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KÖNNEN WIR GOTT VERZEIHEN?

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In einem Kunstführer lese ich, dass sich in der evangelisch-reformierten Ottilienkirche in Tüllingen, im Stadtteil Lörrach, ein Fresko aus dem Jahr 1447 befindet, welches Maria Magdalena, Maria-Salome und Maria Kleopas mit ihren Salbungsgefäßen am Grab Jesu zeigt. Von den beiden Letzteren berichtet die Legende, dass sie der zweiten und dritten Ehe der heiligen Anna entstammten (aus deren erster Ehe Jesu Mutter hervorging). Dass in Tüllingen, anders als üblich, anstelle der Jungfrau aus Nazaret die Magdalenerin den drei Marien zugezählt wird, verwundert mich schon; um dieses Fresko zu sehen und zu fotografieren, wäre ich meilenweit gefahren. Aber von Basel bis zu dem im Markgräflerland gelegenen Tüllingen benötigt man mit dem Auto ganze zwanzig Minuten.

Warum der Freskenmaler die Mutter Jesu durch die Magdalenerin ersetzt hat, spielt hier keine Rolle. Weit nachhaltiger als diese kunsthistorische Kuriosität beschäftigt mich etwas ganz anderes. In der besagten Ottilienkirche liegt ein Buch auf, in das alle Besuchenden nicht nur ihre Eindrücke und Bitten, sondern auch ihre ganz persönlichen Anliegen und Dankesbezeugungen hineinschreiben können. Beim Blättern stoße ich auf einen höchst ungewöhnlichen Eintrag: »Gott, ich vergebe dir alles, was du mir angetan hast.«

Gott, ich vergebe dir! Steht eine solche Äußerung nicht dem Regelwerk jeder Religion diametral entgegen? Hat man uns denn nicht seit Kindheitstagen eingetrichtert, dass wir immer und lebenslang allen Grund haben, Gott um Verzeihung zu bitten für unsere Sünden? Ihn darum anzugehen, dass er Nachsicht üben möge angesichts unserer Verfehlungen? Ihm zu danken, für das Gute, das wir durch ihn erfahren durften? Und hier wirft sich eine Schreiberin zur Richterin auf über GOTT! Und erkühnt sich gar, Gott zu vergeben, was er ihr angetan!

Vor fünf Jahrzehnten hätte ich eine solche Äußerung vermutlich als zynisch oder gar als gotteslästerlich empfunden. Inzwischen aber kenne ich mich ein klein wenig aus im Buch der Bücher. Nicht nur in unzähligen Gesprächen mit schmerzgeplagten und leiderprobten Menschen, sondern auch durch die Lektüre der Bibel habe ich gelernt, dass es Situationen gibt, die selbst Gottgläubige überfordern.

Verflucht nicht Ijob, der von Gott über die Maßen Geprüfte, den Tag seiner Geburt? »Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, die Nacht, die sprach: Ein Mann ist empfangen« (Ijob 3,3). Eine ähnliche Klage ertönt aus dem Mund des Propheten Jeremia: »Weh mir, Mutter, dass du mich geboren hast, einen Mann, der [wegen der Sache Gottes] mit aller Welt in Zank und Streit liegt« (Jeremia 15,10).

Angesichts solcher Reden, die sich letztlich gegen den Schöpfergott selber richten, müssen alle gut gemeinten und religiös verbrämten Trostworte wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Was bleibt, ist der Eindruck, vom Schicksal, vom Leben oder von Gott ums Lebensglück betrogen worden zu sein.

Nichtgläubige werden sich über solche Situationen mit der Bemerkung hinwegzutrösten versuchen: Sometimes life’s not fair. Und Gottgläubige? Sollen sie sich einfach in ihr tristes Schicksal fügen und darin womöglich einen Plan der göttlichen Vorsehung erkennen?

Was die unbekannte Frau in der Tüllinger Kirche ins Buch schrieb, scheint mir ehrlich – also kein Ausdruck von Zynismus, sondern ein Zeichen von Glauben. Sie fühlt sich nicht vom Leben oder vom Schicksal, sondern von Gott selber ungerecht behandelt. Und sie nimmt diesen Gott, an den sie glaubt und von dem sie meint, dass er sie fallen ließ, ernst. Und schreibt ganz einfach, was sie empfindet: »Gott, ich vergebe dir!«

Wäre es besser gewesen, sie hätte geschrieben: Gott, nie und nimmer kann ich dir vergeben, was du mir angetan hast?

Gotteszweifel

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