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5. Tabula dealbata

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Alle Quellen zur „historiographischen“ Aktivität der Pontifices berichten, dass der Pontifex maximus jährlich eine geweißte Holztafel mit dem Verzeichnis (mindestens) der wichtigsten Ereignisse aufgestellt habe. Nach dem bisher rekonstruierten Charakter der commentarii pontificum kann diese Tafel eigentlich nicht das Primärmaterial gewesen sein. Es müsste sich vielmehr um einen für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Auszug, sozusagen den öffentlichen Teil der Protokolle, gehandelt haben. Demgegenüber ist die gesamte Forschung davon ausgegangen, dass es sich bei den Tafel um das primäre, erst später redigierte oder übertragene Material gehandelt haben muss. Lässt sich dieser Widerspruch auflösen?

Die älteste Notiz über die Tafeln findet sich in den Noctes Atticae des A. Gellius und führt auf Cato zurück, der seine eigene Geschichtsschreibung wie folgt charakterisierte: Non lubet scribere, quod in tabula apud pontificem maximum est, quotiens annona cara, quotiens lunae aut solis lumine caligo aut quid obstiterit.77 Die Aussage ist klar genug. Finsternisse und Teuerungen waren nicht Gegenstand seiner historiographischen Bemühungen, sie schienen ihm aber für die Pontifikaltafel – Cato benutzt den Singular – charakteristisch. Nach dem Zitat des Gellius habe Cato den Inhalt der Tafeln insgesamt abgelehnt, den er dann exemplifiziert. Die zweite Interpretationsmöglichkeit, nach der gerade die aufgezählten Dinge, die ja beispielsweise (neben vielem anderen) auf der Tafel des Pontifex maximus stünden, abgelehnt würden, erscheint weniger wahrscheinlich. Vom Spezialfall des Dionysios von Halikarnassos abgesehen (der noch zu diskutieren sein wird), bildet diese Wertung die einzig sichere, auf (unterstellter) Autopsie beruhende Erwähnung des Inhalts der Tafeln.

Welche Funktion käme solchen Aufzeichnungen zu? Selbst die Vermutung, hier würden bereits gemeldete Prodigien notiert78 – gewissermaßen, um dem aufgeregten Zweitzeugen mitzuteilen: „Keine Sorge! Wir behandeln die Sache bereits!“ –, kann nicht zutreffen. Zum einen zählen gerade Finsternisse zu den Ereignissen, die am wenigsten einer speziellen Meldung bedürfen, zum anderen waren für die Meldung von Prodigien ohnehin die politischen Magistrate, Konsuln etwa oder der Stadtpraetor, zuständig; erst die von diesen Organen akzeptierten Prodigien wurden, je nach Charakter, an die einzelnen Priesterschaften zur rituellen Behandlung überwiesen. Die Erwähnung von Finsternissen und Teuerungen legt eher eine gegenteilige Interpretation nahe: Beides sind Ereignisse, die im dritten vorchristlichen Jahrhundert auch in Rom von Spezialisten im voraus zu berechnen beziehungsweise zu vermuten waren. Die Mitteilungen könnten eher den Charakter einer Warnung gehabt haben, die eine Überreaktion – beispielsweise bei einer „plötzlichen“ Sonnenfinsternis – verhindern sollte.

Im Unterschied zu Cato, der allein die Tafel nennt, haben spätere Zeugen daneben immer auch die mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnete „Papierform“ im Kopf. In der Analyse dieser Stellen darf daher nicht die Beschreibung der Tafel isoliert betrachtet werden, vielmehr bedarf es immer der Bestimmung des Verhältnisses von Tafel und „Papierform“, das dem Verfasser vorschwebte; allein aus dieser Verhältnisbestimmung könnten sich auch weitere Indizien für den Zweck der Tafeln ergeben.

Warum Cato allein von der Tafel sprach, lehrt das Zeugnis Ciceros, das hier zunächst in der heute üblichen Textform wiedergegeben wird: Ab initio rerum Romanarum usque ad P. Mucium pontificem maximum res omnes singulorum annorum mandabat litteris pontifex maximus referebatque in album et proponebat tabulam domi, potestas ut esset populo cognoscendi; eique etiam nunc annales maximi nominantur. Lässt man mit Coruncanius sowohl die Aufzeichnung der commentarii als auch die Aufstellung der tabula beginnen, wurde letztere als lebendige Institution bis P. Mucius P. f. Q. n. Scaevola, der das Oberpontifikat von 130 bis etwa 115 v. Chr. innehatte, fortgeführt, der im Laufe seiner Amtszeit damit brach. Die achtzigbändige Ausgabe der annales maximi wird mit diesem Bruch – wohl zu Recht – in Verbindung gebracht. Bei Cicero scheinen die Verhältnisse nicht ganz klar zu liegen. Die Darstellung der pontifikalen Aktivität ist sehr umständlich. Mandabat litteris – referebatque in album – proponebat tabulam drückt den Sachverhalt der Aufstellung von Tafeln sehr gewunden aus. Unklar bleibt auch der Anschluss eique etiam nunc annales maximi nominantur. Natürlich kann Genus und Geschlecht von ii durch die Attraktion an annales bestimmt sein, doch bestünde auch die Möglichkeit, den Bezug klarer zu gestalten. Auch Cicero spricht wie Cato von den Tafeln nur im Singular.

Ein Blick in den textkritischen Apparat klärt die Lage schnell auf und zeigt, wie sich die Interpretation der Annalen bis in die Textgestaltung hinein ausgewirkt hat. Referebat stellt eine Konjektur Lambinus dar, die Handschriften überliefern einhellig efferebat. Was aber heißt „trug hinaus“? Ein ungeschickter Ausdruck für das, was in proponebat deutlicher zum Ausdruck kommt und daher durch das geläufige referre zu ersetzen war? Im Gegenteil – Cicero hatte eine sehr klare Vorstellung von dem Entstehungsprozess der Tafeln und der Bedeutung von efferre. In einer fast identischen Situation finden wir den Ausdruck bei Livius, in einem Zusammenhang der keinen Zweifel an der Bedeutung von efferre und keinen Zweifel an dem Zusammenhang mit, wenn nicht sogar Bezug auf die Ciceropassage lässt: Nach dem Tod des Tullus Hostilius will Ancus Marcius den in Unordnung geratenen Kult unter Rückgriff auf die Aufzeichnungen (commentarii) seines Vorfahren Numa Pompilius wieder korrekt ins Werk setzen, und er schafft dafür die Grundlage, indem er befiehlt, omnia ea ex commentariis regiis pontificem in album elata proponere in publico.79 Efferre heißt hier, „einen Auszug/eine Kopie anfertigen“ – und genau das will auch Cicero zum Ausdruck bringen. Das oben aus sachlichen Gründen postulierte Verhältnis der commentarii zu den tabulae findet in den Texten spätrepublikanischer und frühaugusteischer Autoren somit seine Bestätigung: Zu dieser Zeit war das Verhältnis der beiden Aufzeichnungstypen zueinander noch bewusst, wenn auch kein Urteil darüber möglich war, ob die „Holzkopie“ gegenüber der Urfassung eine Verkürzung darstellt.80 Efferre legt eine Identität der Textfassungen nahe, und diese Identität spiegelt sich auch in dem fehlenden direkten Bezug des Ciceronischen ei, das sich einfach auf die Texte als solche richtet, wider. Der Bezug auf die einzelne Tafel ist nicht ausgeschlossen, wird aber auch nicht forciert. „Die einzelne Tafel“ – ein zufälliger Ausdruck? Keineswegs. Der absurde Gedanke, der Pontifex maximus hätte in seiner Wohnung aus Gründen der historischen Dokumentation ein Holzlager errichtet, lag Cicero sicher fern. Wenn die commentarii das Primäre waren, dann war eine Aufbewahrung des Tafeltextes völlig unnötig; die Tafel konnte am Jahresende wieder geweißt und erneut für Eintragungen aufgestellt werden: Der Singular entspricht den materiellen Tatsachen.

Das Ergebnis findet eine aufschlussreiche Bestätigung in den Aussagen eines Zeitgenossen des Livius, des Dionysios von Halikarnassos. In der Diskussion der Gründung Roms wiegt er verschiedene Quellen gegeneinander ab (oder stellt sie zumindest nebeneinander) und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die Tafel (pinax) des Pontifex maximus zu sprechen.81 Die Stelle lehrt – von der (berechtigten) Skepsis des Dionysios abgesehen –, dass auch in Augusteischer Zeit nur an eine einzige Tafel zu denken war.

Die Aussage über die einzige Tafel muss imm Zusammenhang mit einer anderen Stelle kurz vor der ebengenannten gesehen werden, an der Dionysios von den Quellen der römischen Historiker spricht. Er bezeichnet diese mit hierai déltoi und verwendet damit einen Ausdruck, der deren materiellen Charakter nicht eindeutig klärt.82 Déltos bezeichnet die Schreibtafel, kann aber auch für Schriften allgemein eintreten. Dionysios selbst verwendet den Ausdruck zur Beschreibung der Zwölf Tafeln, die nach der sonstigen annalistischen Überlieferung aus Bronze gefertigt waren.83 Die Verwendung des Partizips Präsens, die allen römischen Historikern die Benutzung der „heiligen Schriften“ erlaube, legt nahe, dass Dionysios von Texten spricht, die auch zu seiner Zeit noch erhalten waren. Damit scheiden etwaige pinakes der Pontifices aus. Der im folgenden referierte Inhalt verbietet auch, an Gesetzesurkunden und Vertragstexte zu denken. Damit wird man zu einem allgemeinen Verständnis von „heiligen Schriften“ kommen, nach dem diese am ehesten mit den pontifikalen Aufzeichnungen (commentarii/annales maximi) zu identifizieren sind. Der Ausdruck déltoi macht dann keine Aussage über den materiellen Zustand dieser Texte, sondern bringt lediglich die griechische Theorie über das Erwachsen historischer Aufzeichnungen aus alten Urkunden zum Ausdruck.84

Die weiteren Äußerungen über die Tafel des Pontifex maximus entstammen dem ausgehenden vierten und beginnenden fünften Jahrhundert. Am ausführlichsten ist dabei die Darstellung des Servius:

Tabulam dealbatam quotannis pontifex maximus habuit, in qua praescriptis consulum nominibus et aliorum magistratuum digna memoratu notare consueverat domi militiaeque terra marique gesta per singulos dies, cuius diligentiae annuos commentarios in octoginta libros veteres retulerunt eosque a pontificibus maximis, a quibus fiebant, annales maximos appellarunt. 85

Der Pontifex maximus hatte alljährlich eine geweißte Tafel, auf der er – unter der Überschrift der Namen der Konsuln und der übrigen Magistrate – tageweise zu notieren pflegte, was der Erinnerung wert war, die Taten in Frieden und Krieg, zu Land und zu Wasser. Die jährlichen Protokolle dieser sorgfältigen Übung übertrugen die Alten in achtzig Bücher und diese wurden von den Pontifices maximi, die sie herstellten, „Annales maximi“ genannt.

Geht man von den Verhältnissen der spätrepublikanischen Zeit aus, dann können Servius’ Aussagen, selbst wenn sie in das erste Jahrhundert zurückreichen, nur auf Kenntnissen des Inhalts der annales maximi basieren. Relevant ist daher nur die Aussage über die Edition der commentarii (die sich Servius wohl als mit den Tafeln identisch vorstellt). Alles andere stellt lediglich den Reflex der historiographischen Theoriebildung über die pontifikalen Aufzeichnungen dar.

Die von Servius insinuierte Namensherkunft der Ausgaben, annales (scil. Pontificis) Maximi, lässt sich allgemein mit der üblichen Deklination des Begriffs, die maximi als Adjektiv, nicht feststehenden Genitiv versteht, speziell aber mit der oben zitierten Ciceropassage widerlegen. Cicero kommentiert den Namen mit dem Ausdruck etiam nunc, der sich im Duktus der Argumentation nur so verstehen lässt, dass die sprachlich völlig veralteten priesterlichen Aufzeichnungen so „groß“ das heißt umfangreich waren, dass sie „auch jetzt noch“ als „die größten“ bezeichnet werden.86

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