Читать книгу Die Unterwerfung der Frauen - John Stuart Mill, Harriet Taylor Mill - Страница 5

[9]Erstes Kapitel

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Mit dem vorliegenden Essay verfolge ich die Absicht, so klar wie möglich die Gründe darzulegen, die mich zu einer Ansicht gebracht haben, an der ich festgehalten habe, seitdem ich fähig war, mir eine Meinung über soziale und politische Verhältnisse zu bilden. Statt schwächer oder schwankender zu werden, hat sich diese Ansicht durch Nachdenken und Lebenserfahrung immer stärker befestigt. Diese Ansicht ist, dass das Prinzip, das gegenwärtig die sozialen Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern regelt – die rechtliche Unterordnung des einen Geschlechts unter das andere –, für sich genommen falsch und eines der wesentlichsten Hindernisse bei der Vervollkommnung der Menschheit ist; und dass an die Stelle dieses Prinzips ein Prinzip vollkommener Gleichheit treten sollte, das auf der einen Seite keine Macht und keine Vorrechte und auf der anderen Seite keine Rechtlosigkeit zulässt.

Bereits die Schwierigkeit, die Worte zu finden, die notwendig sind, um die von mir unternommene Aufgabe auszudrücken, zeigt, wie schwierig die Aufgabe ist. Es wäre jedoch falsch zu meinen, die Schwierigkeit des Unternehmens liege in dem Mangel oder der Unklarheit der Vernunftgründe, auf denen meine Überzeugung beruht. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass sie gegen eine tief in Gefühlen verwurzelte Ansicht ankämpfen müssen. Solange eine Ansicht in bestimmten Gefühlen verwurzelt ist, wird sie dadurch, dass sie mit starken Argumenten konfrontiert wird, eher Stabilität gewinnen als verlieren. Solange eine Ansicht auf Argumenten beruht, lässt sie sich durch die Widerlegung dieser Argumente erschüttern. [10]Beruht sie jedoch lediglich auf Gefühlen, werden ihre Anhänger, je schlechter sie im Kampf mit den Argumenten abschneiden, desto stärker davon überzeugt sein, dass diese Gefühle einen tieferen Grund haben – einen Grund, der durch Argumente gar nicht zu erreichen ist. Solange das Gefühl Bestand hat, wird es nicht aufhören, neue Verschanzungen zu errichten und die von den Argumenten gelegte Bresche aufzufüllen. Und es gibt so viele Ursachen dafür, dass die Gefühle der Anhänger der alten Institutionen und sozialen Normen in diesem Punkt so stark und verwurzelt sind, dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn wir sie vom Fortschritt der gegenwärtigen großen geistigen und sozialen Übergangsperiode noch so wenig gelockert und erschüttert finden. Noch dürfen wir annehmen, dass die barbarischen Sitten, an denen die Menschen am längsten festhalten, weniger barbarisch sind als die, die sie schon seit längerem abgeschüttelt haben.

Wer eine nahezu allgemein verbreitete Ansicht angreift, hat es in jeder Hinsicht schwer. Er bedarf ungewöhnlicher Fähigkeiten und, damit es ihm gelingt, sich überhaupt Gehör zu verschaffen, auch ein bisschen Glück. Er muss mehr Mühe aufwenden, um seine Sache vor Gericht zu bringen, als andere, um ein Urteil zu ihren Gunsten zu erstreiten. Hat er sich tatsächlich einmal Gehör verschafft, unterwirft man ihn einer Reihe von Beweisanforderungen, die sonst von keinem anderen verlangt werden. Üblicherweise geht man ja davon aus, dass der, der eine Sache behauptet, sie zu beweisen hat. Wird [262] jemand des Mordes angeklagt, ist es Sache des Anklägers, seine Schuld zu beweisen, nicht die des Angeklagten, seine Unschuld darzulegen. Bei Meinungsverschiedenheiten über historische Tatsachen, von [11]denen die Gefühle der Menschen im Allgemeinen weniger berührt werden, etwa die Belagerung Trojas, erwartet man, dass die, die behaupten, das Ereignis habe wirklich stattgefunden, ihre Argumente dafür vorlegen, und erst wenn dies geschehen ist, verlangt man, dass die, die die historische Wahrheit des Ereignisses anzweifeln, ihre Position dazu darlegen; und man fordert von ihnen niemals mehr, als dass sie die von der Gegenpartei vorgebrachten Argumente entkräften. Ähnlich wird in Fragen der politischen oder sozialen Praxis die Beweislast gewöhnlich denen zugeschrieben, die sich gegen die Freiheit erklären und für eine Einschränkung oder ein Verbot eintreten, sei es eine Beschränkung der Handlungsfreiheit im Allgemeinen, sei es eine Ungleichheit oder ein Vorrecht einer Person oder einer Klasse von Personen im Vergleich zu andern. Die a-priori-Annahme ist stets auf der Seite der Freiheit und der Unparteilichkeit. Man geht davon aus, dass die Gleichheit nur zugunsten des Allgemeinwohls beschränkt werden darf und dass Gesetze für alle gleich und ohne Ansehen der Person gelten, ausgenommen da, wo eine ungleiche Behandlung durch Gründe der Gerechtigkeit oder der Staatsklugheit geboten erscheint. Den Vertretern der von mir hier dargelegten Meinung wird man allerdings nicht erlauben, aus diesen Beweisregeln Vorteile zu ziehen. Es nutzt mir nichts zu sagen, dass diejenigen, die die Doktrin vertreten, dass der Mann das Recht habe zu befehlen und die Frau die Pflicht zu gehorchen, oder dass der Mann für die Regierung geeignet und die Frau ungeeignet ist, eine Behauptung aufstellen und es deshalb ihre Aufgabe sei, entweder Beweise dafür beizubringen oder sich die Widerlegung ihrer Behauptung gefallen zu lassen. Ebenso wenig nutzt es mir, [12]darauf aufmerksam zu machen, dass von denen, die den Frauen Freiheiten und Privilegien, die den Männern von Rechts wegen zustehen, vorenthalten wollen und sich damit dem doppelten Bedenken aussetzen, die Freiheit beeinträchtigen und die Parteilichkeit empfehlen zu wollen, deshalb die strikteste Beweisführung für ihre Sache zu verlangen ist, und, solange diese nicht jeden Zweifel ausschließt, das Urteil gegen sie ausfallen muss. In gewöhnlichen Fällen würde man diese Einwände als begründet anerkennen. Aber nicht in diesem Fall. In diesem Fall kann ich nur dann hoffen, eine Wirkung zu erzielen, wenn ich nicht nur eine Antwort auf alles habe, was von denen, die in dieser Frage auf der anderen Seite stehen, jemals gesagt worden ist, sondern wenn ich mir vergegenwärtige, was von ihnen noch Weiteres gesagt werden könnte – indem ich alle denkbaren Gründe auf der Gegenseite widerlege; und nicht nur widerlege, sondern unwiderlegbare Gründe für meine Widerlegung beibringe. Und selbst dann, wenn ich all diesen Anforderungen genügen würde und die Gegenpartei mir auf einer Menge von Argumenten die Antwort schuldig bliebe, während ich die ihrigen ohne Ausnahme widerlegt hätte, wäre damit noch immer nur sehr wenig getan. Denn von einer Position, die sich auf der einen Seite auf das allgemeine Herkommen, auf der anderen auf eine weit verbreitete Denkweise stützt, muss man annehmen, dass sie alle Vorurteile auf ihrer Seite hat und dass sich diese als stärker erweisen als die Überzeugungskraft, die man von einem Appell an die Vernunft erwarten kann – ausgenommen bei besonders hochstehenden Menschen.

Ich erwähne diese Schwierigkeiten nicht, um mich über sie zu beklagen. Das wäre nicht angebracht, denn mit ihnen [13]ist bei jedem Bemühen zu rechnen, mit der Vernunft der Menschen gegen deren Gefühle und eingespielte Gewohnheiten anzukämpfen. Die Vernunft der meisten Menschen müsste viel stärker kultiviert werden, [263] als es bisher geschehen ist, ehe man von ihnen erwarten könnte, auf ihre Fähigkeit, Argumente zu würdigen, so weit zu vertrauen, dass sie beim ersten mit Argumenten geführten Angriff, dem sie rational keinen Widerstand entgegenzusetzen vermögen, Prinzipien aufgeben, in die sie hineingeboren und in denen sie erzogen worden sind und die die Grundlage eines Großteils der gegenwärtigen Weltordnung ausmachen. Ich mache den Leuten deshalb auch keinen Vorwurf daraus, dass sie zu wenig Vertrauen in Argumente haben, sondern dass sie zu viel Vertrauen in Herkömmliches und allgemein verbreitete Meinungen haben. Eine der charakteristischen Voreingenommenheiten der Reaktion des 19. Jahrhunderts auf das 18. besteht darin, dass es den gefühlshaften Anteilen der menschlichen Natur dieselbe Unfehlbarkeit zuschreibt, die das 18. Jahrhundert nach geläufiger Ansicht den rationalen Anteilen zugeschrieben hat. An die Stelle der Vergöttlichung der Vernunft ist die des Instinkts getreten, und Instinkt wird all das genannt, was wir in uns vorfinden und für das wir keine vernünftigen Gründe finden. Dieser Götzendienst – noch weitaus erniedrigender als der frühere und der verderblichste unter den falschen Kulten der Gegenwart – wird sich wahrscheinlich so lange behaupten, bis er einer fundierten Psychologie weichen muss, die die wahre Wurzel vieler Vorstellungen bloßlegt, denen sich die Menschen gegenwärtig als Naturzwecken und göttlichen Anordnungen unterwerfen. Was die von mir zu behandelnde Frage betrifft, bin ich [14]bereit, die mir durch das Vorurteil gestellten ungünstigen Bedingungen anzunehmen. Ich willige ein, dass die herkömmlichen sozialen Normen und die allgemeine Meinung so lange als gegen mich entscheidend gelten, bis nachgewiesen ist, dass sie ihre jahrhundertelange Geltung anderen Ursachen als ihrer Wohlbegründetheit verdanken und dass sie ihre Macht mehr aus den schlechteren als den besseren Seiten der menschlichen Natur beziehen. Ich willige ein, dass das Urteil so lange zu meinen Ungunsten lautet, bis ich nachgewiesen habe, dass der Richter bestochen ist. Dieses Zugeständnis ist nicht so groß, wie es scheinen mag. Der Beweis dafür ist der bei weitem leichteste Teil meiner Aufgabe.

In einigen Fällen liefert die allgemeine Verbreitung einer Praxis einen starken Grund dafür, dass sie löbliche Zwecke hat oder zumindest früher einmal hatte. Dies ist der Fall, wenn die Praxis zu löblichen Zwecken eingeführt oder aufrechterhalten worden ist und wenn die Erfahrung gezeigt hat, dass sich die Zwecke auf diese Weise am wirksamsten erreichen lassen. Wäre die Herrschaft der Männer über die Frauen bei ihrer ersten Einführung das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung zwischen verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Organisation gewesen; wäre, nachdem man verschiedene andere Formen der Organisation ausprobiert hatte – die Herrschaft der Frauen über die Männer, die Gleichheit zwischen beiden oder irgendwelche wie immer gearteten anderen gemischten Formen – auf der Grundlage der Erfahrung entschieden worden, dass diejenige Form, bei der die Frauen gänzlich der Herrschaft der Männer unterworfen sind und keinen Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten haben, und dass das Arrangement, [15]nach dem jede im Privatbereich gesetzlich zu Gehorsam gegenüber dem Mann verpflichtet ist, mit dem sie ihr Schicksal verbunden hat, am ehesten zum Glück und Wohlbefinden beider beiträgt; dann könnte man mit einigem Recht annehmen, dass seine allgemeine Annahme ein Hinweis darauf ist, dass sie zum Zeitpunkt seiner Annahme das Beste war – auch wenn die Gründe, die dafür sprachen, wie so viele andere in früheren Zeiten liegende gewichtige Gründe später, im Lauf der Jahrhunderte, nicht mehr bestanden. In der vorliegenden Frage verhält es sich allerdings genau umgekehrt. Erstens [264] beruht die Parteinahme für das gegenwärtige System, das das schwächere Geschlecht dem stärkeren vollständig unterordnet, lediglich auf Theorie: Ein anderes System ist niemals ausprobiert worden, so dass man von der Erfahrung – in dem Sinn, in dem sie gemeinhin der Theorie gegenüberstellt wird – nicht sagen kann, dass sie jemals ein Urteil gesprochen hätte. Zweitens war die Einführung des Systems der Ungleichheit niemals das Resultat von Überlegungen, Planungen, sozialen Ideen oder irgendwelchen anderen Erwägungen darüber, was dem Wohl der Menschheit oder einer guten gesellschaftlichen Ordnung förderlich wäre. Es verdankte seine Entstehung keinem anderen Umstand, als dass sich seit den frühesten Anfängen der Menschheit jede Frau (entsprechend dem ihr von den Männern beigemessenen Wert in Kombination mit ihrer Unterlegenheit an Körperkräften) in einem Zustand der Knechtschaft zu einem Mann befand. Gesetze und politische Systeme gehen stets von der Anerkennung der Beziehungen aus, die sie bei den Individuen vorfinden. Sie verwandeln das, was ursprünglich eine bloße Tatsache ist, in Recht, geben ihm die [16]Sanktion der Gesellschaft und trachten danach, die öffentliche und organisierte Aufrechterhaltung und Sicherung des Rechts an die Stelle ungeregelter und gesetzloser, mit physischer Kraft ausgetragener Konflikte zu setzen. Diejenigen, die bereits physisch zum Gehorsam gezwungen worden waren, wurden nun auch gesetzlich dazu verurteilt. So wurde die Sklaverei, die zunächst eine bloße Frage der physischen Kraft zwischen dem Herrn und dem Sklaven gewesen war, geregelt und zu einem vertraglich gesicherten Besitzstand von Herren gemacht, die sich zum gegenseitigen Schutz miteinander verbanden und sich ihren Privatbesitz einschließlich ihrer Sklaven mit ihrer vereinigten Kraft wechselseitig garantierten. In früheren Zeiten war die große Mehrzahl des männlichen Geschlechts Sklaven, ebenso wie das gesamte weibliche Geschlecht. Und es vergingen viele Jahrhunderte – darunter einige von hoher Kultur –, ehe ein Denker die Kühnheit hatte, die Rechtmäßigkeit und gesellschaftliche Notwendigkeit der einen oder der anderen Form von Sklaverei in Frage zu stellen. Nach und nach fanden sich solche Denker, und zumindest in allen Ländern des christlichen Europa ist die Sklaverei schließlich – u. a. im Zuge des allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts – abgeschafft (wenn auch in einem Land erst in den letzten Jahren) und die des weiblichen Geschlechts nach und nach in eine mildere Form der Abhängigkeit umgewandelt worden. Diese Abhängigkeit, wie sie gegenwärtig existiert, ist keine ursprüngliche Institution, die aus Erwägungen der Gerechtigkeit und der sozialen Nützlichkeit heraus entstanden wäre. Sie ist der weiterbestehende primitive Zustand der Sklaverei, nur gelindert und gemäßigt durch dieselben Ursachen, die die allgemeinen Sitten [17]gemildert und die zwischenmenschlichen Beziehungen stärker den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Humanität unterworfen haben. Sie trägt noch immer den Makel ihres brutalen Ursprungs. Aus der Tatsache ihrer Existenz kann deshalb kein Argument zu ihren Gunsten gemacht werden. Das Einzige, was man vielleicht zu ihren Gunsten anführen könnte, müsste sich darauf gründen, dass sie sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat, während so viele andere Sitten, die ihren Ursprung in derselben trüben Quelle haben, abgeschafft sind. Dieser Umstand führt dazu, dass die Behauptung, die Ungleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau habe keine andere Quelle als das Recht des Stärkeren, für die meisten Ohren seltsam klingt.

Der Anschein des Paradoxen dieser Behauptung ist in einigen Hinsichten dem Fortschritt der Zivilisation und der moralischen Gesinnungen der Menschheit zugutezuhalten. Wir – d. h. eine oder einige der am weitesten [265] fortgeschrittenen Nationen – befinden uns gegenwärtig in einem Zustand, in dem das Gesetz des Stärkeren als Prinzip gänzlich aufgegeben zu sein scheint. Niemand bekennt sich offen dazu, und in den meisten Beziehungen zwischen Menschen ist es unzulässig, nach ihm zu handeln. Tut es jemand dennoch, geschieht dies unter einem Vorwand, der ihm den Anschein gibt, er habe ein allgemeines gesellschaftliches Interesse auf seiner Seite. Angesichts dessen schmeichelt sich das Publikum, die Herrschaft der Gewalt sei ein für alle Mal beendet und das Gesetz des Stärkeren könne unmöglich der Grund für die Existenz von etwas sein, was bis auf den heutigen Tag mit unverminderter Kraft fortbesteht. Wie immer unsere gegenwärtigen Institutionen begonnen haben mögen, sie können sich, denkt [18]man, unmöglich bis zu unserer jetzigen Periode fortgeschrittener Zivilisation erhalten haben, wenn sie nicht gestützt würden durch ein wohlbegründetes Gefühl, dass sie zur menschlichen Natur passen und dem Allgemeinwohl förderlich sind. Man versteht nicht die große Vitalität und Dauerhaftigkeit von Institutionen, die das Recht auf die Seite der Macht setzen – wie stark man an ihnen hängt; wie weitgehend die guten und schlechten Neigungen und Gesinnungen der Mächtigen daran gemessen werden, wie weit sie an ihnen festhalten; wie lange es dauert, bis sie nach und nach absterben, zuerst die schwächsten, angefangen mit denen, die am wenigsten mit den täglichen Lebensgewohnheiten verwoben sind; und wie selten die Institutionen, die ihre Rechtskraft aufgrund physischer Kraft erlangt haben, diese verloren haben, bevor die physische Kraft auf die Gegenseite übergegangen ist. Ein solcher Übergang hat im Fall der Frauen nicht stattgefunden. Dieser Umstand hat es von Anfang an gewiss gemacht, dass diese Ausprägung des Gesetzes des Stärkeren – obwohl in ihren schlimmsten Aspekten zu einem früheren Zeitpunkt gemildert als andere – als letzte verschwindet. Es war unvermeidlich, dass von allen auf Macht gegründeten gesellschaftlichen Beziehungen diese eine alle anderen überdauern würde, durch Generationen hindurch, in denen die Institutionen ansonsten zunehmend auf Gleichheit und Gerechtigkeit gegründet worden sind, als eine singuläre Ausnahme vom allgemeinen Charakter der Gesetze und Sitten. Doch solange sie ihren Ursprung verleugnet und die öffentliche Diskussion ihren wahren Charakter nicht offenlegt, gilt sie als mit der modernen Zivilisation ebenso wenig unvereinbar wie die Sklaverei bei den [19]Griechen mit ihrem Selbstverständnis als Volk von freien Bürgern.

Die Wahrheit ist, dass die Menschen der gegenwärtigen und der zwei oder drei vorangegangenen Generationen jedes Verständnis für die ursprüngliche Verfassung der Menschheit verloren haben. Nur die wenigen, die sich auf ein genaueres Studium der Geschichte eingelassen oder häufiger Teile der Welt besucht haben, die von Repräsentanten vergangener Zeiten bewohnt werden, sind in der Lage, sich ein Bild vom früheren Zustand der Gesellschaft zu machen. Den Menschen ist nicht klar, mit welcher Absolutheit das Gesetz des Stärkeren in früheren Jahrhunderten das Gesetz des Lebens war und wie offen und öffentlich man sich zu ihm bekannte – ich sage nicht: zynisch oder schamlos bekannte, denn das würde nahelegen, dass man sich des Beschämenden dieser Verfassung bewusst gewesen wäre, was nicht der Fall war, außer bei Philosophen oder Heiligen. Die Geschichte vermittelt uns ein durchweg grausames Bild von der menschlichen Natur, indem sie uns zeigt, wie genau die Rücksicht, die man dem Leben, dem Eigentum und dem ganzen irdischen Glück einer Klasse von Menschen schuldig zu sein glaubte, nach nichts anderem als ihrer jeweiligen Sanktionsmacht bemessen wurde. Alle, [266] die sich der über Waffen verfügenden Autorität widersetzten – mochte die Veranlassung dazu eine noch so entsetzliche gewesen sein –, hatten nicht nur das Recht des Stärkeren, sondern alle Gesetze und sozialen Normen gegen sich, und in den Augen der Mächtigen waren sie nicht nur Verbrecher, sondern Verbrecher der allerschlimmsten Art, die die grausamsten Strafen verdienten, die Menschen anderen antun können. Der erste schwache Schimmer [20]eines Gefühls der Verpflichtung eines Höhergestellten zur Anerkennung der Rechte Untergebener zeigte sich erst, als er durch irgendwelche Umstände genötigt war, ihnen gegenüber ein Versprechen abzugeben. Auch wenn diese Versprechen, selbst wenn sie durch die feierlichsten Eide bekräftigt worden waren, jahrhundertelang bei den nichtigsten Anlässen gebrochen wurden, ist es doch wahrscheinlich, dass dies – ausgenommen bei Mächtigen von einer noch unter dem Durchschnitt liegenden Moral – selten ganz ohne Gewissensskrupel geschah. Die alten Republiken, die zumeist anfangs auf einer Art gegenseitigen Vertrag gegründet oder durch den Zusammenschluss von Personen von etwa gleicher Stärke gebildet wurden, lieferten das erste Beispiel einer gesellschaftlichen Verbindung, die sich von der allgemein üblichen absonderte und sich unter ein anderes Recht als das des Stärkeren stellte. Und obwohl das ursprüngliche Recht des Stärkeren zwischen den Freien und ihren Sklaven und ebenso (wo es nicht durch ausdrücklichen Vertrag beschränkt war) zwischen dem Staat und seinen Untertanen und andern unabhängigen Staaten in voller Kraft weitergalt, ging doch von der Aufhebung dieses Rechts für diesen engen Bereich eine Regeneration der menschlichen Natur aus und ließ Anschauungen entstehen, von denen die Erfahrung bald zeigte, dass sie auch für die materiellen Interessen der Menschen außerordentlich wertvoll waren und von da an nicht eigens geschaffen, sondern lediglich erweitert werden mussten. Auch wenn die Sklaven kein Teil der Republik waren, waren es doch die freien Staaten, die als erste anerkannten, dass Sklaven als Menschen Rechte haben. Die Stoiker waren, glaube ich, die ersten (mit Ausnahme des [21]jüdischen Gesetzes) die als einen Teil ihrer Moral lehrten, dass der Freie gegen seine Sklaven moralische Verpflichtungen hat. Seit dem Auftreten des Christentums konnte keinem mehr diese Lehre – zumindest in der Theorie – ganz fremd sein. Mit dem Aufstieg des Katholizismus gab es immer Menschen, die für sie eintraten. Aber ihre Durchsetzung war eine der schwersten Aufgaben, die das Christentum zu bewältigen hatte. Über mehr als tausend Jahre kämpfte die Kirche ohne nennenswerten Erfolg. Nicht, weil es ihr an Macht über die Gemüter der Menschen mangelte – ihre Macht war gewaltig. Sie konnte Könige und Fürsten dazu bringen, auf ihre kostbarsten Schätze zugunsten des Reichtums der Kirche zu verzichten. Sie konnte Tausende dazu bringen, sich in der Blüte ihres Lebens und im Vollbesitz irdischer Privilegien in Klöstern einzuschließen, um durch Armut, Fasten und Beten das Seelenheil zu erlangen. Sie konnte Hunderttausende über Land und Meer, durch Europa und Asien schicken, um für die Befreiung des Heiligen Grabes ihr Leben zu lassen. Sie konnte Könige dazu bringen, sich von Ehefrauen loszusagen, die sie leidenschaftlich liebten, nur weil die Kirche erklärte, dass sie mit ihnen im siebten (nach unserer Berechnung im 14.) Grad verwandt waren. So viel hat die Kirche vermocht. Was sie nicht vermochte, war, die Menschen dazu zu bringen, sich weniger zu bekämpfen oder ihre Leibeigenen und, soweit sie dazu in der Lage waren, ihre Untergebenen weniger grausam zu behandeln. Sie konnte sie nicht dazu bringen, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten, sei es kämpfende oder sei es triumphierende Gewalt. [267] Dazu war nur eine andere, überlegene Gewalt fähig. Nur die wachsende Macht der Könige setzte den bis dahin [22]geführten Kämpfen ein Ende, außer denen zwischen den Königen selbst und den Bewerbern auf die Königswürde. Nur durch das Erstarken eines reichen und waffentüchtigen Bürgerstandes in den befestigten Städten und durch städtisches Fußvolk, das sich im Feld als mächtiger erwies als die undisziplinierte Reiterei, gelang es, die unverschämte Tyrannei der Adeligen über den Bürger- und Bauernstand zu begrenzen. Dieser Zustand bestand fort nicht nur bis, sondern noch lange nachdem die Unterdrückten so viel Macht erlangt hatten, dass sie gründlich Rache nehmen konnten. Auf dem Kontinent herrschte dieser Zustand noch vielfach zur Zeit der Französischen Revolution, während in England die frühere und bessere Organisation der wahlberechtigten Klassen ihm durch Einführung allgemeingültiger Gesetze und freie nationale Institutionen ein schnelleres Ende gemacht hatte.

Solange man sich so wenig darüber im Klaren ist, wie vollständig das Recht des Stärkeren die bei weitem längste Zeit der Existenz des Menschengeschlechts das anerkannte Gesetz des allgemeinen Verhaltens und jedes andere nur die besondere und ausnahmsweise Folge spezieller Bindungen war, und seit wie wenigen Jahren es so ist, dass die gesellschaftlichen Angelegenheiten nach moralischen Prinzipien geregelt werden (oder dies zumindest beanspruchen), desto mehr gerät in Vergessenheit oder wird nicht bedacht, wie Institutionen und Sitten, die niemals in etwas anderem als dem Recht des Stärkeren gründeten, in Zeitalter und Denkweisen hinein fortbestehen, die ihre Ersteinrichtung niemals zulassen würden. Es ist noch nicht 40 Jahre her, dass es Engländern gesetzlich erlaubt war, Menschen als käufliches Eigentum in Knechtschaft zu [23]halten. Noch in unserem Jahrhundert war es zulässig, sie zu rauben, fortzuschleppen und buchstäblich zu Tode zu verschleißen. Dieses äußerste Extrem des Rechts des Stärkeren, das selbst von denen verurteilt werden dürfte, die ansonsten jede andere Form von Willkürherrschaft tolerieren, und das die Gefühle aller, die die Sache von einem unparteiischen Standpunkt aus sehen, auf das Höchste empört, war noch im zivilisierten, christlichen England zu einer Zeit Gesetz, an die sich einige der heute Lebenden noch erinnern können. In der einen Hälfte des angelsächsischen Amerika gab es vor drei oder vier Jahren nicht nur die Sklaverei; auch der Sklavenhandel und die Aufzucht von Sklaven zum Zweck des Verkaufs war zwischen den Sklavenstaaten gängige Praxis. Allerdings wurde diese Praxis nicht nur überwiegend abgelehnt, es gab, zumindest in England, auch weniger Fürsprache und Interesse zu seinen Gunsten als bei den anderen üblichen Formen von Machtmissbrauch. Denn sein Motiv war Gewinnsucht, nackt und unverhüllt, und die, die davon profitierten, waren zahlenmäßig nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung, während das natürliche Gefühl aller, die daran kein persönliches Interesse hatten, purer Abscheu war. Ein so extremes Beispiel macht es eigentlich überflüssig, weitere zu nennen. Doch nehmen wir uns einmal die lange Dauer der absoluten Monarchie. In England herrscht gegenwärtig fast durchweg die Überzeugung, dass militärischer Despotismus nichts anderes als eine Form des Rechts des Stärkeren ist und keinen anderen Ursprung und keine andere Rechtfertigung hat. Dennoch existiert er in allen großen europäischen Staaten außer England noch heute oder hat erst vor kurzem zu existieren aufgehört und hat gerade [24]gegenwärtig starke Fürsprecher in allen Schichten des Volkes und insbesondere unter Personen von Rang und Einfluss. So groß ist die Macht eines etablierten Systems, auch wenn es längst nicht mehr universell ist und es in jeder Periode der Geschichte in Gemeinwesen, die ausnahmslos zu den berühmten und wohlhabenden gehörte, große und wohlbekannte Beispiele des [268] gegenteiligen Systems gegeben hat. Auch in diesem Fall ist der illegitime Inhaber der Macht und derjenige, der ein direktes Interesse an dieser Macht hat, nur eine einzige Person, während die, die ihr unterworfen sind und unter ihr zu leiden haben, wortwörtlich alle übrigen sind. Das Joch, das ihnen auferlegt wird, ist natürlicher- und notwendigerweise für alle demütigend, mit Ausnahme des einen, der auf dem Thron sitzt, allenfalls zusammen mit dem, der Aussichten hat, sein Nachfolger zu werden. Wie sehr unterscheiden sich diese Beispiele von der Herrschaft der Männer über die Frauen! Ich will die Frage der Rechtfertigbarkeit nicht vorab beantworten. Ich will nur zeigen, wie diese Herrschaft, selbst wenn sie sich nicht rechtfertigen ließe, doch zwangsläufig sehr viel langlebiger sein musste als diese anderen Formen von Herrschaft, die dennoch bis in unsere Zeit fortgedauert haben. Die Genugtuung, die die Ausübung von Macht dem Stolz gewährt, und das persönliche Interesse an ihrer Ausübung ist in diesem Fall nicht auf eine bestimmte begrenzte Klasse beschränkt, sondern ist etwas, was das gesamte männliche Geschlecht gemeinsam hat. Anders als Ideale, die für ihre Anhänger im Wesentlichen abstrakt bleiben, oder politische Ziele, für die Parteien kämpfen, aber allenfalls für deren Führer von privater Bedeutung sind, geht es hierbei um Haus und Herd jedes Familienoberhaupts und [25]eines jeden, der diese Rolle später einmal zu übernehmen hofft. Der niedrigste Tagelöhner hat an dieser Macht genauso teil – oder hofft zumindest, daran einmal teilzuhaben – wie der höchstgestellte Aristokrat. Der Wunsch nach Macht ist in diesem Fall umso stärker, als jeder, der nach Macht strebt, sie vor allem über die zu besitzen wünscht, die ihm am nächsten stehen, mit denen er sein Leben verbringt, mit denen er die meisten Dinge teilt und bei denen Unabhängigkeit seinen eigenen Neigungen am ehesten im Weg stehen würde. Sind schon die anderen angeführten Beispiele einer auf Gewalt gegründeten und noch viel weniger legitimen Macht nur langsam und mit den größten Schwierigkeiten zu beseitigen gewesen –, um wie viel schwieriger muss es in diesem Fall sein, obwohl sie keine bessere Grundlage aufweisen kann. Bedenken wir dabei, dass die Inhaber der Macht in diesem Fall über sehr viel weitergehende Mittel verfügen, eine Rebellion zu verhindern als in den anderen Fällen. Jede der Unterworfenen lebt unter den Augen, man könnte sogar sagen: in den Händen ihres Herrn; in engerer Gemeinschaft als mit irgendeiner ihrer Geschlechtsgenossinnen; ohne die Möglichkeit, sich gegen ihn zu verbünden; ohne die Macht, auch nur in den kleinsten Dingen über ihn zu dominieren; dafür aber mit den stärksten Motiven, seine Gunst zu gewinnen und alles zu vermeiden, was ihn aufbringen könnte. Aus den Kämpfen um politische Emanzipation ist hinreichend bekannt, wie häufig deren Anführer durch Bestechung oder Einschüchterung von ihren Zielen abgebracht worden sind. Im Fall der Frauen befindet sich jede Einzelne in einem chronischen Zustand kombinierter Bestechung und Einschüchterung. Dafür, dass sie die Fahne des [26]Widerstands hochhielten, mussten eine große Zahl der Anführerinnen und eine noch größere Zahl derer, die sich ihnen anschlossen, auf die Freuden und Annehmlichkeiten, die ihnen ihr Schicksal gewährt hatte, fast vollständig verzichten. Wenn jemals ein System einseitiger Privilegien und gewaltsamer Unterdrückung ein Joch auf den Hals derer gelegt hat, die es niederhalten soll, dann dieses. Ich habe noch nicht gezeigt, dass es ein falsches System ist. Doch jeder Verständige sieht ein, dass selbst wenn es falsch war, es doch alle anderen Formen ungerechter Herrschaft überdauern musste. Und da, wie wir gesehen haben, einige der haarsträubendsten Formen ungerechter Herrschaft noch in mehreren zivilisierten Ländern existieren und in anderen erst kürzlich beseitigt worden sind, müsste es [269] mit einem Wunder zugehen, wenn diese am tiefsten verwurzelte Form irgendwo in nennenswertem Umfang überwunden sein sollte. Umso mehr muss man sich wundern, dass sich schon so zahlreiche und gewichtige Proteste dagegen erhoben haben, wie es in der Tat der Fall ist.

Einige könnten einwenden, dass man die Herrschaft des männlichen Geschlechts und die anderen angeführten Formen ungerechter Macht gar nicht miteinander vergleichen könne. Diese seien willkürlich und die Folge bloßer Usurpation, jene aber natürlich. Aber gab es jemals eine Herrschaft, die denen, die sie besaßen, nicht natürlich erschien? Es gab eine Zeit, zu der die Teilung des Menschengeschlechts in zwei Klassen, eine kleine der Herren und eine zahlreiche der Sklaven, selbst den gebildetsten Geistern ganz natürlich, ja: als die einzige natürliche Verfassung des Menschengeschlechts erschien. Kein geringerer Geist als Aristoteles, der zum Fortschritt der Menschheit so viel [27]beigetragen hat, vertrat diese Ansicht, ohne jeden Zweifel und ohne jedes Bedenken, und leitete sie aus denselben Voraussetzungen ab, aus denen die Behauptung der Notwendigkeit der Herrschaft der Männer über die Frauen üblicherweise abgeleitet wird, nämlich dass es innerhalb des Menschengeschlechts verschiedene Naturen gebe – freie Naturen und Sklavennaturen. Die Griechen hätten eine freie Natur, die barbarischen Rassen der Thraker und Asiaten eine Sklavennatur. Doch weshalb bis auf Aristoteles zurückgehen – stellten nicht die Sklavenhalter in den Südstaaten von Amerika dieselbe Behauptung auf, mit dem ganzen Fanatismus, mit dem Menschen an Theorien festhalten, die ihre Leidenschaften rechtfertigen und ihre persönlichen Interessen legitimieren? Nahmen sie nicht Himmel und Erde dafür als Zeugen, dass die Herrschaft des weißen Mannes über den schwarzen natürlich, dass die schwarze Rasse [black race] von Natur aus zur Freiheit unfähig und bestimmt zur Sklaverei ist? Einige gingen sogar so weit zu behaupten, Freiheit für diejenigen, die mit der Hand arbeiten, sei grundsätzlich und überall naturwidrig. Ebenso haben auch die Theoretiker der absoluten Monarchie diese immer wieder für die einzige natürliche Staatsform erklärt. Diese sei hervorgegangen aus dem Patriarchat, das die ursprüngliche und sich spontan entwickelnde gesellschaftliche Form gewesen sei, sie sei nach dem Muster der Herrschaft des Familienvaters gestaltet, die der Gesellschaftsbildung voranging, und sei insofern, wie sie behaupten, die schlechthin naturgemäße Art von Autorität. Ja, selbst das Recht des Stärkeren wurde von denen, die sich auf kein anderes berufen konnten, als der natürlichste Grund für die Ausübung von Gewalt angeführt. Erobernde [28]Völker finden es natürlich, dass die Unterworfenen den Siegern Gehorsam leisten oder, wie sie es wohlklingender umschreiben, dass die schwächeren und weniger kriegerischen Völker sich dem tapfereren und männlicheren unterwerfen. Eine auch nur oberflächliche Kenntnis der Lebensverhältnisse des Mittelalters lehrt uns, wie außerordentlich natürlich dem feudalen Adel seine Herrschaft über die niederen Stände erschien und wie unnatürlich sie den Gedanken fanden, eine Person aus diesen unteren Ständen könne einen Anspruch auf Gleichstellung oder sogar auf Herrschaft erheben. Und diese Ansicht war bei den Unterworfenen kaum weniger verbreitet. Die sich emanzipierenden Leibeigenen und Bürger erhoben selbst in ihren heftigsten Kämpfen keinen Anspruch auf Teilhabe an der Herrschaft, sondern verlangten nur eine größere oder geringere Beschränkung der Macht, [270] sie zu tyrannisieren. Es ist schlicht so, dass unnatürlich gemeinhin nichts anderes bedeutet als unüblich und dass alles, was üblich ist, natürlich erscheint. Die Unterjochung der Frauen durch die Männer ist eine universelle Üblichkeit, daher erscheint jede Abweichung natürlicherweise unnatürlich. Doch wie vollständig selbst in diesem Fall das Gefühl von Herkommen und Gewohnheit abhängt, zeigt sich, wenn man seinen Erfahrungshorizont erweitert. Nichts setzt die Menschen in fernen Weltgegenden so in Erstaunen, wenn sie zuerst etwas über England erfahren, wie gesagt zu bekommen, dass England von einer Königin regiert wird. Dies erscheint ihnen so unnatürlich, dass sie es kaum glauben wollen. Engländern scheint dies dagegen nicht im Geringsten unnatürlich vorzukommen, weil sie daran gewöhnt sind – während sie es unnatürlich finden, dass Frauen Soldaten oder [29]Parlamentsmitglieder sein sollen. In den feudalen Jahrhunderten hielt man Krieg und Politik gar nicht für so unnatürlich für Frauen, weil es eben nicht ungewöhnlich war. Es erschien natürlich, dass die Frauen der bevorzugten Klassen von männlichem Charakter waren und ihren Ehemännern und Vätern an Körperkraft nicht nachstanden. Den Griechen erschien die Unabhängigkeit der Frauen weniger unnatürlich als andern Völkern, wie der Mythos von den Amazonen zeigt, die sie für historisch hielten, sowie das Beispiel der Spartanerinnen, die, obwohl sie ebenso dem Gesetz unterworfen waren wie die Frauen in anderen griechischen Staaten, doch über viel mehr Freiheit verfügten, und die, da sie dieselben körperlichen Übungen wie die Männer absolvierten, unter Beweis stellten, dass sie keineswegs von Natur aus ungeeignet dafür waren. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die in Sparta gemachten Erfahrungen Platon unter anderem zu seiner Lehre von der politischen und sozialen Gleichheit der Geschlechter inspirierten.

Doch unterscheidet sich, so wird man einwenden, die Herrschaft der Männer über die Frauen von jeder anderen dadurch, dass sie keine Herrschaft der Gewalt ist: Die Frauen akzeptieren sie freiwillig; sie beklagen sich nicht über sie und stimmen ihr zu. Dazu ist erstens zu sagen, dass eine große Zahl von Frauen diese Herrschaft nicht akzeptiert. Seitdem es Frauen gibt, die in der Lage sind, ihre Gefühle und Gedanken in Schriften zu äußern (der einzige Weg in die Öffentlichkeit, den ihnen die Gesellschaft gestattet), haben sie in zunehmender Zahl gegen ihre jetzige soziale Lage protestiert, und ganz kürzlich erst haben viele Tausende von Frauen – an ihrer Spitze die bedeutendsten, die [30]die Öffentlichkeit kennt – eine Petition zur Gewährung des Stimmrechts an das Parlament gerichtet. Der Anspruch der Frauen auf eine ebenso gute Ausbildung und in denselben Wissensbereichen, wie sie dem Mann offenstehen, wird von den Frauen immer nachdrücklicher und mit immer größerer Aussicht auf Erfolg gefordert. Ebenso wird die Forderung nach Zulassung zu Berufen und Betätigungen, die ihnen bisher verschlossen sind, von Jahr zu Jahr dringlicher. Auch wenn wir in England nicht wie in den Vereinigten Staaten periodische Kongresse und eine organisierte Partei zur Agitation für die Rechte der Frauen haben, haben wir doch einen aktiven, mitgliederstarken und von Frauen geleiteten Verein mit dem [271] begrenzten Ziel der politischen Gleichberechtigung. Und nicht nur in England und Amerika beginnen Frauen mehr oder weniger gemeinschaftlich gegen die Beschränkungen zu protestieren, unter denen sie leiden. In Frankreich, Italien, in der Schweiz und in Russland finden sich ähnliche Bestrebungen. Wie viele weitere diese Bestrebungen teilen, lässt sich nicht annähernd schätzen. Es gibt allerdings genügend Anzeichen dafür, dass diese Bestrebungen von vielen geteilt würden, wäre ihnen nicht so konsequent beigebracht worden, sie als für ihr Geschlecht unziemlich zu unterdrücken. Zu bedenken ist auch, dass keine geknechtete Klasse je mit einem Mal die vollkommene Freiheit gefordert hat. Als Simon de Montfort die Deputierten der Gemeinen zum ersten Mal ins Parlament berief –, fiel es einem von diesen auch nur im Traum ein zu verlangen, dass eine gewählte Versammlung Ministerien schaffen und abschaffen und Königen in Staatsangelegenheiten Vorschriften machen würde? Nicht dem Ehrgeizigsten unter ihnen kam dergleichen in den Sinn. [31]Während der Adel diese Ansprüche erhob, forderten die Gemeinen nichts als Schutz vor willkürlicher Besteuerung und vor groben persönlichen Übergriffen seitens der königlichen Beamten. Es ist ein politisches Naturgesetz, dass die seit langen Jahren von politischer Herrschaft Abhängigen niemals damit beginnen, sich über die Herrschaft selbst, sondern lediglich über deren bedrückende Ausübung zu beklagen. Es fehlt wahrlich nicht an Frauen, die sich über schlechte Behandlung seitens ihrer Männer beschweren. Es würden unendlich viel mehr sein, wären nicht Beschwerden die größte Provokation zur Wiederholung und Steigerung der schlechten Behandlung. Dieser Umstand ist es, an dem alle Versuche scheitern, die Machtverhältnisse beizubehalten, aber die Frauen vor deren Missbrauch zu schützen. In keinem anderen Fall – außer dem der Kinder – wird derjenige, der erwiesenermaßen Unrecht erlitten hat, unter die Gewalt dessen gestellt, der ihr das Unrecht zugefügt hat. Dementsprechend dulden Frauen oft lieber die schwersten und anhaltendsten Misshandlungen, als dass sie die zu ihrem Schutz geschaffenen Gesetze anrufen. Und wenn sie solches dann tatsächlich doch einmal tun, etwa in einem Moment unüberwindlicher Empörung oder auf Zureden der Nachbarn, sind sie später ängstlich bemüht, so viel wie möglich geheim zu halten und ihre Tyrannen von der verdienten Strafe los zu bitten.

Eine ganze Reihe gesellschaftlicher und natürlicher Ursachen machen es unwahrscheinlich, dass die Frauen in ihrer Gesamtheit gegen die Herrschaft der Männer rebellieren. Die Lage, in der sie sich befinden, unterscheidet sich insofern von der Lage anderer unterdrückter Klassen, als ihre Herren von ihnen noch etwas anderes verlangen als [32]Dienstbarkeit. Die Männer wollen von den Frauen nicht nur Gehorsam, sondern auch Zuneigung. Alle Männer, mit Ausnahme der rohesten, wollen keine gezwungene, sondern eine freiwillige Sklavin, oder besser: keine Sklavin, sondern eine Favoritin. Zu diesem Zweck bieten sie alles auf, um den weiblichen Geist zu versklaven. Die Herren aller übrigen Sklaven verlassen sich, um ihre Sklaven zum Gehorsam zu zwingen, auf Angst, entweder auf die Angst vor ihnen selbst oder auf religiöse Ängste. Die Herren der Frauen verlangen mehr als einfachen Gehorsam, und sie nutzen die ganze Macht der Erziehung, um ihren Zweck zu erreichen. Jede Frau wird von frühester Jugend an in dem Glauben erzogen, das Ideal des weiblichen Charakters sei dem des Mannes genau entgegengesetzt: keine Selbstbestimmung und Selbstkontrolle, sondern Fügsamkeit und Unterwerfung unter die Kontrolle anderer. Jede einzelne Moral predigt ihnen, die Pflicht der Frau sei – und [272] die übliche Sentimentalität behauptet dies als ihre eigentliche Natur –, für andere da zu sein, sich selbst vollständig zu verleugnen und ausschließlich für ihre Gefühlsbindungen zu leben. Mit den Gefühlsbindungen sind dabei die einzigen gemeint, die man ihnen zugesteht: die zu dem Mann, mit dem sie verbunden sind, und die zu den Kindern, die eine zusätzliche und unauflösliche Bindung zwischen ihnen und ihrem Mann schaffen. Nimmt man diese drei Dinge zusammen: die natürliche Anziehung zwischen den Geschlechtern; die vollständige Abhängigkeit der Ehefrau von ihrem Ehemann, so dass jedes von ihr genossene Vorrecht oder Vergnügen von seinem Willen abhängt; und die Unmöglichkeit, ein Vorhaben, eine Auszeichnung oder ein gesellschaftliches Engagement anders als durch ihn zu [33]verfolgen und zum Erfolg zu bringen: Es müsste wahrlich mit Wundern zugehen, wenn nicht der Leitstern der weiblichen Erziehung und Charakterbildung die Attraktivität für Männer geworden wäre. Und nachdem sich die Männer einen so mächtigen Einfluss über das Denken der Frauen verschafft haben, nutzen sie, getrieben von Egoismus, diesen bis zum Äußersten aus, um die Frauen in Abhängigkeit zu halten, indem sie ihnen Bescheidenheit, Unterwürfigkeit und die Aufgabe des eigenen Willens zugunsten des Mannes als wesentliche Bestandteile ihrer Attraktivität für Männer darstellen. Kann man ernsthaft bezweifeln, dass jede andere Form der Knechtschaft, die abzuschütteln der Menschheit gelungen ist, ganz genauso bis auf den heutigen Tag bestehen würde, wenn man dieselben Mittel gehabt und ebenso eifrig angewendet hätte, um die Unterdrückten geistig zu beugen? Nehmen wir an, dass man es zur Lebensaufgabe eines jeden jungen Plebejers gemacht hätte, in den Augen irgendeines Patriziers persönliches Wohlgefallen zu erregen, oder eines Leibeigenen in den Augen irgendeines Grundherrn, oder man dem Plebejer und Leibeigenen als Preis, den das Leben ihnen bieten kann – und den begabtesten und ehrgeizigsten den höchsten Preis – das Zusammenleben mit ihm und seine Zuneigung vorgehalten hätte; und weiterhin, dass man sie, nachdem sie diesen Preis errungen hätten, durch eine eherne Mauer von allen Interessen, die ihren Mittelpunkt nicht in ihm haben, und von allen Gefühlen und Wünschen, die nicht von ihm geteilt oder hervorgerufen werden, ausgeschlossen hätte: Würden Plebejer und Patrizier, Leibeigene und Grundherren nicht heute noch ebenso verschieden voneinander sein, wie es Männer und Frauen sind? [34]Würden nicht alle, mit Ausnahme vereinzelter Denker, glauben, diese Verschiedenheit sei eine grundlegende und unabänderliche Gegebenheit der menschlichen Natur?

Diese Überlegungen dürften hinreichend sein zu zeigen, dass das Herkommen, wie immer universal es in diesem Fall sein mag, kein gutes Argument für die gesellschaftlichen Arrangements ist, die die Frauen den Männern gesellschaftlich und politisch unterordnet. Ich möchte sogar noch weiter gehen und behaupten, dass der Verlauf der Geschichte und die Tendenz zum Fortschritt der Gesellschaft nicht nur gegen dieses System der Rechtsungleichheit sprechen, sondern entschieden dagegen sprechen, und dass, soweit die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit und die Modernisierungstendenzen der Gesellschaft Schlussfolgerungen erlauben, dieses Relikt der Vergangenheit keine Zukunft hat und unweigerlich verschwinden wird.

Denn was zeichnet die moderne Welt aus – worin liegt der wesentliche Unterschied zwischen modernen Institutionen, modernen sozialen Ideen, dem modernen Leben und dem Leben vergangener Zeiten? Dass Menschen nicht für einen bestimmten [273] Platz im Leben geboren und an die Stelle, an der sie geboren sind, unwiderruflich gefesselt sind, sondern dass sie die Freiheit haben, ihre Fähigkeiten darauf zu verwenden und jede sich ihnen darbietende Gelegenheit dafür zu nutzen, die Lebensstellung zu erlangen, die ihnen die wünschenswerteste erscheint. Die alte Gesellschaft beruhte auf ganz anderen Grundlagen. Alle Menschen waren in einer bestimmten sozialen Stellung geboren und wurden zumeist durch Gesetze darin festgehalten oder der Mittel beraubt, die ihnen zu ihrer Befreiung [35]daraus hätten dienen können. Wie ein Teil der Menschen weiß, ein anderer schwarz geboren ist, so war ein Teil geborene Sklaven, ein anderer Freie und Bürger; die einen waren geborene Patrizier, die anderen geborene Plebejer; die einen Aristokraten, die anderen Kleinbauern. Ein Sklave oder Leibeigener konnte sich niemals aus eigener Kraft zum Freien machen oder zu einem solchen werden, es sei denn durch den Willen seines Herrn. In den meisten europäischen Staaten war es erst gegen Ende des Mittelalters und infolge der wachsenden Macht der Könige möglich, dass Bürger geadelt wurden. Selbst beim Adel war der älteste Sohn der geborene einzige Erbe aller väterlichen Besitzungen, und es verging viel Zeit, bis das Recht etabliert wurde, ihn zu enterben. Von den gewerbetreibenden Klassen durften nur diejenigen, die als Mitglieder einer Gilde geboren oder von deren Mitgliedern aufgenommen waren, ihren Beruf von Rechts wegen innerhalb der lokalen Grenzen betreiben, und niemand konnte einen für wichtig gehaltenen Beruf anders ausüben als innerhalb der geltenden Gesetze, also so, wie es ihm von der Behörde vorgeschrieben wurde. Handwerker standen am Pranger, wenn der Verdacht aufkam, sie übten ihr Gewerbe nach einer neuen, verbesserten Methode aus. Im modernen Europa und besonders in den Teilen Europas, die sich am meisten an der Modernisierung beteiligt haben, herrschen inzwischen diametral entgegengesetzte Anschauungen. Gesetz und Regierung denken nicht daran, durch Vorschriften zu regeln, wer irgendein Gewerbe ausüben darf oder nicht und welche Verfahren gesetzlich oder ungesetzlich sind. Dies wird der Entscheidung der Individuen überlassen. Selbst die Gesetze, die den Handwerkern das Absolvieren [36]einer Lehrzeit vorschreiben, sind in England aufgehoben worden, da man sicher ist, dass in allen Fällen, in denen das Ausüben des Handwerks eine Lehrzeit erfordert, dies hinreichend dafür sorgt, dass eine Lehrzeit absolviert wird. Die alte Theorie war, dass dem Einzelnen so wenig Spielraum wie möglich gelassen werden sollte; dass alles, was er tun sollte, so weit wie möglich von höherer Weisheit vorgezeichnet sein sollte. Man war sich sicher, dass, überließe man ihn sich selbst, er fehlgehen würde. Dagegen ist es die Überzeugung der Neuzeit – die Frucht tausendjähriger Erfahrung –, dass alles, an dem das Individuum ein direktes Interesse hat, nur dann seinen richtigen Verlauf nimmt, wenn man es seinem eigenen Urteil überlässt, und dass jede darauf gerichtete Einwirkung einer Obrigkeit nur von Übel sein kann, ausgenommen, sie ist notwendig, um die Rechte anderer zu schützen. Diese Auffassung, zu der man nur sehr allmählich kam und die man nicht eher annahm, als nachdem man beinahe jede mögliche Anwendung der entgegengesetzten Theorie scheitern gesehen hatte, ist gegenwärtig (in Bezug auf die Industrie) die in den am weitesten fortgeschrittenen Ländern vorherrschende und die am meisten verbreitete in Ländern, die in der einen oder anderen Hinsicht an Fortschritt interessiert sind. Natürlich ist es nicht so, dass man annimmt, dass alle Verfahren gleich gut oder alle Menschen für jeden Beruf gleich geeignet sind. Man nimmt jedoch an, dass nur die Freiheit der individuellen Wahl verbürgt, dass die besten Verfahren eingesetzt und die verschiedenen Beschäftigungen von denen übernommen werden, die dafür am besten geeignet sind. Niemand denkt daran, kraft Gesetzes zu bestimmen, dass nur Männer mit Muskelkraft [274] Schmied werden [37]dürfen. Gewerbefreiheit und Wettbewerb sind dafür vollkommen hinreichend. Menschen mit weniger Muskeln können mehr verdienen, wenn sie sich Tätigkeiten zuwenden, für die sie geeigneter sind. Entsprechend dieser Doktrin gilt es als Überschreitung ihrer legitimen Grenzen, wenn die Obrigkeit aufgrund bestimmter allgemeiner Annahmen festlegt, dass bestimmte Personen für bestimmte Beschäftigungen ungeeignet sind. Es ist allgemein anerkannt, dass derartige Annahmen, soweit sie getroffen werden, nicht unfehlbar sind. Auch wenn sie in der Mehrzahl der Fälle gut begründet sind (was nicht wahrscheinlich ist), würde es immer noch eine kleine Zahl von Ausnahmen geben, auf die sie nicht zutrifft, und in diesem Fall ist es eine Ungerechtigkeit gegen das Individuum wie eine Beeinträchtigung der Gesellschaft, wenn man das Individuum daran hindert, seine Fähigkeiten zu seinem eigenen und zum Nutzen anderer zu gebrauchen. Dagegen werden in Fällen, in denen wirklich Unfähigkeit besteht, schon die für das menschliche Verhalten im Allgemeinen geltenden Motive ungeeignete Personen dazu bringen, gar nicht erst den Versuch zu machen, oder, falls doch, von diesen abzulassen.

Sollte dieser Grundsatz der Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften unwahr sein und wäre das Individuum, unterstützt durch die Meinung derer, die es am besten kennen, nicht in der Lage, seine eigenen Fähigkeiten und seine Berufung besser zu beurteilen als Gesetz und Obrigkeit, wäre die Welt gut beraten, dieses Prinzip aufzugeben und zum alten System der Bevormundung und Maßregelung zurückzukehren. Falls dieses Prinzip jedoch wahr ist, sollten wir uns in der Praxis daran halten und nicht die [38]Tatsache, dass jemand als Mädchen statt als Junge, als schwarz statt als weiß oder als gewöhnlicher Bürger statt als Aristokrat geboren ist, darüber bestimmen lassen, welche Position er sein Leben lang einnimmt und ihn von allen höheren Positionen und von nahezu allen, die als respektabel gelten, ausschließen. Selbst wenn wir das Äußerste zugeben wollten, was für die überlegene Befähigung der Männer für die Tätigkeiten vorgebracht worden ist, die ihnen gegenwärtig vorbehalten sind, würde dasselbe Argument gelten und eine gesetzliche Einschränkung des Zugangs zum Parlament verbieten. Wenn die Bedingungen der Wählbarkeit auch nur einmal in zehn Jahren eine geeignete Person ausschließen, ist das ein echter Verlust, während die Ausschließung tausend ungeeigneter Personen kein Gewinn ist. Gesetzt den Fall, dass die Wählerschaft eine ungeeignete Person wählt, gibt es stets eine Menge ebenso ungeeigneter, aus denen gewählt wird. In allen Aufgaben von einiger Schwierigkeit und Wichtigkeit gibt es von denen, die sie gut erledigen, weniger, als man braucht, auch dann, wenn man die Auswahl nicht besonders einschränkt. Doch jede Begrenzung der Auswahl mindert die Chancen der Gesellschaft, sich der Dienste der Tüchtigen zu versichern, ohne sie vor den Diensten der Untüchtigen zu bewahren.

Gegenwärtig ist die Benachteiligung der Frauen in den fortgeschritteneren Ländern – mit einer einzigen Ausnahme – der einzige Fall, in dem Gesetze und Institutionen eine Person nach ihrer Geburt beurteilen und ihr ihr ganzes Leben lang verbieten, sich für bestimmte Positionen zu bewerben. Die eine Ausnahme ist die Königswürde. Der Thron wird weiterhin aufgrund der Geburt bestiegen. Keiner, nicht einmal ein Angehöriger der herrschenden [39]Dynastie, kann ihn dem Inhaber streitig machen, und keiner aus der Dynastie kann ihn anders erlangen als im Zuge der Erbfolge. Alle anderen Ämter und Vorrechte stehen dem gesamten männlichen Geschlecht offen. Allerdings lassen sich viele nur dann erlangen, wenn man zu den Reichen gehört, aber nach Reichtum kann jeder streben, und tatsächlich gehören einige dazu, die aus bescheidensten Verhältnissen stammen. Zwar sind die Schwierigkeiten für die [275] meisten ohne die Hilfe glücklicher Zufälle unüberwindbar, aber keinem männlichen Wesen ist es von Gesetzes wegen verboten, sie zu überwinden. Weder Gesetz noch öffentliche Meinung errichten, über die natürlichen hinaus, zusätzliche Schranken. Die Königswürde ist, wie gesagt, eine Ausnahme – doch in diesem Fall ist jedem klar, dass es sich um eine Ausnahme handelt, eine Anomalie in der modernen Welt, in unübersehbarem Kontrast zu ihren Prinzipien. Sie lässt sich nur mit besonderen Gründen rechtfertigen, und die gibt es, mögen auch darüber, wie gewichtig sie sind, Individuen und Nationen unterschiedlicher Auffassungen sein. Doch in diesem Ausnahmefall, wenn eine hohe gesellschaftliche Position nach Geburt statt nach Leistung verliehen wird, schaffen es die freien Gesellschaften, dem Prinzip treu zu bleiben, dem sie nominell zuwiderhandeln, indem sie diese Position an Bedingungen knüpfen, die anerkanntermaßen darauf zielen, die Person, die sie bekleidet, daran zu hindern, sie tatsächlich auszuüben – während die Person, die sie tatschlich ausübt, der jeweils zuständige Minister, sie aufgrund eines Wettbewerbs erhält, von dem kein erwachsener Bürger männlichen Geschlechts per Gesetz ausgeschlossen ist. Die Benachteiligung, der Frauen allein aufgrund der Geburt [40]unterworfen sind, ist insofern einzigartig. Das moderne System der Gesetzgebung, das immerhin die Hälfte der Menschheit umfasst, kennt keinen anderen Fall, in dem den Bürgern höhere gesellschaftliche Positionen allein aufgrund des Schicksals der Geburt verschlossen bleiben und dagegen weder Anstrengungen noch ein Wechsel der Umstände etwas ausrichten können. Selbst religiöse Benachteiligungen (abgesehen davon, dass sie in England und Europa so gut wie nicht mehr existieren) nehmen den Ausgeschlossenen nicht sämtliche Aufstiegschancen, solange die Möglichkeit der Glaubenskonversion besteht.

Die Unterordnung der Frauen steht demnach als ein singuläres Faktum inmitten der modernen sozialen Institutionen da – als ein einzigartiger Bruch ihres grundlegenden Gesetzes und einziges Relikt einer vergangenen Zeit, deren Denken und Tun in allen sonstigen Hinsichten vom Erdboden verschwunden ist. Nur in diesem einen, universales Interesse beanspruchenden Punkt wird dieses Relikt konserviert – so als stünde ein gigantischer Dolmen oder ein riesiger Tempel des Jupiter Olympius an der Stelle, wo jetzt die St.-Pauls-Kathedrale steht, und würde täglich zu Gottesdiensten genutzt, während die umherliegenden christlichen Kirchen nur an Festtagen besucht würden. Dieser Widerspruch zwischen der einen sozialen Tatsache und allen anderen, die mit ihr zusammenbestehen, und dieser radikale Gegensatz zwischen ihr und den fortschrittlichen Bewegungen, auf die sich die moderne Welt etwas zugutehält und die nach und nach alles von ähnlicher Art hinweggefegt haben, muss jedem gewissenhaften Beobachter der menschlichen Entwicklung zu denken geben. Sie begründet eine Vermutung gegen die Sache – stärker als die auf [41]Sitte und Gewohnheit gegründete dafür – und sollte genügen, die Frage – ähnlich wie die zwischen Republik und Monarchie – zumindest als unentschieden gelten zu lassen.

Das Wenigste, das verlangt werden kann, ist, dass die Frage nicht als durch bestehende Tatsachen und bestehende Ansichten vorentschieden gilt, sondern zum Gegenstand der Diskussion gemacht und ihre Vorzüge und Nachteile, ihre Gerechtigkeit und Nützlichkeit abgewogen werden. Wie bei allen anderen gesellschaftlichen Arrangements muss die Entscheidung davon abhängen, was sich aufgrund einer aufgeklärten Abschätzung ihrer Tendenzen und Konsequenzen und unabhängig von allen Geschlechterdifferenzierungen als für die Menschheit im Allgemeinen vorteilhaft darstellt. Und diese Diskussion muss eine echte [276] Diskussion sein, die zu den Wurzeln vordringt und sich nicht mit vagen und allgemeinen Behauptungen zufriedengibt. Es genügt zum Beispiel nicht, ganz allgemein zu behaupten, dass die Erfahrung zugunsten des bestehenden Systems spricht. Die Erfahrung kann nicht zwischen Alternativen entscheiden, solange Erfahrung nur über eine der Alternativen gesammelt werden konnte. Wollte man sagen, dass die Lehre von der Gleichheit der Geschlechter bloße Theorie ist, ist daran zu erinnern, dass die Lehre von der Ungleichheit der Geschlechter auch nur Theorie ist. Alles, was die unmittelbare Erfahrung zu ihren Gunsten zeigen kann, ist, dass die Menschheit unter ihr existieren und den Grad von Fortschritt und Wohlstand erlangen konnte, den wir jetzt sehen. Doch die Erfahrung sagt uns nichts darüber, ob sie diesen Wohlstand früher erlangt hätte oder ob er jetzt größer ist als unter einem anderen System. Die Erfahrung kann uns jedoch sagen, dass jeder Schritt vorwärts [42]begleitet war von einem Schritt zur Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen, so dass Historiker und Philosophen in der höheren oder niedrigeren Stellung der Frauen das sicherste und angemessenste Maß für den Grad der Zivilisation eines Volkes oder Zeitalters gesehen haben. Die gesamte Fortschrittsgeschichte der Menschheit hindurch hat sich die Lage der Frauen der Gleichheit mit den Männern schrittweise angenähert. Damit ist nicht gezeigt, dass die Annäherung bis zur vollständigen Gleichheit gehen muss. Dennoch begründet sie zumindest eine Vermutung dafür, dass sie so weit geht.

Ebenso wenig hilft es zu sagen, dass die Natur der zwei Geschlechter sie für ihre gegenwärtigen Funktionen und Positionen bestimmt oder dafür in besonderer Weise geeignet macht. Auf der Grundlage des gesunden Menschenverstands und der Natur des menschlichen Geistes bestreite ich, dass irgendjemand die Natur der beiden Geschlechter kennt oder kennen kann, solange sie nur in ihrem gegenwärtig bestehenden Verhältnis zueinander anzutreffen sind. Hätte es jemals eine Gesellschaft gegeben, in der die Männer ohne Frauen oder die Frauen ohne Männer sind, oder in der die Frauen nicht unter der Herrschaft der Männer gestanden hätten, wüssten wir möglicherweise etwas über die Unterschiede in Denken und Handeln, die sich auf ihre jeweilige Natur zurückführen lassen. Was gegenwärtig die Natur der Frauen genannt wird, ist etwas eminent Künstliches – das Resultat einer gewaltsamen Unterdrückung in einigen und einer unnatürlichen Stimulierung in anderen Richtungen. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass keine andere Klasse von Abhängigen durch die Beziehung zu ihren Herren ihren natürlichen [43]Eigenschaften so radikal entfremdet worden ist. Eroberte und versklavte Völkerschaften sind zwar in einigen Hinsichten noch gewaltsamer unterdrückt worden. Doch wurde alles in ihnen, was nicht mit eisernem Fuß zertreten wurde, verschont und behielt die Freiheit, sich nach eigenen Gesetzen zu entwickeln; während man bei den Frauen anders verfahren ist und einige ihrer natürlichen Fähigkeiten zum Nutzen und Vergnügen ihrer Herren unter Treibhausbedingungen kultiviert hat. Weil aber in dieser erhitzten Atmosphäre und unter dieser aktiven Pflege bestimmte Pflanzenteile besonders üppig gedeihen, während andere Schösslinge aus derselben Wurzel, die man draußen an der Winterluft lässt und noch zusätzlich in Eis packt, verkümmern und einige sogar mit Feuer ausbrennt, machen es sich Menschen, die [277] unfähig sind, ihr eigenes Werk zu erkennen (das Kennzeichen eines naiven Geistes) bequem und glauben, dass der Baum von selbst so wächst, wie sie ihn wachsen lassen, und dass er eingehen würde, würde nicht die eine Hälfte im Dampfbad und die andere im Schnee gehalten.

Das gegenwärtig größte Hindernis für den Fortschritt des Denkens und eine aufgeklärte Sichtweise des Lebens und der gesellschaftlichen Verhältnisse ist die namenlose Ignoranz und Gleichgültigkeit der Menschheit in Bezug auf die Einflüsse, die den menschlichen Charakter zu dem machen, was er ist. Was auch immer es ist, was für einen bestimmten Teil der menschlichen Gattung charakteristisch ist oder zu sein scheint: Es wird einer natürlichen Tendenz zugeschrieben, auch dann, wenn eine auch nur elementare Kenntnis der Umstände, denen diese Menschen ausgesetzt sind, unmissverständlich darauf hinweist, warum sie so [44]geworden sind, wie sie sind. Weil ein Kleinbauer, der mit den Zahlungen an seinen Landbesitzer im Rückstand ist, nicht besonders fleißig ist, denken manche, alle Iren seien von Natur aus faul. Weil Verfassungen gestürzt werden können, wenn die Regierungen, die sie durchsetzen sollen, ihre Waffen gegen die Regierten kehren, denken manche, die Franzosen seien zu jeder freien Regierungsform unfähig. Weil die Griechen die Türken betrogen, während die Türken die Griechen nur ausgeplündert haben, denken manche, die Türken seien von Natur aus ehrlicher. Und weil, wie häufig gesagt wird, Frauen an Politik, außer wenn sie persönlich betroffen sind, uninteressiert sind, denken viele, im Allgemeinen seien Frauen natürlicherweise weniger interessiert als Männer. Die Geschichte, die heute viel besser verstanden wird als in früheren Zeiten, lehrt etwas anderes, nicht zuletzt die außergewöhnliche Empfänglichkeit der menschlichen Natur für äußere Einflüsse und die extreme Variabilität ihrer am ehesten als universal und konstant geltenden Erscheinungsformen. Doch in der Geschichte – wie auf Reisen – sehen die Menschen zumeist nur, was sie schon zuvor im Kopf hatten, und wenige, die sich dazu nicht in besonderer Weise eignen, sind fähig, aus der Geschichte zu lernen.

Deshalb gilt auch für die schwierige Frage nach den natürlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern – eine Frage, die man auf den gegenwärtigen Stand der Gesellschaft unmöglich vollständig und korrekt beantworten kann –, dass nahezu alle darüber dogmatisieren und das einzige Mittel vernachlässigen, von dem man zumindest eine Teilantwort erhoffen kann, nämlich das genaue Studium der wichtigsten Abteilung der Psychologie, der Gesetze [45]der Abhängigkeit des Charakters von den Umständen. Wie groß und scheinbar unabänderlich die Unterschiede zwischen Mann und Frau in Denken und Verhalten auch immer sein mögen: Sie beweisen nichts über natürliche Unterschiede. Nur diejenigen Unterschiede können als natürlich gelten, die auf keine Weise künstlich sein können – der Rest, der bleibt, wenn man alle durch Erziehung oder andere äußere Umstände erklärbaren Merkmale abzieht. Eine gründliche Kenntnis der Gesetze der Charakterbildung ist unerlässlich, wenn man berechtigterweise einen Unterschied zwischen den Geschlechtern hinsichtlich ihrer moralischen und intellektuellen Fähigkeiten behaupten oder sogar sagen will, worin dieser besteht. Und da bisher niemand über diese Kenntnis verfügt (denn es gibt kaum ein Thema, das gemessen an seiner Bedeutung so wenig zum Gegenstand systematischer Untersuchung gemacht worden ist), ist soweit niemand berechtigt, dazu eine dezidierte Ansicht [278] zu vertreten. Alles, was dazu gegenwärtig gesagt werden kann, hat den Charakter von Vermutungen – Vermutungen, die mehr oder weniger wahrscheinlich sind, je nach der Kenntnis, die wir von den psychologischen Gesetzen der Charakterbildung haben.

Selbst die Vorfrage, worin die Verschiedenheiten zwischen den beiden Geschlechtern gegenwärtig bestehen, lässt sich – abgesehen von der Frage, wie diese Verschiedenheiten entstanden sind – auf dem heutigen Stand des Wissens nur ansatzweise beantworten. Ärzte und Physiologen haben ein Stück weit die Verschiedenheiten in der körperlichen Konstitution beschrieben und damit dem Psychologen eine wichtige Grundlage geliefert. Aber kaum ein Arzt ist gleichzeitig Psychologe. Was die geistigen [46]Eigenschaften der Frauen betrifft, taugen die Beobachtungen der Ärzte nicht mehr als die von Männern im Allgemeinen. Darüber wird man so lange nichts Endgültiges wissen können, wie diejenigen, die allein darüber etwas wissen können, die Frauen selbst, darüber nur wenig – und dann zumeist geschönt – Aufschluss geben. Es ist leicht, dumme Frauen als solche zu erkennen. Dummheit ist auf der ganzen Welt ziemlich dieselbe. Die Dummheit der Gedanken einer Person lässt sich ziemlich gut aus der Dummheit der Gedanken erschließen, die in dem Milieu, das sie umgibt, verbreitet sind. Anders bei denen, deren Gedanken und Meinungen aus ihrer eigenen Natur und ihren eigenen Fähigkeiten hervorgehen. Es gibt nur wenige Männer, die auch nur eine leidliche Kenntnis des Charakters selbst der Frauen ihrer eigenen Familie haben. Ganz zu schweigen von deren Fähigkeiten. Diese kennt niemand, nicht einmal sie selbst, denn diese sind niemals gefordert worden. Manche Männer meinen, sie kennten die Frauen in- und auswendig – weil sie mit mehreren Liebesbeziehungen hatten oder vielleicht mit vielen. Falls sie gute Beobachter sind und sich ihre Erfahrung auf Qualität und nicht nur auf Quantität erstreckt, mögen sie etwas über einen kleinen, wenn auch zweifellos wichtigen Ausschnitt ihrer Natur erfahren haben. Aber es gibt wenige, die über den Rest nicht zutiefst unwissend sind, weil der Rest vor ihnen so sorgfältig verborgen gehalten wird. Die größte Chance für einen Mann, den Charakter einer Frau kennenzulernen, besteht im Allgemeinen bei seiner eigenen Ehefrau. Die Gelegenheiten sind zahlreich und Sympathie zwischen Ehegatten nicht selten. Dies dürfte tatsächlich die hauptsächliche Quelle sein für alles Wissen, das sich in dieser Sache zu [47]erwerben lohnt. Das heißt jedoch, dass die meisten Männer keine Gelegenheit haben, mehr als einen einzigen Fall kennenzulernen. In einem nahezu lächerlichen Ausmaß kann man aus dem, was ein Mann über die Frauen im Allgemeinen zu sagen hat, auf den Charakter seiner eigenen Frau schließen. Wenn dieser eine Fall in irgendeiner Weise aussagekräftig sein soll, muss die Frau nicht nur so beschaffen sein, dass sie das Kennenlernen lohnt, und der Mann so, dass er sie kompetent beurteilen kann, sondern er muss auch vom Charakter her so empathie- und anpassungsfähig sein, dass er ihren Charakter intuitiv erfasst und nichts an sich hat, was sie hindert, ihn offenzulegen. Nichts ist, wie ich glaube, seltener als diese Kombination. Es kommt häufig vor, dass Eheleute in Meinungen und Interessen vollständig einig sind, soweit sie äußere Dinge betreffen, das Innenleben des einen dem anderen aber ebenso wenig zugänglich ist wie bei entfernten Bekannten. Das Verhältnis von Herrschaft auf der einen und Unterordnung auf der anderen Seite, in dem beide zueinander stehen, verhindert selbst bei wahrer Zuneigung ein echtes Vertrauensverhältnis, und auch wenn nichts bewusst zurückgehalten wird, wird doch vieles nicht gezeigt. Ein entsprechendes Phänomen kann keinem Beobachter in der dazu analogen [279] Beziehung zwischen Eltern und Kindern entgehen. Was das Verhältnis zwischen Vater und Sohn betrifft: In wie vielen Fällen ist offenkundig, dass der Vater – trotz echter Zuneigung auf beiden Seiten – nichts von bestimmten Seiten des Charakters seines Sohnes weiß oder ahnt, die dessen Freunden und Gefährten nur allzu vertraut sind. Die Wahrheit ist, dass die Position, zu jemand anders aufzublicken, vollständige Aufrichtigkeit und Offenheit ihm [48]gegenüber weitgehend verhindert. Die Furcht, in seiner Achtung und Meinung zu verlieren, ist so stark, dass selbst bei einem aufrichtigen Charakter eine unbewusste Tendenz wirksam ist, sich nur von der besten Seite zu zeigen, oder, wenn auch nicht von der besten, von einer Seite, die der andere am liebsten sieht. Und man wird mit Fug und Recht sagen können, dass bei einem Paar eine tiefe Kenntnis des jeweils anderen kaum anders denkbar ist, als wenn die beiden nicht nur miteinander vertraut, sondern auch einander gleichgestellt sind. Wie viel mehr muss das gelten, wenn der weibliche Teil nicht nur unter der Herrschaft des anderen steht, sondern wenn ihr als Pflichtprinzip eingeprägt worden ist, dass seine Bequemlichkeit und sein Vergnügen allem anderen vorangeht und sie nichts von sich selbst preisgeben darf, was ihm nicht angenehm ist. Alle diese Schwierigkeiten sorgen dafür, dass ein Mann selbst die eine Frau, die die einzige ist, die er im Allgemeinen kennenzulernen Gelegenheit hat, nicht wirklich kennt. Und wenn wir bedenken, dass eine einzige Frau zu verstehen, nicht hinreicht, irgendeine andere Frau zu verstehen, und dass selbst die Gelegenheit, viele Frauen eines Standes oder eines Landes zu kennen, nicht hinreicht, Frauen anderer Stände und Länder zu kennen, mögen diese Frauen auch ein und derselben geschichtlichen Periode angehören, können wir mit einigem Recht sagen, dass die Kenntnis der Frauen, zu der die Männer über die Frauen gelangen können – selbst auch nur darüber, wie sie gewesen sind und sind, ungeachtet dessen, was sie sein könnten – erschreckend unvollkommen und oberflächlich ist und bleiben wird, solange die Frauen nicht selbst sagen, was sie zu sagen haben.

[49]Und diese Zeit ist noch nicht gekommen, und sie wird nur nach und nach kommen. Erst seit kurzer Zeit können sich Frauen durch literarische Werke einen Namen machen und erlaubt ihnen die Gesellschaft, zum allgemeinen Publikum zu sprechen. Bisher wagen es nur wenige, irgendetwas zu sagen, was die Männer, von denen ihr literarischer Erfolg abhängt, nicht hören wollen. Erinnern wir uns, wie bis vor ganz kurzem das Äußern von Meinungen, die im Gegensatz zur herrschenden Meinung stehen oder als exzentrisch gelten, aufgenommen wurde und in gewissem Maße immer noch wird, auch wenn es Männer sind, die sie äußern. Erst dann sind wir in der Lage, uns ein Bild von den Hindernissen zu machen, die eine Frau überwinden muss, die dazu erzogen worden ist, Sitte und öffentliche Meinung zum Maßstab ihrer Lebensführung zu machen, wenn sie versucht, in literarischer Form etwas davon auszudrücken, was aus den Tiefen ihrer Natur kommt. Die großartigste Frau, die Schriften hinterlassen hat, die ihr einen eminenten Rang in der Literatur ihres Landes gesichert haben, hielt es für notwendig, ihrem kühnsten Werk das Motto voranzustellen: »Un homme peut braver l’opinion; une femme doit s’y soumettre.« Das meiste davon, was Frauen über Frauen schreiben, ist reine Liebedienerei gegenüber den Männern. Bei unverheirateten Frauen scheint viel nur darauf berechnet, ihre Chancen auf einen Ehemann zu erhöhen. Viele, ob verheiratet oder unverheiratet, schießen sogar übers Ziel hinaus und propagieren eine Unterwürfigkeit, [280] die weit über das hinausgeht, was Männer, außer den vulgärsten, wollen oder schätzen. Inzwischen trifft man davon allerdings weniger an als noch vor ganz kurzem. Die weiblichen Autoren werden immer [50]freimütiger und haben immer weniger Hemmungen, zu sagen, was sie meinen. Leider sind sie, zumindest in diesem Land, selbst so sehr Kunstprodukte, dass das, was sie sagen, nur zum kleineren Teil aus individuellen Beobachtungen und Wahrnehmungen stammt und zum größeren Teil aus angelernten Assoziationen. Das wird sich in Zukunft nach und nach ändern, wenn auch nur in begrenztem Umfang, solange die gesellschaftlichen Institutionen den Frauen nicht in derselben Weise wie den Männern erlauben, ihre Originalität zu entfalten. Erst wenn diese Zeit gekommen ist, werden wir nicht nur vom Hörensagen, sondern durch Augenschein erfahren, was es bedeutet, die Natur der Frauen zu kennen und die Verhältnisse entsprechend anzupassen.

Ich habe mich so lange mit den Schwierigkeiten aufgehalten, die es den Männern gegenwärtig erschweren, sich ein angemessenes Bild von der wahren Natur der Frauen zu machen, weil hier, wie bei so vielen andern Dingen gilt: »opinio copiae inter maximas causas inopiae est« und wenig Hoffnung besteht, dass über die Sache vernünftig nachgedacht wird. Man schmeichelt sich, etwas zu verstehen, worüber man absolut nichts weiß. Gegenwärtig kann ein Mann oder sogar alle Männer zusammengenommen unmöglich genug wissen, um ihnen das Recht zu geben, den Frauen per Gesetz vorzuschreiben, was ihre Bestimmung ist und was nicht. Glücklicherweise ist ein solches Wissen auch gar nicht notwendig, wenn es darum geht, praktische Ziele im Zusammenhang mit der Stellung der Frauen zur Gesellschaft und zum Leben zu verfolgen. Denn nach den Grundsätzen der modernen Gesellschaft ist es Sache der Frauen selbst, über diese Ziele zu entscheiden – auf der [51]Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten. Es gibt kein anderes Mittel, um ausfindig zu machen, zu was ein Mensch imstande ist, als es auszuprobieren, und ein anderer kann unmöglich herausfinden, was zu tun oder zu lassen seinem Glück am meisten dient.

Einer Sache allerdings dürfen wir uns sicher sein: Wenn man der Natur der Frauen freies Spiel lässt, wird man sie nie dahin bringen, etwas zu tun, was ihrer Natur widerstreitet. Das Bemühen der Menschen, im Namen der Natur einzugreifen, aus Angst, die Natur könne andernfalls ihre Ziele verfehlen, ist eine völlig unnötige Sorge. Es ist ganz und gar überflüssig, Frauen etwas zu verbieten, was sie von Natur aus nicht tun können. Von dem, was sie tun können, aber nicht so gut wie die Männer, mit denen sie in Konkurrenz stehen, werden sie bereits durch den Wettbewerb abgehalten. Niemand verlangt Schutzzölle und Ausfuhrprämien zugunsten der Frauen. Verlangt ist nur die Aufhebung der gegenwärtigen Schutzzölle und Ausfuhrprämien zugunsten der Männer. Wenn Frauen für einige Beschäftigungen eine größere natürliche Neigung haben als für andere, bedarf es keiner Gesetze oder Erziehungsgrundsätze, um die Mehrzahl von ihnen dazu zu veranlassen, sich den Ersteren statt den Letzteren zuzuwenden. Wo immer die Dienste von Frauen am meisten verlangt werden, wird das freie Spiel der Konkurrenz für sie die stärksten Anreize schaffen, tätig zu werden. Und da sie am meisten für die Tätigkeiten gefragt sind, für die sie am geschicktesten sind, [281] können die Fähigkeiten der beiden Geschlechter, indem sie dem passenden Bedarf zugeordnet werden, im Ergebnis und im Großen und Ganzen die größte Summe an gesellschaftlichem Nutzen stiften.

[52]Als die natürliche Bestimmung der Frau gilt unter Männern allgemein die, Ehefrau und Mutter zu sein. Ich sage: gilt, denn auf dem Hintergrund der Tatsachen – der ganzen gegenwärtigen Verfassung der Gesellschaft – könnte man erwarten, dass ihre Ansicht in die genau entgegengesetzte Richtung geht. Man könnte erwarten, dass diese vermeintlich natürliche Bestimmung der Frauen ihrer Natur geradewegs zuwider ist. Denn da sie frei sind, etwas anderes zu tun, und da sie andere Möglichkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder ihre Zeit und Fähigkeiten auf Erstrebenswerteres zu verwenden, könnte man erwarten, dass es nicht genügend viele gibt, die gewillt sind, ihre vermeintlich natürliche Bestimmung zu akzeptieren. Falls dies aber tatsächlich die Ansicht der Männer ist, wäre es gut, sie laut und deutlich auszusprechen. Ich für meinen Teil jedenfalls würde gern jemanden offen aussprechen hören, was zu diesem Thema in schriftlicher Form häufig genug angedeutet wird: »Es ist notwendig für die Gesellschaft, dass die Frauen heiraten und Kinder kriegen. Das werden sie nur tun, wenn man sie dazu zwingt. Deshalb muss man sie dazu zwingen.« Erst dann würde richtig deutlich, wie es mit der Sache steht. Es würde mit ihr nicht anders stehen als mit der der Sklavenhalter von South Carolina und Louisiana: »Es ist notwendig, dass Baumwolle und Zuckerrohr angebaut werden. Weiße können das nicht. Neger werden es für den Lohn, den wir ihnen dafür geben, nicht tun. Ergo müssen sie dazu gezwungen werden.« Eine vielleicht noch treffendere Illustration ist die Zwangsrekrutierung von Matrosen: »Matrosen sind notwendig, um das Vaterland zu verteidigen. Es kommt vor, dass sie freiwillig dazu nicht bereit sind. Folglich muss man sie mit Gewalt dazu [53]pressen.« Wie oft ist diese Logik nicht angewendet worden! Und hätte sie nicht eine entscheidende Schwachstelle, wäre sie sicher noch heute in Gebrauch. Sie legt die Erwiderung nahe: »Bezahlt den Matrosen für ihre Arbeit erst einmal den redlichen Lohn. Wenn ihr sie so bezahlt, dass sie die Arbeit ebenso bereitwillig annehmen wie die anderer Arbeitgeber, werdet ihr keine größeren Schwierigkeiten als andere haben, ihre Dienste in Anspruch nehmen.« Darauf gibt es keine andere logische Antwort als: »Ich will nicht.« Und da man sich jetzt nicht nur schämt, den Arbeiter seines Lohns zu berauben, sondern dies auch nicht mehr will, hat das »Matrosenpressen« keine Verteidiger mehr. Doch diejenigen, die versuchen, die Frauen zur Heirat zu zwingen, indem sie ihnen alle anderen Türen verschließen, setzen sich demselben Vorwurf aus. Wenn sie meinen, was sie sagen, geht ihre Ansicht offensichtlich dahin, dass die Männer sich nicht der Mühe unterziehen sollten, den Frauen die Ehe so angenehm zu machen, dass sie diese um ihrer selbst willen wählen. Es ist kein Zeichen für die Wertschätzung dessen, was man anbietet, wenn man dem anderen keine Wahl lässt als »Friss oder stirb«. Und hier, meine ich, haben wir den Schlüssel zu den Ansichten der Männer, die eine ausgesprochene Antipathie gegen die Gleichberechtigung der Frauen haben. Meiner Meinung nach fürchten sie weniger, dass die Frauen überhaupt nicht heiraten wollen – ich kann mir nicht vorstellen, dass einer in Wirklichkeit diese Besorgnis hat –, sondern dass die Frauen für die Ehe gleiche Bedingungen fordern und Frauen mit Geist und Fähigkeiten es vorziehen könnten, lieber jede andere Beschäftigung zu wählen, die sie nicht als herabsetzend empfinden, als sich zu verheiraten, solange dies bedeutet, [282] sich der [54]Herrschaft eines Mannes zu überlassen, der Ansprüche nicht nur auf sie, sondern auch auf ihre gesamte irdische Habe hat. Und in der Tat: Solange die Heirat notwendig an diese Folge gekoppelt ist, scheint diese Befürchtung gut begründet. Auch halte ich es für wahrscheinlich, dass nur wenige Frauen, die zu irgendetwas anderem fähig sind – es sei denn, ein unwiderstehliches Entrainement mache sie eine Zeitlang für alles andere unempfänglich – sich entschließen könnten, ein solches Schicksal zu wählen, solange sie andere Chancen auf einen ehrenwerten Platz im Leben haben. Und solange die Männer entschlossen sind, das Gesetz der Ehe als Gesetz des Despotismus bestehen zu lassen, handeln sie vom Standpunkt der Klugheit nur folgerichtig, den Frauen nur die Wahl »Entweder dies oder gar nichts« zu lassen. In diesem Fall wäre allerdings alles, was bisher in der Welt geschehen ist, um die Frauen von den Fesseln im Kopf zu befreien, ein Fehler gewesen. Man hätte ihnen nie gestatten dürfen, sich eine literarische Bildung anzueignen. Frauen, die lesen, oder gar: Frauen, die schreiben, sind unter den bestehenden Verhältnissen widersprüchliche und störende Elemente. Man hätte sie niemals andere Dinge lernen lassen sollen, als sich für eine Odaliske oder eine Dienstmagd eignet.

Die Unterwerfung der Frauen

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