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Prolog

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Ich erzähle dir die Geschichte von einem Phantom. Es ist mein Phantom, nur mein Phantom. Ich teile es mit niemandem. Trotzdem gehört es nicht immer mir. Denn Phantome sind flatterhaft und nicht an Zeit und Raum gebunden. Sie können auftauchen, wann und wo sie wollen. Sie tun das besonders gern, wenn sie nicht erwartet werden. Und sie verschwinden, wenn du sie festhalten willst.

Phantome können verschiedene Gestalt annehmen. Deshalb kannst du dir nie ganz sicher sein, ob du es immer mit ein und demselben Phantom zu tun hast oder ob es manchmal ein anderes ist. Weißt du, was ein Phantomschmerz ist? Ich weiß es. Es ist nichts da, aber es tut weh. Du glaubst dennoch, dass etwas da ist, das dir weh tut.

Ich bin mit meinem Phantom nicht allein. Ich kenne viele Phantomgeschichten – von meinen Freunden. Die sind zwar schon lange tot, aber ihre Geschichten leben noch.

Ernst Theodor, der zu seinen beiden Vornamen gerne auch Amadeus hinzufügte, hatte ein besonders anhängliches Phantom. Es tauchte – wie nicht weiter verwunderlich – immer wieder in anderer Gestalt auf, zum Beispiel als Aurelie, Julia oder Undine. Er verliebte sich jedes Mal Hals über Kopf, sobald es ihm wieder in neuer Gestalt erschien. Jacques erzählte mir davon:

„Ja, erst die Gestalt und diese Züge… / Doch ihre Züge – welch‘ ein Reiz! / Ich seh sie vor mir so schön / Wie ein Maientag. / Ich folgte ihren Spuren…“

(Jacques Offenbach, Jules Barbier, Michel Carré: Hoffmanns Erzählungen (revidierte deutsche Fassung Wilhelm Zentner), Vorspiel, Dritter Auftritt)

Alle Beziehungen zu seinem Phantom, mag es ihm nun, wie in Jacques‘ Erzählungen, als Olympia oder Antonia oder Giulietta erschienen sein, endeten für Ernst Theodor Amadeus in Katastrophen. Wenn ihn nicht immer wieder seine Muse herausgeholt hätte, wer weiß, wüssten wir davon.

Auch Franz, das ruhelose Genie, rang mit seinem Phantom. Es erschien ihm zuerst als Therese, später als Caroline, dann noch als Josephine. Aber nie konnte er es festhalten. Franz war immer auf Wanderschaft, auf der Suche nach seinem Phantom. Vom Wasser hatte er‘s gelernt:

„Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht, / ist stets auf Wanderschaft bedacht, / das Wasser.“

(Franz Schubert, Wilhelm Müller: Die schöne Müllerin, Opus 25, D. 795, Nr. 1 Das Wandern)

Eines Tages glaubte er, das Bächlein, dem er gefolgt war, habe ihn an die richtige Stelle geführt:

„Hat sie dich geschickt? / Oder hast mich berückt? / Das möcht' ich noch wissen, / Ob sie dich geschickt.“

(Franz Schubert, Wilhelm Müller: Die schöne Müllerin, Opus 25, D. 795, Nr. 4 Danksagung an den Bach)

Wohl schon den Tod vor Augen blickte Franz nochmals auf seine bewahrten Sehnsüchte und verlorenen Hoffnungen zurück, als er seine Gefühle in ein „Notturno“ für nicht mehr als drei Instrumente hineinlegte. Das wurde erst von der Nachwelt entdeckt.

(Franz Schubert: Adagio Es-Dur, Opus posth. 148, D 897)

Bei Robert tauchten Liddy und Nanni, Christine und Charitas auf und verschwanden wieder. Ob sie nur wechselnde Gestalten seines Phantoms waren, das mit seinen Gefühlen spielte? Robert lernte jedenfalls daraus, mit Musik zu verzaubern, was andere, zum Beispiel Heinrich, mit Worten versucht hatten:

„Im wunderschönen Monat Mai, / als alle Knospen sprangen, / da ist in meinem Herzen / die Liebe aufgegangen.“

(Robert Schumann, Heinrich Heine: Dichterliebe, Opus 48, Nr. 1 Im wunderschönen Monat Mai)

Was für Ernst Theodor Amadeus die Muse war, das war für Robert Clara. Sie führte ihn und verließ ihn auch in den dunkelsten Stunden nicht, als sie schon – gegen ihren Willen, wie das eben so ist – eines anderen Phantom geworden war: Johannes setzte alles daran, die dreizehn Jahre ältere Clara festzuhalten. Vergeblich! Und so schrie er seine unstillbare Sehnsucht ohne Worte in die Welt hinaus (Klavierquintett in f-Moll, Opus 34). Das sagt mehr als tausend davon.

Und erst Richard! Wie mühte der sich mit seinem Phantom ab! In seiner Wirklichkeit begleiteten ihn Minna, Mathilde und Cosima – und wahrscheinlich auch noch andere – auf wichtigen Stationen seines Weges. Für sein Phantom ließ ihn die Muse immer wieder neue Gestalten formen: zum Beispiel jenes Mädchen, das von der Idee besessen war, einem verfluchten Seefahrer die verheißene Erlösung zu bringen:

„Preis deinen Engel und sein Gebot! / Hier steh ich treu dir bis zum Tod!“

(Richard Wagner: Der fliegende Holländer, Dritter Aufzug, Schluss)

Ihm entstand auch jenes andere Mädchen, das geheime Wünsche erraten und erfüllen konnte. Als es gegen den Befehl, aber im Einklang mit dem heimlichen Wunsch seines Gottes handelte, war dieser gezwungen, es zu verstoßen, setzte es aber auf einem Felsen, umgeben von einem Feuerring, aus. Er dachte wohl, sein Phantom auf diese Weise für sich festhalten zu können:

„Wer meines Speeres Spitze fürchtet, / durchschreite das Feuer nie!“

(Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen, 1. Abend: Die Walküre, Dritter Aufzug, Schluss)

Eines Tages kam doch ein Furchtloser, der sich die göttliche Braut gewann.

Am leidenschaftlichsten gestaltete Richard sein Phantom aber wohl in der Gestalt jener irischen Maid, einer Königstochter, der zusammen mit ihrem Entführer ein Liebestrank statt des gewünschten Todestranks eingeflößt wurde. Die daraus entbrannte Liebe steigerte Richard unendlich in

„unbewusst – / höchste Lust“.

(Richard Wagner: Tristan und Isolde, Dritter Aufzug, Schluss)

Was blieb Richard von seinem Phantom? Auch er konnte es nie in seiner Wirklichkeit festhalten.

So war das! Auch mein Phantom konnte ich nie festhalten. Wenn ich mir wieder einmal das Scheitern meiner Mühen eingestehen musste, tröstete ich mich mit den Geschichten meiner alten Freunde. Wie ihnen entglitt mir auch mein Phantom immer wieder. Aber gerade weil ich es nicht festhalten konnte, lebte es immer wieder auf. Es ging nicht in der Gefangenschaft, nicht im Käfig meiner Wirklichkeit zugrunde. Leben als Körper bringt auch tot sein als Körper. Aus diesem Dilemma hätte es keinen Ausweg gegeben.

Wäre mir daher nur ein einziger Versuch gelungen, mein Phantom festzuhalten, könnte ich dir diese Geschichte nicht erzählen. Dabei war mir mein Phantom mehrmals zum Greifen nahe. Doch ich begriff es immer zu spät und ergriff es nie. Es war in den Momenten dieser Begegnungen in ein gewöhnliches Wesen aus Fleisch und Blut verwandelt. Solange es in meiner Wirklichkeit weilte, erschien es mir unnahbar. Erst wenn es wieder verschwunden war, fühlte ich es nahe. So muss es auch Freund Marcel ergangen sein, der mir erzählte:

„Manchmal entstand in meinem Schlaf aus einer falschen Lage wie Eva aus der Rippe Adams eine Frau. Während sie aus der Lust hervorgegangen war, die ich erlebte, bildete ich mir ein, dass diese mir erst durch sie zuteil geworden sei. Mein Leib verspürte in dem ihren seine eigene Wärme und drängte zu ihr, ich wachte auf. Die übrige Menschheit war mir dann ferngerückt im Vergleich zu dieser Frau, die ich vor Sekunden erst verlassen hatte; meine Wange war noch warm von ihrem Kuss, mein Leib von ihrem Gewicht zerschlagen. Wenn sie, wie es bisweilen vorkam, die Züge einer Frau trug, die ich im Leben getroffen hatte, setzte ich alles daran, ihr wieder zu begegnen; es ging mir wie denen, die sich auf die Reise begeben, um mit eignen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt. Allmählich verblasste dann ihr Bild, ich vergaß das Geschöpf meiner Träume.“

(Marcel Proust (Übersetzung: Eva Rechel-Mertens): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: In Swanns Welt, Teil 1: Combray. Suhrkamp Taschenbuch 644, Frankfurt am Main 1981, S. 11)

Sobald ich mein Phantom erkannt hatte, verbiss ich mich in den Gedanken, wie ich es in meiner Wirklichkeit festhalten, ihm den Rückweg daraus versperren könnte. So wie es auch Ernst Theodor Amadeus, Franz, Robert, Richard und viele, viele andere versucht hatten. Aber die Hoffnung, dass es doch eines Tages in meiner Welt gefangen sein, sich in meiner Welt verfangen würde und sich nicht mehr losreißen könnte, gab ich nie auf – jedenfalls solange ich denken und mich erinnern konnte. Doch verschwand mein Phantom immer wieder rechtzeitig, bevor die Zerstörung seiner habhaft werden konnte. Es verschwand, um zu leben. Ich gab ihm den Namen Babette.

Später, nach vielen Jahren der vergeblichen Jagd, blieb mir nichts als dieser Name. An diesen Namen erinnere ich mich. Von allem anderen weiß ich nicht mehr, ob es so gewesen ist oder ob es so gewesen sein könnte. Aber ich tröste mich. So war es auch dem greisen Adson ergangen, von dem mir Freund Umberto erzählte. Ich lese dir hier nur den letzten Satz seiner Aufzeichnungen vor, die er als Mönch im Stift Melk zu Papier brachte:

„Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus.”

(Umberto Eco: Der Name der Rose (Übersetzung: Burkhart Kroeber) Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Aufl. München 1986, S. 635)

Nur der Name blieb übrig von der Rose von einst, nur die nackten Namen halten wir fest, können wir festhalten.

Doch lass mich von Anfang an erzählen!

Wo ist Babette?

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