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DROMOLOGIE UND DROMOKRATIE

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Der bis heute bekannteste Vertreter der Geschwindigkeits- und Beschleunigungsforschung ist der 2018 verstorbene Paul Virilio. Auf ihn geht die Forderung nach dromologischen Untersuchungen zurück. Ausgehend vom griechischen dromos, dem Lauf, will die dromologische Fragestellung die Logik der Bewegung untersuchen, die gemäß ihrer Wortbedeutung gleichzeitig auch Wettlauf und Rennbahn ist.24 In diesem Ansatz ist eine zentrale These enthalten: Macht korreliert mit Geschwindigkeit. Diese nimmt in unterschiedlichen Epochen eine unterschiedlich große Rolle ein. Heute jedoch wirkt sie stärker denn je. Was sich etabliert, ist eine neue Herrschaftsform, die Dromokratie, verstanden als Gesellschaft, in der die Herrschaft des Schnelleren gilt, was für Virilio zugleich auch »Fahrgesellschaft« und »Jagdgesellschaft« bedeutet.25 Als Mittel der Durchsetzung dromokratischer Zustände sieht Virilio die Chronopolitik. Gemeint ist damit eine Fülle an Regulationsinstrumenten, um über »Rhythmus, Dauer, Tempo, Sequenzierung und Synchronisierung von Ereignissen und Aktivitäten«26 zu bestimmen, so die pointierte Zusammenfassung von Hartmut Rosa. Bei diesem wird Chronopolitik vor allem als Teil der Beschleunigungsdynamik, bei Virilio als Teil eines diffusen Machtkonzepts angedacht. Chronopolitik kann jedoch noch von einer anderen Seite hergeleitet werden. Sie entspricht einer Herrschafts- und Machtform des Kapitals, deren totalitäre Ausformung die Dromokratie darstellt.

Die Dromokratie ist die Herrschaft des Schnelleren. Wer über eine größere Geschwindigkeit verfügt, besitzt einen politischen wie finanziellen Vorteil. Entsprechend einig sind sich Industrie und Staat in den führenden Nationen, dass man der technologischen Entwicklung nicht hinterherhinken darf, sondern sie möglichst führend umsetzen muss. Der Staat wird zum Geschwindigkeitsmanager. Als präfigurierender Taktgeber der dromokratischen Geschwindigkeit tritt der Hochfrequenzhandel auf. Während sowohl der computerunterstützte als auch der computergenerierte Börsenhandel die Geschwindigkeit postfordistischer Finanzmärkte bereits rasant beschleunigten, ist seit einem Jahrzehnt eine neue qualitative Steigerung zu beobachten. Der Hochfrequenzhandel nimmt vorweg, worum es bei der Herrschaft des Schnelleren zukünftig gehen wird: Das Rennen um Echtzeit wird zum kostenintensiven Begleiter unternehmerischen als auch persönlichen Handelns. Sichtbar wird dies in der zeitgenössischen Unternehmerphilosophie. Jeff Bezos’ Wunsch, dass Amazon immer am ›Day 1‹ stehen bleibt, spiegelt den Drang nach Echtzeit, vergleichbar mit dem Wunsch verschiedener MillionärInnen, den menschlichen Alterungsprozess aufzuheben, um auch körperlich in der ewigen Gegenwart aufzugehen.

Die Dromokratie definiert unsere Ansprüche und funktioniert als umfassender ideologischer Reproduktionsmechanismus. Niemand geht davon aus, dass ein bei Amazon Prime bestellter und innerhalb eines Tages gelieferter Massenartikel die gleiche Qualität besitzt wie ein sorgfältig ausgewähltes Produkt. Doch Geschwindigkeit selbst wird zum neuen Qualitätsmerkmal, und den Artikel, den ich jetzt haben will, kann ich notfalls morgen in besserer Version erneut kaufen. Die temporale Ordnung der Konsumation und die Just-in-Time Delivery folgen auf die postfordistische Just-in-Time Production. Das leitende Gebrauchswertversprechen ist nunmehr die Gegenwart. Ein Ergebnis hiervon sind noch schnellere Umschlagszeiten, ein anderes ist der Verlust jeglicher Zeitsouveränität.

Die Dromokratie ist eine Fahrgesellschaft, in der sich der Mensch beständig bewegen muss, wie er ebenso beständig in Bewegung versetzt wird. Die Propagierung einer pausenlosen Bewegung, die Hoffnung auf eine kinetische Utopie27, in der Stillstand Regression bedeutet – das heißt: die Propagierung eines »produktivistischen Aktivismus«28 beziehungsweise der geschwindigkeitseuphorische Glaube daran, »ein Mehr und Besseres dadurch zu erreichen, dass man sich und/oder alles andere in Bewegung setzt«29, und dies immer schneller –, ist wesentlicher Bestandteil einer hegemonial werdenden Bewegungsideologie. Sichtbar wird dies im Gebrauchswertversprechen neuer Verkehrsmittel, die einen neuen affektiven Zugang zur Stadt versprechen, indem sie die Bevölkerung in kollektive Bewegung versetzen, in der Re-Romantisierung der Geschwindigkeit, die sich von ihrem fordistischen Adrenalinrausch gelöst hat und nunmehr Freiheit durch Kontrolle verspricht, oder im städteplanerischen Umgang mit Mobilität als integrativem Versprechen.

Die Fahrgesellschaft konkretisiert sich in der Aufhebung selbständiger Bewegung. Jeder Schritt zu Fuß ist einer zu viel. So gehört die Kommodifizierung der letzten Meile zur ersten Aufgabe der Dromokratie. Doch auch in größerem Maßstab werden wieder Verkehrsvisionen ausgegraben. Dazu gehören autonome Fahrzeuge, der anvisierte Warentransport unter der Erde oder rasante Züge auf Hyperloops, dank dem die fast schon vergessene – das heißt: neoliberal vernachlässigte und kaputtgesparte – Bahn plötzlich wieder interessant für staatliche Investitionen wird.

Die Dromokratie ist eine Jagdgesellschaft. Den Wettkampf um die größtmögliche Geschwindigkeit kennen Jäger wie Gejagte. Die treibende Kraft ist dabei ein allgegenwärtiger Synchronisationsdruck, der den Menschen und der Umwelt eine Höchstgeschwindigkeit aufzwingt. Synchronisation ist allerdings bei Weitem nicht immer erfolgreich. Anpassungen führen im besten Falle zu Reibungen und Wartezeiten, in anderen Fällen aber zu umfassenden gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen. Es entstehen Desynchronisationsprozesse, die zugleich Ausschluss bedeuten und produktive, sich vom universalisierten Rhythmus unterscheidende Beschleunigungserfahrungen und internalisierte Temporalitäten hervorrufen.

Als Jagdgesellschaft ist die Dromokratie im Wesentlichen eine Klassengesellschaft. Der Drang zur kinetischen Utopie bringt eine kinetische Elite sowie ausgeschlossene und verlangsamte Menschen hervor. Auf der einen Seite steht jene bourgeoise Gruppe, die in Hochgeschwindigkeit und grenzenlos um die Welt jettet, auf der anderen Seite stehen jene proletarisierten Schichten, die zur Immobilität gezwungen werden, sei es, indem sie die outgesourcte Arbeit in ihren Heimatländern übernehmen, indem sie an der Migration gehindert werden, oder indem sie in Terrordatenbanken erscheinen, die ihnen die problemlose Grenzüberquerung verunmöglichen.

Geschwindigkeit als gesellschaftliches Verhältnis ist immer ein Ergebnis einer staatlichen Infrastruktur, das heißt von Räumen, Grenzen, Überwachung und Kontrollen. Darin verborgen liegt zugleich die immanent militaristische Komponente der Dromokratie. Geschwindigkeit war zwar immer Teil einer militärischen Logik. So berichtete schon der chinesische Militärstratege Sun-Tsu, dass Schnelligkeit »die Essenz des Krieges«30 sei. Heute aber dehnt sich die militärische Dimension von machtvoller Geschwindigkeit aus und wird zum festen Bestandteil des zivilen dromokratischen Alltages.

Eine emanzipatorische Bewegung kämpft für die Politisierung der Geschwindigkeit. Die Dromokratie ist nicht mehr aufzuhalten. Der einzige Weg zur Selbstbestimmung liegt in der Politisierung der Geschwindigkeit und ihrer Zeiterfahrungen – dies bedingt das Wissen um die Historizität kapitalistischer Strukturen und Widersprüche. Diesem Wissen enthalten ist die Überzeugung, dass eine Perspektive jenseits rationalisierender leerer Zeit und chronopolitischer Machtmechanismen möglich ist.

1Vgl. Knight, Rob: Top 20 most annoying tech problems, The Independent, 26. 03. 2019, <https://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/techgadget-break-anger-top-problems-survey-a8840781.html>, Stand: 27. 09. 2019.

2Brutlag, Jake: Speed Matters for Google Web Search, Google, 22. 06. 2009, <http://services.google.com/fh/files/blogs/google_delayexp.pdf>. Nicht nachweisbar ist hingegen die oft gemachte Behauptung, Amazon habe berechnet, dass 100 Millisekunden Verzögerung zu einem Rückgang von einem Prozent im Verkauf führen.

3Vgl. Akamai: Online Retail Performance Report, 09. 04. 2017, <https://www.akamai.com/uk/en/about/news/press/2017-press/akamai-releases-spring-2017-state-of-online-retail-performance-report.jsp>, Stand: 27. 09. 2019.

4Vgl. Prenner, Thomas: Drei startet mit 5G-Netz in Linz, 20. 06. 2019, <https://futurezone.at/produkte/drei-startet-mit-5g-netz-in-linz/400528045>, Stand: 27. 09. 2019.

5Schamberg, Jörg: Vodafone: Blinde Skifahrerin fährt Steilhang mit Hilfe von 5G herunter, 14. 06. 2019, <https://www.onlinekosten.de/news/vodafoneblinde-skifahrerin-faehrt-steilhang-mit-hilfe-von-5g-herunter_220008.html>, Stand: 18. 09. 2019.

6Vgl. Capgemini: 5G. Expectations and use-cases for industrial companies, 06. 06. 2019, <https://www.capgemini.com/research/5g-in-industrial-operations>, Stand: 28. 09. 2019.

7Vgl. Bitkom: Großteil der deutschen Industrie plant mit 5G, <https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Grossteil-der-deutschen-Industrieplant-mit-5G>, Stand: 18. 09. 2019.

8Bleich, Holger: Deutsche Industrie setzt auf eigene 5G-Campusnetze, heise online, <https://www.heise.de/newsticker/meldung/Deutsche-Industrie-setzt-auf-eigene-5G-Campusnetze-4403687.html>, Stand: 18. 09. 2019.

9Vgl. Barclays: 5G: A transformative technology, 03. 04. 2019, <https://www.barclayscorporate.com/insights/innovation/5g-a-transformative-technology>, Stand: 26. 09. 2019.

10World Economic Forum: How 5G could speed up global growth, World Economic Forum, <https://www.weforum.org/agenda/2018/01/5g-mobile-speed-global-gdp-growth>, Stand: 18. 09. 2019.

11Vgl. Daum, Timo: Die künstliche Intelligenz des Kapitals, Hamburg 2019, S. 29.

12Vgl. Feustel, Robert: »Am Anfang war die Information«: Digitalisierung als Religion, Berlin 2018.

13Lücke, Hayo: Zu Besuch bei e.Go Mobile: So hilft 5G beim Autobau, inside digital, 19. 06. 2019, <https://www.inside-digital.de/news/zu-besuch-bei-e-go-mobile-so-hilft-5g-beim-autobau>, Stand: 18. 09. 2019.

14Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005; Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt am Main 2013; Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 2012.

15Vgl. Tomlinson, John: The Culture of Speed: The Coming of Immediacy, London 2007, S. 84.

16Agger, Ben: Time Robbers, Time Rebels: Limits to Fast Capital, in: Hassan, Robert; Purser, Ronald (Hg.): 24/7: Time and temporality in the network society, Stanford 2007, S. 230.

17Vgl. Agger, Ben: Fast capitalism. A critical theory of significance, Urbana 1989.

18Vgl. Luke, Timothy: Scanning Fast Capitalism: Quasipolitan Order and New Social Flowmations, in: Fast Capitalism 1, 01. 01. 2005, S. 82.

19Neben Harvey hat auch Henri Lefebvre immer auf diese Dialektik aufmerksam gemacht: »Einige Menschen beschweren sich aufgrund der Beschleunigung der Zeit, andere aufgrund der Stagnation. Sie haben beide Recht.« (Lefebvre, Henri: The Everyday and Everydayness, in: Yale French Studies (73), 1987, S. 10.)

20Vgl. Sullivan, Oriel; Gershuny, Jonathan: Speed-Up Society? Evidence from the UK 2000 and 2015 Time Use Diary Surveys, in: Sociology 52 (1), 01. 02. 2018, S. 20−38.

21Vgl. Schor, Juliet: The Overworked American: The Unexpected Decline Of Leisure, New York 1993; Sullivan; Gershuny: Speed-Up Society?, 2018, S. 24.

22Vgl. Robinson, John P.; Godbey, Geoffrey: Busyness as Usual, in: Social Research: An International Quarterly 72 (2), 2005, S. 407−426.

23»[…] la combinaison des formes d’ajustements des anticipations et des comportements contradictories des agents individuels aux principes collectifs qui houvernent les modes de produire et les modes de vivre« (Courlet, Claude; Pecqueur, Bernard: Les systèmes industriels localisés en France: un nouveau modèle de développement, in: Lipietz, Alain; Benko, Georges B. (Hg.): Les régions qui gagnent: districts et réseaux: les nouveaux paradigmes de la géographie économique, Paris 1992, S. 83).

24Vgl. Virilio, Paul; Lotringer, Sylvère: Der reine Krieg, Berlin 1984, S. 45.

25Virilio, Paul: Fahren, fahren, fahren …, Berlin 1978, S. 86.

26Rosa: Beschleunigung, 2005, S. 36.

27Der Begriff der kinetischen Utopie wird gemeinhin mit Peter Sloterdijk in Verbindung gebracht. Willi Erzgräber verwendete den Begriff allerdings schon früher, um die Werke von H. G. Wells zu charakterisieren. (Vgl. Erzgräber, Willi: Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur: Morus, Morris, Wells, Huxley, Orwell, München 1980, S. 110f. Den Hinweis hierzu verdanke ich Idler, Martin: Die Modernisierung der Utopie. Vom Wandel des Neuen Menschen in der politischen Utopie der Neuzeit, Berlin 2007, S. 148.)

28Bänziger, Peter-Paul: Fordistische Körper in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eine Skizze, in: Body politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 1 (1), 2013, S. 18.

29Klose, Alexander: Rasende Flaneure. Eine Wahrnehmungsgeschichte des Fahrradfahrens, Münster 2003, S. 54.

30Sun-Tsu: Die Kunst des Krieges, Frankfurt 2019, S. 58.

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