dienststelle rumerzählen, dass mir der große John Etter einen Kaffee zum Frühstück serviert hat.“

„Untersteh dich. Dann erzähle ich allen, wie laut du geschnarcht hast“, entgegnete John.

„Ich bin noch nicht ganz wach, aber ich sehe, du lügst.“

„Ja und. Die würden mir bestimmt glauben und dann würde ich noch die Geschichte mit dem Kaffeeholen während der Überwachung eines Verdächtigen in Zürich erzählen und wem würden sie nun glauben? Was meinst du?“

„OK. Hast gewonnen.“ Erika nahm einen großen Schluck Kaffee.

„Mann, der lässt sich aber Zeit“, meinte John zu Erika, nachdem er sich den Kaffee und zwei Brötchen einverleibt hatte.

„Geld genug hat er ja, um sich die Stunden um die Ohren zu schlagen“, antwortete Erika.

„Aber nicht mehr lange. Schon bald halb sieben Uhr. Ich rufe mal im Büro an.“

„Musst nur sagen, dass deine Sklavin um diese Zeit schon arbeitet.

„Für einen guten Chef arbeitet man eben gerne. Nein. Scherz beiseite. Mit Susanne habe ich einen Glücksgriff gelandet. Sie ist die, die meine kleine Agentur am Laufen hält.“ John nahm das Handy vom Aufladegerät, stieg aus und telefonierte mit Susanne.

Erika tat es ihm gleich und rief Bruno Bär an, der unterwegs zum Arbeitsplatz war. „Was Neues?“, fragte sie und Bär antwortete trocken wie immer und diese Zeit nur kurz: „Nein.“

„Bei uns auch nicht. Stehen immer noch vor dem Bordell und warten auf unseren Kunden. Kann nicht mehr lange dauern.“

„Melde dich, wenn es losgeht und keine Aktion ohne Rücksprache“, orderte Bär an.

„Alles klar. Bis später.“

John Etter hatte sich gerade wieder in den Wagen gesetzt, als sich die Türe des Bordells öffnete und Max heraustrat.

„Endlich. So und jetzt bitte zu Barbara Rohner“, wünschte sich Erika.

Wenige Minuten später verfolgten sie das GPS-Signal stadtauswärts in Richtung Innerschweiz. Kurz vor Baar bog er auf die Straße in Richtung Höllgrotten ab.

„Wo will denn der jetzt hin?“, fragte Erika und John hob die Schultern.

„Vielleicht direkt deinem Wunsch entsprechend zum Versteck von Barbara Rohner.

Den Wagen stellte er auf dem großen Parkplatz vor den Höllgrotten ab. Wenig später fuhren auch Erika und John auf der Straße zum Parkplatz.

Max hatte den Wagen bereits verlassen und war im Wald verschwunden.

„Mist. Er ist weg. Wir dürfen ihm nicht folgen. Er könnte uns viel zu schnell entdecken. Um diese Zeit ist hier noch kein Mensch unterwegs. Ich fahre zum Restaurant Höllgrotten zurück. Dort warten wir auf seine Weiterfahrt und geben Bruno den aktuellen Stand durch.“

Eine knappe Stunde später fuhr der Wagen wieder los. John hatte seinen Wagen so gestellt, dass sie feststellen konnten, ob sich noch eine weitere Person im Wagen befand, falls sie im Fond gesessen wäre.

Kapitel 30: Endlich

Barbara schreckte auf. Die Türe wurde geöffnet und ein Taschenlampenstrahl blendete sie.

„Tut mir leid, dass das Licht ausging. Vermutlich ist die Batterie leer. Ist es schon lange aus?“, fragte Max sein Opfer.

„Ja, schon. Ich friere schon lange.“ Barbara hielt schützend eine Hand vor die Augen, um weniger geblendet zu werden. „Lässt du mich heute frei?“

„Ja, heute Abend bist du frei. Ich muss noch eine kleine Sache erledigen.“ Max stellte eine Tasche mit Lebensmittel neben das Bett. „Sollte reichen für heute. Strom gibt’s leider keinen mehr. Ich habe keine aufgeladenen Batterien mehr.“

„Schon gut. Hauptsache ich komme heute noch raus. Geht schon“, meinte Barbara.

Ohne darauf zu antworten, entferne sich ihr Entführer. Sie hörte, wie er die Türe hinter sich verschloss und wieder die kurze Treppe nach oben ging.

Max ging zurück zu seinem Wagen. Er brauchte für einen Weg zum Versteck keine fünfzehn Minuten. Wie er sein Opfer heute befreien würde, wusste er noch nicht. Er hatte sich überlegt, ihr die Füße und Hände zu fesseln, damit sie nicht schnell Hilfe holen konnte. Das müsste ihm reichen, um sich weit genug mit dem Wagen von diesem Ort zu entfernen.

Er fuhr zum zweitletzten Mal die Straße der Lorze entlang nach Baar. Dann bog er ab, um zur Wohnung seines Bekannten zu gelangen. Er war sich sicher, dass ihm niemand auf den Fersen war. Zu gut hatte er alles geplant. Dachte er.

Eine halbe Stunde später parkierte er den Wagen vor seinem Versteck. Karl Dürst war einer der wenigen, denen er vertraute.

Kapitel 31: Karl und Max

Als er wieder in die Schweiz einreiste, war es ein Leichtes, herauszufinden, wo sich Karl aufhielt. Max stand eines Tages einfach vor seiner Wohnung, als Karl Dürst von seiner Arbeit nach Hause kam.

Enttäuscht musste Max damals feststellen, dass Karl nicht mehr derselbe war, wie früher. Er war berufstätig und häufig unterwegs. Er hatte zur richtigen Zeit auf die richtige Straßenseite gewechselt und war das, was man seriös nannte, geworden. Bald schon hatte er einen guten Job bei einem Rohstoffhändler und war als EDV-Crack in der Firma bekannt. Ein Hobby, das die beiden schon in jungen Jahren teilten. Max auf der dunklen, Karl auf der etwas helleren Seite des Gesetzes.

Sie saßen zusammen, tranken Bier und Max hörte gut zu, was Karl alles zu erzählen hatte. Auf alle Fälle wusste er schon bald, dass Karl für etwa zwei Monate nach Frankfurt fahren würde, und die Wohnung für ihn ein ideales Versteck war. Als Karl nach einigen geleerten Bierflaschen die Toilette aufsuchte, machte sich Max daran, einen Zweitschlüssel für die Wohnung zu finden. Große Mühe musste er sich damals nicht machen. Gleich neben dem Eingang war ein Schlüsselbrett mit verschiedensten Schlüsseln angebracht. Der zweite Schlüssel, den Max an der Türe ausprobierte, passte und er steckte ihn ein.

Natürlich wollte auch Karl Dürst wissen, womit sich Max sein Geld verdiente. Er brachte Max durch sein Fragen dazu, dass er sich offen erklärte. Max hatte sich in der Nähe von Innsbruck bei einem Bekannten versteckt und von dort aus sich im Darknet als Verbrecher auf Abruf angeboten. Man konnte ihn gegen Bezahlung in Bitcoin für Aufträge aller Art mieten. So hatte er sich nach und nach eine Klientel aufgebaut, die selber nicht aktiv werden wollten und für sich oder auch für andere Aufträge entgegen.

Am liebsten hatte er Aufträge, bei denen er keinen Fuß vor die Tür setzen musste. Computerkriminalität im Auftrag. Er prahlte damit, dass er einen der weltbesten Trojaner programmiert hatte, der es seinen Auftraggeber ermöglichte, mit gestohlenen Kreditkartendaten größere Geschäfte abzuwickeln, wenn sich der richtige Besitzer einmal auf einer verschickten Mail ein Angebot angeschaut hatte.

„Und wie läuft das genau mit diesen Bitcoins? Natürlich kenne ich diese Währung ein wenig. Ist das Risiko nicht riesig? Und wie wechselst du es in eine normale Währung?“, fragte Karl.

„Also, ganz ehrlich, Karl. Ich wäre fast Millionär geworden. Aber dann hat mich jemand abgezockt und mein ganzes Bitcoinvermögen entführt. Beim heutigen Kurs der Bitcoins wäre ich wirklich ein gemachter Mann. Leider hat es nicht geklappt und so habe ich nun einige Aufträge gegen Bares entgegengenommen. Demnächst führe ich einen Auftrag für einen Einbruch durch. Ich muss dafür nur in einem Hotel in ein Zimmer einsteigen und dort einen Tresor räumen. Ins Hotel habe ich mich schon eingehackt. Ich konnte mir eine Karte erstellen, mit der ich jeden Tresor im Hotel öffnen kann.“

„Und wie steigst du ein?“, fragte Karl nach.

„Je nachdem. Im Hotel selbst ist alles mit Kameras vollgepflastert, so gehe ich nicht rein. Aber ich habe im Tirol ein neues Hobby für mich gefunden, welches meine meist sitzend verbrachen Tage auf nützliche Weise ergänzt: clean Climbing.“

„Was? Das musst du mir näher erklären. Unter Climbing kann ich mir zwar etwas vorstellen, aber clean climbing? Was ist sauberes klettern?“

„Schau uns an, Karl. Fällt dir etwas auf?“

„Naja,“, antwortete Karl und musterte Max genauer. „Ich habe in paar Kilogramm mehr und du bist eher dünner geworden.“

Max zog den Hemdärmel zurück. „Siehst du diese Muskeln? Nicht dick, aber fest. Eine Folge von diesem Hobby. Ich bin fit wie ein Turnschuh. Clean Climbing ist Klettern mit mobilen Sicherungsmitteln. Es wird auch „selber Absichern“, „Klettern ohne Bohrhaken“ oder „Trad Climbing“ genannt. Dabei werden alle Sicherungsmittel wie Klemmkeile, Klemmgeräte, Schlingen, vom vorsteigenden Kletterer angebracht und vom nachsteigenden Kletterer wieder entfernt. Ziel ist, dass der Fels nach der Begehung möglichst keine Spuren aufweist. Ich habe mich mit meinem Freund draußen an immer schwierigere Berge getraut. Mit immer weniger Hilfsmitteln und heute steige ich häufig ohne Sicherungsmittel.“

„Spinner!“, quittierte Karl Max’s Schilderungen.

„Schon. Aber ich habe das Hotel bereits angeschaut. Wenn der Gast in den ersten drei Stockwerken untergebracht ist, brauche ich keine Hilfsmittel und steige einfach ein. Das Problem heutzutage sind die Fenster. Aber der Architekt hat sich wohl an das Stadtbild gehalten und Fenster angebracht, die für mich kein Problem darstellen.“

„Und dann? Wie weiter?“

„Ist leicht verdientes Geld. Ich erhalte in meinem Hotel einen Schließfachschlüssel und hole mir mein Geld ab. Dann muss ich nur noch den Inhalt per Post an eine Adresse senden. Ich denke, langfristig ist es doch sicherer, für richtiges Geld zu arbeiten.“

Interessiert hörte sich der alkoholisierte Karl die durch den Alkoholeinfluss geschönten Geschichten von Max an. Die geplante Erpressung verschwieg er bewusst. Es ging um zu viel Geld. Dann wäre eine Mitwisserschaft gefährlich.

Es war wir vor einigen Jahren. Beide lachten über die Dummheit der anderen. Obwohl Karl nicht mehr in diesem Milieu tätig war, versicherte er Max, dass er auf seiner Seite war. Brüder im Geiste.

Und er hielt Wort. Als er in Frankfurt angerufen wurde, war er überzeugt, dass der Mensch, der sich in seiner Wohnung einquartiert hatte, Max war. Aber er erwähnte ihn mit keinem Wort.

Wenige Tage später traf Max seinen Auftraggeber auf einer Parkbank am Zugersee. Ein Geschäftsmann aus der Umgebung, der ihm die Anzahlung überreichte und Details zum Aufenthalt des zu Bestehlenden übergab. Nicht viel älter als er. Elegant gekleidet. Max war sich sicher, dass es sich um den Auftraggeber handeln musste und nicht um einen Strohmann, wie so oft in Österreich. Zu gut war dieser Mann gekleidet. Die meisten Übergaben von Bargeld wurden durch Randständige getätigt, die für wenig Geld unter Beobachtung aus sicherer Entfernung, das Paket jeweils übergaben. Max hatte in letzter Zeit einige Aufträge übernommen, bei denen er Kontakt zu einem Auftraggeber hatte. Als er im Darknet von einem potenziellen Auftraggeber darauf angesprochen wurde, in seiner alten Heimat tätig zu werden, hatte er sofort zugesagt.

Max hatte sich nie für die Hintergründe der Aufträge interessiert. Er war immer froh, so wenig Details über die Gründe zu wissen. Viel wichtiger waren ihm die Details des Auftrages. Was, wann, wo, und wie. Wen er bestehlen sollte, war Privatsache des Auftraggebers.

Von seinem Auftraggeber wusste er nur, dass es sich um eine größere Geldsumme handeln musste und um einen Vertrag. Vermutlich war die Geldsumme der Grund dafür, dass die Entlohnung groß war. Die Versuchung, sich mit der Beute davonzumachen, war da, aber dann wäre sein Ruf im Netz schnell ruiniert.

Er würde diesen Einbruch ebenfalls als Reklame nutzen. Er hatte einen tadellosen Ruf im Darknet. Auf seinem Auftragsprofil hatte er einige der größeren Aktionen aufgelistet. Diese waren Vertrauensbeweise für seine Aufrichtigkeit der Auftraggeber gegenüber und dieser Bruch würde ebenfalls einen Eintrag erhalten. Erstmals würde er auch eine gelungene Erpressung anführen.

Seine Auftragspreise würden explodieren. Er hätte nach der Erpressung genügend Geld für die nächsten Jahre und könnte sich die Aufträge aussuchen.

Er würde den Bruch im Hotel und danach die Erpressung durchziehen. Dann könnte er sich wieder mit einer neuen Identität ins nahe Ausland absetzen. In Innsbruck lagen mehrere Ausweise bereit. Er würde sich die Haare und Bart wachsen lassen und dann als freier Mann das Geld genießen.

Kapitel 32: Stress

Am frühen Morgen stand Max auf und ging frühstücken. Danach machte er sich auf den Weg, einen Wagen für den heutigen Tag auszusuchen. Autoklau war heutzutage einfacher als vor Jahren. Er brauchte nicht einmal Werkzeug dazu. Mit einer speziellen Fernbedienung lief er herum und drückte auf dieser herum. Plötzlich gingen bei einem neueren Wagen die Lichter an und aus. Max schaute sich um. Niemand zu sehen.

„Du gehörst jetzt mir“, sagte er zum Wagen. „Aber keine Angst, noch heute bringe ich dich zurück.“

Dann fuhr er zur Wohnung von seinem alten Freund Karl, der tagsüber arbeitete. Die Nachbarn schienen ebenfalls nicht anwesend und Karl schaute sich ausgiebig in der Wohnung um. Hier ließe sich wohnen und Karl würde in zwei Tagen für einige Zeit verreist sein. Der ideale Unterschlupf für die Zeit der Erpressung. Er hatte bereits im Vorfeld einige Firmen ausgekundschaftet, die er erpressen konnte. Er träumte davon, gleich mehrere Firmen gleichzeitig auszunehmen. Das würde die Chancen erhöhen, dass wenigstens eine oder zwei keine Polizei anfordern würden. Die schlussendlich ausgewählten drei Firmen sortierte er dem Alphabet nach.

Er sass bei Karl in der Küche und legte sich den Schlachtplan für die Erpressung bereit.

Nun machte er sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Höllgrotten. Als Kind hatte er hier des Öfteren gespielt und einmal hatten sie im Wald einen Bunker entdeckt, der offen war, und hatten ihn in Beschlag genommen. Er hatte Glück und fand den Bunker wieder, der damals, als er seinen Großeltern von diesem Bunker erzählt hatte, leider wieder verschlossen wurde. Sein Großvater erzählte ihm damals, dass dieser Bunker kurz nach dem Krieg als Keller für Obst benutzt wurde.

Heute waren Schlösser für Max kein Zeichen einer verschlossenen Türe mehr. Höchstens noch eine weitere Herausforderung. Kurze Zeit später stand er im Bunker. Einige Stufen musste er runtergehen und dann stand er vor der nächsten Türe, die offen stand. Hier würde er das Geld zwischenlagern, falls es nach der Übergabe des Geldes Probleme geben würde. Dieses Versteck wäre ideal. Eine Stunde später stand er wieder vor dem Wagen. Er hatte sich gemerkt, dass er noch einiges für den Bunker brauchen würde. Falls er aus irgendeinem Grund nicht mehr ins Hotel oder zu Karls Wohnung zurückkehren konnte, wäre das auch für ihn ein ausgezeichnetes Versteck. Er fuhr in einen nahe gelegenen Baumarkt und deckte sich mit allen notwendigen Dingen ein. Einen Heizkörper, eine LED-Lampe, mehrere Autobatterien, eine mechanische Zeitschaltuhr, sämtliche dazugehörenden Kabel und ein Notbett. Der Verkäufer im Geschäft hatte ihm aufgezeigt, wie er die LED-Lampe an die Batterie schalten konnt. Dazu nahm er noch einen Eimer für die Notdurft. Danach holte er in einem Lebensmittelgeschäft noch einen Notvorrat.

Nachdem Max seine Notunterkunft vorbereitet hatte, fuhr zurück nach Zug und stellte den Wagen auf einen Parkplatz in der Nähe ab.

„Tschüss, du warst gut“, meinte er zum Wagen und verschloss ihn auch wieder mit der selbst gebastelten Fernbedienung. „Einer mehr, der sich vor der Polizei die Blöße gibt, nicht mehr zu wissen, wo er seinen Wagen abgestellt hat“, lächelte Max vor sich hin. „Danke, liebe Technik.“

Nach dem ausgiebigen Mittagessen ging er zurück ins Hotel. Er bereitete sich akribisch auf den heutigen Abend vor.

Am selben Abend fand im Hotel, in dem Max einsteigen sollte, ein Galadiner statt. Das hatte ihm sein Auftraggeber bereits gesagt. Er hatte die Zimmernummer, die Karte, die Anzahlung. Zwanzig Prozent waren vereinbart und mit diesen fünfzehntausend Franken ließ es sich wieder leben. Der Auftraggeber schien sich im Milieu nicht wirklich gut auszukennen, sonst hätte er gewusst, dass er für die Anzahlung bereits Leute finden konnte, die den Auftrag ausgeführt hätten.

Einige Male hatte er den Gedanken daran, den Bruch nicht durchzuführen, verworfen. Nach einer gelungenen Erpressung würde er über viel mehr Geld verfügen, als nach diesem Einbruch. Doch diese Gedanken ließ seine Ganovenehre nicht zu.

Max war sich auch nicht mehr ganz sicher, was zuerst war. Der Gedanke an eine Entführung oder der Auftrag zum Einbruch.

Er hatte sich bereits im Vorfeld schlaugemacht, wo sich das Zimmer befinden würde. Erdgeschoss bis Hochparterre. Er würde auf alle Fälle keine Mühe haben, einzusteigen.

Der Nachmittag zog sich dahin und den Einbruch würde er erst kurz gegen Mitternacht durchführen können. Max setzte sich an den Computer und fertigte zwei Erpresserbriefe an. Er hackte sich bei seinem zukünftigen Unterschlupfgeber ein und druckte auf dem Drucker die beiden Seiten aus. Dann verließ er das Hotel im Zentrum der Stadt mit einem großen Rucksack, den er in einem Geschäft in der Nähe erworben hatte. Den Inhalt hatte er in den letzten zwei Tagen unauffällig in verschiedenen Geschäften gekauft.

Auf seine bewährte Art suchte er sich einen fahrbaren Untersatz. Schon bald sass er in einem neueren Audi und fuhr nach Edlibach. Zwanzig Minuten später stand er vor Karls Wohnung und zog sich ein paar Handschuhe über. Kurz darauf schaute er sich die Ausdrucke an.

„Gut“, bewertete er seine eigene Arbeit. Dann holte er sich noch einen Bostitch und einen Kleberoller aus dem Büro von Karl Dürst. Einen Brief steckte er in ein vorbereitetes Plastikmäppchen und den anderen in ein Kuvert, dass er vorsichtig und in Druckbuchstaben beschrieb.

Immer wieder konsultierte er seine Uhr. Er musste warten. Er wollte mit einer der letzten Gruppen die Höllgrotten betreten. Er machte gegen drei Uhr nachmittags mit dem gestohlenen Wagen auf den Weg zu den Höllgrotten und stellte den Wagen ganz hinten auf dem Parkplatz hin.

Danach machte er sich auf den Weg zum Kiosk und löste eine Eintrittskarte. Eine Gruppe Menschen hatte sich vor einigen Minuten auf den Weg zum Eingang gemacht und er hatte die Gruppe bald eingeholt. Als Letzter betrat er die Grotte und folgte den Menschen auf ihrem gemütlichen Gang durch die Grotten.

Für die sehenswerten Gebilde, die das Wasser in den letzten Jahrhunderten geformt hatte, blieb ihm keine Zeit. Er suchte sich den besten Platz aus, und wurde im unteren Teil der Grotte fündig. Er wusste, dass der Whisky weit hinten in der Grotte im Wasser gelagert wurde und wartete nur noch darauf, dass sich die vor ihm laufende Gruppe zum unteren Ausgang begab. Dann checkte er unauffällig die Umgebung und versicherte sich, dass kein Besucher mehr an dieser Stelle vorbeikommen würde.

Er nahm den Rucksack ab und holte zwei Fischerstiefel hervor. Dann watete er langsam durch das Wasser auf die Whiskyfässer zu. Der Boden war uneben und fast wäre er ausgerutscht.

„Glück gehabt“, beruhigte er sich und versteckte sich hinter den Fässern. Nun musste er nur noch abwarten, bis der Grottenwart seine Kontrollrunde abgeschlossen hatte. Gegen halb sechs war es soweit. Er hörte Schritte und kurz darauf etwas weiter entfernt, wie der Grottenwart die Türe abschloss.

Nun war seine Zeit. Er holte ein Plastikmäppchen mit dem Brief hervor und befestigte es mit einem Bostitch an die Front eines Whiskyfasses. Auf den zweiten Blick würde es sichtbar werden. Dann machte er sich gemächlich auf den Weg zum Schild mit den Erläuterungen. Hier holte er einen Brief hervor und klebte ihn mit Klebestreifen an das Schild.

Dann machte er sich daran, das Schloss aufzubohren. Das war für ihn eine seiner leichteren Übungen.

Draußen war es schon am Eindunkeln, als er sich aus der Grotte entfernte. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er noch genügend Zeit hatte, um zurückzufahren und sich auf den Einbruch vorzubereiten. Er drückte die Türe zu und verließ die Umgebung durch ein Drehkreuz in Richtung Parkplatz.

Ein junges Paar kam ihm entgegen, hatte ihn jedoch noch nicht gesehen. Max versteckte sich hinter einem Baum und wollte abwarten, bis die beiden verschwunden waren.

„Komm, wir versuchen in die Grotten zu kommen. Das ist doch sicher irgendwie beim Ausgang möglich“, sagte der Mann zur Frau.

„Versuchen können wir es ja. Ist sicher unheimlich gruselig, wenn das Licht nicht an ist. Wie kommen wir hinein?“

„Wir finden schon einen Weg“, entgegnete der Mann.

Das war der Moment, in dem Max sich einmischen musste. Er packte den nächstbesten größeren Ast und wartete, bis die beiden nahe bei ihm vorbeigingen. Als er sich sicher war, dass sie in Schlagdistanz waren, sprang er hinter dem Baum hervor und schlug mit dem Ast der Gestalt, die vor ihm stand, diesen über den Schädel.

Die Gestalt ging augenblicklich in die Knie und Max holte zum zweiten Schlag gegen die andere Gestalt aus. Auch diese traf er am Kopf, auch wenn diese einen Arm schützend vor sich gehalten hatte. Beide lagen nahe beisammen vor ihm und Max schaute sich die zweite Gestalt an.

Eine junge Frau lag bewusstlos und blutend vor ihm. Max war sich nicht ganz sicher, ob sie sein Gesicht gesehen hatte. Die beiden mussten verschwinden. Schnell. Max hatte anlässlich seines ersten Besuchs in den Höllgrotten bereits eine Türe gesehen, die ganz in der Nähe des Kiosks stand. Er lief dorthin und holte den Bohrer hervor. Innert Kürze war die Türe offen und Max leuchtete mit der Taschenlampe hinein.

„Gutes Versteck. Hier müsst ihr übernachten. Tut mir leid.“ Er lief zurück und nahm den Mann huckepack auf die Schulter und brachte ihn in den Keller. Glücklicherweise war er nicht der Schwerste. Dann änderte Max seinen Plan und ging zum Wagen auf den Parkplatz und fuhr mit diesem wieder zurück zum Kiosk.

Er versteckte die Frau im Kofferraum und beobachtete sie eine Weile. Sie atmete und das Blut rann nicht mehr über die Wunde.

Max konsultierte die Uhr.

„Das reicht“, machte er sich selbst Mut. Er hatte noch genug Zeit, um den neuesten Plan auszuführen. Er fuhr den Wagen zurück nach Edlibach, an seiner Wohnung vorbei über die Wiese. Max hoffte, dass der allradbetriebene Audi auch genügend Grip hatte, um über das steilere Feld zu kommen.

Er hatte. Max stellte den Wagen am Waldrand ab und holte die Frau, die immer noch bewusstlos war, aus dem Wagen. Dann trug er sie in das ursprünglich geplante Versteck für seine Beute. Spätestens jetzt verfluchte er seine Idee, zwei Vorhaben am gleichen Tag durchzuführen.

„Scheißstress“, fluchte er vor sich hin.

Er legte die Frau auf sein Notbett. Er überzeugte sich, dass sie noch lebte. Kurz darauf verschloss er den Bunker, stellte die Zeituhr zwischen den Batterien und dem Licht auf Morgens um sieben. Bis dahin würde er auch wieder da sein. Dann fuhr er zurück in seine neue Bleibe.

Zum ersten Mal hatte er Menschen verletzt und gegenüber der Frau hatte er ein schlechtes Gewissen. Er schaute sich in der Wohnung um. Dann setzte er sich ins Büro, loggte sich an Karls Computer ein und versandte auf verschlüsselten Wegen noch eine Mail an die Firma Etter. Diese Mail würde den Infobriefkasten der Firma erst am nächsten Tag um elf Uhr erreichen. Dann machte er sich etwas später als geplant auf den Weg in Richtung Stadt. Er wollte den Wagen nochmals austauschen. Max stellte den Wagen in der Nähe des Bahnhofs ab und lief in Richtung Zentrum. Immer wieder drückte er seine Universalfernbedienung und er wurde bald fündig. Der Kanton Zug verfügte wirklich über viele Neuwagen, die mit der neuesten Schließtechnik ausgestattet waren.

„Schon wieder Glück gehabt“, lobte er sich selbst und schaute auf die Uhr. Eigentlich sollte er jetzt seinen Auftrag bereits ausgeführt haben. Doch diese Galadiners dauerten seiner Meinung nach immer lange. Aber für ihn heute lange genug.

Kurze Zeit später parkte er den Wagen in der Nähe des Hotels. Er zog sich schwarze Fußlinge und Handschuhe über. Dann zog er eine Maske an, zusätzlich die Kapuze über den Kopf und machte sich auf den Weg.

„Kein Problem, kein Problem“, machte er sich immer wieder Mut, auch wenn es nicht der Erste in seiner langen Kariere als Berufsverbrecher war. Eine Straßenlaterne in der Nähe störte ihn etwas, aber auf der Straße war niemand zu sehen.

Von außen schaute Max sich die seitliche Fensterfront des Hotels genauer an. „Zweites Fenster von links“, sagte er zu sich und schlich sich langsam an. Weit und breit war niemand zu sehen. Das Fenster wehrte sich nicht gegen das leichte Aufbohren und schon bald ließ es sich nach innen aufdrücken.

Max schaute sich nochmals um, drückte das Fenster ganz auf und verschwand behänd im Zimmer. Er streife die Gardinen von sich und stand schon bald mitten im Raum. Max wusste genau, wohin er gehen musste, um den Tresor zu finden. Er ging auf das Bild an der Wand zu und zog es zur Seite. Dann holte er die Karte hervor, die es ihm ermöglichen würde, den Safe gewaltlos zu öffnen.

Die Türe wurde mit einem Riesengetöse aufgemacht, Männer mit Waffen in den Händen stürmten ins Zimmer und das Licht ging an. Er wollte schnell zum Fenster zurück, doch eine weitere Gestalt stellte sich ihm in den Weg. Die musste schon vorher hinter ihm gewesen sein.

Er wurde von muskelbepackten Männern gepackt. Die Kapuze wurde zurückgerissen und die Maske entfernt. Jetzt schaute er dem Mann in die Augen, der ihm den Rückweg abgeschnitten hatte.

„John Etter, Privatermittler“, stellte er sich dem Einbrecher vor. „Und Team,“ ergänzte er. John war sicher, dass es sich bei dem Einbrecher um den Täter handeln sollte, nach dem in den letzten Jahren intensiv gefahndet wurde. Es sollte sich ausnahmsweise täuschen. Das konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Erfreut holte er sein Handy hervor und rief seinen alten Freund Bruno Bär an.

„Hallo Bruno, habe ich dich geweckt?“, war seine erste Frage.

„Nein, sitze mit Nina noch vor dem Fernseher. Was ist so dringend, dass du mich mitten in der Nacht anrufst?“

„Nun, ich habe da ein kleines Geschenk für die Polizei. Wie lange fahndet ihr schon nach dem Ganoven, der euer Leben mit seinen Einbrüchen schwer macht?“

„Ein paar Jahre.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er an: „Sag nur, du hast ihn?“

Mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen gab John die Adresse durch, wo eine Streife den Einbrecher abholen konnte.

„Ich komme morgen früh vorbei, um den von dir immer gerne gesehenen ausführlichen Rapport abzugeben. Dann schrieb er seiner Perle noch eine SMS mit der Erfolgsnachricht und der Mitteilung, dass er am Morgen früh gleich zur Polizei gehen würde.

Max wurde unsanft von Johns Männern durch die Hotellobby an verblüfften Menschen vorbei nach draußen befördert, als zwei Streifenwagen mit Blaulicht vor dem Hotel hielten.

Kapitel 33: Der Anwalt

John war schon früh auf den Beinen und betrat das Kommissariat, wo er von seinem Freund Bruno Bär empfangen wurde. Der Verdächtige wurde gerade in den Verhörraum gebracht.

Bär zeigte Etter mit einer Hand an, dass er sich in den Nebenraum des Vernehmungszimmers begeben sollte. Der von John gestellte Einbrecher sass, die Hände in Handschellen an einem Tisch.

Nach wenigen Sekunden gab der Mann bereits einen Namen an. Er nannte sich Stephan Meier und gab an, im Hotel Ochsen in Zug zu wohnen. Die weitere Vernehmung ließ mehr Fragen offen, als das sich etwas Konkretes daraus ergab. John Etter war überzeugt, dass es sich nicht um einen Stephan Meier handelte.

Bald darauf verließ er das Kommissariat. An späteren Nachmittag teilte ihm Bär noch einige Details zum Täter mit. Im Hotel wurde eine größere Summe Bargeld gefunden. Aber nichts, was darauf hinwies, dass es sich um den ursprünglich gesuchten Einbrecher handelte. Es schien sich um einen Zufall zu handeln, dass er sich so benahm, wie der Gesuchte.

Einen Tag später geschah Spezielles. Bär rief Etter an, um ihm mitzuteilen, dass sich im Fall Meier ein Anwalt eingeschaltet hatte. Er hatte sich als Thomas Gerber vorgestellt, und verlangte Stephan Meier zu sehen, da er ihn vertrat. Er sei fast vom Stuhl gefallen. Thomas Gerber war einer der angesehensten Anwälte der Stadt. Warum sollte er einen vermutlich mittellosen Dieb wie Stephan Meier vertreten? Und nach Bärs Wissen hatte Meier nicht telefoniert.

Thomas Gerber würde in den folgenden Tagen noch mehrmals erwähnt werden. Im Lauf der Zeit sponnen sich die Fäden dann langsam zusammen. Thomas Gerber war der Rechtsvertreter der Firma Schmid und noch am selben Abend telefonierte John mit Alina.

Er fand heraus, dass die meisten Fälle, die er betreute, kleinere Sachen für ihren Bruder waren. Meist Vertragsprüfungen, welche die Kanzlei von Gerber abwickelten. Gerber selbst war ein gefürchteter Verteidiger, der vor Gericht vor nichts zurückschreckte. Menschen aus seiner Umgebung nannten ihn, wie John Etter feststellte, Geldgeber, der gegen Bezahlung alles machte.

Gerber brachte es fertig, seinen Mandanten innert vierundzwanzig Stunden auf freien Fuß zu setzen. Stephan Meier musste sich in den nächsten Wochen regelmäßig auf dem Polizeiposten melden. Ihm wurden die Papiere abgenommen, und er konnte sich in der Schweiz unbeschränkt bewegen. Ohne seinen Anwalt wäre das kaum möglich gewesen.

John würde in Zukunft ab und zu sein Auge auf diesen Anwalt werfen. Bestimmt war er mit dem einen oder anderen Ganoven auf du und du.

Kapitel 34: Verdacht: Der Auftraggeber

Thomas Gerber wurde um sechs Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen.

„Sie müssen sich sofort um Stephan Meier kümmern. Einen Einbrecher, der letzte Nacht verhaftet wurde. Er muss unbedingt freikommen und darf keine Aussage machen! Verstanden?“

Etwas verdattert antwortete Gerber: „Ja, klar. Muss ich Details wissen?“

„Nein. Der muss raus und so schnell wie möglich weg! Sorgen Sie dafür.“

„Ich werde mich gleich darum kümmern. Wo erreiche ich Sie?“

„Ich bin noch zwei Tage in der Schweiz, dann reise ich wieder ab. Noch Fragen?“

„Nein, auf Wiederhören Her…..“.

Sein Gegenüber hatte das Gespräch bereits beendet.

„Neureicher Arsch,“ quittierte Gerber seinen Auftraggeber. „Immer dasselbe mit diesen Leuten. Gute Firma im Rücken von anderen groß gemacht und selbst ein ganz kleines Licht. Ein ganz kleines Licht“, wiederholte Gerber auf dem Weg zum Bad.

Schon bald sass er Bruno Bär gegenüber, der den Einbrecher bereits zum ersten Mal befragt hatte. Gerber ließ sich das Protokoll vorlegen und stellte erleichtert fest, dass sein Auftraggeber mit keinem Wort erwähnt wurde.

„Gut, ich gehe davon aus, dass es sich um ein kleineres Delikt handelt und da ihr schon festgestellt habt, dass es sich nicht um den gesuchten Einbrecher handelt, wird er gegen Auflagen bestimmt heute noch freikommen?“

„Nicht, wenn ich noch etwas gegen ihn herausfinden kann“, antwortete Bär. „Der hat einen nicht nachvollziehbaren Lebenslauf und noch viele Frage sind offen.“

„Nun, das ist ihr Problem, Bär. Haben sie bereits Haftbefehl beantragt?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Am besten, ich rufe gleich dort an. Sie hören bald wieder von mir oder vom Staatsanwalt.“

Bär zeigte dem Anwalt verärgert die Tür.

„Wer hat Sie engagiert?“, fragte er noch nach.

„Ach wissen Sie, manchmal mache ich meinen Job auch gerne für so arme Würstchen wie diesen Meier. Ich war gestern Zeuge an der Gala und habe mir gedacht, dass ich diesem Mann helfen werde.“

Bär fühlte bei jedem Wort, dass Gerber ihn belog. Leider hatte er in einem Punkt recht: Am selben Abend war Meier mit einigen Auflagen ein vorläufig freier Mann.

Als Bär John das mitteilte, war dieser bereits mit dem neuen Fall beauftragt, der Erpressung der Firma Etter. Bruno Bär ließ infolgedessen von seinen Leuten periodisch überprüfen, ob dieser Stephan Meier noch in der Stadt war.

Seine Leute beließen es dabei, im Hotel Ochsen anzurufen und zu überprüfen, ob Stephan Meier noch Gast war. Hätten seine Leute diesen Auftrag etwas ernster genommen, wäre bei Einigem schneller Licht ins Dunkel gebracht worden.

Noch deutete nichts auf den Auftraggeber hin, der Stephan Meier engagiert hatte. Aber John Etter hatte einen begründeten Verdacht. Aber Beweise für diese Verdächtigungen besaß er keine. Noch nicht.

In der Folge stellte er diverse Nachforschungen über Alinas Bruder an. Aber wirklich handfeste Hinweise auf kriminelle Handlungen in der Schweiz hatte er keine finden können. Die Sache in Hongkong war jedoch so suspekt, dass sich John alles vorstellen konnte.

Kapitel 35: Die Erlösung

Max stand im Keller von Karls Wohnung und suchte einen Strick. Seine Idee, die Gefangene zu fesseln und dann laufen zu lassen hatte er nochmals durchdacht und für gut befunden. Er würde ihr das Handy aufladen und zurückgeben. Sie besaß ein Modellgleiches wie Karl und der hatte ein Ladegerät in der Wohnung gelassen.

Barbara Rohner könnte dann den Berg herunterlaufen und das Handy im Tal unten noch nicht sofort benutzen. Der fehlende Empfang kam in diesem Fall Max entgegen. Nach längerem Suchen fand er einige Kabelbinder und Schnüre. Diese würden den Zweck auch erfüllen und Barbara den Weg in die Freiheit ausbremsen.

Max ging nach oben in die Wohnung. Nach der Befreiung von Barbara Rohner würde er mit dem aktuellen Wagen an einen Bahnhof im Kanton Zürich fahren. Dann würde er mit dem Zug nach Innsbruck weiterreisen. Dort hatte er noch weitere Ausweise bereit und von Innsbruck aus würde er verschwinden. Für immer. Seine bisherigen und auch zukünftigen Computerkriminalitätsaktivitäten könnte er überall auf der Welt durchführen. Vielleicht würde er es auch mit den Bitcoins nochmals versuchen – aber nach jedem Auftrag die Bitcoins austauschen.

Erst jetzt merkte er, wie müde er war. Der Stress der letzten vierundzwanzig Stunden hinterließ nun seine Spuren und er legte sich hin. Max schaute nochmals zum Fenster raus. Alles war in Ordnung. Ein paar dunkle Wolken zogen auf.

Erika Rogenmoser, die in der Zwischenzeit bei ihren auf der Lauer liegenden Kollegen angekommen war, schaute durch das Fernglas und sah, wie Max zum Fenster hinausschaute.

Sie nahm das Handy und telefonierte mit Bruno Bär.

„Meinst du, dass sich wirklich etwas tut?“, fragte sie genervt. Sie schaute in den Himmel und wusste, dass sie nicht mehr lange im Trockenen auf der Lauer liegen konnte.

„Einen Moment“, unterbrach Bruno Erika und stellte das Gerät auf stumm.

„Was meinst du, John? Lohnt sich das Warten im Wald. Wir haben ja immer noch das GPS-Signal. Ich könnte doch die Leute abziehen.“

John zuckte die Schultern. „Deine Entscheidung. Die Signale sind sicher noch für ein paar Tage gut. Ich habe fabrikneue Batterien eingesetzt und wenn die eine oder andere Batterie den Geist aufgibt, können wir immer noch handeln.“

Bruno Bär war ein vorsichtiger Mann und entschied, dass nur noch eine Person vor Ort bleiben musste.

„Erika, bist du noch dran?“

„Ja, klar, was meinst du?“, fragte sie angestrengt.

„Also, die zwei, die jetzt am Längsten vor Ort waren, können abziehen. Eine Person reicht für diese Nacht vollkommen.“

Erika verdrehte die Augen, stecke das Handy ein und schickte ihre beiden Kollegen nach Hause.

Regen lag schon bald in der Luft. Demnächst würde es wie aus Bächen regnen. Max war wieder wach und schaute nach draußen. Noch eine Stunde, dann würde er sich zum Bunker aufmachen. Die dunklen Wolken jedoch vermiesten ihm seinen anfänglichen Plan, mit dem Wagen über die Wiese nach unten zu fahren. Wenn es zu regnen begänne, würde er vermutlich stecken bleiben.

Er holte sein Notebook heraus und schaute den Regenradarfilm für die nächste Stunde an.

„Verdammt, gleich geht es los.“

Er ging in die Küche, nahm ein letztes Bier zu sich und verdrückte danach noch den letzten Apfel, der auf dem Tisch stand. Danach holte er die Tasche mit dem Geld aus dem Versteck. Nun schaute er sich noch einmal um, packte sein Notebook noch in die Tasche und ging nach unten zum Wagen. Er schaute sich zum letzten Mal um und öffnete den Kofferraum. Der Regen setzte langsam ein.

Erika beobachtete den Vorgang mit Schrecken aus der Ferne. Entgegen ihrer Annahme, dass Max nun davonfahren würde, verschloss dieser den Wagen und lief mit einem Plastiksack in der Hand in Richtung Wiese unterhalb des Hauses.

Mit schnellen Schritten beeile er sich, in den Bunker zu kommen.

„So ein Mistwetter!“, schimpfte Max. Er zog den Kopf zwischen die Schultern ein und begann zu laufen. Der Himmel sah aus, als wäre das Ende der Welt gekommen. Die vereinzelten großen Tropfen wurden zu einem hagelnden Platzregen.

Erika schätzte die Situation neu ein, verließ ihren Platz im Wald und machte sich an die Verfolgung von Max.

Im strömenden Regen verlor sie fast die nur noch schemenhaften Umrisse des Verdächtigen. Doch sie konnte feststellen, dass er in den unteren Wald verschwand.

Noch bevor sie den Wald ebenfalls erreichte, rief sie Bruno Bär an.

„Was ist?“, begrüßte er sie kurz.

„Er ist zu Fuß über die Wiese unterhalb seines Hauses in einem Wald verschwunden. Mit einer Plastiktüte in der Hand. Ich glaube jetzt, dass sich John nicht geirrt hat und dieser Stephan, oder wie immer er heißt, Barbara Rohner irgendwo da unten gefangen hält. Ich brauche dringend Verstärkung. Das Geld hat er vorsorglich bereits im Wagen verstaut. Hörst du mich?“

Die Verbindung war bereits unterbrochen. Hier unten hatte sie keinen Empfang mehr.

„Mist“, sagte sie zu sich und näherte sich dem Wald. Hier hatte sie keine Chance, zu sehen, wo Stephan Meier verschwunden war.

Sie ging von Baum zu Baum in Deckung, damit sie Meier nicht sehen konnte.

Max öffnete die Tür zum Bunker, holte eine Taschenlampe heraus und betrat den Vorraum.

„Es ist soweit, ich lasse dich frei. Geh nochmals nach hinten. Ich komme jetzt rein.

„OK, bin hinten“, hörte er Barbara sagen und öffnete die Tür.

„Bleib einfach ruhig stehen. Schau weiterhin an die Wand und halte die Hände nach hinten!“, befahl ihr Max.

Sie tat, wie ihr befohlen und schon bald waren ihre Unterarme mit Kabelbinder aneinandergefesselt. Dann bückte sich Max und band die Beine zusammen. Er überprüfte, dass sie nur kleine Schritte machen konnte. Dann steckte er ihr das aufgeladene Handy zu. Wenn sie sich geschickt anstellen würde, könnte sie das Handy erreichen und um Hilfe rufen. Aber erst, wenn sie wieder Empfang hatte.

„So, Kleine. Du kannst, sobald ich den Raum verlassen habe, gehen. Du hast hier keinen Empfang. Du gehst einfach langsam nach unten. Irgendwo wird dir irgendwer schon helfen oder dann kommst du in ein Gebiet mit Empfang und kannst Hilfe holen. So und jetzt keine unnötigen Fragen. Warte, bis ich weg bin und geh!“

Barbara nickte mit dem Kopf und brachte nur ein leises Ja über die Lippen.

Max löschte die Taschenlampe und verließ den Bunker. Er entfernte sich nur wenige Meter. Dann versteckte er sich hinter einem Baum. Er wollte sehen, ob Barbara Rohner nach unten ging oder nicht. Wäre sie nach oben gegangen, hätte sie viel früher nach Hilfe rufen können. Max hatte ein sehr gutes Gefühl. Er hatte das Geld, niemandem groß geschadet und war frei. Frei und reich.

Er beobachtete den Ausgang des Bunkers. Wenig später sah er durch den Regen schemenhaft Barbara diesen verlassen. Langsam bewegte sich der Schatten talabwärts. Max atmete durch. Jetzt stand seiner Zukunft nichts mehr im Weg. Völlig durchnässt ging er durch das Waldstück zurück. Kurz bevor er die Wiese erreichte, erstarrte er.

„Hände hoch!

Max drehte sich langsam um. Keine zwei Meter hinter ihm stand eine Frau mit einer Pistole im Anschlag.

„Halt. Wieder umdrehen“, befahl Erika in harschem Ton.

Doch Max würde so kurz vor dem Ziel niemals so einfach aufgeben. Er sprang die Frau an, die völlig verdutzt, die Waffe verlierend, Max über sich, auf den Rücken fiel. Max setzte sich auf sie und wollte sie schlagen. Er wollte alles dafür tun, dass diese Frau ihn nicht an seiner Flucht hindern konnte. Doch er musste nichts tun.

Die Frau war so unglücklich mit dem Hinterkopf auf eine Wurzel gefallen, dass sie regungslos unter ihm lag.

Max riss der Frau auf ihr sitzend die Jacke auf und untersuchte Sie. In einer Tasche fand er das Gesuchte. Eine Visitenkarte der Kantonspolizei Zug.

„Scheiße. Verdammte Scheiße. Wie kommst du hierhin?“, schrie er Erika an. Er holte alles aus ihren Taschen hervor. Das Handy schmiss er weit nach unten. Das Portemonnaie und das Fernglas nahm er an sich und suchte die Waffe.

Sie lag nur zwei Meter entfernt auf einem Flecken Moos. Noch nie hatte er eine Waffe in der Hand. Vor vielen Jahren war Karl der einzige der Clique, der eine Waffe besaß. Er schaute sie sich genauer an, fand den Sicherungsbügel, sicherte die Waffe und steckte sie ein.

Dann drehte er die Frau um.

Im Händezusammenfesseln hatte er nun schon etwas Übung und dann fesselte er ihr mit einem letzten Stück Schnur noch die Beine zusammen. In der Zwischenzeit war er überzeugt, dass diese Frau alleine hier unterwegs war, sonst hätten ihre Kollegen schon lange eingegriffen.

Trotzdem würde er vorsichtig sein.

Max entfernte sich von der Frau und ging langsam zurück zum Waldrand. Dann schaute er sich die große Wiese vor sich und die Umgebung mit dem Fernglas genauer an.

Der langsam nachlassende Regen gab den Blick bis zum Haus frei. Diese etwa fünfhundert Meter musste er über die Wiese gehen. Er nahm den ganzen Mut zusammen und lief los.

Nichts geschah. Er betrat entgegen dem ursprünglichen Plan das Haus nochmals Er musste trockene Kleider anziehen. Da aber niemand ihn daran hinderte, war er überzeugt, dass niemand ihm auf den Fersen war.

Im Haus schaute er immer wieder mit dem Fernglas zum Fernster hinaus. Nichts tat sich. Auch seine Nachbarn hatten ebenfalls nichts mitbekommen. Er schmiss seine nassen Kleider in den Abfallsack. Diesen würde er noch entsorgen. Karl würde nichts merken. Nachdem er sich trocken gerieben hatte, holte er sich trockene Unterwäsche aus dem Schrank.

Als er sich eine Hose und ein Hemd von Karl angezogen hatte, lief er barfuß mit den nassen Schuhen in der Hand zurück zum Wagen. Karl hatte viel kleinere Füße als Max. Die Schuhe würden im Wagen schon trocknen und sonst hatte er genügend Geld, um sich unterwegs neue zu besorgen. Irgendwo würde er schon welche finden.

Der Wagen sprang an und Max fuhr los. Er nahm den schnellsten Weg nach Horgen an den Zürichsee.

Kapitel 36: Verfolgt

Bruno Bär sass neben John Etter und behielt die sich bewegenden GPS-Signale auf dem Handy im Blick.

„Über den Hirzel. Er nimmt den Weg über den Hirzel. Wir sind etwas mehr als zehn Minuten hinter ihm.“ Der nur etwa sechshundert Meter hohe Hirzelpass ist ein kurzer Verbindungsweg zwischen den Kantonen Zürich und Zug.

„Gut, er entkommt uns nicht. Versuch nochmals, Erika zu erreichen. Die ist doch in der Nähe von Stephan Meier gewesen. Die muss doch erreichbar sein!“, forderte John Bruno auf.

„Ich sende eine Streife in die Gegend. Die sollen nach ihr suchen“, antwortete Bär, nachdem sich Erika immer noch nicht gemeldet hatte. „Du nennst ihn immer Stephan Meier, aber sein Name ist Max Iten.“

„Ja, ich weiß. Aber es spielt keine Rolle, wie wir ihn nennen, ich gehe davon aus, dass er wieder als Stephan Meier oder mit einem anderen Namen unterwegs ist. Kaum als Max Iten.“

„Ja, leider muss ich dir da recht geben.“

Das GPS-Signal bog in Richtung Stadt Zürich ab.

„Er fährt in Richtung Stadt. Hoffentlich verlieren wir ihn dort nicht.“

„Keine Sorge, das Signal ist sehr stark. Er müsste schon ganz tief in eine Garage fahren, um nicht mehr erreichbar zu sein. Vielleicht wechselt er das Fahrzeug oder fährt mit dem Zug weiter.“

Unruhig rutschte Bruno Bär auf dem Beifahrersitz hin und her.

„Mist, er hat angehalten. Schau, hier steht er.“

John blickte kurz aufs Display und vergrößerte mit zwei Fingern den blinkenden Ausschnitt.

„Dort befindet sich der Bahnhof. Er wechselt wohl auf den Zug oder nimmt sich ein Taxi. Wir sind in etwas mehr als fünf Minuten ebenfalls dort.

„Reicht, so häufig fahren um die Zeit die Bahnen auch nicht mehr“, meinte Bär. „Ich verstehe nicht, warum sich Erika nicht meldet. Wir haben keine Ahnung, wo sich diese Barbara Rohner zur Zeit aufhält. Was glaubst du, können wir diesen Max, oder wie auch immer er jetzt heißt, jetzt festsetzen?“

„Ich denke, wir müssen“, antwortete John und schaute auf der Straße nach vorn. „Dort ist der Bahnhof. Aber wir müssen aufpassen. Er kennt uns beide. Kannst du nicht Verstärkung anfordern?“

„Das dauert viel zu lange“, meinte Bär. „Du weißt, kantonsübergreifend ohne Voranmeldung dauert. Und unsere Leute sind zu weit weg. Das müssen wir beide alleine durchziehen. Parkier mal nicht zu nahe. Ich beobachte die Signale. Er ist immer noch auf dem Bahnhofareal.“

Bruno Bär nahm das Handy ans Ohr. „Verdammt noch mal, wo ist Erika. Habt ihr keine Spur?“

Verdattert verneinte der Polizist am anderen Ende der Verbindung. Der Wagen von Erika stand noch immer da, wo er abgestellt wurde, als sie zum Überwachungsteam gestoßen war. Der Mann vermutete, dass Max Iten sie vielleicht überwältigt und mitgenommen hatte.

„Verdammte Scheiße. Alles aufbieten, was sich aufbieten lässt und suchen! Verstanden! Suchen!“, schrie er ins Handy. „Und einige Streifen in die Region um die Höllgrotten. Irgendwo muss sie sein. Wir nehmen gleich Max Iten hopp. Also los. Beeilt euch!“, fügte er mit etwas beruhigter Stimme an.

John stellte den Wagen etwas abseits ab. Gemeinsam stiegen sie aus.

„Hast du eine Waffe?“, fragte Bruno Bär John.

„Nein, nicht dabei. Hast du mir eine?“

„Nein, ich habe nur die Dienstwaffe dabei. Was meinst du, ist er bewaffnet?“

„Wenn er wirklich Erika überwältigt hat, ist die Möglichkeit noch größer, dass er das ist. Komm, wir laufen gemeinsam zum Bahnhof. Ich nehme nicht an, dass er davon ausgeht, dass er verfolgt wird. Hoffe ich.“ John schaute Bruno an.

„Hoffen wir“, antwortete Bär, zog die Waffe hervor, entsicherte sie und lud sie durch.

Sie versuchten, sich so versteckt wie möglich dem Bahnhofsgebäude zu nähern. Bär hatte seine Waffe unter seinem Lumber im Halfter verstaut. Wenige Menschen standen am Bahnhof herum. John Etter schaute sich die Verbindungen an. „Die nächste S-Bahn wird in fünf Minuten halten. Gleis 1. Hat nur 3, wir werden ihn auf alle Fälle sehen.“

„Und er uns“, antwortete Bär lakonisch.

„Also komm. Der einzige Mann, der alleine mit einer großen Tasche dasteht, ist ganz vorne. Er sieht in die Richtung, von welcher die S-Bahn ankommen wird. Siehst du ihn?“

„Ja, das ist er. Bestimmt.“

„Ich laufe um den Bahnhof herum und komme von der anderen Seite. Warte, bis du mich siehst. Die Zeit reicht. Und dann kannst du ihm zurufen. Er wird bestimmt in meine Richtung wegrennen. Er hat keine Chance. Und wenn er eine Waffe zieht, bin ich schnell genug hinter ihm, um ihn zu überwältigen.“

Bär nickte und John Etter lief los.

Wenig später spähte er um die Ecke. Bär sah sein Gesicht und holte die Waffe hervor.

Er ging noch einige Meter näher an den vermeintlichen Täter heran. John sah er nicht mehr.

John hatte den Kopf wieder zurückgezogen, damit ihn Max Iten nicht sehen konnte. John hatte ihn bei seinem Blick um die Ecke sofort erkannt. Dann hörte er Bruno Bär schreien: „Max Iten. Polizei! Niederknien und keine weiteren Bewegungen!“

Auf diesen Moment hatte John gewartet. Er sprang hinter der Ecke hervor, um festzustellen, was geschah.

Max Iten hatte sich zu Bruno Bär umgedreht und die Tasche, die er die ganze Zeit über fest in einer Hand hielt, fallen gelassen. Der andere Arm ging nach hinten, um die Waffe aus dem Hosengurt zu ziehen. Er holte die Waffe hervor und schaute den etwa fünfzehn Meter entfernten Bruno Bär an.

„Fallen lassen oder ich schieße! Sie haben keine Chance, hier wegzukommen.“

In diesem Moment schlug John Etter, der sich von hinten genähert hatte, mit aller Kraft auf den Arm von Max. Die Waffe fiel auf den Boden. John drückte Max mit seinem ganzen Körpergewicht nach vorne und mit seinem rechten Bein stellte er Max den Haken. Beide fielen gemeinsam nach vorn.

Hart schlug Max Körper auf den Betonboden auf. Der Kopf schlug noch einmal kurz zurück, um dann liegen zu bleiben.

John blieb einfach liegen, während Bruno Bär die am Boden liegende Waffe aufhob.

„Mist“, hörte John als nächstes Bruno sagen.

„Wo ist meine Kollegin. Was hast du mit ihr gemacht?“ Bär packte den am Boden liegenden Max am Schopf.

Noch etwas benommen versuchte Max, den Kopf zu schütteln. John erhob sich und zog Max mit nach oben. Dieser blutete aus der Nase.

Bär überreichte John Handschellen, mit denen dieser professionell Max fesselte. Gelernt war gelernt.

Bär gab John Max Waffe. „Er hat sie. Er hat Erikas Waffe“ und zu Max gewandt: „Wo ist meine Kollegin. Los, rede schon.“

Doch Max schüttelte nur den Kopf. John sah Bruno in die Augen und wusste genau, was dieser als Nächstes vorhatte. Mit einem leichten Kopf heben zeigte er Bruno an, dass etwa fünf Menschen die Aktion beobachteten und Bär ließ vom ursprünglichen Vorhaben ab.

Bär packte den Arm von Max und schob ihn vor sich her zu seinem Wagen. Einige der Leute hatten ihre Handys gezogen und den ganzen Vorfall gefilmt. John nahm die Tasche mit und legte sie in den Kofferraum von Brunos Wagen.

John öffnete die hintere Tür und Bär schob ihn unsanft hinein. Dann setzte er sich neben ihn.

„Diese Scheißvideos sind bestimmt schneller im Netz, als wir mit ihm fertig sind. Ich muss kurz die Kollegen vom Kanton Zürich informieren und dann fahren wir los. Ich komme gleich.“ Bär griff in die Hosentasche des Gefangenen und holte einen Schlüsselbund hervor. „Dann suche ich noch schnell seinen Wagen, vielleicht liegt Erika im Kofferraum.“ Und zu Max meinte er: „Ich hoffe für dich, dass es ihr gut geht!“

Unsanft für Max stieß sich Bär von diesem im Wagen ab und stieg aus. John wusste genau, was er jetzt zu tun hatte.

Er drehte sich zu Max um. „Wenn du klug bist, antwortest du auf alle folgenden Fragen in kurzen, wahren Sätzen, wenn Bär wieder einsteigt. Wenn du klug bist, erzählst du sofort, wo seine Kollegin ist und wenn du ganz klug bist, erzählst du, ohne dass du gefragt wirst, wo Barbara Rohner ist. Hast du das verstanden?“

Max hob langsam seinen Kopf. Das Blut lief noch immer aus seiner Nase. Mit hasserfülltem Blick schaute er John an.

„Du kannst mich. Ihr könnt mich!“, war seine einzige Antwort.

„Wie du willst. Du weißt ja, ich bin kein Polizist und ich werde bestimmt nicht gegen meinen ehemaligen Kollegen und Freund aussagen. Dein Gesicht ist bereits blutüberströmt und das wurde sogar von Menschen auf dem Bahnhof filmisch festgehalten. Die Schmerzen, die auf der Fahrt nach Zug folgen werden, kannst du dir ersparen. Wenn du klug bist. Aber nur, wenn du klug bist. Du entscheidest, wie schnell wir in Zug sind.“

„Arschloch“, war das nächste Kompliment an John.

„Wie du willst. Ich an deiner Stelle würde es mir gut überlegen.“ John drehte sich wieder um und sagte nichts.

Nach einigen Minuten näherte sich ein Polizeifahrzeug. Zwei Beamte stiegen aus und näherten sich Bruno Bär, der den beiden seinen Dienstausweis zeigte. Dann übergab er den Wagenschlüssel den beiden. Er forderte John auf, auszusteigen. Max sollte nicht erfahren, was er zu John sagte.

„Im Wagen war nichts. Alles sonst geklärt. Wir können nach Zug. Keine weiteren Abklärungen unsererseits nötig. Die beiden Polizisten vernehmen noch ein paar Zeugen hier. Und noch eine gute Nachricht. Barbara Rohner wurde von der zukünftigen Wirtin auf dem Weg zum Restaurant gefunden. Sie scheint in Ordnung zu sein. Aber von Erika haben sie noch keine Spur. Braucht unser Mann da drin aber nicht wissen.“

Nach diesem kurzen Gespräch stieg Bruno auf den Beifahrersitz ein und John setzte sich hinter das Steuer.

„Fahr los“, meinte Bär.

„Gut.“

„Aber von Erika noch keine Spur“, fuhr Bär weiter.

John war schon bald aus Horgen herausgefahren und fuhr die Zugerstraße zum Hirzel hoch. Es war die gleiche Straße, die sie vorher befahren hatten. Kurz bevor sie die Ortschaft Hirzel erreicht hatten, fuhr John auf eine Waldstraße. Schon nach wenigen Metern stellte er den Wagen ab. Dann drehte er sich um.

„Es ist nicht mein Wagen. Darum ist es mir egal, was hier drin geschieht.“ Mit einem süffisanten Lächeln schaute er Max an.

Bruno Bär öffnete die Beifahrertür und stieg aus, nur um sich gleich wieder auf dem Rücksitz neben Max Iten wieder hinzusetzen.

„Du kleiner Ganove hast Glück, dass ich hier hinten sitze und nicht John Etter. Ich habe mich etwas mehr im Griff. Das ist dein Glück. Also, ich stelle jede Frage nur ein einziges Mal und alles, was du sagst, wird entsprechend meinem Wohlfühlkoeffizienten bewertet. Was das heißt, wirst du spüren, wenn mir eine Antwort nicht genügt. Verstanden?“

Max rührte sich nicht.

Brunos linke Faust schnellte hoch und traf Max genau auf die bereits blutende Nase.

„Ob du mich verstanden hast, habe ich gefragt.“

John beobachtete das Geschehen im Rückspiegel. „Die einzig richtige Antwort hätte jetzt wohl ja geheißen.“

Bär fuhr fort. „Also, nächste Frage: Wo ist Barbara Rohner?“

Max sah auf und meinte: „Wer?“

Das kurze Wort war noch nicht fertig ausgesprochen, als die Faust die Nase wieder traf.

„Hörst du nicht gut?“

„Ich weiß es nicht. Sie ist frei“, antwortete Max schlussendlich. Er war sich körperliche Schmerzen nicht gewohnt und er wusste, dass es viel schlimmer werden konnte.

„Geht doch. Woher hast du die Waffe?“

„Von einer Polizistin, die mich überrascht hat.“ Dieses Mal kam die Antwort ohne unterstützende Maßnahmen von Bruno Bär.

„Wo ist die Polizistin jetzt?“

„Im Wald oberhalb der Höllgrotten.“

„Wo genau?“, fragte Bruno nach.

„Im Wald oberhalb des Verstecks von der Rohner.“

„Wie geht es ihr?“ Gnadenlos prasselten nun die Fragen auf Max Iten ein.

„Sie hat den Kopf angeschlagen, aber es geht ihr bestimmt gut.“ Max erwartete den nächsten Faustschlag. Der kam jedoch nicht.

„Wer hat dich zum Einbruch ins Hotel angestiftet?“

John war überrascht. Daran hatte er nicht mehr gedacht.

„Ein Schweizer, der in Hongkong ein krummes Ding gedreht hat. Schmid oder so.“

John verzog keine Mine.

Bär hatte schon sein Handy in der Hand und rief seine Kollegen an. Dann gab er die ungefähre Position durch und gab Anweisungen, wo seine Kollegen zu suchen hatten.

„Das hoffe ich für dich, dass es ihr gut geht!“

Bär setzte sich wieder nach vorn und John fuhr los.

„Nach Edlibach. Wir gehen zu Erika.“

John nickte und fuhr los.

Kapitel 37: Erika

Erika tropfte es auf den Kopf. Sie lag mit den Armen auf dem Rücken gefesselt auf dem Waldboden. Ihre Beine waren ebenfalls zusammengebunden. Ihr Kopf schmerzte und sie sah sich um.

Weit und breit war niemand zu sehen. Der Regen hatte aufgehört und die Bäume tropfen nur noch ein wenig.

„Mist.“ Sie versuchte aufzustehen. Erfolglos.

„Hallo, hört mich jemand?“ Sie hörte in die Dunkelheit. Nichts.

Sie überlegte, wie sie am schnellsten irgendwo Hilfe erhalten konnte, und entschied sich, den Weg nach oben zu nehmen. Nach unten zu den Höllgrotten wäre es weiter und dort war um diese Zeit niemand anzutreffen. Sie musste zurück zum Haus, in dem Max wohnte. Dort würde sie Hilfe bekommen. Die Nachbarn hätte sie bestimmt irgendwie auf sich aufmerksam machen können.

Sie robbte langsam durch den Wald. Meter für Meter brachte sie mühsam hinter sich. Ihr Kopf dröhnte und die Feuchtigkeit drang durch die Kleider durch. Sie fror am ganzen Körper. Sie machte keine Pause. Erika wusste, dass sie ihr Ziel erreichen musste. Sie durfte nicht mehr einbrechen. Das hätte ihr Tod sein können. Und sterben wollte sie noch lange nicht. Dafür war sie nicht bereit.

Bei einem Stein versuchte sie, die Fesseln am Bein durchzuscheuern. Doch sowohl die Schnur wie auch der Stein waren zu nass, um dieses Vorhaben erfolgreich zu beenden.

Fluchend kroch sie weiter. Sie verfluchte jeden auf der Welt, der Schuld daran hatte, dass sie alleine vor Ort war. Zuerst Bruno Bär und dann das ganze Polizeikorps. Und dann nur noch sich allein. Sie wusste, dass sie sich falsch verhalten hatte. Sie hätte vor der Verfolgung ihr Vorhaben durchgeben müssen. Nur brachte ihr diese Erkenntnis im Moment nichts. Also kehrte sie zurück zum Fluchen.

Nach einer gefühlten Stunde lag sie auf der Wiese und sah in der Ferne das Wohnhaus. Ein Wagen mit Blaulicht fuhr vor. Doch die aussteigenden Beamten waren noch zu weit weg, um ihr rufen zu hören.

Zwei Taschenlampenkegel bewegten sich ganz langsam in ihre Richtung. Immer wieder versuchte sie, auf sich aufmerksam zu machen. Die beiden Lichtkegel drehten sich plötzlich gegeneinander und rannten dann die Wiese hinunter.

Ermattet legte sich Erika ins nasse Grass.

Einige Minuten später blendeten die beiden Lichtkegel Erika. Eine Gestalt kniete sich neben sie hin und befreite sie von ihren Fesseln. Gemeinsam mit der anderen Gestalt wurde sie auf die Füße gestellt. Doch sie fiel gleich wieder zusammen und wurde von den beiden Gestalten zurück zum Wohnhaus gebracht.

„Ein Krankenwagen ist unterwegs“, wurde sie informiert und sie driftete wieder ab.

Als sie im Krankenwagen die Augen öffnete, sah sie in die Augen eines jungen Arztes, der sie versorgte. Dann hob sie den Kopf ein wenig und sah John, der sie besorgt ansah. Sie schaute ihn fragend an.

„Glück gehabt, wilde Erika. Glück gehabt. Aber eben, Unkraut vergeht nicht. Hauptsache, dir geht es bald wieder besser. Der Arzt hat gesagt, dass du vermutlich nur eine Hirnerschütterung hast und im Spital nochmals gründlicher untersucht wirst. Leg dich hin. Alles ist gut. Wir haben ihn erwischt, Barbara gefunden und mit dir wird es sicher bald wieder aufwärts gehen.“

Erika schloss die Augen und schlief wieder ein.

Kapitel 38: Krankenbesuche

John setzte sich neben Susanne hin.

„Siehst müde aus, John. Willst du nicht nach Hause gehen? Jetzt kannst du endlich mal ein Wochenende genießen.“

„Ich kann jetzt noch nicht abschalten. Die Entführung der Barbara Rohner ist beendet. Das ist gut. Ich habe bereits telefonisch mit ihren glücklichen Eltern gesprochen. Sie besuchen sie heute im Spital in Zug. Es scheint ihr wirklich nichts zu fehlen. Dieser Max hat ihr kein Haar gekrümmt. Der hat einfach irgendwie versucht, ohne großen Aufwand an Geld zu kommen. Koste es, was es wolle.“

„Aber?“, fragte Susanne nach.

„Aber der Fall Einbruch scheint noch nicht ganz zu Ende zu sein.“

„Warum? War doch auch dieser Max Iten. Damals einfach als Stephan Meier.“

„Schon. Aber ich kenne jetzt den Auftraggeber. Und das macht die ganze Sache etwas komplizierter.“

„Ist doch gut. Bär soll ihn verhaften und fertig ist. Kannst ihm ja auch noch ein paar Lorbeeren überlassen. Der wird ihn schon finden.“

„So einfach scheint es nicht zu werden.“

„Warum?“, fragte Susanne nach.

„Nun, Stephan Meier, ich meine Max Iten, hat ausgesagt, dass der Auftraggeber Daniel Schmid sei. Und ab diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, dass sich auch in meinem Leben leider wieder einiges ändern könnte.“

Der Daniel Schmid?“, fragte Susanne ungläubig.

„Ja, genau der Daniel Schmid.“

„Weiss das Alina schon? Oder ihr Vater?“

„Nein. Ich habe Bruno geschildert, was ich über die Geschichte in Hongkong weiß. Er wird zuerst Erkundigungen einholen, was dort alles gelaufen ist. Dann muss er warten, bis Daniel Schmid irgendwo von irgendwem zu dieser Sache hier vernommen werden kann. Das kann dauern.“

„Und du und Alina?“

„Sie kommt in den nächsten Tagen für kurze Zeit zurück. Mehr weiß ich auch noch nicht. Wird wohl eine spezielle Zeit für uns werden.“

„Aber eure Verliebtheit kann ein krimineller Bruder nicht entzweien. Da bin ich sicher!“, meinte Susanne tröstend.

„Hoffe ich. Hoffe ich.“

John ging in sein Büro und versuchte, Alina zu erreichen, was nicht klappte. Dann wandte er sich seiner Post und der restlichen Arbeit zu.

Gegen Mittag verabschiedete er sich von Susanne und wollte im Spital Barbara Rohner und Erika Rogenmoser besuchen. Doch zuvor wollte er noch ins Präsidium, mit Bruno Bär zusammensitzen.

Kurz darauf saß er in Bärs Büro.

„Was führt dich noch zu mir. Wir haben ihn und können den Fall bald an den Staatsanwalt weitergeben. Er hat sehr schnell alles gestanden und schläft nun in der Zelle. Unsere Experten sind daran, sein Notebook auszuwerten. Da kommt noch einiges auf ihn zu. Und unsere Kollegen in Innsbruck haben auch noch einige Aufträge erhalten. Aber das Ganze liegt ab jetzt bei der Staatsanwaltschaft.“

„Ich möchte nur wissen, wie er den Erpresserbrief und das Handy in Gallikers Büro gebracht hat. Diese Frage ist noch offen.“

„Diese hat er ebenfalls beantwortet. Er hat sich einer Gruppe, die einen Rundgang in der Firma Etter gebucht hatte, einfach angehängt. Als die Einführungsrede des Guides vorbei war, nutzte er die Gelegenheit, sich schnell ins Büro zu verdrücken, was niemandem auffiel. Danach hielt er sich im Verkaufsraum auf und habe noch etwas gekauft und das Haus auf dem üblichen Weg verlassen.“

„So einfach?“, fragte John Etter perplex nach. „Ich hatte mir ein viel aufwendigeres Vorgehen vorgestellt. Gut dass ich das nun ebenfalls weiß. Ich kann dieses Detail noch Galliker mitteilen. So kann er für die Zukunft vorsorgen und solche Situationen vermeiden.“

„Nina hat mich gefragt, wann wir mal wieder etwas gemeinsam unternehmen wollen?“

„Wann immer du willst, Bruno. Irgendwann kommt demnächst Alina zurück. Vielleicht können wir dann etwas abmachen. Kommt darauf an, wie sie auf die Neuigkeiten der Taten ihres Bruders reagiert.“

„Melde dich, John. Sobald du mehr weißt, müssen wir das tun.“

Die beiden Freunde verabschiedeten sich herzlich.

Eine halbe Stunde später stand er mit einer großer Zuger Kirschtorte neben dem Bett von Erika.

„Typisch John Etter. Keine Blumen, nein, eine Kirschtorte.“

„Typisch Erika. Blumen verachten und Kirschtorte lieben und den Überbringer niedermachen“, lächelte John Erika an.

„Hast recht. Danke John. Und wenn ich mich wieder besser fühle, werde ich mich schon noch erkenntlich zeigen.“

„Nicht nötig, Erika. Nicht nötig. Spar dir deine Energie für Bruno auf. Der wird sich sicher noch ausführlich mit dir unterhalten.“

„Das befürchte ich. Aber, da alle gut gegangen ist, wird sich der Zusammenschiss sicher im Rahmen halten.“

„Wird er. Bin ich überzeugt und jetzt erhol dich gut.“ John verabschiedete sich und verließ ihr Zimmer.

Dann suchte er das Zimmer von Barbara Rohner auf. Ihre Eltern saßen still am Bett. Barbara Rohner schaute John an.

Barbaras Vater stand auf und begrüßte John. „Vielen Dank. Vielen Dank für alles.“

„Ich habe nur meinen Job gemacht und hatte viel Hilfe von meinem ehemaligen Berufskollegen Bruno Bär.“

„Nur nicht so bescheiden, Herr Etter“, und zu seiner Tochter gewandt meinte er: „Das ist der Privatdetektiv, von dem ich dir erzählt habe.“

Barbara Rohner sah weit besser aus, als Erika. Sie schien die Tage wirklich gut hinter sich gebracht zu haben. Es klopfte an der Tür und Ruedi Iten trat ein. Ein weißer Verband um seinen Kopf und die Krankenhausbekleidung zeigte, dass er noch immer im Spital untergebracht war. Nach einer kurzen Begrüßung setzte er sich auf das Bett von Barbara.

John wollte nicht länger stören.

Nach einem kurzen Gespräch mit den Eltern von Barbara, verließ John das Spital und setzte sich in den Wagen. Jetzt merkte er, dass er in den letzten Nächten zu wenig geschlafen hatte und machte sich auf den Weg nach Hause.

Kapitel 39: Ausruhen

Er fuhr nach Hause und stellte den Wagen in die offene Garage. Dann lief er zum Briefkasten und sah gerade noch, wie sich Susanne verdrücken wollte.

„Susanne. Was ist noch?“, fragte John neugierig.

„Ich habe nur nachsehen wollen, ob du auch wirklich dein Wochenende genießen willst“, meinte sie lächelnd.

„Ich glaube dir kein Wort.“

„Ich wollte dir deinen Hausschlüssel bringen. Du hast mir den ja mal zur Aufbewahrung gegeben.“

„Warum?“

„Nun, ich habe gedacht, wenn diese Alina kommt, kannst du ihr diesen geben.“

John war zu müde, um noch lange rumzureden und ging zum Eingang.

„Schönes Wochenende“, flötete Susanne ihm nach und verließ das Grundstück.

„Gleichfalls“, meinte John und öffnete die Tür. Er drücke die Türe auf, drehte sich um und rief Susanne nach: „Wo ist denn nun der Schlüssel?“

„Hier, bei mir“, tönte es hinter ihm. „Hello Lover.“

Die Müdigkeit war Nullkommanichts aus seinen Gliedern und dem Kopf verschwunden und er nahm überrascht Alina in die Arme. Die folgenden Stunden waren intensiv gefüllt mit wach sein, schlafen, wach sein und wieder schlafen.

Sein schlechtes Gewissen hatte er schnell beiseitelegen können. Alinas Bruder musste in Hongkong eine größere Busse bezahlen, die der alte Schmid im Wissen, was er alles angestellt hatte, übernommen hatte. Er wollte seinen Sohn persönlich zu einer Selbstanzeige überreden. Doch dazu würde es nicht kommen.

In der Zeit, in welcher John im Spital seine Besuche machte, war Alina in Johns Büro angekommen und hatte alles erfahren. Susanne war sich sicher, dass sie die Geschichte so erzählen konnte, dass Alina und Johns Wochenende nicht gefährdet wurde. Sie rief ebenfalls gleich von dort noch ihren Vater an und ihr Vater informierte daraufhin die Polizei, dass Daniel Schmid in zwei Tagen in Zürich landen würde.

Das Leben von John und Alina würde sich um hundertachtzig Grad drehen. Doch nach diesem Wochenende waren sie sicher, dass es eine gute Wendung werden würde.

Endlich konnte er die Zeit wieder mit Unternehmungen ausfüllen, die ihn erfreuten. Er besuchte mit Alina die Höllgrotten und ließ es sich im Höllgrottenrestaurant gut gehen. Abends saßen sie im the blinker und ließen sich vom freundlichen Gastgeber verwöhnen.

Es würde eine Zeit der häufigen Abschiede werden. Aber ebenso vielen Wiedersehen. Und darauf freuten sich Alina und John.

John Etter

Privatdetektiv

JOHN ETTER - Privatdetektiv

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