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Erstes Kapitel

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Wer an der nordamerikanischen Westküste lebt, weiß, dass jedes Jahr Hunderte von Vogelarten diesen Kontinentalsockel hinauf- und hinunterziehen. Eine von ihnen ist die Dachsammer. Dieser Sperlingsvogel fliegt im Herbst von Alaska ins nördliche Mexiko und kehrt im Frühjahr zurück. Anders als andere Vögel besitzt er die ungewöhnliche Fähigkeit, auf seinen Wanderungen sieben Tage lang wach bleiben zu können. Bei diesem jahreszeitlichen Verhaltensmuster kann er nachts fliegen und tagsüber Nahrung suchen, ohne ausruhen zu müssen. Das amerikanische Verteidigungsministerium hat in den letzten fünf Jahren große Summen in die Untersuchung dieser Vögel gesteckt. Mit Regierungsgeldern geförderte Wissenschaftler erforschten an verschiedenen Universitäten, vor allem in Madison/Wisconsin, ihre Gehirnaktivität während dieser langen Perioden der Schlaflosigkeit, um daraus auf Menschen übertragbare Erkenntnisse zu gewinnen. Man will herausfinden, wie Menschen ohne Schlaf auskommen und gleichzeitig effizient funktionieren können. Das Ziel ist zunächst ganz einfach der schlaflose Soldat, und das Dachsammerprojekt ist nur ein kleiner Teil der breiteren militärischen Anstrengung, zu einer zumindest begrenzten Herrschaft über den Schlaf zu gelangen. Im Auftrag der Forschungsbehörde des Pentagon (DARPA1) erproben Wissenschaftler an verschiedenen Instituten Techniken zur Schlafüberwindung, unter anderem durch Neurotransmitter, Gentherapie oder transkranielle Magnetstimulation. Kurzfristig geht es um die Entwicklung von Methoden, durch die ein Kombattant mindestens sieben Tage lang wach bleiben kann, langfristig vermutlich darum, diesen Zeitrahmen wenigstens zu verdoppeln und dabei ein hohes Maß an mentaler und körperlicher Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Die vorhandenen Methoden zur Schlafbekämpfung hatten immer kognitive und psychische Ausfallerscheinungen zur Folge (zum Beispiel verminderte Wachsamkeit). Das zeigt sich sowohl beim weitverbreiteten Einsatz von Amphetaminen in den meisten Kriegen des 20. Jahrhunderts als auch in jüngerer Zeit bei Medikamenten wie Modafinil. Das Ziel der Forschung besteht somit nicht darin, Methoden zum Wachhalten zu finden, sondern das körperliche Bedürfnis nach Schlaf zu verringern.

Seit über zwei Jahrzehnten ist die militärische Planungsstrategie der USA darauf ausgerichtet, das lebendige Individuum aus vielen Teilen der Befehls-, Steuerungs- und Durchführungsabläufe hinaus zu verlagern. Milliarden fließen in die Entwicklung automatischer oder ferngelenkter Zielsuch- und Tötungssysteme, was in Pakistan, Afghanistan und anderswo bestürzend deutlich sichtbar wurde. Trotz der überspannten Forderungen nach neuen Waffengenerationen und der ständigen Hinweise von Militäranalysten auf den Faktor Mensch als »Engstelle« moderner Systemabläufe dürfte aber in absehbarer Zukunft die Bedeutung großer menschlicher Armeen nicht geringer werden. Die Schlaflosigkeitsforschung lässt sich als Teil eines Versuchs begreifen, die körperlichen Fähigkeiten von Soldaten an die Funktionalität nichtmenschlicher Apparate und Netzwerke anzunähern. Der wissenschaftlich-militärische Komplex unternimmt gewaltige Anstrengungen, eine Form computergestützter Wahrnehmung (»augmented cognition«) zu entwickeln, die viele Arten der Mensch-Maschine-Interaktion verbessern soll. Gleichzeitig fördert das Militär andere Bereiche der Hirnforschung, unter anderem die Erfindung einer Droge zur Angstbekämpfung. Es wird Situationen geben, in denen zum Beispiel raketenbestückte Kampfdrohnen nicht einsetzbar sind, sodass man Todesschwadronen von schlafresistenten und angstunempfindlichen Kommandoeinheiten für zeitlich unbefristete Aufträge braucht. Als Teil dieser Bemühungen wurden Dachsammern aus den jahreszeitlichen Rhythmen des pazifischen Küstenmilieus herausgeholt, um zu erkunden, wie ein solches maschinelles Ausdauer- und Effizienzmodell auf den menschlichen Körper übertragen werden kann. Die Geschichte hat gezeigt, dass militärische Innovationen über kurz oder lang auch Aufnahme in allgemeinere soziale Lebensbereiche finden. Der schlaflose Soldat könnte so der Vorläufer des schlaflosen Arbeiters oder Verbrauchers sein. Anti-Schlaf-Pillen, aggressiv vermarktet von Pharmaunternehmen, könnten zunächst zu einer Lifestyle-Option und schließlich für viele zu einer Notwendigkeit werden.

Durchgehende Öffnungszeiten und die Möglichkeit, rund um die Uhr zu arbeiten oder einzukaufen, wurden schon längst eingeführt. Nun aber wird ein Mensch geschaffen, der auf diese Verhältnisse besser eingestellt ist.

Ende der neunziger Jahre kündigte ein russisch-europäisches Raumfahrtkonsortium den Bau und die Stationierung von Satelliten an, die Sonnenlicht auf die Erde reflektieren. Eine Kette von Satelliten mit ausgefalteten Parabolspiegeln aus papierdünnem Material sollte in 1 700 Kilometern Höhe in Umlaufbahnen gebracht und mit dem Sonnenstand synchronisiert werden. Bei einem Durchmesser von 200 Metern sollte jeder dieser Spiegelsatelliten ein Gebiet von zehn Quadratmeilen auf der Erdoberfläche mit der fast hundertfachen Helligkeit des Mondes beleuchten. Das Projekt war ursprünglich mit der Absicht entstanden, eine Beleuchtung für die industrielle Nutzbarmachung und extraktive Ausbeutung entlegener Gebiete in Sibirien und im nordwestlichen Russland zu schaffen, wo es lange Polarnächte gibt. Das sollte Außenarbeiten rund um die Uhr ermöglichen. Das Unternehmen erweiterte dann seine Pläne auf eine Nachtbeleuchtung für ganze Stadtregionen. Mit dem Argument der Einsparung von Stromkosten wurde dafür mit dem Slogan »Tageslicht die ganze Nacht« geworben. Sofort regte sich Widerstand von allen Seiten. Astronomen äußerten Bestürzung über die Konsequenzen für die Erkundung des Weltraums durch Bodenobservatorien. Wissenschaftler und Umweltaktivisten prophezeiten physiologische Schäden bei Mensch und Tier, weil das Fehlen regelmäßiger Tag-und-Nacht-Rhythmen verschiedene Stoffwechselvorgänge beeinträchtigen würde, unter anderem den Schlaf. Es gab auch Proteste von kulturellen und humanitären Gruppen, die den Nachthimmel zum menschlichen Gemeingut erklärten. Das Dunkel der Nacht zu erleben und die Sterne zu betrachten, sei ein grundlegendes Menschenrecht, das kein Unternehmen einfach kassieren könne. Falls dies tatsächlich ein Recht oder Privileg sein sollte, ist es für mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung schon längst außer Kraft gesetzt worden, da Städte ständig unter einer illuminierten Dunstglocke liegen. Befürworter des Projekts erklärten hingegen, diese Technologie könne den nächtlichen Stromverbrauch senken. Der Verlust des Nachthimmels und seiner Dunkelheit sei ein geringer Preis für den verminderten Energiekonsum. Wie dem auch sei – dieses letztlich unpraktikable Unternehmen ist ein konkretes Beispiel für ein modernes Imaginäres, in dem eine permanente Beleuchtung untrennbar verbunden ist mit dem Nonstop-Betrieb globaler Austausch- und Zirkulationsprozesse. In seinem unternehmerischen Wahn ist es der übertriebene Ausdruck einer vorherrschenden Unduldsamkeit gegenüber allem, was sich verdunkelnd oder verhindernd gegen eine instrumentalisierte, grenzenlose Sichtbarkeit sperrt.

Eine Form der Folter, die seit 2001 bei vielen Opfern außergerichtlicher Überstellung und anderen Inhaftierten angewandt wurde, war Schlafentzug. Die diesbezüglichen Fakten wurden bei einem bestimmten Häftling allgemein bekannt, seine Behandlung war aber vergleichbar mit dem Schicksal von Hunderten anderer, deren Fälle weniger gut dokumentiert sind. Mohammed al-Qahtani wurde gefoltert nach den Bestimmungen des »Ersten Sonderverhörplans« des Pentagon, unterzeichnet von Donald Rumsfeld. Zwei Monate lang wurde er fast ständig am Schlafen gehindert und oft zwanzigstündigen Verhören ausgesetzt. Er wurde in winzige Zellen gesperrt, ausgeleuchtet mit starken Scheinwerfern und beschallt mit lauter Musik, ohne sich hinlegen zu können. In militärischen Geheimdienstkreisen nannte man diese Gefängnisse »Dark Sites«, Dunkelkammern, während einer der Orte, in denen al-Qahtani eingekerkert war, den Codenamen »Camp Bright Lights« trug. Das war wohl nicht der erste Schlafentzug, der von Amerikanern oder ihren Verbündeten angewandt wurde. Es ist in mancher Hinsicht irreführend, den Schlafentzug herauszugreifen, weil er bei Mohammed al-Qahtani und vielen anderen nur Teil eines umfassenderen Programms von Schlägen, Demütigungen, Fesselungen und Scheinertränkungen war. Viele dieser »Programme« für außergerichtliche Häftlinge wurden eigens von Psychologen und speziellen Beraterteams zur Verhaltensforschung entwickelt, um gezielt die körperlich-emotionalen Verwundbarkeiten auszunutzen.

Schlafentzug als Folter lässt sich über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Seine systematische Anwendung fällt aber historisch zusammen mit der Verfügbarkeit von elektrischem Licht und Lautsprecheranlagen. Er wurde zuerst routinemäßig in den dreißiger Jahren von Stalins Geheimpolizei eingesetzt und war normalerweise der Auftakt für das, was die NKWD-Schergen das »Fließband« nannten – die organisierte Abfolge von Brutalitäten und sinnlosen Gewalttätigkeiten, die Menschen irreparabel verletzen. Diese Prozedur ruft nach relativ kurzer Zeit Psychosen und nach mehreren Wochen neurologische Schäden hervor. Bei Experimenten mit Ratten führt Schlaflosigkeit nach zwei bis drei Wochen zum Tod. Sie verursacht einen Zustand äußerster Hilflosigkeit und Willfährigkeit, in dem man dem Opfer aber keine sinnvolle Information mehr abpressen kann, weil es wahllos alles gestehen oder erfinden würde. Die Verweigerung von Schlaf ist die gewaltsame Enteignung des Selbst durch eine äußere Macht, die planmäßige Vernichtung des Individuums.

Natürlich wurde die Folter schon seit langem von den Vereinigten Staaten direkt oder über ihre Vasallenregime praktiziert. Das Neue nach dem 11. September ist aber die Leichtigkeit, mit der sie als ein kontroverses Thema neben anderen ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken konnte. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner die Anwendung von Folter unter bestimmten Umständen befürwortet. Dass Schlafentzug Folter sein soll, wird in den herrschenden Medien durchweg bestritten. Er wird vielmehr als psychologisches Druckmittel angesehen, das vielen genauso akzeptabel erscheint wie die Zwangsernährung hungerstreikender Häftlinge. Wie Jane Mayer in ihrem Buch The Dark Side berichtet, wurde Schlafentzug in Pentagon-Dokumenten zynisch damit gerechtfertigt, dass auch die Elitesoldaten der Navy Seals bei Übungseinsätzen 48 Stunden lang wach bleiben müssen.2 Entscheidend ist, dass die Behandlung der »Sonderhäftlinge« in Guantánamo und anderswo explizite Folterpraktiken mit einer vollständigen Kontrolle der sinnlichen Wahrnehmung verbindet. Die Insassen leben in fensterlosen Zellen bei ständiger Beleuchtung. Wenn sie herausgeführt werden, tragen sie Augen- und Ohrenklappen, damit sie weder wissen, ob Tag oder Nacht ist, noch sehen oder hören, wo sie sich aufhalten. Dieses System der sensorischen Deprivation umfasst oft auch die täglichen Kontakte zum Wachpersonal, das ihnen voll bewaffnet mit Handschuhen und Helm gegenübertritt, hinter einem nur halbdurchsichtigen Plexiglasvisier, sodass der Gefangene nie ein menschliches Gesicht, nicht einmal ein Stück Haut sehen kann. Zu diesen Techniken und Methoden, die eine erschreckende Willenlosigkeit hervorbringen sollen, gehört die Fabrikation einer Welt, die keinerlei Fürsorge, Schutz oder Beistand gewährt.

An dieser besonderen Konstellation aktueller Ereignisse lassen sich einige der vielfältigen Folgen neoliberaler Globalisierung und westlicher Modernisierungsprozesse ablesen. Ich möchte diesem Komplex keine besonders signifikante Erklärungskraft zubilligen. Er kann aber als vorläufiger Einstieg dienen, um Licht auf einige Paradoxien der expandierenden kapitalistischen Nonstop-Lebenswelt des 21. Jahrhunderts zu werfen – Paradoxien, die von den sich verändernden Verhältnissen zwischen Schlaf und Wachheit, Beleuchtung und Dunkelheit, Recht und Terror ebenso wenig zu trennen sind wie von den Formen der Exposition, Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit. Man könnte einwenden, dass ich bestimmte Ausnahme- oder Extremfälle herausgreife. Wenn dem so ist, sind sie aber nicht ohne Bezug zu dem, was sich andernorts zu normalen Bedingungen entwickelt hat. Eine dieser Bedingungen lässt sich als die allgemeine Einordnung menschlichen Lebens in eine ununterbrochene Zeitdauer bezeichnen, die dem Prinzip permanenten Funktionierens gehorcht. Es ist eine Zeit, die nicht mehr vergeht, jenseits der Uhrzeit.

Hinter dem platten Slogan 24/7 verbirgt sich eine statische Redundanz, die ihr Verhältnis zu den rhythmischen Periodisierungen des menschlichen Lebens verleugnet. Er beschwört das künstliche, eintönige Bild einer 7-Tage-Woche im 24-Stunden-Takt, das die Entfaltung vielfältigen oder kumulativen Erlebens verhindert. Man könnte zum Beispiel nicht einfach 24/365 sagen, weil dies die unbequeme Vorstellung einer größeren Zeitspanne ermöglichen würde, in der sich etwas verändern könnte, in der es unvorhergesehene Ereignisse gibt. Wie ich eingangs sagte, arbeiten schon seit Jahrzehnten viele Institutionen in der entwickelten Welt rund um die Uhr. Erst jetzt aber wird die persönliche und soziale Identität so umgeformt, dass sie mit der ununterbrochenen Tätigkeit der Märkte, Informationsnetze und anderer Systeme in Einklang gebracht wird. Ein 24/7-Milieu sieht aus wie eine soziale Welt, ist aber ein nichtsoziales Modell mechanischen Funktionierens, eine Aufhebung des Lebendigen, die nicht verrät, auf wessen Kosten seine Betriebsamkeit geht. Es unterscheidet sich von dem, was Lukács und andere im frühen 20. Jahrhundert als die leere, gleichförmige Zeit der Moderne erkannten, von der metrischen oder kalendarischen Zeit der Nationen, Finanzen und Industrien, aus der persönliche Hoffnungen oder Pläne verbannt waren. Das Neue ist die radikale Preisgabe jedweden Anspruchs, Zeit mit langfristigen Unternehmungen oder auch nur mit Vorstellungen von »Fortschritt« oder Entwicklung zu verbinden. Eine strahlende 24/7-Welt, die keinen Schatten wirft, ist die kapitalistische Endzeitvision eines Posthistoire, einer Austreibung der Alterität als dem Motor geschichtlichen Wandels.

24/7 ist eine Zeit der Gleichgültigkeit, der gegenüber die Fragilität menschlichen Lebens zunehmend inadäquat wird, eine Zeit, in der der Schlaf nicht länger notwendig oder gar unvermeidlich ist. Sie lässt die Vorstellung eines Arbeitens ohne Pause, ohne Ende plausibel, ja normal erscheinen. So verbindet sie sich mit dem Unbelebten, Inerten oder Alterslosen. Als plakative Mahnung ordnet sie die absolute Verfügbarkeit an, weckt ununterbrochen neue Bedürfnisse, die aber beständig unerfüllt bleiben. Die fehlende Einschränkung des Konsums ist keine nur zeitliche. Wir sind längst über die Epoche hinaus, in der vor allem Dinge akkumuliert wurden. Unsere Körper und Identitäten nehmen heute eine immer größere Menge von Dienstleistungen, Bildern, Verfahren oder Chemikalien auf, bis hin zu einem toxischen und oft tödlichen Übermaß. Das langfristige Überleben des Individuums steht immer zur Disposition, wenn die Alternative auch nur indirekt die Möglichkeit einräumen könnte, dass der Fortgang des Shoppens oder der Vermarktung unterbrochen werden könnte. Auf diese Weise ist das 24/7-Modell, das mit seiner Verkündung der ständigen Verausgabung, der unablässigen Vergeudung zum Zwecke seiner Selbsterhaltung letztlich die Kreisläufe und zeitlichen Rhythmen des ökologischen Gleichgewichts sprengt, untrennbar verbunden mit der Umweltkatastrophe.

Der Schlaf in seiner tiefen Nutzlosigkeit und Passivität, mit den von ihm verursachten, unkalkulierbaren Verlusten in der Zeit der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, wird mit den Ansprüchen einer 24/7-Welt stets kollidieren. Der gewaltige Teil unseres Lebens, in dem wir schlafen, befreit von einer Vielzahl vorgespiegelter Bedürfnisse, besteht als eines der großen menschlichen Ärgernisse für die Gefräßigkeit des heutigen Kapitalismus fort. Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit. Die meisten der scheinbar unhintergehbaren Notwendigkeiten menschlichen Lebens – Hunger, Durst, sexuelles Begehren und neuerdings auch das Bedürfnis nach Freundschaft – wurden in Waren- oder Geldform verwandelt. Schlaf aber bedeutet die Idee eines menschlichen Bedürfnisses und Zeitintervalls, das sich nicht von einer gewaltigen Profitmaschinerie vereinnahmen oder einspannen lässt, das eine sperrige Anomalie bleibt, ein Krisenherd in der globalen Gegenwart. Trotz aller wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet durchkreuzt und vereitelt er alle Strategien, ihn nutzbar zu machen und umzugestalten. Das Verblüffende, das Unbegreifliche ist, dass sich nichts Verwertbares aus ihm herausholen lässt.

Es sollte nicht überraschen, dass der Schlaf heute allenthalben beeinträchtigt wird, wenn man bedenkt, um was es wirtschaftlich geht. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat es beständig Einschnitte in die Zeit der Nachtruhe gegeben – der nordamerikanische Durchschnittsbürger schläft heute etwa sechseinhalb Stunden, gegenüber acht Stunden noch vor einer Generation und (man glaubt es kaum) zehn Stunden zu Beginn des Jahrhunderts. Die bekannte Formel »Wir verbringen ein Drittel unseres Lebens im Schlaf« schien Mitte des 20. Jahrhunderts eine axiomatische Gewissheit zu sein – eine Gewissheit, die immer fraglicher wird. Schlaf ist die allgegenwärtige, aber unbemerkte Reminiszenz einer nie vollständig überwundenen Prämoderne, der ländlichen Welt, die vor vierhundert Jahren zu versinken begann. Sein Ärgernis ist die Einbettung unseres Lebens in den rhythmischen Wechsel von Sonnenlicht und Dunkelheit, Tätigkeit und Ruhe, Arbeit und Erholung, der ansonsten ausgelöscht oder stillgestellt wurde. Natürlich hat auch der Schlaf eine Geschichte wie alles, was als natürlich gilt. Er war nie monolithisch oder unwandelbar, er nahm über die Jahrhunderte und Jahrtausende vielfältige Gestalten und Formen an. Marcel Mauss, der sich in den dreißiger Jahren mit Schlafen und Wachen in seiner Studie über »Techniken des Körpers« beschäftigt hat, zeigt, dass scheinbar instinktive Verhaltensmuster in allen erdenklichen Formen durch Nachahmung oder Erziehung erworben wurden.3 Trotzdem darf man annehmen, dass in der breiten Vielfalt vormoderner Agrargesellschaften entscheidende Merkmale des Schlafs dieselben blieben.

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts begann der Schlaf die feste Stellung zu verlieren, die er noch in aristotelischen oder Renaissancekontexten besessen hatte. Seine Unvereinbarkeit mit modernen Produktivitäts- und Rationalitätsbegriffen wurde konstatiert, und Descartes, Hume oder Locke waren nur einige der Philosophen, die den Schlaf wegen seiner Irrelevanz für Verstand und Erkenntnis in Misskredit brachten. Er wurde abgewertet angesichts der Hochschätzung von Bewusstsein und Willenskraft, von Nützlichkeit, Objektivität und eigennütziger Tätigkeit. Für Locke war er eine bedauerliche, wenngleich unvermeidliche Unterbrechung der gottgewollten menschlichen Priorität, arbeitsam und verständig zu sein. Schon im ersten Absatz von Humes Treatise on Human Nature wird Schlaf als Beispiel für Hindernisse der Erkenntnis in einen Topf mit Fieber und Wahnsinn geworfen. Mitte des 19. Jahrhunderts wird das asymmetrische Verhältnis von Schlafen und Wachen in hierarchischen Modellen begriffen, wenn der Schlaf als Regression in einen niederen, primitiveren Zustand gilt, der eine höhere, komplexere Denktätigkeit hemmt. Schopenhauer ist einer der wenigen Philosophen, die diese Hierarchie umkehren, wenn er sagt, dass wir nur im Schlaf zum »eigentlichen Kern des Lebens« vordringen.4

In vielerlei Hinsicht muss man den unsicheren Status des Schlafs auf die Dynamik einer Moderne beziehen, die jede Organisation der Wirklichkeit in binäre Gegensätze zunichte gemacht hat. Die homogenisierende Kraft des Kapitalismus ist unvereinbar mit der inneren Differenzierung in Heiliges und Profanes, Karneval und Alltag, Natur und Kultur, Maschine und Organismus. Alle fortbestehenden Begriffe von Schlaf als etwas Natürlichem werden inakzeptabel. Zwar werden Menschen nach wie vor schlafen. Auch brodelnde Megastädte werden nachts Phasen relativer Ruhe haben. Schlaf ist aber heute eine Erfahrung, die nicht mehr als eine Naturnotwendigkeit gilt. Wie vieles andere auch wird er als eine variable, aber kontrollierbare Funktion aufgefasst, die sich nur instrumentell und physiologisch bestimmen lässt. Neuere Forschungen zeigen, dass die Zahl der Menschen exponentiell zunimmt, die nachts ein- oder mehrmals aufstehen, um ihre Mails oder Daten zu checken. Eine scheinbar unlogische, aber verbreitete Bezeichnung ist der »Schlafmodus« (sleep mode) technischer Geräte. Der Begriff eines energiesparenden Bereitschaftszustands lässt den umfassenderen Sinn von Schlaf zum bloß verzögerten oder verminderten Zustand der Funktionsfähigkeit und Verfügbarkeit werden. Er verdrängt das »Ein/Aus«-Prinzip. Nichts ist mehr richtig »aus«. Nie gibt es einen wirklichen Schlafmodus.

Schlaf ist die irrationale, unannehmbare Bestätigung der Tatsache, dass lebendige Wesen mit den vermeintlich unwiderstehlichen Kräften der Modernisierung nicht grenzenlos kompatibel sind. Es gehört heute zu den Gemeinplätzen kritischen Denkens, dass es keine Naturkonstanten gibt – nicht einmal den Tod, wenn man den Vorhersagen glaubt, dass wir unsere Verstandesdaten bald abspeichern können, um digital unsterblich zu sein. Dass Lebewesen sich von Maschinen durch entscheidende Merkmale unterscheiden, sei eine naive Selbsttäuschung, teilen uns bekannte Theoretiker mit. Wer sollte etwas dagegen haben, wenn man dank neuartiger Pillen hundert Stunden lang durcharbeiten kann? Würde nicht eine flexible und reduzierte Schlafdauer mehr persönliche Freiheit bedeuten, die Möglichkeit, sein Leben mit individuellen Bedürfnissen und Wünschen besser in Einklang zu bringen? Würde nicht weniger Schlaf die Chancen erhöhen, »sein Leben voll auszuleben«? Man könnte einwenden, dass Menschen nachts schlafen müssen, dass unser Körper auf die tägliche Erdumdrehung eingestellt ist und dass in fast jedem Organismus periodische und sonnenreaktive Verhaltensweisen auftreten. Diese Einwände würden vermutlich als New-Age-Spinnereien oder, schlimmer noch, als ominöse Sehnsüchte nach heideggerianischer Erdverbundenheit abgetan. Im neoliberal-globalistischen Denken ist Schlafen nur etwas für Verlierer.

Im 19. Jahrhundert, nach den schlimmsten Auswüchsen der Industrialisierung, kamen Fabrikmanager, wie Anson Rabinbach in seiner Arbeit über die »Ermüdungswissenschaft« gezeigt hat,5 zu der Erkenntnis, dass es profitabler ist, wenn man den Arbeitern kleinere Ruhezeiten gewährt, damit sie auf längere Sicht effizienter und ausdauernder sind. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch und bis in die Gegenwart, mit dem Zusammenbruch kontrollierter oder gemilderter Formen des Kapitalismus in Europa und den Vereinigten Staaten, gibt es für Ruhe und Erholung als Komponenten von Wirtschaftlichkeit und Wachstum keine innere Notwendigkeit mehr. Ruhe- und Erholungszeit ist einfach zu kostspielig geworden, um im heutigen Kapitalismus strukturell möglich zu sein. Teresa Brennan hat für die brutalen Diskrepanzen zwischen den zeitlichen Abläufen deregulierter Märkte und den körperlichen Grenzen der Menschen, die sich auf diese Anforderungen einstellen müssen, den Begriff der »Bioderegulation« geprägt.6

Der Verfall des langfristigen Werts lebendiger Arbeit liefert keinen Anreiz, um Ruhe oder Gesundheit zu wirtschaftlichen Prioritäten zu machen, wie neuere Diskussionen zur Gesundheitsfürsorge zeigen. Es gibt (mit der kolossalen Ausnahme des Schlafs) nur noch ganz wenige bedeutsame Interludien menschlichen Lebens, die nicht als Arbeits-, Konsum- oder Vermarktungszeit ausgefüllt und vereinnahmt wurden. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben in ihrer Analyse des heutigen Kapitalismus die Kräftekonstellation beschrieben, die zur Aufwertung eines ständig sich engagierenden, einschaltenden, interagierenden, kommunizierenden, reagierenden oder mit einer telematischen Umgebung vernetzten Individuums führt. In den globalen Wohlstandsregionen habe sich dies durch eine weitgehende Auflösung der Grenzen zwischen Arbeit und Konsum oder zwischen privater und berufstätiger Zeit vollzogen. Im herrschenden »konnexionistischen« Denken würde Aktivität um ihrer selbst willen am höchsten belohnt. »Immer etwas zu tun, etwas zu unternehmen, sich zu verändern – das wird geschätzt, anders als Stabilität, die oft gleichgesetzt wird mit Untätigkeit.«7 Dieses Tätigkeitskonzept beruht nicht etwa auf einer älteren Arbeitsethik. Es ist ein ganz neues Modell normierten Verhaltens, das zu seiner Realisierung Zeitstrukturen im 24/7-Modus verlangt.

Um kurz zurückzukommen auf das oben erwähnte Projekt: Der Plan, riesige Reflektoren in den Orbit zu schießen, damit sie das Sonnenlicht spiegeln und das Dunkel der Nacht eliminieren, hat etwas Skurriles und wirkt wie ein Low-Tech-Relikt aus einer mechanistischen Utopie von Jules Verne oder wie ein Science-Fiction-Roman aus dem frühen 20. Jahrhundert. Tatsächlich waren die ersten Probestarts nicht allzu erfolgreich – das eine Mal wurden die Reflektoren nicht in der richtigen Position ausgespannt, ein anderes Mal verhinderten dichte Wolken über der Versuchsstadt eine überzeugende Demonstration. Die Ambitionen dieses Projekts stehen offenbar in der Tradition panoptischer Praktiken, die in den letzten zweihundert Jahren entwickelt wurden. Es deutet etwa zurück auf die Bedeutung der Beleuchtung in Benthams Modell des Panoptikums, wo ein den Raum durchflutendes Licht, das keine Schatten wirft, für eine lückenlose Beobachtbarkeit und Überwachung sorgt.8 Doch haben seit einigen Jahrzehnten andere Arten von Satelliten Überwachungsoperationen und Datensammlungen viel raffinierter betrieben. Ein modernisierter Panoptismus hat sich über sichtbare Lichtwellen hinaus auf andere Teile des Spektrums erweitert, ganz zu schweigen von allen möglichen nichtoptischen Scannern oder Wärme- und Biosensoren. Das Satellitenprojekt lässt sich vielleicht eher als Fortsetzung von stärker nützlichkeitsorientierten Maßnahmen des 19. Jahrhunderts begreifen. Wolfgang Schivelbusch zeigt in seiner Geschichte der Stadtbeleuchtung, dass die allgemeine Einführung von Straßenlaternen in den 1880er-Jahren zwei miteinander verbundene Ziele erreichte: Sie hat die alten Ängste vor den Gefahren nächtlicher Dunkelheit stark reduziert und gleichzeitig den zeitlichen Rahmen vieler wirtschaftlicher Aktivitäten erheblich vergrößert, mithin auch deren Einträglichkeit.9 Die Illuminierung der Nacht war ein symbolischer Beweis für das, was Apologeten des Kapitalismus das gesamte 19. Jahrhundert hindurch verkündet hatten: Sie stellte die doppelte Garantie von Sicherheit und erweitertem allgemeinen Wohlstand dar, indem sie die Einrichtung des sozialen Lebens für alle verbessern sollte. So gesehen, ist der Siegeszug der Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft eine Verwirklichung dieses älteren Projekts – nur mit den Segnungen eines Wohlstands, der vor allem einer mächtigen globalen Elite zufällt.

Der 24-Stunden-Takt unterläuft beständig die Abgrenzung zwischen Tag und Nacht, Dunkelheit und Licht, Ruhe und Tätigkeit. Er schafft eine Zone der Unempfindlichkeit, eine Sphäre der Amnesie, die jede Möglichkeit von Erfahrung zunichte macht. Mit Maurice Blanchot gesprochen, ist er die Katastrophe selbst und ihr Danach, der leere Himmel, in dem kein Stern, kein Zeichen mehr sichtbar ist, in dem jede Orientierung verlorengeht.10 Er gleicht, konkreter gesagt, einem Ausnahmezustand, als würde mitten in der Nacht aufgrund außergewöhnlicher Umstände plötzlich eine Batterie von Scheinwerfern aufleuchten, die nicht mehr ausgeschaltet werden. Der Globus wird als 24-Stunden-Betrieb gedacht, als durchgehend geöffnetes Einkaufszentrum mit einer unendlichen Anzahl von Dingen, Aufgaben, Wahlmöglichkeiten und Ablenkungen. Schlaflosigkeit ist der Zustand eines pausenlosen Produzierens, Konsumierens und Wegwerfens, das die Erschöpfung des Lebens und die Vergeudung der Ressourcen vorantreibt.

Als das verbliebene Haupthemmnis – das letzte der von Marx so genannten »Naturhindernisse« – für die vollständige Durchsetzung des 24/7-Kapitalismus lässt sich der Schlaf nicht beseitigen. Er lässt sich aber zerrütten und aushöhlen, und die Methoden und Triebkräfte dieser Zerrüttung sind voll am Werk, wie meine Eingangsbeispiele zeigen. Die Beeinträchtigung des Schlafs ist untrennbar verbunden mit dem Abbau sozialer Sicherungen in anderen Bereichen. Genauso wie weltweit der allgemeine Zugang zu sauberem Trinkwasser durch Verschmutzung und Privatisierung systematisch zunichte gemacht wurde, mit dem Resultat der Vermarktung von Wasser in Plastikflaschen, ist eine ähnliche künstliche Verknappung auch beim Schlaf leicht zu erkennen. Die Summe aller Beeinträchtigungen ruft jene Insomnie hervor, in der Schlaf letztendlich gekauft werden muss (auch wenn man dabei für einen chemisch modifizierten Zustand bezahlt, der nur annähernd dem richtigen Schlaf entspricht). Nach Statistiken zum steigenden Schlaftablettenkonsum bekamen im Jahr 2010 rund 50 Millionen Amerikaner Präparate wie Ambien oder Lunesta verschrieben, viele weitere Millionen kauften rezeptfreie Schlafmittel. Es wäre aber abwegig zu glauben, dass eine Verbesserung der gegenwärtigen Verhältnisse die Menschen tief schlafen und erholt aufwachen ließe. Denn Schlaflosigkeit dürfte heutzutage auch in einer weniger repressiven Welt kaum zu beseitigen sein. Ihre geschichtliche Bedeutung und ihre besondere Gefühlsstruktur verdankt sie kollektiven Erfahrungen, die ihr äußerlich sind. Sie ist nicht mehr zu trennen von vielen weiteren weltweiten Formen der Enteignung und des sozialen Verfalls. Als aktuelles Phänomen individuellen Verlusts hängt sie zusammen mit einer allgemeinen Weltlosigkeit.

Der Philosoph Emmanuel Levinas ist einer der Denker, die sich mit der Bedeutung von Schlaflosigkeit im Kontext der neueren Geschichte beschäftigt haben.11 Schlaflosigkeit ist, wie er erklärt, eine Form, der extremen Schwierigkeit individueller Verantwortung angesichts der Katastrophen unserer Zeit innezuwerden. Bestandteil der modernisierten Welt, in der wir leben, ist die allgegenwärtige Sichtbarkeit sinnloser Gewalt und des von ihr verursachten menschlichen Leids. Diese Sichtbarkeit, in all ihren gemischten Formen, müsste jede Beschaulichkeit zutiefst verstören und die geruhsame Sorglosigkeit des Schlafs ausschließen. Schlaflosigkeit entspricht der Notwendigkeit von Wachheit, einer Weigerung, über den Schrecken und die Ungerechtigkeit der Welt hinwegzusehen. Sie ist die Unruhe der Anstrengung, nicht teilnahmslos zu sein gegenüber den Qualen des Anderen. Ihre Unruhe zeigt aber auch die frustrierende Unwirksamkeit einer Ethik der Wachsamkeit. Der Akt des Miterlebens und seine stetige Wiederholung können zu einem bloßen Erdulden der Nacht oder des Unheils werden; er ist weder öffentlich noch gänzlich privat. Schlaflosigkeit schillert für Levinas immer zwischen Selbstabsorption und radikaler Entpersonalisierung; sie schließt Teilnahme für den Anderen nicht aus, bietet aber auch keinen Raum für dessen Anwesenheit. In ihr werden wir der praktischen Unmöglichkeit gewahr, menschlich zu leben. Denn Schlaflosigkeit ist nicht zu verwechseln mit ungemilderter Wachheit, ihrer fast unerträglichen Aufmerksamkeit für das Leiden und die Grenzenlosigkeit der Verantwortung, die geboten wäre.

Eine 24/7-Welt mit ihrer Auslöschung von Schatten und Dunkelheit, von wechselnden Zeitlichkeiten, ist eine entzauberte Welt. Sie ist eine mit sich identische Welt, eine Welt mit der denkbar oberflächlichsten Vergangenheit, im Grunde also eine Welt ohne Gespenster. Die Einheitlichkeit der Gegenwart ist aber nur ein Effekt der trügerischen Helligkeit, die sich überall ausbreiten will, die jedes Geheimnis, alles Unerkennbare zu vereinnahmen sucht. Eine 24/7-Welt erzeugt eine Scheinäquivalenz zwischen dem unmittelbar Verfügbaren, dem Zugänglichen oder Verwendbaren und dem Bestehenden. Das Gespenstische ist gleichsam das Eindringen oder Einbrechen von etwas außerhalb der Zeit in die Gegenwart, der Geister dessen, was die Moderne nicht ausgelöscht hat, der Opfer, die nicht zu vergessen sind, der unerfüllten Emanzipation. Die Mechanismen des Rund-um-die-Uhr-Betriebs können viele verstörende Erfahrungen der Wiederkehr ausschalten oder absorbieren, die die Wirklichkeit und Identität der Gegenwart aufbrechen und ihre scheinbare Selbstgenügsamkeit sprengen könnten. Eine der hellsichtigsten Beschäftigungen mit dem Ort des Gespenstischen in einer illuminierten Welt ist Andrej Tarkowskys Film Solaris (1972). Es ist die Geschichte von Wissenschaftlern, die in einem Raumschiff einen geheimnisvollen Planeten umkreisen, um Unstimmigkeiten mit bestehenden wissenschaftlichen Theorien zu erforschen. Für die Bewohner der hell erleuchteten künstlichen Umwelt der Raumstation ist Schlaflosigkeit chronisch. In diesem ruhe- und rückzugsfeindlichen Milieu, in dem man exponiert und externalisiert lebt, kommt es zu einem kognitiven Kontrollverlust. Man wird unter diesen extremen Bedingungen nicht nur von Halluzinationen geplagt, sondern auch von Geistern heimgesucht, im Film »Besucher« genannt. Die sinnliche Verarmung in der Raumstation und der Verlust der Tageszeit lockert den psychischen Gegenwartsbezug, lassen den Traum als Träger der Erinnerung ins Wachleben dringen. Für Tarkowsky ist es diese Nähe des Gespenstischen und der lebendigen Kraft des Erinnerns, die es erlaubt, in einer unmenschlichen Welt menschlich zu bleiben. Schlaflos und exponiert zu sein, wird dadurch erträglich. Solaris, entstanden in den experimentellen Nischen des sowjetischen Kulturbetriebs der frühen siebziger Jahre, zeigt, dass die Anerkennung und Bejahung dieser gespenstischen Wiederkehr, nach wiederholten Verleugnungen und Verdrängungen, ein Weg ist, um Freiheit oder Glück zu erreichen.

Ein Strang der heutigen politischen Theorie begreift Exponiertheit als ein grundlegendes oder transhistorisches Merkmal dessen, was seit jeher ein Individuum ausmacht. Statt autonom oder autark zu sein, lässt sich das Individuum nur im Verhältnis zu dem verstehen, was ihm äußerlich ist, in Bezug auf ein Anderes, das ihm gegenübersteht.12 Nur in dieser Verwundbarkeit kann es sich den Abhängigkeiten öffnen, von denen die Gesellschaft getragen wird. Wir befinden uns aber in einem geschichtlichen Moment, in dem diese nackte Exponiertheit herausfällt aus ihrem Zusammenhang mit Gemeinschaftsformen, die zumindest versucht haben, Schutz oder Fürsorge zu bieten. Besonders bedeutsam ist die Erforschung dieser Probleme im Werk Hannah Arendts. Viele Jahre lang bediente sie sich bei ihrer Beschreibung dessen, was für ein wirklich politisches Leben notwendig ist, der Bilder von Licht und Sichtbarkeit. Das Individuum braucht, um politisch zu wirken, ein Gleichgewicht, ein Hin und Her zwischen der hellen, oft harten Exponiertheit öffentlicher Tätigkeit und der geschützten, abgeschirmten Sphäre des häuslichen oder privaten Lebens, von ihr »die Dunkelheit des Verborgenen und Geborgenen« genannt. Sie spricht auch vom »Zwielicht, das unser intimes Privatleben erhellt«.13 Ohne diesen Raum oder diese Zeit der Privatheit, abseits vom »blendend unerbittlichen Licht, das aus der Öffentlichkeit strahlt«,14 gäbe es keine Möglichkeit, eine besondere Identität zu entwickeln, ein eigenes Ich, das einen substanziellen Beitrag zu den Diskussionen über das Gemeinwohl zu liefern vermag.

Für Hannah Arendt ist die private Sphäre zu unterscheiden vom individuellen Streben nach materiellem Glück, in dem das Ich durch Habgier und Konsum bestimmt ist. In Vita activa beschrieb sie diese beiden Bereiche in einem rhythmischen Gleichgewicht von Erschöpfung und Erholung: einer Erschöpfung, die aus der Arbeit oder Aktivität in der Welt resultiert, und einer Erholung, die sich im Schatten abgeschirmter Häuslichkeit einstellt. Sie war sich bewusst, dass ihr Modell einer Wechselbeziehung von Öffentlichkeit und Privatheit, als zweier Spären, die sich gegenseitig aufrechterhalten, historisch nur selten verwirklicht wurde. Selbst die Möglichkeit eines derartigen Gleichgewichts sah sie aber von Grund auf bedroht durch den Aufstieg einer Ökonomie, die »die Dinge fast so schnell, wie sie in der Welt erscheinen, auch wieder aufbraucht und wegwirft«, was jede Anerkennung gemeinsamer Interessen oder Ziele unmöglich macht. Mitten im Kalten Krieg der fünfziger Jahre hatte sie die Weitsicht zu schreiben: »Denn lebten wir wirklich in einer solchen Konsumgesellschaft, so würden wir überhaupt nicht mehr in einer Welt wohnen, sondern weltlos getrieben werden von einem Prozess«, in dem Dinge »erscheinen und verschwinden«.15 Sie sah auch, dass das »öffentliche« Leben und die Arbeitswelt von den meisten Menschen als Entfremdung erfahren wurde.

Es gibt viele bekannte und verwandte Äußerungen, von William Blake (»Bewahre uns Gott vor Einäugigkeit und Newtons Schlaf«) über Carlyle (»unsere vornehmsten Fähigkeiten sind überdeckt von nachtmährischem Schlaf«) und Emerson (»Der Schlaf umwabert lebenslang unseren Blick«) bis Guy Debord (»Das Spektakel drückt nichts anderes aus als den Wunsch der Gesellschaft zu schlafen«).16 Man könnte leicht Hunderte weiterer Beispiele für diese umgekehrte Charakterisierung des wachen Anteils im modernen gesellschaftlichen Erleben anführen. Das Bild einer Gesellschaft von Schlafenden kommt von rechts und von links, aus der hohen und der niederen Kultur; es war ein beständiges Filmmotiv, von Caligari bis Matrix. Gemeinsam ist all diesen Beschwörungen einer massenhaften Somnambulie die Annahme beeinträchtigter oder verminderter Wahrnehmungskräfte, die sich mit standardisiertem, habitualisiertem oder umnachtetem Verhalten verbinden. Der Großteil der herrschenden Gesellschaftstheorie schreibt vor, dass moderne Individuen zumindest periodisch in wesentlich schlafunähnlichen Zuständen leben – Zuständen der Bewusstheit, in denen man dazu imstande ist, sich als ein rationaler und objektiver Teilnehmer am öffentlichen oder politischen Leben über Ereignisse und Informationen ein Urteil zu bilden. Alle Haltungen, in denen Menschen als handlungsunfähig erscheinen, als für Manipulation oder Konditionierung zugängliche, passive Automaten, werden normalerweise als regressiv oder unzurechnungsfähig betrachtet.

Gleichzeitig werden die meisten Begriffe politischen Erwachens als genauso verstörend empfunden, weil sie von einem plötzlichen irrationalen Bekehrungsprozess ausgehen. Man denke nur an die Wahlparole der Nazipartei in den frühen dreißiger Jahren: »Deutschland erwache!« Historisch weiter zurück liegt die Paulus-Stelle im Römerbrief: »Die Stunde ist da, aufzustehen vom Schlaf […]: so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.«17 Näher und zäher wiederum der Ruf der Ceauşescu-Gegner von 1989: »Wacht auf, Rumänen, aus eurem tiefen Schlaf, in den ihr durch des Tyrannen Hand versetzt worden seid!« Politische und religiöse Erweckungen werden für gewöhnlich in Wahrnehmungsbegriffen artikuliert, als die wiedererlangte Fähigkeit, durch den Schleier hindurch die Realität zu erkennen, eine verkehrte Welt von der richtigen zu unterscheiden oder zurückzufinden zu einer verlorenen Wahrheit, die alles, woraus man erwacht ist, negiert. Als epiphanische Aufrüttelung aus der tumben Bequemlichkeit des Alltagslebens bedeutet Erwachen das Wiedererlangen des Wirklichen im Gegensatz zur betäubten Leere des Schlafs. Erwachen ist, so gesehen, eine Form des Dezisionismus: die Erfahrung eines erlösenden Moments, eines Bruchs in der geschichtlichen Zeit, in dem das Individuum in der Begegnung mit einer bislang unbekannten Zukunft eine Selbstveränderung erfährt. Nur ist diese ganze Kategorie von Bildern und Metaphern heute unvereinbar mit einem globalen System, das nie schläft – als wolle es sicherstellen, dass kein störendes Erwachen je notwendig oder bedeutsam wird. Wenn von der Dämmerungs- und Sonnenaufgangs-Ikonographie überhaupt etwas bleibt, dann die Forderung Nietzsches, mit den Worten des Sokrates, nach dem »Tageslicht in Permanenz«, dem »Tageslicht der Vernunft«.18 Doch hat sich seit der Zeit Nietzsches ein ungeheurer, irreversibler Transfer menschlicher »Vernunft« auf den 24-Stunden-Betrieb der Datennetze vollzogen und auf die endlose Übertragung von Licht durch Glasfaserverbindungen.

Paradoxerweise ist Schlaf sowohl das Bild für eine Subjektivität, auf welche die Macht mit dem geringsten politischen Widerstand einwirken kann, wie gleichzeitig eine Situation, die von außen letztlich nicht kontrolliert oder instrumentalisiert werden kann – die den Forderungen der globalen Konsumgesellschaft also entgeht oder widersteht. Es muss kaum gesagt werden, dass die vielen gesellschaftlichen oder kulturellen Klischees auf einem monolithischen oder flachen Begriff von Schlaf beruhen. Maurice Blanchot, Maurice Merleau-Ponty und Walter Benjamin sind nur einige Denker des 20. Jahrhunderts, die über die tiefe Ambivalenz des Schlafs und über die Unmöglichkeit nachgedacht haben, ihn in ein binäres Schema zu pressen. Gewiss muss Schlaf in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem, Individuellem und Kollektivem begriffen werden, aber stets eingedenk der Durchlässigkeit und Unschärfe beider Elemente dieser binären Gegensatzpaare. Worauf ich hinauswill, ist, dass Schlaf im Kontext unserer Gegenwart für die Beständigkeit des Sozialen stehen kann und dass er mit anderen Schwellen vergleichbar wäre, an denen sich die Gesellschaft schützen oder verteidigen könnte. Als der privateste, verletzlichste Zustand, der allen gemeinsam ist, ist der Schlaf zu seiner Aufrechterhaltung wesentlich abhängig von der Gesellschaft.

In Thomas Hobbes’ Leviathan ist eines der lebendigsten Beispiele für die Unsicherheit des Naturzustands die Wehrlosigkeit des Schlafenden gegenüber den vielen Gefahren und Raubüberfällen, die nachts zu befürchten sind. Es ist also eine elementare Verpflichtung des Gemeinwesens, für die Sicherheit des Schlafenden zu sorgen, nicht nur vor wirklichen Gefahren, sondern auch – nicht weniger entscheidend – vor der Angst vor ihnen. Der Schutz des Schlafenden durch das Gemeinwesen entsteht im Rahmen einer breiteren Umgestaltung des gesellschaftlichen Verhältnisses von Schlaf und Sicherheit. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begegnet man noch den Resten einer imaginären Hierarchie, in der die übermenschlichen Fähigkeiten eines Herrn oder Herrschers, dessen allwissende Kräfte, zumindest symbolisch, nicht vom Schlaf übermannt werden, unterschieden sind von den körperlichen Bedürfnissen gewöhnlicher arbeitender Männer und Frauen. Doch wird dieses hierarchische Modell in Shakespeares Heinrich V. und in Cervantes’ Don Quixote gleichzeitig zum Ausdruck gebracht und ausgehöhlt. Für König Heinrich besteht der wirkliche Unterschied nicht einfach zwischen Schlafen und Wachen, sondern zwischen einer im Laufe der »ganz durchwachten Nacht« bewiesenen Wachsamkeit und dem gesunden Schlaf und »ledgen Mut« der kleinen Grundbesitzer und Bauern.19 Sancho Pansa teilt, von einem anderen Standpunkt, die Welt ein in jene, die, wie er selbst, zum Schlafen geboren sind, und in jene, die zum Wachen geboren sind wie sein Herr. In beiden Werken gibt es, auch wenn oberflächlich die mit dem Rang verbundenen Verpflichtungen noch existieren, ein gleichzeitiges Bewusstsein der Überlebtheit und des rein formalen Fortbestehens dieses paternalistischen Modells der Wachsamkeit.

Das Werk von Hobbes ist ein wichtiger Hinweis auf einen Wandel in Bezug auf die Gewährleistung sowohl der Sicherheit als auch der Bedürfnisse des Schlafenden. Neue Gefahren haben jene verdrängt, die Heinrich V. und den Herrn Sancho Pansas umtrieben. Diesen Gefahren wird mit Verträgen begegnet, die nicht mehr auf einer natürlichen Ordnung der irdischen und göttlichen Stellung beruhen. Die großen bürgerlichen Gründungsrepubliken, wie Hobbes’ imaginäres Gemeinwesen, grenzten aus, weil sie den Bedürfnissen der besitzenden Klassen dienten. Der dem Schlafenden gebotene Schutz bezieht sich folglich nicht nur auf seine materielle und leibliche Sicherheit, sondern auch auf sein Hab und Gut. So geht die Gefahr für den friedlichen Schlaf der Eigentümerklasse nun von den Armen und Notleidenden aus, wohingegen die Geringsten, selbst der »arme Sklav«, noch integraler Bestandteil der Menge der Schlafenden gewesen waren, über die König Heinrich zu wachen hatte. Der Zusammenhang zwischen Besitz und dem Recht oder Vorrecht auf ruhigen Schlaf hat also seinen Ursprung im 17. Jahrhundert und bleibt in den Städten des 21. Jahrhunderts in Kraft. Öffentliche Räume sind heute vollständig auf die Verhinderung von Schlaf angelegt. So werden Bänke und andere Flächen oft – mit einem immanenten Sadismus – wie Nagelbretter gestaltet, damit sich niemand darauf ausstrecken kann. Das verbreitete, aber gesellschaftlich ignorierte Phänomen städtischer Obdachlosigkeit umfasst viele Entbehrungen, nur wenige aber sind akuter als die Gefahren und Unsicherheiten von schutzlosem Schlaf.

In einem erweiterten Sinne aber wurde der Vertrag, der vorgibt, jedem, ob vermögend oder nicht, Schutz zu bieten, schon lange gebrochen. Im Werk Franz Kafkas sind Verhältnisse allgegenwärtig, in denen Hannah Arendt die Abwesenheit von Räumen oder Zeiten für Ruhe und Erholung erkannte. Das Schloss, »Der Bau« und andere Texte vermitteln immer wieder ein Gefühl von Schlaflosigkeit und erzwungener Wachsamkeit, einhergehend mit modernen Formen der Isolation und Entfremdung. In Das Schloss kehrt sich das ältere Modell von königlichem Schutz um: Die nervöse Achtsamkeit und ermüdende Wachheit des Landvermessers bezeichnet hier seine Unterlegenheit und Bedeutungslosigkeit für die schläfrigen Beamten der Schlossverwaltung. »Der Bau«, die Geschichte einer kreatürlichen Existenz, reduziert auf ein zwanghaft-ängstliches Streben nach Selbsterhaltung, ist in der modernen Literatur eine der trostlosesten Darstellungen des Lebens in einer von jeglichem Miteinander abgeschnittenen Einsamkeit. Es ist ein düsteres Bild menschlichen Lebens ohne Gemeinschaft oder Zivilgesellschaft, in denkbar größter Entfernung zu den kollektiven Lebensformen der damals aufgebauten Kibbuzim, die Kafka so faszinierten.

Die verheerende Realität des Fehlens von Schutz und Sicherheit für jene, die sie am nötigsten haben, wurde erschreckend deutlich bei der Chemiekatastrophe im indischen Bhopal. Am 1. Dezember 1984, kurz nach Mitternacht, tötete hochgiftiges Gas aus einem undichten Vorratstank Zehntausende von Bewohnern der umliegenden Stadtviertel, die meisten von ihnen im Schlaf. Tausende weitere Opfer starben in den folgenden Wochen und Monaten, eine noch größere Zahl trug bleibende gesundheitliche Schäden davon. Bhopal hat die Kluft zwischen wirtschaftlicher Globalisierung und der Möglichkeit von Sicherheit und Nachhaltigkeit für menschliche Gemeinschaften schonungslos aufgedeckt. In den folgenden Jahrzehnten hat die beständige Ablehnung jeder Verantwortung durch Union Carbide und die Verweigerung jedweder Gerechtigkeit für die Betroffenen deutlich gemacht, dass die Katastrophe kein Zufall war und dass die Opfer der wirtschaftlichen Aktivitäten nicht zählten. Gewiss hätte das Unglück bei Tage nicht minder schreckliche Folgen gehabt. Dass es aber bei Nacht geschah, unterstreicht die besondere Schutzlosigkeit des Schlafenden in einer Welt, in der traditionelle soziale Sicherungen verschwunden oder abgebaut sind. Eine ganze Reihe grundlegender Voraussetzungen für den Zusammenhalt sozialer Beziehungen verbindet sich in der Frage des Schlafs – in der Wechselseitigkeit von Vulnerabilität und Vertrauen, von Exponiertheit und Fürsorge. Entscheidend ist die Bedeutung des Schutzes anderer für eine wiedererwachende Sorglosigkeit des Schlafs, für einen periodischen Zeitraum der Freiheit von Ängsten und ein zeitweiliges »Vergessen des Schmerzes«.20 Mit der zunehmenden Zerrüttung des Schlafs könnte deutlicher werden, dass die für den Schlafenden so wichtige Einsamkeit nichts wesentlich anderes ist als die angesichts deutlicherer und akuterer Formen gesellschaftlichen Leidens notwendige Geborgenheit.

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