Читать книгу Finnische Träume - Teil 3 | Roman - Joona Lund - Страница 3
Оглавление5. Inkus Spiel von Joona Lund
Sie stand vor dem Spiegel, bürstete das matt glänzende lange Haar. Jan schaute herein und auf einmal erfasste ihn eine diffuse Ahnung, die fast einer Angst nahe kam, dass sich aus der Tatsache, dass sie in seiner Gefühlswelt einen festen, alles überlagernden Platz einnahm, eine Situation ergeben könnte, die sie beide nicht mehr im Griff hatten.
Fragend schaute sie ihn an, als merkte sie, dass er über sie beide nachsann.
Er schüttelte sich, als könnte er das Angstgefühl damit vertreiben. »Gehst du aus? Für wen machst du dich denn so schick?«
Sie zog eine Flunsch und antwortete gereizt: »Wo soll ich hier denn schon ausgehen? Und für wen wohl sollte ich mich schick machen?«
»Für mich vielleicht ...«, versuchte er zu scherzen.
Zornig schleuderte sie die Haarbürste nach ihm, er fing sie auf, legte sie aufs Bett und verließ das Zimmer. War sie schlechter Laune, war es besser, ihr nicht in die Quere zu kommen. Doch er hatte gespürt, dass etwas anders war, und es war nicht nur das neue Kleid ...
Der einzige große Spiegel stand im Elternschlafzimmer, sie musterte sich. Das hellblaue Kleid, das Mutter aus der Stadt mitgebracht hatte, passte wie angegossen, harmonierte mit den dunkelbraunen Haaren und den dunkelblauen großen Augen im Kontrast, die erstaunt in die Welt guckten. Ungeduldig zupfte sie am Kleid herum.
»Meinst du, es wird ihm gefallen?«
»Garantiert«, beruhigte Mutter. Erstaunt stellte sie wieder einmal fest, dass für Inku einzig und allein entscheidend schien, ob Jan etwas gefiel. Wem sonst sollte sie gefallen? Weit und breit wohnte niemand, der in Frage kam. Ihren Mann interessierten Kleider nicht, seine Frau hätte im Kartoffelsack herumlaufen können. Das ging Mutter durch den Kopf. »Zeig es ihm, du wirst sehen, er wird begeistert sein!«
Inku lief zu Jan, drehte und wendete sich wie auf dem Laufsteg. »Gefällt es dir?«
»Süß«, rief er aus, »wirklich süß!«
»Meinst du das Kleid oder mich oder beides?«, fragte sie kokett.
Feixend schaute er auf ihren Busen, den das blaue eng anliegende Kleid betonte. »Na, wen oder was wohl? Beide sind zum Reinbeißen!«
»Ach du«, sagte sie verlegen, ihr Gesicht war rot angelaufen. »Bei dir weiß ich nie, ob ein Hintersinn ...« Sie brach ab, Mutter war hereingekommen.
»Passt ihr gut, nicht?«
Jan nickte. »Toll, ja. Bei welcher Gelegenheit soll sie es denn anziehen?«
»Nun«, meinte Mutter nachdenklich, »ich dachte, vielleicht gehst du mit ihr zum Frühlingsfest?«
Jan zögerte, Mutter wusste, dass er sich aus solchen Festen nichts machte. »Warum nicht«, antwortete er langsam, »wenn sie will ...«
»Das würdest du tun, Jan?«, fragte Inku aufgeregt. »Dich bringen doch keine zehn Pferde zu solchen Veranstaltungen!«
Er grinste. »Mit so einem hübschen Mädchen ausgehen – wem gefiele das nicht.«
Inku lief zu ihm und umarmte ihn. »Danke Jan«, flüsterte sie.
Mutter ging zur Tür. »Manchmal kannst du richtig charmant sein.« Sie lachte. »Hast du das mitbekommen, Inku? Das war ein Kompliment!«
Inku guckte ihn mit leuchtendem Gesicht an. »Hast du das ernst gemeint?«
»Ob ich mit dir zum Fest gehe?«
»Das auch, ich meinte vor allem das andere.«
»Ob es mir gefällt?«, fragte er lachend.
»Zieh mich nicht auf, du hast genau verstanden!«
»Also wenn du es unbedingt hören willst: Ja, du bist ein hübsches Mädchen, ein sehr hübsches sogar! Zufrieden?«
Sie schenkte ihm ein Lächeln, ihre regelmäßigen schneeweißen Zähne glänzten.
»Jan, Vater sucht dich«, rief Mutter herauf, »ich glaube, er braucht dich.«
Inku zog sich um und überlegte, warum es ihr so wichtig war, wie Jan über sie dachte und plötzlich war ihr, als rastete im Gehirn eine Sperre ein, als sollte sie daran gehindert werden, weiter zu grübeln. Die Einsicht, dass ihr Jans Meinung noch mehr bedeutete, seit sie jenes Spiel betrieben, das vieles andeutete und in der Schwebe ließ, schob sie von sich. Seit Jan ihr die ausgeschmückten Träume erzählte, die sich fast ausschließlich um sie drehten, hatte sie jedes Interesse an anderen Jungen verloren. Schulfreundinnen neckten sie, dass das Leben an ihr vorbeilaufen würde, wenn sie ewig nur Romane läse und keine wirkliche Liebe erlebte. Sie sähe gut aus, viele Jungen drehten sich nach ihr um, doch sie blockte jeden Versuch ab, ein Date abzumachen, das wäre nicht normal. Inku lächelte und schwieg, das war einzig und allein ihre Sache, das ging niemanden etwas an, zumal sie selbst nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte und was das Gefühl, das ihr abwechselnd heiße und kalte Schauer durch den Körper jagte, bedeutete. Sie war nicht so naiv zu glauben, lesen wäre ein Mittel, um den in ihrer Seele tobenden Aufruhr zu besänftigen, aber es lenkte ab. Oft erfasste sie eine unbändige und verwirrende Sehnsucht nach Zärtlichkeit, und sie erkannte erschreckt, dass sich diese auf Jan richtete. Sie hätte mit Eila, der älteren Freundin, die über sexuelle Erfahrungen verfügte, reden können, aber dann hätte sie von Jan erzählen müssen. Sie hätte mit ihm darüber sprechen können, ihm vertraute sie, aber eine gewisse Scheu hinderte sie, sich ihm über Gefühle zu offenbaren. Konnte denn ein Mann nachempfinden, wie ihr zumute war? Einmal davon abgesehen, dass Jan nicht gerade ein neutraler Gesprächspartner gewesen wäre. Und wenn er sie auslachte, weil sie gestand, welche Rolle er in ihrem Dasein spielte? Das könnte sie nicht ertragen.
Anderen Schulfreundinnen hatte sie nie Geheimnisse anvertraut. Sie behielten nichts für sich und auf vorsichtige Fragen Inkus über das Thema Nummer eins hatten sie ihr geraten, sich einen Freund zuzulegen, Erfahrungen zu sammeln. Es sei verkehrt, sich zu Hause zu vergraben und nichts zu erleben.
Und eines Tages kam die Erleuchtung: Die Scheu, sich Jan anzuvertrauen, war so seltsam nicht, drängte sich doch jedes Mal, wenn sie die Sehnsucht nach Zärtlichkeit in Wellen überrollte, sein Bild in ihr Bewusstsein. Es mochte mit seinen Träumen zusammenhängen, die er erzählte, bei denen sie sich anfangs verlegen abgewendet hatte, aber noch öfter war ihr ein wonniges Prickeln über den Rücken gelaufen, hatten sich Körperregionen bemerkbar gemacht, denen sie bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Es war kein Wunder, dass sich die Gefühle, die sie immer häufiger überfielen, auf ihn richteten: Niemanden kannte sie so gut wie ihn, ihm vertraute sie. Den Versuch, dagegen anzukämpfen, hatte sie aufgegeben, denn das, was sie bewegte, war stärker. Dieses Ausgeliefertsein an eine kaum fassbare Empfindung machte sie hilflos, und den Zorn über ihre Ratlosigkeit ließ sie ab und zu an ihm aus, dem Verursacher. Bisher hatte sie immer ihren Kopf durchgesetzt, weich und nachgiebig war sie nur zu Jan gewesen. Und nun diese Unbeherrschtheit gerade ihm gegenüber, das ärgerte sie erst recht, das war das Letzte, was sie beabsichtigte. In ihrem Kopf herrschte ein derartiges Chaos, dass sie sich aufs Fahrrad setzte und durch die Gegend sauste oder lange Strecken lief, anschließend abwechselnd heiß und kalt duschte, um sich zu beruhigen.
Sie, die sich nur im Notfall an Regeln hielt und jeden Freiraum auszureizen suchte, hatte sich seiner Gedankenwelt angepasst.
Fantasien, die er aus seinen Träumen weitersponn, zeigten sie in Situationen, die mit der Wirklichkeit nur in wenigen Details übereinstimmten. Die bunt gefärbten Luftschlösser setzten sich im Gedächtnis fest, tauchten mit penetranter Hartnäckigkeit zu den unpassendsten Gelegenheiten auf. Hatte er eine Erzählung abgebrochen, weil sie ihr zu weit ging, gab sie einen Tag später keine Ruhe, bis er sie zu Ende brachte. Hatte sie anfangs ihr Spiel als harmlose Idee eines verrückten Jungen betrachtet, der anders als die Klassenkameraden keine Freundin hatte, merkte sie doch bald, dass weit mehr dahintersteckte.
Je öfter sie seinen Träumen, Andeutungen und erfundenen Geschichten zuhörte, desto mehr festigte sich die Überzeugung, seine Welt behagte ihr unvergleichlich besser als jene, von der ihre Freundinnen schwärmten, einer im Vergleich derben und oberflächlichen. Gelegentlich auftauchende Bedenken ignorierte sie, die ihnen gehörende Welt sollte nicht gestört werden. Zuerst hatte sie seine Anziehungskraft irritiert, wollte sich nicht vereinnahmen lassen, doch unabhängig vom Willen nahm ihre Bereitschaft immer mehr zu, sich seinem Einfluss auszusetzen. Manchmal fühlte sie sich durch die wachsende Abhängigkeit so schwach, dass sie am liebsten ihren Kopf, der sich abwechselnd heiß und kalt anfühlte, an seine Brust geschmiegt hätte. Sie ließ sich in dieses Gefühl fallen, auch wenn sie sich mitunter spröde gab und ihn ärgerte, aber das machte sie mehr, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Es war ein Gefühl, das sie beschwingt werden ließ, sie glaubte manchmal, nur die Arme ausbreiten zu müssen, um fliegen zu können. Und nun fand sie nichts mehr dabei, ihn spüren zu lassen, dass sie gern mit ihm zusammen war, in ihm mehr sah als den großen Bruder, der sie beschützte. Seine Blicke und Gesten zeigten ihr, dass es ihm ähnlich erging, aber sie sprach nicht darüber, aus Angst, ihm könnte das Gefühl zu massiv erscheinen oder seines könnte schwächer sein. Zwischen ihnen herrschte ein stilles Einverständnis, über ihre die Zukunft betreffenden Hoffnungen und Ängste nicht zu reden.
Inku machte sich keine Gedanken, ob sie Tabus verletzten, verdrängte, je tiefer sie sich in dem regelwidrigen Verhältnis verstrickte, alle Zweifel. Tauchten trotzdem einmal welche auf, sagte sie sich, Jan würde schon wissen, was richtig war. Sie lernte schnell und begann, das Spiel mit ihren Einfällen zu bereichern – und sie hatte viel Fantasie. Da sie noch zu unerfahren war, um die Empfindungen und Reaktionen, die auf sie einströmten, mit der Gefühlswelt in Einklang zu bringen, blieben stimmungsmäßige Rückschläge nicht aus. Von einer Minute zur anderen wechselte sie von überschäumender Heiterkeit zur Melancholie oder zu übersteigerter Gereiztheit ihm gegenüber. Natürlich wusste sie, dass er ihre angespannte Gefühlslage verursacht hatte, doch ihre Launen hielten nie lange an. Kleine Aufmerksamkeiten, die sie ihm zukommen ließ, sollten ihn dafür entschädigen, dass er ihre Wutausbrüche so gelassen hingenommen hatte. Noch zögerte sie, ihre Gefühle zu offenbaren, konnte sie selbst noch nicht einschätzen.