Читать книгу Würde, Freiheit, Selbstbestimmung. Konzepte der Lebensrechtsdebatte auf dem Prüfstand - Josef Bordat - Страница 6
ОглавлениеVorwort
Seit einigen Jahren beschäftige ich mich aus bioethischer Perspektive mit Fragen des Lebensschutzes. Das sollte nicht überraschen. Die Themen Abtreibung und Sterbehilfe, die Frage des moralischen Status des Embryo, Vorstellungen des richtigen Umgangs mit Kranken, Behinderten, Alten, Dementen, Sterbenden und Ungeborenen sind grundlegend für Philosophie und Theologie gleichermaßen. Der richtige Umgang mit dem Menschen ist die zentrale ethische Fragestellung; Moral ist eine menschliche Umgangsform.
Die Anthropologie geht der Ethik voraus, weil sie Vorentscheidungen trifft hinsichtlich des Gegenstands, zu dem sich moralisch verhalten werden soll. Wenn ich nicht über das Leben und den Menschen nachdenke, hat es auch keinen Zweck, über Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und Arbeit, Politik und Publizistik, Kultur und Kunst nachzudenken. Immanuel Kant hat die Frage „Was ist der Mensch?“ als die Synthese aller philosophischen Bemühung betrachtet, als Ausgangs- und Fluchtpunkt zugleich für Epistemologie, Ethik und Ästhetik. Grund genug, Lebensrechtsfragen in den Mittelpunkt zu stellen.
Es waren schließlich zwei Gerichtsbeschlüsse, die mich ganz konkret motiviert haben, zum Thema Lebensschutz bzw. Lebensrecht einige Gedanken in Buchform zusammenzutragen. Denn es waren zwei bahnbrechende Beschlüsse, Entscheidungen, die nicht nur Rechtsverhältnisse ändern, sondern auch moralische Grundeinsichten ins Wanken bringen, die bislang unhinterfragt das Fundament unser christlich-humanistischen Axiologie bildeten:
Erstens, dass man Menschen aus Liebe und wohlverstandener medizinisch-pflegerischer Professionalität im natürlichen Prozess ihres Sterbens hilft, statt ihnen – gegen Gebühr – beim Sterben zu helfen, indem man ihnen zu sterben hilft. Anders sieht es das deutsche Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 26. Februar 2020 (Aschermittwoch).
Und zweitens, dass man immer zunächst im Sinne des Lebens agieren soll, wenn man die Wahl hat, und alles so auszulegen ist, dass es dem Leben und dessen Erhalt bestmöglich dient. Anders sieht es der niederländische Hoge Raad im Beschluss vom 21. April 2020.
Höchstrichterliche Urteile gilt es im Rechtsstaat zu akzeptieren; das ist eine Grundbedingung für dessen funktionieren. Doch auch gegen Urteile höchster Gerichte kann sich das Gewissen sträuben – und in meinem Fall tat es dies. So sehr, dass ich mich fast genötigt sah, meine Position darzulegen.
Ich wähle dabei den Ansatz, die sachlichen Themen Abtreibung und Sterbehilfe den Begriffen ein- und unterzuordnen, die die Debatte um diese Themen wesentlich prägen: Würde, Freiheit, Selbstbestimmung. Eine Analyse dieser Konzepte und ihrer Beziehung zueinander fördert die Irrtümer zutage, mit denen ihre wohlfeile Verwendung heute oft behaftet ist – Irrtümer aus Sicht des christlichen Glaubens, aber auch aus Sicht der philosophischen und theologischen Tradition.
Noch ein philologischer Hinweis: Es handelt sich bei dem Text um einen Essay, bei dessen Abfassung ich meinen Gedanken relativ freien Lauf ließ. Ich habe nicht jeden dieser Gedanken hergeleitet, obgleich mir bewusst ist, wie voraussetzungsreich einige Argumentationsfiguren sind. Auf vertiefende Darlegungen habe ich zugunsten eines schlanken Umfangs verzichtet, obgleich an der einen oder anderen Stelle ein Exkurs der Erläuterung dienen soll. Dazu gehört auch, dass vieles „aus dem Kopf“ zitiert wurde und Nachweise nur oberflächlich erfolgen, weil ich ohne Fußnoten auskommen wollte und eine wissenschaftlich korrekte Zitation im Fließtext störend gewesen wäre.
Es kostete Sie, liebe Leserin, lieber Leser, insofern einige Mühe, die Zitate im Original aufzufinden. Sollten Sie zu einem Zitat die exakte Stelle in den im Literaturverzeichnis genannten Werken nicht finden, helfe ich Ihnen gerne mit genaueren Angaben weiter.
Ein Blick in meine Bücher zur Ethik (2009), zum Gewissen (2013) und zum Grundgesetz (2019) kann hilfreich sein, die Hintergründe meiner Gedankengänge auszuleuchten.
Berlin, im Juli 2020 Josef Bordat