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Europa steht am Scheideweg. Für die Europäische Union und den Euro gilt das erst recht. Auch Deutschland muss sich entscheiden. Wohin soll das Land sich wenden, damit es nicht am Finanzinfarkt oder an innerer Auszehrung zugrundegeht? Selbst Demokratie und Republik sind keine Größen, denen man heute frohgemut Ewigkeitsrang zusprechen könnte. Es wird zunehmend »durchregiert«.

Nicht zuletzt sind CDU und CSU an einer Weggabelung angelangt. Wird nach dem Ende der Volkspartei das Prinzipielle wiederentdeckt, das Nichtverhandelbare – oder verschärft sich der Trend zum Pragmatismus, zur spätmodernen Diskurspolitik? Dass es nicht weitergehen kann wie bisher mit Schuldenkrise, Parteienkrise und Vertrauenskrise, bestreitet niemand in diesen Tagen. Was aber muss geschehen, damit der Scheideweg nicht in die Sackgasse führt? Und wen trifft die Schuld, wenn es doch geschieht? Wer wurde seiner Verantwortung nicht gerecht?

In einer hellsichtig gegenwartskritischen Komödie sagt ein Narr zum anderen: »Ach, Menschen von heute. Sind doch alle nicht mehr ernst zu nehmen.« Das Widerwort ist scharf und grundsätzlich: »Das sagst du jetzt bei jeder Gelegenheit. Die Wettervorhersage. Ach, ist doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. Der Börsenbericht. Ach, ist doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. Das Klonen von Mensch und Tier. Ach, ist doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. Was ist denn noch ernst zu nehmen? Der Tod?« Ernsthaft wird diese Frage dann nicht beantwortet in der Komödie Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia. Ihr Autor aber, Botho Strauß, weiß genau, wie gefährlich diese scheinbar so leichte Rede geworden ist.

Einerseits wächst nämlich die Schar derer, die sich mit dieser Formel achselzuckend abwenden von Demokratie und Politik. Eben weil – so heißt es dann – keiner der politischen Akteure ernst zu nehmen sei, ihre Floskelrhetorik nicht und ihre Problemanalyse nicht, ihr routiniertes Abwiegeln ebensowenig wie ihre routinierte Empörung, verwende man Zeit und intellektuelle Energie lieber auf andere, fasslichere Dinge. Politik sei ein schmutziges Geschäft. Andererseits stabilisiert eben dieser Rückzug ins Private die Herrschaft der Floskeln und derer, die sie machtbewusst im Munde führen. Auch wer sich abmeldet aus dem öffentlichen Streit, wird das, was er nicht werden wollte: Partei. Wer schweigt, stimmt zu, stimmt ein in das Crescendo und Decrescendo der classe politique.

Aus diesem Grund hat Botho Strauß unlängst, im August 2011, zehn Jahre nach der Uraufführung von Pancomedia, eine andere Formel für den wachsenden Verdruss des Zivilbürgers gewählt. Unter der Überschrift »Klärt uns endlich auf!« forderte der Schriftsteller ein Ende der allgegenwärtigen Neigung, diese oder jene politische Entscheidung flugs für alternativlos auszugeben. Das »noch aus Maggie Thatchers Zeiten« stammende Akronym »Tina«, »there is no alternative«, hebele die Politik aus. Es diene den Regierenden schlicht dazu, »einer zu ihrem Vorteil gefällten Entscheidung den Anstrich der Unumgänglichkeit zu geben.« Ob europäische Staatschuldenkrise, Bankenrettung oder Atomausstieg – die ganze politische Szene habe »mit einem Schlag den Antagonisten verloren. Es gibt keine Parteien mehr, es gibt nur noch Atomaussteiger. Tina!«

Insofern hat für Botho Strauß die Tina-Politik, wie sie etwa die deutsche Bundeskanzlerin betreibt, Teil am enervierenden Geplapper: »Ein Wort, das vielleicht allgemein aufhorchen ließe, wurde von einem Politiker seit langem nicht vernommen. Die Autorität, die er vielleicht kraft seines Amtes noch besitzt, leidet in der Regel, sobald er den Mund aufmacht. Jedermann ist des Gewäschs überdrüssig. Man will nie wieder etwas von einem Schritt in die richtige Richtung hören. Selbst wenn er getan würde, was offenbar nur selten der Fall ist, bliebe er in solcher Sprache ungetan für den Zuhörer, die Floskel isoliert ihn hermetisch vom Tatbestand.« (FAZ, 23. 8. 2011) Auch deshalb ist es nötig, zu einem öffentlichen Gespräch über die Grundlagen des Politischen zurückfinden, wie es sich in diesem Buch ereignet, tastend und energisch zugleich.

Denn was steht auf dem Spiel? Der Medientheoretiker Norbert Bolz sieht hinter dem Gerede von der angeblich alternativlosen Politik die Sehnsucht nach der Diktatur aufleuchten. »Ein Politiker«, so Bolz, »der behauptet, zu einer bestimmten Politik gäbe es keine Alternative, ist (…) ein Tyrann.« Jürgen Kaube von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erkennt in den von der Kanzlerin angekündigten Souveränitätsverzichten hilfebedürftiger Euro-Länder die Wiederkehr der »kommissarischen Diktatur« und das Entstehen einer »absolutistischen Demokratie«.

Bewegen wir uns demnach auf neue Unfreiheiten, neue Verknechtungen, womöglich globalen Ausmaßes, zu? Der Schriftsteller, Filmemacher und Zeitdiagnostiker Alexander Kluge nennt die Gegenwart eine »vorrevolutionäre Zeit, in der nur das Subjekt der Revolution noch unklar sei.« Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts habe aus Menschheitstragödien bestanden, die zweite Hälfte aus einer »geradezu unwirklichen Friedfertigkeit«. Jetzt könne sich die erste Jahrhunderthälfte wiederholen, eine Entgleisung der Welt. Das Jahr 2012 erinnert Kluge an das Jahr 1912, kurz vor dem »großen Knall«. Wichtigstes Indiz für die Wiederkehr der Katastrophe sei das verschwundene Vertrauen, dass die Krise zu bewältigen ist.

Man muss den apokalyptischen Blick nicht teilen, um ein fundamentales Ungenügen zu verspüren, eine Unruhe, die kein Räsonnement stillstellt. Europa steckt sogar laut EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in einer tiefen »Wirtschafts-, Finanz- und Sozialkrise«. Die Europäische Union stehe vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte. Und gerade nun kollabiert das Vertrauen in die Europa tragenden Institutionen, weitet sich das legitimatorische Defizit zum Misstrauensvotum gegen Politik überhaupt: Man will es lieber nicht so genau wissen, weil den Politikern nicht über den Weg zu trauen sei. Man vernimmt die Nachrichten aus dem Jammertal und lebt unbehelligt weiter, als wäre nichts geschehen, in der Welt von gestern. Sehr lange wird sich dieser Schein von Normalität nicht aufrechterhalten lassen. Die Einschläge kommen näher, sagt Alexander Kluge, wie damals im Luftschutzkeller.

Bestechend klar hat Hans Magnus Enzensberger vor diesem Hintergrund die »Entmündigung Europas« beschrieben. Sein Essay über das »sanfte Monster Brüssel« gipfelt in der These, die Europäische Union strebe die »Umerziehung von fünfhundert Millionen Menschen« an. Wie stets sei »für jede machtbewusste Exekutive (…) die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand.« Wenig spreche »bisher dafür, dass die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Entmündigung zur Wehr zu setzen«. Dann aber könnte der »Eintritt in ein postdemokratisches Zeitalter« tatsächlich bevorstehen, der ein Rückfall wäre in vorkonstitutionelle Zustände.

Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte liegt so nah? Nicht nur Brüssel, auch Berlin erscheint derzeit nicht gerade als Hort republikanischer Transparenz. Der erste Mann im Staate, Bundespräsident Christian Wulff, kritisierte Ende Juni 2011 scharf die wachsende »Aushöhlung des Parlamentarismus«. Und er fuhr fort: »Damit schwindet die Grundlage für Vertrauen, fehlt die Transparenz und Teilhabe für Bürger und Parlamentarier.« Die bekannte Politikverdrossenheit unter den Bürgern verschärfe sich um eine zusätzliche Dimension, denn »inzwischen sind Politikerinnen und Politiker häufig verdrossen, verdrossen über ihre eigene Tätigkeit und ihre Rolle, die ihnen noch zukommt, verdrossen über ihren schwindenden Einfluss.« Viel zu häufig werde »in kleinen ›Entscheider‹-Runden vorgegeben (…), was dann von den Parlamenten abgesegnet werden soll.«

Wulff nannte als Beispiele die Krise des Euro und den Atomausstieg: »Sowohl beim Euro als auch bei Fragen der Energiewende wird das Parlament nicht als Herz der Demokratie gestärkt und empfunden. Dort finden die großen Debatten nicht mit ergebnisoffenem Ausgang statt, sondern es wird unter einigen wenigen etwas vereinbart und durch Kommissionen neben dem Parlament vorentschieden.« In diesem Sinne meldet sich beharrlich und leidenschaftlich auch der Bundestagspräsident zu Wort, Norbert Lammert. Er konstatiert ebenfalls einen zum Teil selbstverschuldeten Machtverlust des Bundestages zugunsten der Regierung.

Am anderen Ende der politischen Skala stellt man dieselbe Diagnose. Wolfgang Nešković, ehemals Bundesrichter, heute Justitiar der Bundestagsfraktion »Die Linke«, fordert: »Die legislative Macht muss heimkehren in die Gewalt des Parlaments.« Momentan könne von einer wirklichen Gewaltenteilung nicht gesprochen werden. Der Bundestag sei »ein Parlament, das parlamentarische Rechtssetzung verhindert. Er ist nur noch ein Gebilde, durch das die Regierung muss, wenn sie ihre Gesetze machen will.« Nešković schilt den »Verfassungsungehorsam der Regierung« ebenfalls am Beispiel des Atomausstiegs. Das Moratorium für das Gesetz zur Laufzeitverlängerung bedeute, dass die Regierung ein Gesetz nicht ausführen will, zu dessen Ausführung sie verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Medien und Öffentlichkeit haben diesen Beschluss begrüßt, »doch auch gewünschte Willkür bleibt Willkür.«

Man mag einwenden: Warum sollte eine Partei, die nach innen Offenheit und Transparenz und Partizipation so weit es geht vermeidet, ihre Liebe zu diesen drei Prinzipien ausgerechnet in der Regierungsverantwortung wiederentdecken? Warum sollte die CDU, in der nach Meinung nicht weniger Beobachter »par ordre de Mutti« regiert wird, in der Exekutive davon abweichen? Die pseudodemokratische Simulationsmaschine läuft geschmeidiger denn je. Der hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch hat deutlich ausgesprochen, welche Formen sie bereits ausgebildet hat: Die regelmäßig stattfindenden Regionalkonferenzen, auf denen Parteiführung und Parteibasis ins Gespräch kommen sollen, dienten ersterer »nur als Propagandainstrument« und seien »für Entscheidungsfindungen völlig ungeeignet«.

Letztlich, heißt das wohl, steuert die Parteispitze einen Kurs, der weder bei den Wählern noch bei den Mitgliedern Mehrheiten fände. Dass die CDU seit 1990 von damals 790 000 auf heute weniger als 500 000 Mitglieder geschrumpft ist, dass jeden Monat rund eintausend Mitglieder die Partei verlassen, dass die CDU der Ära Merkel bei Wahlen beständig an Zustimmung verliert, könnte auf die Vernachlässigung urdemokratischer Tugenden zurückzuführen sein. Wer mag sich schon engagieren, wenn andere das Sagen haben?

Oder sind es doch die Inhalte, von denen sich Mitglieder und Wähler mit Grausen abwenden? Da mögen sich Philipp Mißfelders »Junge Union« und Otto Wulffs »Senioren-Union« noch so sehr um den programmatischen, den christlichen und konservativen Kern des Parteiprogramms bemühen: An der Spitze der Partei finden sie damit kein Gehör. Das Manifest »Kultur des Lebens« etwa, das die Senioren-Union im Juli 2011 beschloss, hatte keinerlei Auswirkungen auf das Reden und Handeln des führenden Personals.

Erstaunt berichtete Eckart Lohse in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Mitte September 2011 über einen Abend mit der Kanzlerin und Parteivorsitzenden: »Angela Merkel hat die CDU ihrem Willen unterworfen, manches laute Stöhnen der Katholiken, der Konservativen, der Ehemaligen kündet davon. Als sie am Donnerstag in der KonradAdenauer-Stiftung, der intellektuellen und wissenschaftlichen Herzkammer der Partei, eine Rede zur Integrationspolitik hielt, die auf jedem Grünen-Parteitag bejubelt worden wäre, durchzuckte es manchen der Zuhörer.«

Aus vielen Gründen also kamen im Herbst vier Bürger dieses Landes zusammen, um ihrem Herzen Luft zu machen: Eine Personalberaterin, ein Lehrer, ein Publizist und ein ehemaliger General und Minister wollen sich mit den deutschen Scheindebatten und Selbstberuhigungen nicht länger abfinden. Arnulf Baring, Josef Kraus, Mechthild Löhr und Jörg Schönbohm sprachen über das, was unleugbar der Fall ist, und über das, was geschehen müsste, die Not zu wenden. Es entstand, wie zu sehen sein wird, ein munteres, forsches und hoffentlich anstößiges Gespräch, die Grundlage für diesen Band, der ein Anfang sein soll, ein Präludium zu einem gesamtgesellschaftlichen Konzert der Stimmen.

Gewöhnlich heißt es in der editorischen Notiz zur Druckfassung solcher Gespräche, der mündliche Duktus sei beibehalten worden. Das stimmt auch hier grosso modo. Gleichwohl wurde nach Abschrift und Korrektur an der Klarheit der Gedanken, die immer eine Klarheit des Ausdrucks ist, weitergearbeitet. Der lebendige Charakter der Auseinandersetzung hat dabei hoffentlich keine Einbußen erlitten. Die letzte Fassung ist Anfang Oktober entstanden.

Der ursprünglich vorgesehene Titel »Es reicht!« war leider ebenso vergeben wie die bekannteren Alternativen »Wehrt euch!« und »Empört euch!«. Dass der nun gewählte Titel eine mindestens doppelte Bedeutung hat, dürfte unmittelbar einleuchten. Schließlich sollten weder unsere materiellen noch unsere immateriellen Werte, sei es panisch oder planvoll, verramscht werden. Auf verramschte Ware folgt zuweilen der Konkurs des Produzenten. Das haben Deutschland und Europa nicht verdient, und auch um die Union wäre es schade. Ein Anfang könnte also gemacht sein.

Wie jedes Gespräch ist auch dieses unendlich. Es lebt fort, wo ihm widersprochen oder zugestimmt, wo weitergedacht wird. Und natürlich immer dann, wenn das politische Lullaby verstummt, mit dem wir uns beruhigen, das sei doch alles nicht so dramatisch, ach, das sei doch alles nicht mehr ernst zu nehmen. So mild und süß klingt das Wiegenlied nur auf der Titanic.

Alexander Kissler Berlin, im Oktober 2011
Schluss mit dem Ausverkauf

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