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Kapitel 3

Im Zugabteil waren fast alle Plätze besetzt. Golaz saß zwischen zwei älteren Damen und fühlte sich eingeengt. Dazu kam, dass ihn ein gegenüber sitzendes Kind ununterbrochen anstarrte.

Draußen schien die Sonne und brachte eine manchmal fast weiße Helligkeit auf die Felder, die vom Zugfenster aus in gleichmäßigem Tempo vorbeizogen. Golaz wagte sich kaum zu bewegen. Eine der beiden Begleitpersonen des Kindes – vermutlich der Vater – las in einer Zeitung. Die dazu gehörende Frau vermied es, die anderen Fahrgäste zur Kenntnis zu nehmen. Nur hin und wieder schaute sie kurz zu ihrem Kind, das seinen Blick einfach nicht von Golaz losreißen konnte. Lange hielt er das nicht mehr aus. Die Nähe all dieser Menschen stieß ihn ab.

Golaz erhob sich in seinem langen Ledermantel. Eine der beiden Damen rückte etwas zur Seite, die andere verharrte stur in ihrer Stellung, die Handtasche auf den Knien, die sich mit beiden Händen festhielt. Mit einem Ruck zog Golaz die Schiebetür des Abteils auf, trat in den Gang hinaus, schob die Tür wieder zu.

Hier draußen konnte er wieder richtig atmen, hier starrte ihn niemand an. Er lehnte sich gegen das Fenster, steckte sich eine Hand in die Manteltasche. Die Fahrt dauerte ja nicht mehr lange, und doch war ihm vorhin jede Minute wie eine Ewigkeit vorgekommen.

Eine Viertelstunde später fuhr der Zug in Basel ein. Golaz stand schon vor der Tür und stieg als einer der ersten aus. Eilig schritt er über den Bahnsteig und verließ den Bahnhof. Er hatte noch den ganzen Nachmittag vor sich.

Er war das erste Mal in Basel, und er wollte niemanden nach der gesuchten öffentlichen Badeanstalt befragen. Das St. Johanns-Quartier grenzte an den Rhein, das fand er schneller als erwartet heraus. Und so stieß er auch sehr bald auf die Badeanstalt. Er blieb keine Sekunde davor stehen, sondern schritt daran vorbei. Niemand sollte sich später an einen Mann in einem schwarzen Ledermantel erinnern können, der schon am Nachmittag die Gegend ausgekundschaftet hatte.

Wenn nur nichts an dem Plan geändert worden war! Der ahnungslose Fahrer der Speditionsfirma fuhr mit seinem Laster vermutlich so oder so vor die Badeanstalt. Aber würde sich das Geld auch wirklich im Hohlraum unter der Ladebrücke befinden?

Als es langsam dunkel wurde, machte sich Golaz zurück auf den Weg zur Badeanstalt. Planlos hatte er sich davor noch ein wenig die Stadt angesehen. Er schaute auf die Uhr: Viertel nach sechs. Er brauchte sich nicht besonders zu beeilen, und doch trieb ihn nun eine eigenartige Unruhe voran.

Er bezog gegenüber der Badeanstalt Stellung. Da immer wieder Passanten an ihm vorbeikamen, war das nicht ganz leicht. Er schritt unruhig auf und ab, hoffte, so nicht bemerkt zu werden. Seine Hand knöpfte unterhalb des Kragens den Ledermantel auf, fuhr hinein. Sie stieß gegen einen hölzernen Griff. An diesem Griff hatte Golaz sorgfältig eine verstärkte und unten scharf zugespitzte Fahrradspeiche befestigt, was das Ganze zu einer tödlichen Waffe machte. Schon seit dem frühen Morgen trug er das Ding so mit sich herum. Die Spitze wurde durch den eng geschnallten Mantelgürtel innen gegen den Hosenbund gedrückt und saß fest. In der einen Tasche hielt Golaz notfalls noch die Pistole bereit. Er hatte sich allerdings vorgenommen, nicht mitten in den Häusern zu schießen. Es musste alles möglichst lautlos geschehen, damit er mit den Kuriersäcken ungestört fliehen konnte.

Um fünf vor sieben fuhr ein Laster vor. Ein kleiner Mann mit Schiebermütze stieg aus, schlug die Tür zu und verschwand in der Badeanstalt. Golaz zweifelte nicht daran, dass es sich um das richtige Fahrzeug handelte, das er nun nicht mehr aus den Augen ließ.

Mitten in diese Anspannung hinein bellte direkt hinter Golaz ein Hund, sprang sogar gegen ihn. Golaz zuckte vor Schreck zusammen, und er hätte beinah seine spitze Waffe aus dem Mantel gezogen. Doch der Hund war an einer Leine und wurde durch den älteren Mann, der ihn führte, zurückgerissen. Als Golaz das erkannte, trat er bloß einen Schritt zurück.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Mann und wies dann demonstrativ seinen Hund zurecht.

Warum ging er nicht einfach hin und suchte unter der Ladebrücke nach den Geldsäcken? Warum kostbare Zeit verlieren und warten, bis dieser Mittelsmann kam?

Nein, das war zu riskant. Vermutlich wurde der Laster bereits beobachtet, um ihm richtigen Moment die Säcke zu holen. Golaz wäre dann, möglicherweise noch halb unter der Ladebrücke kauernd, der Situation hilflos ausgeliefert.

Er musste einfach warten, stellte sich zwischendurch kurz in einen Hauseingang, dann wieder in die Nähe eines Baumes. Sein Blick suchte ständig die Umgebung ab. Wie sah er wohl aus, dieser Mittelsmann, von dem Golaz ja wusste, dass er Stämpfli hieß?

Halb acht! Noch immer tat sich nichts. Ein bisschen unwohl fühlte sich Golaz schon. All zulange durfte er hier nicht mehr bleiben. Das fiel sonst auf. Doch um sich nun richtig zu verstecken, war es sowieso zu spät.

Endlich ein Mann, der auf der Höhe des Lasters stehen blieb, sich umschaute und dann von hinten mit einer schnellen Bewegung unter die Ladebrücke kroch. Zweimal pochte es dumpf, und schon stand der Mann wieder aufrecht. Er hielt etwas in den Händen, zwei, drei oder sogar vier kleinere Säcke. Ohne sich besonders zu beeilen, schritt er davon und bog dann links in Richtung Rheinufer ab.

Golaz überquerte die Straße und folgte ihm. Es war gut, dass der Mittelsmann zum Rhein hinunterging, wo sicher Ruhe und Dunkelheit herrschte.

Golaz kam ihm rasch näher. Der Weg zum Rheinufer war menschenleer. Golaz zog die spitze Waffe aus dem Mantel. Nur noch etwa zehn Meter trennten ihn von dem vielen Geld. Die Speiche würde zustechen, genau auf der richtigen Höhe, an der richtigen Stelle, lautlos durch die Kleidung, mitten hinein ins Herz dieses Stämpflis. Dieser durfte nicht einmal die Gelegenheit haben, einen kurzen Schrei auszustoßen. So hatte Golaz das alles geplant, und nun war es soweit – er brauchte es nur noch zu tun!

Plötzlich war da ein Schatten, er flog auf Stämpfli zu, eine dunkle Gestalt schälte sich heraus. »Los, gib die Säcke her!«, sprach eine dumpf klingende Stimme. Golaz konnte den ausgestreckten Arm mit der Pistole trotz Distanz und Dunkelheit erkennen. Der Mittelsmann Stämpfli wurde von der unbekannten Gestalt bedroht. Und die dumpfe Stimme sprach weiter: »Die Säcke, sonst lege ich dich um!« Es klang so, als würde durch eine Maske gesprochen.

Golaz drückte sich gegen einen Eisenzaun.

Stämpfli streckte beide Arme aus. Er hielt die Säcke in den Händen. Im gleichen Moment schlug er mit dem Fuß zu. Die dunkle Gestalt wurde an der Hand getroffen, die Pistole fiel zu Boden. Stämpfli ließ die Säcke los und griff an. Es entstand ein Kampf zwischen den beiden Männern.

Warum holte sich Golaz die Säcke nicht?

Dieser Stämpfli schaffte es, dem anderen Mann im Kampf die Maske vom Gesicht zu reißen.

»Krüger!«, keuchte er. »Sie sind es!«

Doch da hatte sich der demaskierte Mann schon losgerissen und feuerte, gekrümmt dastehend, drei Schüsse auf Stämpfli ab.

Nun erkannte auch Golaz den Mann ohne Maske. Es war einer der beiden Deutschen, die er in diesem Haus belauscht hatte, derjenige mit dem dunklen, dichten Haar und dem gepflegten Oberlippenbart. Krüger hieß er also!

Der Deutsche hob die Säcke mit einer hastigen Bewegung auf. In dem Haus, vor dem Golaz an den Eisenzaun gelehnt stand, ging ein Fenster auf. Aus einer anderen Richtung rief jemand: »Polizei! Da ist soeben geschossen worden!«

Golaz riss die Pistole aus der Manteltasche. Krüger rannte mit den Säcken davon. Golaz kam nicht zum Schuss. Er nahm aber die Verfolgung auf. Während er hinkend lief, holte er die zugespitzte Speiche am Holzgriff aus dem Ledermantel.

Sein Klumpfuß behinderte ihn. Sehr schnell verlor er auch die Orientierung. Krüger war weg, wie vom Erdboden verschluckt. Das gab es nicht! Hatte er sich in den Rhein geflüchtet, schwamm er gar davon? Golaz starrte auf das schwach glitzernde Wasser. Keine Spur von Krüger. Stattdessen vernahm er aus einiger Entfernung Stimmen. Polizei? Er musste weg von hier!

Vollkommen außer Atem kam Golaz eine Viertelstunde später auf dem Münsterplatz an. Dort setzte er sich auf eine Bank, um sich erst einmal zu verschnaufen. Doch die Gefahr, dass sie ihn hier noch erwischten, war zu groß. Also rannte er weiter. Er musste es schaffen, aus der Stadt herauszukommen. Hätte er sich nur besser ausgekannt. Vielleicht rannte er im Kreis herum? Der Rhein! Daran könnte er sich orientieren. Aber den hatte er inzwischen aus den Augen verloren. Er überquerte einen großen Platz. Hinter ihm gab es eine große Kirche. Welche Straße sollte er nun nehmen?

Endlich, er hatte die Stadt hinter sich gelassen. Erschöpft fiel er ins Gras. »Merde, so eine Scheiße!«, fluchte er. War nun alles verloren?

Der Meuchler

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