Читать книгу Melange, Verkehrt und Einspänner - Josef Mugler - Страница 3

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Die Musik wurde jäh unterbrochen. Ron Sturiak wurde aus seinen Gedanken gerissen. In letzter Zeit passierte es ihm öfter, dass er sich in Vorstellungen ver­lor, die mit seiner Realität nichts zu tun hatten.

Er sah sich zusammen mit seiner Traumfrau einmal auf einer exotischen Insel durch einen Palmenhain an einem weißen Sandstrand wandeln. Dann wieder sprang das Bild in das abendliche Paris, wo er – wieder in Begleitung – am Ufer der Seine entlangschlenderte, gerade als ein Boot aus dem Dunkel einer Brücke auftauchte. Waren das bloß unwillkürliche Wunschbilder, die das Gehirn im Wach­­­­zustand produzierte, oder war er eingenickt und hatte geträumt?

Er spürte das Verlangen, nach dem Auftrag, den er jetzt in Wien auszuführen hatte, einige Wochen an einen fernen Strand zu verschwinden und auszu­span­nen. Aber wo war die Traumfrau? Gerade als seine Gedanken auf die Suche gingen, wen er sich als Begleiterin für dieses ersehnte Hide-away wünschen könnte, brach die Musik im Kopfhörer ab. Der Kapitän meldete sich und ver­kün­dete, dass sie aufgrund der stürmischen Atmosphäre zehn Minuten früher als geplant landen würden.

Ron Sturiak war im Flugzeug von Zürich nach Wien unterwegs. Auf dieser Strecke kam es immer wieder vor, dass bei starkem Westwind die Flugzeit kürzer als vorgesehen ausfiel. Anders als in früheren Jahren, als die Swiss Air noch dafür sorgte, dass Zürich ein überlastetes Drehkreuz im internationalen Flugver­kehr war, wurden die Abflugzeiten dort nunmehr in der Regel pünktlich einge­halten. Sturiak überlegte: Er sollte in Wien-Schwechat von einer Mitar­beiterin der österreichischen Tochtergesellschaft von Global Consulting Support abgeholt werden. Sicher würde sie seine frühe Ankunftszeit mitbekommen, wenn sie auf Draht war. Und das konnte man von einer Mitarbeiterin des Consulting-Support-Konzerns, egal wo auf der Welt, durchaus erwarten. Von allen Mitgliedern des großen, weltweiten Teams wurde größte Aufmerksamkeit in allen persönlichen Angelegenheiten verlangt. Das war essenzieller Bestandteil der „Support“-Philo­sophie.

Sturiak war von Wien angefordert worden; das heißt, nicht er persönlich, son­dern ein Spezialist für die Aufdeckung versteckter Softwarefehler. Er hatte sich das Attachment der Mail wiederholt durchgesehen, das den Anlass für seine Reise gab. Ein Kunde in Wien hatte Probleme. Vielmehr: Er machte Probleme. Es handelte sich um eine Software, die nicht das gewünschte Resultat lieferte. Er konnte aus dem Text nichts Konkretes über den behaupteten Mangel heraus­lesen. Wahrscheinlich hatte man wieder einmal einen dieser Studenten für die Installation eingesetzt. Die Wiener Tochtergesellschaft hatte das in letzter Zeit öfter getan, weil sie sparen musste. Ihre Kosten lagen im internationalen Ver­gleich auf­fällig über dem europäischen Durchschnitt. Deshalb setzten sie hier jetzt wohl mehr Aushilfspersonal ein. Das funktionierte manchmal ganz gut. Aber wenn es Probleme gab, dann brauchte man einen Experten, der die ver­fahrene Situation wieder in den Griff bekam. Wie im Fall von Ron Sturiak musste man einen solchen dann womöglich aus irgendeinem entlegenen Winkel der Welt kommen lassen, aus dem es nicht einmal einen Direktflug nach Wien gab, jedenfalls nicht mit einer der vom Konzern unter Kontrakt genommenen Flug­linien. Nun war Sturiak im Anflug auf Wien. Er wusste nicht, was dort das Problem sein würde. Und er würde zu früh landen.

Die Maschine tauchte in eine weiße Nebelsuppe ein. Wien hatte nicht nur stür­mischen Westwind, sondern auch jede Menge Wolken. Der Kapitän hatte Regen bei zehn Grad Celsius angesagt. Die Bewölkung war stellenweise aufgerissen. Sturiak konnte dann die „Türme aus Watte“ sehen, die – wie es schien – wenige Meter neben dem Flugzeug hoch in den Himmel ragten. Dann war es draußen wieder für das Auge vollkommen undurchdringlich weiß. Die Scheinwerfer hellten die Umgebung auf kurze Distanz auf, obwohl es schon dunkel war. Der Sturm rüttelte das Flugzeug heftig hin und her und ließ es manchmal auch ein paar Meter absacken. Sturiak störte das nicht sonderlich. In den pazifischen Zonen, wo er sich oft aufhielt, waren die Turbulenzen ärger als im gemäßigten Mitteleuropa.

Sturiak war in den letzten Jahren immer häufiger dienstlich im Fernen Osten unterwegs. Die Softwareproduktion schien sich aus den Vereinigten Staaten und Europa immer mehr dorthin zu verlagern. Angestellt war er bei Global Consul­ting Support, der Muttergesellschaft eines weltweit agierenden Softwarepro­duzenten und -dienstleisters mit der Zentrale in London. Erst am Vortag war er aus Taiwan zurückgekommen und nun schon wieder quer durch Europa unter­wegs.

Obwohl sein Name das nicht andeutete, stammte Sturiak eigentlich aus Deutsch­land. Seine Vorfahren waren im Ersten Weltkrieg vom Balkan nach Frankfurt gelangt, warum, das wusste er selbst nicht genau. Einige Verwandte gab es dort noch, in Swischtow an der Grenze zu Rumänien. Bulgarien war im Ersten Weltkrieg mit dem Deutschen Kaiserreich verbündet. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun.

Das Flugzeug setzte zur Landung an. Es war bereits ziemlich dunkel, aber noch nicht ganz. Man konnte nach dem Austritt aus der Wolkendecke immerhin noch die flache Landschaft und einige Häuser erkennen. Das Flugzeug hatte wegen des Westwindes Wien im Norden umfliegen und von Osten her zur Landung an­setzen müssen.

Sturiak hatte nur Kabinengepäck, denn sein Einsatz sollte in maximal drei Tagen beendet sein. Mehr Budget war dafür in Wien nicht vorhanden. Gelänge es ihm in dieser Zeit nicht, das Problem zu lösen, müssten die Wiener selbst sehen, wie sie zurechtkämen, hatte es in der Londoner Zentrale geheißen.

Wohl musste er an einer Passkontrolle vorbei, da er aus einem Nicht-EU-Land einreiste, aber er beeilte sich, rasch in die Ankunftshalle zu gelangen, was auf dem vergleichsweise kleinen Flughafen von Wien-Schwechat auf kurzem Weg möglich war. Er war neugierig, ob es die Dame von Consulting Support Vienna geschafft hatte, vor ihm da zu sein. Die Schiebetür zur Ankunftshalle öffnete sich und er trat hinaus. Trauben von Menschen warteten hier auf ankom­­mende Passagiere. Er blickte die erwartungsvoll gespannten Gesichter ent­lang, um ein Schild oder wenigstens ein Blatt Papier mit der Aufschrift „Mr. Sturiak“ oder, was wahrscheinlicher war, mit „Consulting Support“ zu er­blicken.

Wen würden sie geschickt haben? Er erinnerte sich an die Dame von seinem ersten Besuch vor einigen Jahren. Er gestand sich ein, dass er lieber die Be­kannt­schaft mit einer anderen machen würde. Die von damals war die ganze Zeit ziemlich trocken und unnahbar geblieben. Wie hieß sie doch gleich? Sturiak wusste es nicht mehr. Aber es schien diesmal überhaupt noch niemand da zu sein. Consulting Support Vienna sparte also neuerdings beim qualifizierten Personal.

Da sah er es auf dem Boden liegen: eine Tafel aus Karton mit seinem Namen. Ja, er konnte es deutlich lesen: „Mr. Sturiak“. Aber warum lag diese auf dem Fußboden? Wo war die Person, die sie hier fallen gelassen hatte? Sturiak hob den Karton in der Größe des A4-Formats auf. Niemand schien ihn zu beobach­ten. Auch nicht die Frau, die in der Nähe stand und angestrengt auf die sich ständig öffnende und wieder schließende Tür starrte, aus der die ange­kom­menen Passagiere herausströmten.

„Entschuldigung, gehört das vielleicht Ihnen?“

„Nein!“

Ein Nein war die Antwort, sonst nichts.

„Aber, ich bitte nochmals um Entschuldigung“, Sturiak bemühte sich in einen seiner Meinung nach in Wien angebrachten höflichen Tonfall zu gelangen, „haben Sie vielleicht jemand gesehen, der diese Tafel in Händen hielt?“

„Ja!“

„Und wo ist diese Person, ich nehme an, es war eine Dame, hingekommen?“

„Weiß nicht! Die hat jemand in Empfang genommen … ist mit denen weg.“

„Aber …“, in Sturiak begann ein ganzes Glockenspiel Alarm zu läuten. Wieso kam ihm diese Auskunft plötzlich so unheimlich vor? Warum kroch ihm eine Angst in die Glieder, für die er kein Bedrohungsszenario vor sich sah? Ein paar Sekunden später hatte er den Faden gefunden, an dem seine Reaktion hing: Einem Kollegen war es vor Monaten bei seiner Ankunft in London ähnlich ergangen. Wieso ähnlich? Bislang lag nichts vor, was auf eine echte Parallele zu dem Vorfall in London schließen ließ. Es war doch bloß mit seiner Abholung etwas schief gelaufen. Sie war offenbar schon hier gewesen. Viel­leicht war ihr in der stickigen Atmosphäre – Sturiak fand die Luft in der Ankunftshalle des Wiener Flughafens zum „Schneiden“ – übel geworden und sie hatte die Halle deshalb eilig verlassen müssen, wobei ihr vielleicht die Tafel mit seinem Namen aus der Hand gerutscht war, ohne dass sie es gemerkt hatte.

Das Gehirn vieler Menschen reagiert in solchen Situationen mit einem Trom­mel­feuer an Vermutungen, die das Ausmaß der wahrge­nommenen Bedrohung entweder zu verstärken oder abzumildern suchen. In Sturiak errang das Gefühl, einer unbekannten und bislang unsichtbaren Bedrohung ausgesetzt zu sein, die Oberhand. Er war nicht der Mutigste. Und er war allein. Und er hatte die Geschichte von London im Kopf, wo ein Mitarbeiter seiner Firma gekidnappt worden war. Man hat ihn bis heute nicht gefunden. Und in­zwischen soll auch noch ein anderer verschwunden sein, ein Experte, der auf dem gleichen Gebiet arbeitete wie er. Das hatte er erst vor Kurzem in Taiwan erfahren. Man konnte ihm aber dort keinen Namen nennen. War er der Nächste? Wie konnte er sich Klarheit verschaffen? Jetzt, in dieser Situation, allein, aber für etwaige Gegner leicht sichtbar, in der dicken Luft der An­kunftshalle des Wiener Flughafens, aus dem er am liebsten Hals über Kopf hinausgelaufen wäre – und damit womöglich seinen Kidnappern direkt in die Hände!

„Können Sie mir beschreiben, wie der Mann aussah, mit dem die Dame, die diesen Karton in Händen hielt, weggegangen ist?“

„Warum? – Wer sind Sie und was wollen Sie? Ich warte hier auf meinen Sohn, der aus Südafrika zurückkommt. Da kommt er schon. Hallo, hallo …“, die Dame bemühte sich, mit der einen freien Hand – in der anderen hielt sie einen dick wattierten Anorak – über die Köpfe der vor ihr stehenden Wartenden hinweg zu winken.

„Nur ein Wort noch: Ich bin dieser Mr. Sturiak!“ Er deutete auf die Tafel mit seinem Namen. „Sie verstehen? Ich bin beunruhigt. Eine Verwechslung, ein Irrtum vielleicht. Ich sollte hier abgeholt werden.“

„Es waren zwei Männer. Die kamen nicht aus der Tür dort. Die kamen von hinten. Nach ein paar Worten, die ich nicht verstand, folgte ihnen die Frau. Das ist alles, was ich weiß. Sie nahmen sie in die Mitte, da fiel wahrscheinlich der Karton zu Boden. Und jetzt tschüss!“

Sturiak war über das unwirsche Ende des Gesprächs verärgert. Aber er war zu besorgt, dass etwas nicht stimmte, womöglich er selbst in Gefahr war, sodass er der Frau nichts mehr erwidern wollte. Warum hatte man die Person, die ihn abholen, in ein Hotel bringen und über seinen Einsatz in Wien instruieren sollte, aus dem Verkehr gezogen? So wie die Augenzeugin die Sache darstellte, war es kein Irrtum. Die Mitarbeiterin von Consulting Support Vienna hatte nicht einen falschen Passagier abgeholt. Sie selbst war hier offen­sichtlich von zwei Män­nern weggelockt worden. Hatte das etwas mit ihm zu tun? Wenn ja, dann konnte jeden Moment hier wer auftauchen, ihn abfangen und an eine falsche Adresse bringen. Instinktiv hatte er die Tafel, nachdem er sie aufgehoben hatte, verkehrt gehalten, sodass sein Name nach innen gerichtet war. Wenn jemand an ihm interessiert war, dann wäre gerade diese spontane Handlung, durch die er die Tafel mit seinem Namen an sich nahm, für den Betreffenden gleichzeitig seine Identifikation gewesen. Er blickte bemüht teilnahmslos um sich, während er innerlich auf das Äußerste gespannt war. Niemand schien sich ihm zu nähern. Allerdings war die Halle nach wie vor ziemlich voll. Es waren relativ viele Flug­zeuge hintereinander angekommen. Einen ungebetenen Abholer in dieser Menge rechtzeitig zu erkennen und vor ihm zu flüchten, erschien unmöglich. Entweder hatten sie es nicht auf ihn abge­sehen oder sie hatten eine Panne. Die Tafel musste weg, auch wenn sie nicht seinen Namen nach außen zeigte. Er faltete sie schnell zusammen und steckte sie in ein Außenfach seines Handge­päcks.

Als Nächstes galt es unauffällig von hier zu verschwinden. Die Dame neben ihm hatte ihren Sohn in den Armen. Sturiak bemühte sich, so zu tun, wie wenn er dazugehörte. Die über das Wiedersehen ihres Sohnes überglückliche Mutter merkte nicht, dass er noch da war und sich an sie hielt, als wäre er der Vater.

Der Sohn merkte es sehr wohl und fragte: „Mutter, wer ist das?“

„Sie sind noch immer da?!“, stellte sie halb fragend, halb vorwurfsvoll fest.

„Madam, ich brauche vielleicht Ihre Hilfe! Erschrecken Sie nicht! Bitte lassen Sie mich zusammen mit Ihnen und Ihrem Sohn diesen Raum verlassen, so als würde ich zu Ihnen gehören, als wäre ich … Ihr Mann. Ja, bitte, tun Sie es für mich! Nur bis zur Taxe … zum Taxi“, korrigierte Sturiak, sich an die Wiener Rede­weise erinnernd.

„Hören Sie …“

„Bitte fragen Sie mich jetzt nicht nach Erklärungen. Ich erkläre es Ihnen später. Bitte gehen wir!“

„Das ist ja wie im Kino“, sagte der Sohn, „ja, gehen wir! Hier ist es ja aufre­gender als in Johannesburg! Und das will was heißen!“

Die Mutter war nun bereit. Sturiak dankte still dem Sohn und dessen Aben­teuersinn. Er begann über seine eigenen Eindrücke aus Südafrika zu erzäh­len, um die beiden, vor allem den Sohn, der hier offenbar der „Chef“ war, bei Laune zu halten. Schließlich waren sie draußen beim Taxistand. Es hatte keine Kompli­kationen gegeben. Sturiak dankte nochmals kurz, ließ sich in den nächsten bereitstehenden Wagen fallen, gab dem Fahrer Anweisung, ins Zen­trum zu fahren und verbarg sein Gesicht, solange sie im Flughafengelände waren, so gut es ging. Es regnete. Und es war inzwischen ganz finster. So konnte ihn im fahrenden Auto sicher niemand erkennen. Aber was nun?

Obwohl er keine genauen Angaben über das Problem hatte, das er bei einem Kunden der Wiener Tochtergesellschaft seines Konzerns lösen sollte, vermutete er, dass dieser Auftrag brisant war. Schließlich ging es um den Einsatz einer neuen Software in der Forschung eines Pharmaunternehmens. Das Funk­ti­onieren oder Nicht-Funktionieren eines einzigen Rädchens in diesem For­schungs­­­getriebe konnte Milliarden bedeuten – für das betroffene Unternehmen oder für dessen Konkurrenten. Wer für eine der letalen Krankheiten wie Krebs oder SARS oder Aids ein wirksames Medikament oder einen Impfstoff hatte – oder zuerst hatte, konnte mit einem weltweiten kaufkräftigen Markt rechnen.

Wenn man die Durchführung seines Auftrags verhindern wollte, dann würden die Auftraggeber keine Kosten scheuen, ihn von seinem Einsatzort fernzuhalten. Das würde bedeuten, dass man mit allem rechnen musste. Dass er nicht am Flughafen abgefangen wurde, war möglicherweise eine Panne der anderen Seite. Oder bildete er sich das alles doch nur ein?

Wenn man allerdings Interesse an der Verhinderung seines Einsatzes hatte, dann würde der betreffende Auftraggeber durch diesen Misserfolg unter erhöhtem Zugzwang stehen. Man würde alles tun, um seine Kontaktaufnahme mit Consul­ting Support Vienna zu unterbinden. Man würde ihn bei seinem diesbezüglichen Versuch erneut ausfindig machen und an seinem Einsatz hindern. Wie konnte er bloß herausbekommen, fragte er sich, wie ernst seine Situation wirklich war?

Da fiel ihm Mario ein. Mario war mit ihm zusammen in mehreren Seminaren an der Universität gewesen und sie hatten sich im Verlauf ihres wiederholten Zusammentreffens angefreundet. Das war allerdings Jahre her. Was Sturiak von Mario Andolfi zuletzt vor zwei Jahren erfahren hatte, war dessen Übersiedlung nach Wien. Er arbeitete hier für eine Investmentgesellschaft, die von Wien aus Beteiligungen an mittel- und osteuropäischen Projekten und Firmen verwaltete.

Mario war wahrscheinlich irgendwo in dieser Stadt. Aber das sollte leicht herauszubekommen sein. Sturiak entschloss sich nach seiner „Flucht“ aus dem Flug­hafengebäude, sein Mobiltelefon vorläufig nicht zu verwenden. Wenn er für irgendjemanden wirklich wichtig war, dann konnte es leicht sein, dass seine Telefonverbindungen abgehört wurden. Wie einfach das in Österreich ging, wusste er zwar nicht. Aber dass es technisch kein Problem war, ihn über sein Mobiltelefon zu orten, war ihm als EDV-Experten jedenfalls klar. Sie würden gewiss nur darauf warten, dass er sich durch das Telefon verriet. Also musste er zuerst ein Hotelzimmer finden, von wo aus er weitere Aktionen starten konnte. Natürlich kam das für ihn gebuchte Hotel nun nicht mehr in Frage. Wenn man ihn suchte, dann sicher zuallererst dort. Noch tappte Sturiak über seine Gegner im Dunkeln. Immerhin passierten ihnen Pannen, sonst hätten sie ihn schon geschnappt.

Sturiak dirigierte das Taxi zu einem kleineren Hotel knapp außerhalb der Wiener Innenstadt in der Margaretenstraße, das er von früher kannte. Er trug sich sicherheitshalber unter einem falschen Namen in das behördlich verlangte Gästeblatt ein. Während er den Lift zu seinem Zimmer im dritten Stockwerk benützte, dachte er nach, mit wem er sich in der Außenwelt in Verbindung setzen sollte. Bloß nicht mit Consulting Support Vienna! Auf diese Kontakt­aufnahme würde die andere Seite gewiss ebenso setzen. Anderseits war es ein Risiko, sich dort nicht zu melden. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erledigen und sollte nach maximal drei Tagen wieder in der Londoner Zentrale von Global Consulting Support zurück sein. Er konnte nicht ewig in Wien herumlungern und warten, was passieren würde. Konnte ihm eine Mel­dung bei seiner Zentrale in London etwas bringen? Wahrscheinlich würde ihn sein Chef angesichts seiner dort gut dokumentierten Überlastung in den letzten Wochen für überdreht halten.

Also war es vielleicht doch das Beste, einen unverfänglichen Mittelsmann wie Mario ausfindig zu machen. Er fand in seinem Terminkalender eine Telefon­nummer, die ihm Mario nach dessen Übersiedlung nach Wien hatte zukommen lassen, und tippte sie, nachdem er sein Zimmer betreten hatte, in den auf dem Nachttischchen stehenden Telefonapparat.

Mario meldete sich tatsächlich. Natürlich war er erfreut, seinen ehemaligen Studienkollegen zu hören. Sturiak schilderte seine Eindrücke der vergangenen Stunde. Es war nun 7 Uhr abends. Mario lebte mit seiner Frau und einer achtjährigen Tochter in Währing, einem Bezirk nordwestlich des Zentrums. Sie erwarteten an diesem Abend Gäste, die in Kürze eintreffen würden. Ron solle doch vorbeikommen und den Abend mit ihnen verbringen. Er würde nicht stören, im Gegenteil, ein Mann wie er, der viel in der Welt herumkomme, schon viel gesehen und erlebt habe, wäre will­kommen.

Sturiak schauderte bei der Vorstellung, dass er in der Situation, die ihn in große Unruhe versetzte, einen Abendunterhalter abgeben sollte. Er lehnte ab, bat aber Mario, morgen früh mit der Geschäftsleitung von Consulting Support Vienna Kontakt aufzunehmen und seine Bedenken zu schildern. Man möge ihn, wenn aus Sicht der Consulting Support kein Grund für einen Verdacht eines Anschla­ges gegen ihn bestünde, in seinem Hotel abholen. Er würde jedenfalls bis 10 Uhr auf einen Kontakt warten. Mario versprach, das zu tun.

Zu dumm! – Er musste Mario nochmals anrufen, denn er hatte nicht daran ge­dacht, dass er sich hier unter einem falschen Namen eingetragen hatte. Nicht auszudenken, was für Komplikationen das wieder verursachen konnte, wenn jemand nach ihm fragte!

Nachdem außer Mario Andolfi niemand von seinem Aufenthalt in diesem Hotel wissen konnte, fühlte sich Sturiak für die kommende Nacht einigermaßen sicher. Aufgrund der Zeitverschiebung gegenüber dem eigentlichen Ausgangspunkt seiner Anreise spürte er nach der Aufregung, die mit seiner Ankunft in Wien verbunden war, nun quälende Müdigkeit. Er fiel rasch in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder emporschreckte. Dann versuchte er sich zu vergewissern, was von den Erfahrungen der letzten Stunden Wirklichkeit, was Täu­schung oder gar nur ein eben abgebrochener Traum war.

*

Anke fühlte den Schmerz in der Stirn, im Nacken, an den Schläfen, überall. Es war anders als sonst, wenn sie mit Migräne aufwachte. Alles schien anders. Sie versuchte, sich zu erinnern. Woran sollte sie sich erinnern? Mehrere Bilder der letzten Tage bauten sich vor ihr auf. Welches war das gewünschte? Waren alle diese Bilder real oder befanden sich auch ein paar Traumgespinste darunter? Anke hatte Mühe, die Realität, eine ihr ungewohnte Realität von den unwirk­lichen Fantasiebildern zu unterscheiden, die in ihrem Kopf um Anerkennung rangen.

Bevor sie den Gedächtnisspuren weiter nachgehen wollte, versuchte sie sich ihre Lage zu erklären. Welche Zeit war es jetzt? Menschen wie sie, die beruflich vom Zeitmanagement für sich selbst und für andere geprägt waren, fragen immer zuerst nach der Zeit und nicht nach dem Ort, an dem sie sich befinden. Die Zeitfrage hatte am Beginn des 21. Jahrhunderts die Ortsfrage, welche die Menschheit über Jahrtausende beherrscht hatte, an Wichtigkeit bei Weitem über­holt. Sie konnte nicht abschätzen, wie spät es war, ja nicht einmal, welcher Tag eben jetzt war. Es war völlig finster um sie herum. Sie versuchte, sich zu bewegen. Sie registrierte, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war. Sie versuchte ihre Stimme. Es ging nicht. Ihr wurde bewusst, dass ihr Mund mit einer Folie ver­klebt war. Sie hatte keine Chance, ihre Lage zu beurteilen. Aber sie lebte. Daran hatte sie keinen Zweifel. Im Jenseits würde der Kopf nicht so schmerzen, würde ihrer Vorstellung nach überhaupt nichts schmerzen.

Wenn schon eine Beurteilung der gegenwärtigen Lage unmöglich schien, dann war es wohl am besten, sich einmal darüber klar zu werden, wie es dazu gekom­men war. Anke dachte als Erstes an einen Autounfall. Vielleicht befand sie sich in der Intensivstation eines Krankenhauses. Dagegen sprachen natürlich der verklebte Mund und die totale Finsternis. Hatte sie ihr Augenlicht verloren? Das konnte sie nicht sofort ausschließen. Aber die Tatsache, dass man sie an Händen und Füßen gefesselt und ihr den Mund verklebt hatte, sprach nicht für die Folgen eines Unfalls. Himmel, jetzt wurde ihr klar, dass sie Opfer eines Ver­brechens geworden sein könnte! Ihre Abwehrkräfte, ihr Lebenswille erhiel­ten starke Impulse. Wenn sie in verbrecherischer Absicht hier festgehalten wurde, dann hieß es besonders aufmerksam und vorsichtig sein. Man hatte sie offenbar aus dem Verkehr gezogen, aber nicht beseitigt. Die Gefahr war noch nicht vorbei. Man hatte mit ihr also noch etwas vor. Sie lebte noch und sie begann zu denken, strategisch zu denken.

Der stechende Schmerz in ihrem Kopf schien sich ein wenig zu mildern. Die Feststellung zu leben, die Erkenntnis, nicht irgendwelchen Räubern in die Hände gefallen zu sein, welchen ihr Leben egal war, gaben ihr das Gefühl, wichtig zu sein, eine bestimmte Rolle in dem, was vorging, zu spielen. Als Nächstes dachte sie an Herbert. Sie war seit einigen Monaten mit Herbert liiert. Da sie aber nach wie vor in ihrer Wohnung allein lebte, konnte es leicht sein, dass Herbert ihr Verschwinden noch nicht aufgefallen war. Weder traf sie Herbert täglich noch telefonierte sie wegen jeder Kleinigkeit mit ihm. Sie war kein Teenager mehr, der ständig jemandem seine Erlebnisse mitteilen musste. Das Telefon war ihr nicht Ersatz für persönliche Begegnungen, sondern ein professionelles Instru­ment. Wo war ihr Handy wohl, wo waren überhaupt ihre Sachen? Ihre Hand­tasche mit ihrem Terminkalender und sonstigen Aufzeichnungen?

Der Gedanke an das Telefon brachte ihr die Erinnerung an die Situation zurück, als sie ihr Handy in der Handtasche zuletzt läuten gehört hatte. Das war in der Ankunftshalle des Flughafens. An dieses Ereignis konnte sie sich plötzlich gut erinnern. Da war doch der Anruf aus ihrer Firma, aus der Telefonzentrale, von irgendeinem der Studenten, die dort nach Dienstschluss die Stellung hielten, dass Herr Sturiak sich gemeldet hätte, dass er wegen verspäteter Ankunft in Zürich den Anschlussflug nach Wien versäumt habe und erst mit der nächsten Maschine kommen würde. Und sie hatte sich so beeilt, wegen der verfrühten Ankunft noch rechtzeitig am Flughafen zu sein! Das war umsonst, wie es eben manchmal vorkommt. Anke hatte schon einige Erfahrungen mit Handlungen, die sich nachträglich als vergeblich herausgestellt hatten, sowohl in der Firma als auch privat. Damit musste man immer rechnen.

Nachdem sie dieses Telefonat entgegengenommen und eben schon überlegt hatte, ob es Sinn machen würde, nochmals in die Stadt zurückzufahren, war sie von einer ihr bekannten Stimme angesprochen worden. Es war Fred. Und Stoffel war auch da. So ein Zufall! Die zwei Männer kannte sie seit einer Tour durch das Bermudadreieck, jenem Vergnügungsviertel in der Wiener Innenstadt nahe dem Donaukanal, wo man die ganze Nacht verbringen und für seine Angehö­rigen verschwinden konnte, allerdings um am nächsten Morgen doch wieder in der realen Welt aufzutauchen. Man war in diesem Wiener Bermudadreieck nicht für immer verschwunden. Sie war mit einer lustigen Runde unterwegs gewesen, um Annies dreißigsten Geburtstag zu feiern. Annie war seit der Schul­zeit Ankes Freundin. Auch Annie war nicht verheiratet, aber sie schaffte es, alle ihre bisherigen Freunde (oder sollte man besser sagen: Liebhaber? – Anke hätte es gerne genauer gewusst, aber Annie erzählte ihr nicht alles) zu ihrem Geburts­tagsfest zu versammeln. Anke hatte befürchtet, dass das eine ver­krampfte Sache werden würde, aber sie hatte sich geirrt. Alle waren guter Laune und die Freunde oder Liebhaber Annies schienen geradezu das Ereignis gesucht zu haben, um miteinander Freundschaft zu schließen.

Die Stimmung hatte weit nach Mitternacht einen Höhepunkt erreicht, als Fred und Stoffel dazustießen. Anke kannte die beiden überhaupt nicht, hatte sie im Freundeskreis von Annie bisher nie wahrgenommen. Aber alle hatten damals – in nicht mehr ganz nüchternem Zustand freilich – behauptet, die beiden schon lange zu kennen. Schließlich hatte Anke sie besonders lustig und charmant gefunden. Herbert war schon nervös geworden, weil sie ihn gegenüber den beiden vernachlässigt hatte. Als die Partie schließlich gegen früh auseinan­der­ging, jeder seinem Domizil zuströmte oder vielleicht sogar direkt ins Büro, waren die beiden verschwunden, worüber Anke fast ein wenig traurig gewesen war. Gern hätte sie die beiden wieder getroffen.

Umso mehr war sie erstaunt und erfreut zugleich, Fred und Stoffel zufällig am Flughafen zu begegnen. Sie hatten ihr erklärt, dass jemand, den sie abholen sollten, erst mit der nächsten Maschine aus Zürich kommen würde. War das naiv von ihr gewesen, fragte sie sich jetzt, das so einfach zu glauben und ihrer Ein­ladung zu einem Drink ins nahe Flughafenhotel zu folgen. Hätte sie die Parallele zu ihrem Fall, dem verspäteten Eintreffen Sturiaks, stutzig machen sollen? Hätte sie überhaupt der Zufall, die beiden hier wieder zu treffen, stutzig machen sollen? Nein, das konnte man ihr nicht als Fehler anrechnen! Schließlich hatte sie die beiden auf der nächtlichen Spritztour im Bermudadreieck als äußerst freundliche und seriöse Junggesellen kennengelernt – mit ähnlichen Interessen wie die ihren, was Musik und Theater betraf. Sie hatte sich doch gleich mit ihnen verstanden. Und jetzt sollten sie der Anlass für ihre missliche Lage sein? Sie konnte, sie wollte es nicht glauben. Sie versuchte sich verzweifelt an andere Personen zu erinnern, die sie am Flughafen getroffen haben könnte. Zu ihrer Enttäuschung kam ihr keine Alternative zu Fred und Stoffel ins Gedächtnis.

Da es regnete, hatten die beiden sie überredet, die paar Meter zum Hotel mit dem Auto zurückzulegen, und sie war ihnen in das Parkhaus gefolgt. Dann aber verlor sich jede Spur in ihrem gestörten Erinnerungsvermögen. Sie konnte sich nicht an ein Auto erinnern und schon gar nicht an die Fahrt zum Hotel. Ob sie jetzt in einem Hotelzimmer festgehalten wurde? Doch sogleich wurde ihr bewusst, dass sie sich wahrscheinlich irgendwo anders befand. Das Hotel war sicher nicht der wirklich angepeilte Aufenthaltsort gewesen, sondern nur eine Finte, um sie aus der Halle zu locken. Diese Schurken! Die ganze Sympathie, die sie vorher für Fred und Stoffel empfunden hatte, schlug nun in Hass um. Das waren nicht ihre Freunde, sondern ihre Feinde, und zwar Feinde einer beson­deren Art, nicht Feinde, die ihr im Alltag einen Genuss verdorben hatten, sondern der schlimmsten Art, die sie missbrauchten, die sie erniedrigten, für die sie nichts anderes war als eine Figur in einem Spiel, von dem sie vor­läufig weder das Ziel noch die Regeln kannte.

Aber sie lebte. Und sie konnte denken. Das war viel und wenig zugleich, wenn sie bedachte, dass sie in einem ihr unbekannten Raum im Finstern zurück­gelas­sen, an Händen und Füßen gefesselt war und sich auch durch Schreien nicht bemerkbar machen konnte. Aber vielleicht war es gut so, dass sie nicht schreien konnte, denn sie hätte sich dadurch womöglich verraten. Man wäre auf ihr wiedererlangtes Bewusstsein aufmerksam geworden und hätte sie vielleicht neuerlich ins Land der Träume versetzt. So konnte sie wenigstens den kleinen Vorteil für sich buchen, dass die anderen meinten, sie wäre nach wie vor außer Gefecht, während sie immerhin ihre Lage vernünftig bedenken und sich auf den Fortgang des Geschehens vorbereiten konnte. Allerdings änderte sich geraume Zeit in ihrer Umgebung nicht das Geringste. Anke begann, ungeduldig zu werden.

*

Karl Weissacher blickte von seinem Schreibtisch aus durch ein großes Fenster eines Gebäudes aus der Gründerzeit in einen Hinterhof. Das Büro war in einem der typischen alten Mietshäuser in Unter Sankt Veit, einem der äußeren Stadt­teile im Westen Wiens, untergebracht. Weissacher hatte sich für diese Räume entschieden, die ihre Fenster in den Innenhof des Gebäudes gerichtet hatten. Sie waren billiger als straßenseitig gelegene, weil weniger repräsentativ. Wahr­scheinlich hatte hier in früheren Zeiten eine Großfamilie gewohnt. Erst vor einigen Jahren hatte der Eigentümer einige Wohnungen saniert und einige in Büros umbauen lassen. Viele Hauseigentümer in Wien erwarteten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einen Nachfrageschub für Büroräume, weil man an­nahm, dass Unternehmen aus der Europäischen Union, der Österreich im Jahr 1995 beigetreten war, von Wien aus die neuen Märkte im Osten bearbeiten würden. Aber der Boom bei Bürovermietungen blieb in den neunziger Jahren aus oder war jedenfalls nicht so dramatisch, wie man sich erhofft hatte. Die neuen Metropolen in Ostmitteleuropa erhöhten selbst in kurzer Zeit ihre Attrak­ti­vität für Investoren aus dem Westen.

Die Büroräume waren jedenfalls für Weis­sacher günstig. Er hatte seine Agentur erst vor zwei Jahren gegründet. Er war hoch in den Vierzigern. Vor drei Jahren war er von seiner Firma gekündigt worden. Er war ein Opfer der Schließung eines ganzen Geschäftsbereichs geworden, der nicht mehr ausreichend Gewinn abgeworfen hatte. Weissacher hatte bis zuletzt geglaubt, seine Abteilung da­durch retten zu können, dass er deren Komple­mentärwirkung auf andere Geschäfts­bereiche nachwies: Ohne ihn wür­den auch die anderen weniger Gewinn machen, weil die lukrativen Kunden dann fehlten, die er ihnen immer wieder zuführte. Aber letztlich ließ ihn die Firmenleitung fallen. Die Kollegen sahen seine Zubringerfunktion nicht so wie er oder sie wollten es nicht zugeben, weil sie in der Geschäftsführung sonst selbst in ein schlechtes Licht geraten wären. Es half nichts. Weissacher musste gehen, wenn­gleich mit dem Vorteil einer großzügigen Abfindung, und mit ihm eine Schar von rund zwanzig Mitarbeitern.

Nach einer Erholungs- und Nachdenkpause von zehn Monaten startete Weis­sacher neu durch. Er gründete eine Agentur für Personalberatung. Eigentlich war das nur der Aufhänger für seine Dienstepalette: Problemlösungen in allen perso­nellen Angelegen­heiten und darüber hinaus. Schließlich hatte er in seinem frü­heren Job – so nannte er jetzt seine damalige Tätigkeit selbst, nach­dem ihm bewusst geworden war, dass es keine Berufung auf Lebenszeit, sondern ein leicht zu beseitigender Posten gewesen war – viele Menschen kennengelernt. Das ist immerhin ein Vorteil, vor allem wenn man im Vertrieb zu tun hat. Da entwickelt man mehr Gespür für die Menschen, als wenn man in der Produktion oder in der Admi­nistration ständig nur vor einem Bildschirm sitzt und seinem Computer Frech­heiten ohne Rücksicht auf persönliche Folgen sagen kann. Man verliert all­mählich das Gefühl dafür, wie man bei sensiblen Lebewesen an­kommt.

Weissachers neues Betätigungsfeld war also die Behandlung jener Probleme, die im Berufsleben vorkommen: von der Personalsuche über die Vermittlung von geeigneten Schulungsprogrammen bis hin zur Betreuung von Mitarbei­terfrei­setzungen. Letzteres bedeutete, dass sich Weissacher im Auftrag von Firmen­leitungen darum zu kümmern hatte, dass Kündigungen sang- und klang­los über die Bühne gehen konnten. Er hatte herauszufinden, welche Mitarbeiter Schwie­rigkeiten machen würden und wie man diesen begegnen könnte. Kein schönes, aber angesichts der Flaute in der europäischen Wirtschaft ein durchaus einträg­liches Geschäft. Kurz und gut: Weissacher bot maßgeschneiderten „Ser­vice“ in Personalangelegenheiten, die für die Geschäftsleitungen unbequem waren.

Weissacher war eben erst in sein Büro gekommen, als Ilona ein Gespräch zu ihm durchstellte. Ilona war Weissachers Sekretärin. Sie war es schon in seiner früheren Firma gewesen. Er hatte sie, obwohl sie nach seinem Abgang schon in einer anderen Ab­teilung Fuß gefasst hatte, wieder für sich und seine neue Agentur gewinnen können. Sie waren ein gut eingespieltes Team. Sie freuten sich beide, wieder zusammenarbeiten zu können. Ilona war bereit, das Risiko eines Jobs in einer neu gegründeten Firma auf sich zu nehmen. Sie hatte Ver­trauen in Weissacher.

Am Telefon war Gerhard Priem, der Assistent der Geschäftsleitung von Consulting Support Vienna. Weissacher kannte Gerhard ebenfalls aus früheren Tagen, als sie beide noch gut im Markt liegende Produkte verkauften und sich gegenseitig so manchen attraktiven Kunden zuspielten. Gerhard Priem war auf­ge­regt und hatte es offenbar eilig, da er gleich zur Sache kam.

„Karl, wir haben da ein Problem, zu dem ich deinen Rat brauche!“

„Schon wieder!“, dachte Weissacher, nachdem er von Priem erst vor wenigen Tagen über zunehmende Schwierigkeiten mit unzureichend qualifi­zierten Mitar­bei­tern erfahren hatte.

„Wo brennt es denn?“, versuchte Weissacher die Sache erst einmal tröstend herun­terzuspielen. „Braucht ihr wieder eine Nachhilfe für einen eurer Ama­teure?“

„Nein, Karl, es ist etwas Rätselhaftes passiert! Anke ist verschwunden und mit ihr ein Softwareexperte, den sie gestern Abend am Flughafen hätte abholen sollen.“

„Na, die werden verschlafen haben.“ Weissacher stellte sich vor, dass Priem ob dieser frivolen Mutmaßung ein wenig entspannter sein würde. Er kannte Anke flüchtig. Sie war einmal bei einem Sommerfest, das Priem veranstaltet hatte, zu Gast gewesen. Sie war zweifellos eine attraktive Frau, nicht naiv, aber lebens­lustig, vielleicht sogar gelegentlichen Abenteuern nicht abgeneigt. „Wartet noch eine Stunde, dann hört ihr eine lustige Ausrede für die Verspätung und alles ist wieder in Ordnung.“

Gerhard Priem schien gar nicht erleichtert. „Karl, mach keine Witze! Es handelt sich um Sturiak! Sturiak ist einer der teuersten Support Agents des Konzerns. Jede Stunde, die wir ihn brauchen, kostet uns ein Vermögen. Er ist extra hierher eingeflogen worden, von was weiß ich wo auf der Welt.“

„Auch der teuerste Experte kann ein ganzer Kerl sein und bei Anke schwach werden!“

„Nein, Karl! Sturiak weiß, was er der Firma kostet. Der macht das nicht. Wir haben bei Anke angerufen. Niemand meldet sich da. Wir haben im Hotel ange­rufen. Sturiak ist dort nicht angekommen. Er war aber an Bord der Maschine, mit der er aus Zürich nach Wien kommen sollte. Anke haben wir zuletzt gese­hen, als sie in aller Eile zum Flughafen aufbrach. Der Flug war früh dran. Sie wollte rechtzeitig in Wien-Schwechat sein. Sie war mit einem Taxi unterwegs. Der Taxifahrer konnte sich erinnern, sie am Flughafen bei der An­kunftshalle abgesetzt zu haben. Dann fehlt jede Spur von ihr. Und ebenso von Sturiak, der in der Maschine aus Zürich war.“

“Klingt allerdings merkwürdig, auch wenn ich Anke ein Abenteuer zutraue.“ Weissacher begann ernsthaft über die Sache nachzudenken.

„Wisst ihr sonst noch etwas? – Was ist das für ein Auftrag, den euer Sturiak erle­digen sollte? Wozu braucht ihr einen so teuren Experten?“

„Das kann ich nicht so ohne Weiteres sagen. Unser Kunde war mir gegenüber sehr zugeknöpft. Ich bin persönlich in diesen Geschäftsbereich nicht involviert.“ Priem klang etwas unsicher und verschämt: Er, der Assistent der Geschäfts­leitung, war in eine Sache von Wichtigkeit für seine Firma nicht voll eingeweiht, nicht einmal jetzt, wo es eine Komplikation gab!

„Dann lass dich erst einmal informieren, Gerhard. Wenn wir wissen, was Sturiak tun sollte, können wir vielleicht erraten, was dazwischengekommen ist oder wer ein Interesse haben könnte, dass etwas dazwischenkommt.“

„Ich werde es versuchen. Wie immer hast du recht und einen klaren Kopf, wäh­rend ich gleich in Panik gerate. – Bitte halte dich aber bereit! Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Weissacher legte auf. Ilona brachte die Karaffe Wasser, die Weissacher jeden Tag auf seinen Tisch gestellt bekam, damit er in der trockenen Büroluft genug Flüssigkeit zu sich nahm.

„Ilona, stell dir vor, da holt eine Sekretärin einen wichtigen Mann vom Flug­hafen ab und seither sind beide verschwunden. Was hältst du davon?“

„Kommt darauf an, wer es ist!“, bemerkte Ilona kurz.

„Wie gesagt, ein Riesenkaliber von einem Experten, kostet der Firma ein Ver­mögen. Und die Sekretärin ist eine attraktive Blondine, aber höchst zuverlässig in ihrem Job.“

„Ist ein bisschen wenig an Information! – Unglücksfälle und Irrtümer sind doch wohl schon ausgeschlossen – oder?“

„Sind ausgeschlossen!“

„Die Sache schmeckt mir nicht! Man sollte wissen, welchen Auftrag der Verschwundene in Wien erledigen sollte und was er sonst noch treibt. Vielleicht hat das Ganze gar nichts mit Wien zu tun. Vielleicht hängt irgendein anderes Übel an ihm, das gerade in Wien schlagend wird!“

„Gut spekuliert, Ilona! Aber eben nur spekuliert. Übrigens: Kennst du vielleicht die Anke von Consulting Support?“

„Nicht persönlich, aber ich habe von ihr gehört. Die dürfte in Ordnung sein. Die macht angeblich keine unüberlegten Sachen! – Ich würde mich mal darauf ein­stellen, dass da etwas nicht stimmt.“

Das Telefon rührte sich wieder. Wieder Gerhard Priem.

„Karl, du sollst sofort hierher in unser Büro kommen. Die Alarmstufen steigen bei uns alle paar Minuten weiter an, solange die beiden verschollen sind.“

„Gut, bin schon unterwegs. Ilona, stell die übliche Message in unser Such­netz­werk! Vielleicht erinnert sich jemand, die beiden wo gesehen zu haben.“

„Aber ich habe doch gar keine Details zu den Personen!“

„Da ist der Hörer, Herr Priem wird dir alles sagen, was notwendig und bekannt ist.“

Damit eilte Weissacher aus seinem Büro hinaus und das Stiegenhaus hinunter, das wegen des trüben Wetters noch unfreundlicher wirkte als sonst. Aber die Adresse war gut genug für ihn und die Miete erträglich.

Die Consulting Support Vienna war eigentlich eine simple Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach österreichischem Recht. Auf dem Markt hieß man freilich besser Consulting Support Ltd. Das beeindruckte zwar nicht die ausländischen Partner, aber immer noch einige inländische, trotz der zuneh­menden Imageprobleme dieser Rechtsform. Der Mittwochmorgen, an dem dieser Mr. Sturiak für einen wichtigen Kunden Softwareprobleme lösen sollte, die man mit den eigenen Mitarbeitern nicht lösen konnte, war wie der vorherige Tag grau und verregnet. Es war Spätherbst, ein Tag im November, die Tem­peratur in der Früh schon nahe am Gefrierpunkt angelangt. Doch der Wetter­bericht versprach, dass der erste Schnee der Saison noch nicht zu erwarten war, jedenfalls nicht im Stadtgebiet.

Weissacher hatte die U4 genommen. Von Unter Sankt Veit bis Schwedenplatz dauerte die Fahrt auf dieser U-Bahnlinie rund eine Viertelstunde. Das hätte er mit dem Auto nicht geschafft und dann hätte er eine teure Tiefgarage nehmen müssen, denn er konnte sich nicht ausmalen, wie lange die Krisensitzung bei Consulting Support dauern würde, mit Kurzparkscheinen hinter der Wind­schutzscheibe wäre wohl nicht das Auslangen zu finden gewesen. Als er noch Vertriebsleiter war, hätte er nicht gezögert, mit dem Auto ins Zentrum zu fahren. Die Parkgaragenkosten waren ihm damals egal. Aber jetzt, als selbstständiger Unternehmer, sparte er alle nicht unbedingt nötigen Kosten ein.

Weissacher wurde vom Empfang dem Sekretariat der Geschäftsführung gemel­det. Gerhard war sofort zur Stelle.

„Noch keine Nachricht von den Verschwundenen?“, fragte ihn Weissacher, obwohl er aus der Miene Gerhards ohnehin schon die Antwort erschließen konnte.

„Wir gehen gleich zu Mosak“, sagte Gerhard Priem.

„Der Chef persönlich?“ Weissacher wurde allein aus der Befassung Mosaks mit der Angelegenheit klar, dass es sich um eine äußerst besorgniserregende Affäre handeln musste. Er hatte bei anderer Gelegenheit von Gerhard erfahren, dass Mosak, der das Unternehmen gegründet hatte, neben einer internationalen Ge­sellschaft, an die er vor Jahren einen größeren Anteil verkauft hatte, nach wie vor selbst noch wesentlich beteiligt und auch formal noch Geschäftsführer war. Er hatte sich aber nach und nach de facto aus dem Alltagsgeschäft zurückgezogen und wurde nur noch bei außergewöhnlichen Ereignissen ein­geschaltet. Das war also ein außergewöhnliches Ereignis!

Priem und Weissacher wurden von der Sekretärin sofort zu Stefan Mosak eingelassen. Der begrüßte Weissacher ohne erkennbare Erregung, sodass dieser zunächst einmal das Gefühl bekam, dass die Sache nicht wirklich so heiß war, wie sie ihm Priem ausgemalt hatte.

„Ich habe von Ihren Dienstleistungen gute Referenzen“, sagte Mosak, wie wenn es sich um beiläufige Sondierungen über mögliche künftige Aufträge handelte und nicht um ein akutes Problem, das unter Zeitdruck stand.

„Das freut mich“, brachte Weissacher unsicher hervor. Er wusste nicht, ob er den Gesprächsfaden weiterspinnen sollte, wie er es aus seiner früheren Ver­triebspraxis gewohnt war. Da war er es gewesen, der Kunden auf Touren bringen musste, um zu erfahren, welches Angebot Chancen hatte. Jetzt war er wieder in der Rolle des Verkäufers, aber er wusste eigentlich nicht, was er an­bieten sollte.

Gott sei Dank schaltete sich Priem ein: „Herr Weissacher weiß bereits, dass zwei für uns sehr wichtige Personen … nun sagen wir … nicht mit der von ihnen erwarteten Verlässlichkeit auf ihren Posten sind. Aber er weiß nicht, um welche Aufgaben es sich handelt, die diese Personen erfüllen sollen. Leider weiß ich darüber auch zu wenig, deshalb schien es mir am vernünftigsten, Ihnen die mir aus vielen Begegnungen bekannte Problemlösungsfähigkeit von Herrn Weissacher für diesen Fall vorzuschlagen.“

Das klang furchtbar umständlich. Priem war also, so fühlte Weissacher nun, keineswegs überzeugt, dass er der Richtige für diesen Fall sei. Das konnte man dem Kumpel aber auch nicht übel nehmen, wenn er selbst im Dunkeln tappte, worum es eigentlich ging.

„Also gut!“ Mosak schien sich zu einem Entschluss durchgerungen zu haben. „Unsere Firma hat unverständlicherweise, mir …“, das „mir“ betonte Mosak auffällig, „… völlig unverständlich, ein Problem mit einer bestimmten Software, für dessen Lösung wir uns entschlossen haben, von der G.C.S.-Zentrale in London einen Experten anzufordern. Man hat uns daraufhin avisiert, dass man einen gewissen Mr. Sturiak, Ron Sturiak, nach Wien schicken würde. Das Problem hat einer unserer Kunden, dessen Namen wir Ihnen wohl oder übel preisgeben müssen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass der Kunde etwas damit zu tun hat. Es ist Nasdal.“

Weissacher kannte den Firmennamen von ein paar Pressemeldungen über den erfolgreichen Test von neuen Medikamenten. Aber er erinnerte sich nicht, um welche Art von Medikamenten es sich handelte oder wogegen diese eingesetzt würden. Dieses Unternehmen schien eines der neuen Pharmaunternehmen zu sein, die seit Kurzem einen fulminanten Erfolgskurs steuerten, eines dieser New-Economy-Unternehmen mit Sitz am Stadtrand von Wien, wo man auch ein Forschungszentrum betrieb. Mehr wusste Weissacher von Nasdal nicht. Er konnte sich aber gut vorstellen, dass es einem Software-Unternehmen nicht gleichgültig war, ob ein Kunde wie Nasdal mit dem angebotenen Produkt zu­frieden war oder nicht.

Weissacher zeigte sich von der Nennung des prominenten Kundennamens nicht sonderlich beeindruckt. Vielmehr interessierte ihn, worin denn das aufgetretene Problem bestünde.

Mosak wiederum versuchte entweder auszuweichen oder wusste wirklich nicht im Detail Bescheid. Er flüchtete sich in die Formulierung, dass es nicht so einfach sei, ein Softwareproblem einem Laien zu erklären. Es handle sich um ein Produkt, dessen Grundbausteine im Konzern, genauer gesagt in der Konzern­tochter in Taiwan, entwickelt und von Consulting Support Vienna an die konkreten Bedürfnisse des Kunden, der Firma Nasdal eben, adaptiert worden waren. Es sei das ein ganz neuer Softwaretyp, der in der Forschungsabteilung von Nasdal für die Entwicklung von Medikamenten eingesetzt werden sollte.

Weissacher war sich ziemlich rasch der Vielzahl von Variablen bewusst, die hier das eigentliche Problem ausmachen konnten: die chinesische Konzerntochter als Lieferantin der Ausgangssoftware; der Bearbeiter bei Consulting Support Vienna, der das Rohprodukt veredeln sollte; die Forscher bei Nasdal; das Medikament, um das es ging; die Konkurrenten, die an einem ähnlichen Medikament arbei­teten. Ein bisschen viel, um einen griffigen Ansatzpunkt zu finden! Und dazu die Verschlossenheit seiner Gesprächspartner! Wussten sie wirklich nicht mehr?

Mosak schien zu erraten, was in Weissachers Kopf vor sich ging. Er unterbrach das Schweigen, indem er Weissacher einlud, mit dem Team zu sprechen, das den Auftrag für Nasdal bisher bearbeitet hatte. Eine Kollegin und zwei Kollegen würden in ihren Zimmern auf das Eintreffen von Herrn Sturiak warten.

Weissacher war einverstanden, bei diesen Leuten mit seiner Arbeit zu beginnen. Aber vorher galt es für ihn, noch zwei Dinge zu klären. Erstens: Worin bestand eigentlich sein Auftrag und nach welchen Kriterien würde er bezahlt werden? Und zweitens: Sollte man nicht die Polizei einschalten, nachdem zumindest für die Sekretärin Anke feststand, dass sie abgängig und vielleicht Opfer eines Verbrechens war?

Weissacher erhielt die Zusicherung, dass er für den vollen Zeitaufwand nach seinem üblichen Stundensatz honoriert würde, samt einer Verdoppelung in dem Fall, dass das Problem maßgeblich durch seine Leistung gelöst würde. Er las aus diesem großzügigen Angebot ab, dass es für die Consulting Support offenbar um viel ging, was ihn anderseits aber auch beunruhigte, da sich der Auftrag außerhalb des ihm vertrauten Rahmens zu bewegen schien. Umso mehr lag ihm auch an der Beantwortung der zweiten Frage. In diesem Punkt konnte man ihn davon überzeugen, dass noch kein Handlungsbedarf gegeben sei. Die Polizei wolle man seitens Consulting Support vorerst nicht einschalten, da bislang nur feststünde, dass eine Mitarbeiterin nicht pünktlich am Arbeitsplatz erschienen war. Das war eine Interpretation der Fakten, welche die angesichts der ausge­sprochenen Vermutungen hohe Brisanz sehr herunterspielte. Weissacher war damit klar, dass man den Fall solange wie möglich ohne Aufsehen zu behandeln wünschte.

Weissacher erwartete, in der betreffenden Abteilung von Consulting Support, in welcher an dem Softwareprogramm für die Firma Nasdal gearbeitet wurde, ein niedergeschlagenes Team anzutreffen, das sich schämte, weil seine Arbeit nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte. Nun musste auch noch ein international renommierter Experte zur Lösung des Problems, das ihnen über den Kopf gewachsen war, mit hohen Kosten nach Wien geholt werden. Stattdessen traf er auf viel Selbstbewusstsein, auf Menschen, die vor allem eines zu wissen schie­nen, nämlich dass er nicht der Richtige sein könne, um ihnen weiter­zuhelfen. Weissacher meinte ständig das Unverständnis der drei Leute, die ihm hier gegenübersaßen, dafür zu spüren, dass ihnen die Firmenleitung einen fach­fremden Interviewer geschickt hatte statt eines einschlägigen EDV-Exper­ten.

Weissacher hatte Mühe, die Sache zu erklären. Sturiak wäre gestern Abend erwartet worden, aber nicht eingetroffen. Es könne sein, dass jemand Interesse habe, dass das Problem, um das es bei der Firma Nasdal gehe, nicht gelöst würde. Es sei nicht auszuschließen, dass ein Kriminalfall, vielleicht ein Fall von EDV-Kriminalität oder Wirtschaftskriminalität vorliege.

Weissacher musste irgendwie versuchen, die Wand des Schweigens, vor wel­cher er hier stand, zu durchbrechen, und versuchte es mit einer Frage: „Haben Sie mit Mr. Sturiak schon einmal zusammengearbeitet?“

Ja, aber man kenne Sturiak trotzdem nur flüchtig. Er sei vor ein paar Jahren zur Behebung eines Softwarefehlers hier gewesen. Nicht alle seien damals schon bei Consulting Support gewesen, die Neuen würden ihn nicht kennen. Fachlich müsse er als höchst kompetent eingestuft werden. Vor allem für das Problem, das sie jetzt hier hätten.

„Können Sie dieses Problem einem Laien beschreiben?“

Weissacher erregte mit dieser Frage sichtlich den Unwillen vor allem des Chefs der Gruppe, der ihm als Herr Machlinger vorgestellt worden war. Der ließ sich schließlich zu einer Erklärung herab:

„Es ist das Problem der Verknüpfung von mehreren Statistikprogrammen, die sich gegenseitig dynamisch verstärken, sodass eine Verbesserung der Daten­analyse gegenüber allen herkömmlichen Analyseprogrammen erzielt werden kann. Man könnte auch sagen, es handelt sich um lernende Programme.“ Endlich kam der Leiter des Teams zur Sache.

„Und worin liegt das Problem?“, wollte Weissacher wissen.

„Es funktionierte bereits in einigen Testläufen. Dann traten Unregelmäßigkeiten auf, unerklärliche Fehler, die eigentlich gar nicht möglich sein dürften.“

„Wofür braucht Nasdal so ein Programm?“, bohrte Weissacher weiter.

„Eben für die Analyse ihrer Daten. Je besser sie Strukturen in einem ungeheuren Universum an Daten erkennen können, desto besser können sie daraus Konse­quenzen ziehen, Konsequenzen, die für das Design von Wirkstoffen gegen Krank­­heitserreger entscheidend sein können.“

„Mit welchen Krankheitserregern beschäftigt man sich denn derzeit bei Nas­dal?“, so Weissacher weiter.

„Das wissen wir auch nicht so genau. Das war nicht unser Interesse. Die Kol­legen von Nasdal legten Wert darauf, dass das Programm nicht nur für einen be­stimmten Einsatzbereich maßgeschneidert würde, sondern transportabel und flexibel bleiben müsse, das heißt, mit wenigen Eingriffen auf verschiedene Problem­strukturen anwendbar werden müsse.“

Weissacher hatte das Gefühl, dass er von dieser Wand, die ihm hier entgegen­stand, immer wieder abprallte wie ein Gummiball, der ahnungslos in einem Raum herumsprang, ohne seinen Bestimmungsort zu finden. Daher versuchte er es mit einer offeneren Frage:

„Glauben Sie, dass jemand Interesse haben könnte, die Funktionalität Ihrer Soft­ware zu behindern, und wenn ja, warum?“

„Nun, es handelt sich mit Sicherheit um eine Weltneuheit. Wir könnten berühmt werden und die Firma könnte reich werden, wenn es funktioniert. Und Nasdal vermutlich auch, wenn sie die richtigen Einsatzbereiche haben. Und die dürften sie haben. Das Interesse an unserem Programm ist dort riesengroß, genauso wie die Enttäuschung, dass es jetzt plötzlich nicht mehr funktioniert.“

„Und Sie zweifeln nicht daran, dass es grundsätzlich funktionieren muss?“

„Es muss funktionieren. Wir haben alles getan, alles doppelt und dreifach ge­prüft. Es muss funktionieren.“

„Aber es will nicht!“, ergänzte Weissacher, nicht ohne wieder die Gering­schät­zung zu bemerken, die seine gefühlsbetonte Beschreibung harter Fakten be­wirkte.

„Sagen Sie mir doch noch, wer Ihre Kontaktpersonen bei Nasdal sind. Wer ist dort Ihr technischer Ansprechpartner und wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit dieser Person?“

„Das ist Dr. Rohrig, Stephan Rohrig. Der hat sich zuletzt persönlich um die Sache gekümmert. Vorher war da auch noch ein Mag. Stern. Aber der wurde von dem Projekt inzwischen abgezogen. Ja, und im Kontakt mit Rohrig waren wir bis vor wenigen Tagen.“

„Bitte halten Sie sich zur Verfügung, da ein Verbrechen nicht auszuschließen ist, zumindest solange Frau Anke nicht auftaucht.“

Weissacher eilte zurück zu Priem. Es war mittlerweile 10 Uhr geworden und noch immer keine Spur von Sturiak und Anke.

Da meldete sich die Telefonzentrale. Wer hatte denn da wieder Dienst? Priem kannte die Stimme nicht. Und er kannte nicht den Anrufer, der ihm angekündigt wurde. Es war Mario Andolfi. Er hätte eine wichtige Mitteilung. Er hätte Nach­richt von einem Mr. Ron Sturiak, der in Wien untergetaucht sei, nachdem er am Flughafen gestern Abend nicht wie verabredet abgeholt worden wäre und ihm auch sonst einige Umstände verdächtig vorgekommen wären. Priem schaltete den Lautsprecher ein, damit Weissacher mithören konnte.

„Bitte sagen Sie uns, wieso sich Herr Sturiak an Sie gewendet und nicht bei uns gemeldet hat!“, begann nun Priem, das Gespräch aktiv zu gestalten.

Andolfi erklärte seine private Beziehung und gab die Befürchtung Sturiaks wieder, dass eine Kontaktaufnahme mit Consulting Support nicht verborgen bleiben würde, wenn es wirklich jemand auf ihn und seine Arbeit abgesehen hätte.

„Dann sind Sie aber jetzt ebenfalls in Gefahr. Denn Sie sind offenbar die einzige Person, die uns und andere zu Sturiak führen kann.“

Andolfi schwieg betreten. So hatte er die Sache noch nicht bedacht. Er war heute etwas später als sonst ins Büro gekommen, wegen des langen Abends mit den Gästen, und hatte auch nicht gleich Zeit gefunden, dem Wunsch Rons zu entsprechen und die Consulting Support von dessen Sorgen zu informieren. Andolfi schwieg und dachte angestrengt nach, wie er aus dieser Situation wieder herauskommen könnte, freilich ohne Ron zu schaden. Aber er musste sich ein­ge­stehen, dass er, wenn es sich wirklich um eine große Sache, womöglich um eine gefährliche Sache handelte, nun mitten drin war.

„Ich werde die Polizei verständigen“, war seine vermeintliche Notbremse.

„Das werden Sie nicht tun“, widersprach Priem, „denn für die Polizei gibt es keine ausreichenden Anhaltspunkte. Mehr als ein mühsames Protokoll ist bei den nüchternen Fakten nicht drinnen. Herr Andolfi, Sie sind in Gefahr, wenn nicht alles ein Luftschloss ist, das sich bald in nichts auflöst! Beachten Sie, was ich Ihnen jetzt sage: Bleiben Sie in Ihrem Büro und lassen Sie um Himmels willen keine Besucher, keine Personen, denen Sie nicht hundertprozentig ver­trauen können, an sich heran! Warten Sie, bis wir uns professionell um Ihre Sicher­heit kümmern können! Nehmen Sie auch vorläufig keinen Kontakt mehr zu Mr. Sturiak auf! Es könnte unsere Widersacher auf seine Spur bringen.“

Weissacher war zufrieden damit, wie Gerhard seine Handlungsfähigkeit wieder gewonnen und das Gespräch in die richtigen Bahnen gelenkt hatte. Nun galt es aber, sich rasch um Andolfi zu kümmern. Er war der einzige Wegweiser zu Sturiak.

*

Anke wusste erneut nicht, wie spät es war, als sie außerhalb des Zimmers, in dem sie festgehalten wurde, Stimmen vernahm. Eine Tür öffnete sich, zwei Gestalten näherten sich und schalteten eine Stehlampe ein, die neben der Couch stand, auf der Anke festgebunden lag. Das Licht war schwach, blendete Anke aber dennoch, da ihre Augen lange der vollkommenen Dunkelheit ausgesetzt gewesen waren. Die beiden Gestalten waren nicht Fred und Stoffel, das war Anke trotzdem sofort klar. Sie waren maskiert, primitiv maskiert, mit einem Strumpf über dem Kopf, was Anke an eine Szene aus einem Film erinnerte, den sie vor nicht allzu langer Zeit gesehen hatte. Einer der beiden hatte ein Glas mit Flüssigkeit, vermutlich Wasser, in der Hand.

Er sagte zu Anke: „Mädchen, wenn du versprichst, still zu sein, dann nehmen wir dir das Klebeband vom Mund und die Fesseln von Händen und Beinen, und du kriegst außerdem was zu trinken.“

Anke fühlte erneut den Durst. Sie nickte mit dem Kopf. Der andere nahm ihr das Klebeband ab, das tat zwar ein bisschen weh, wirkte aber doch wie eine Befrei­ung. Sie musste plötzlich daran denken, wie sie nach der unsanften Behandlung wohl jetzt aussähe. Aber ihr Verstand drängte sie, sich vielmehr darum zu küm­mern, was das Ganze zu bedeuten habe, und sie setzte an zu fragen. Da fuhr ihr der, der ihr das Klebeband abgenommen hatte, dazwischen, als ob er ihre Ab­sicht geahnt hätte, und sagte:

„Lass die Fragen, Mädchen! Nebenan ist ein Badezimmer. Sieh zu, dass du wie­der in Ordnung kommst!“ Anke war froh, endlich eine Toilette benützen zu dürfen. Es war ihr egal, dass man die Tür nicht versperren konnte. Die Bewacher ließen sie einige Augenblicke allein.

Anke beschloss, den Anweisungen zu folgen. Sie glaubte, keine andere Wahl zu haben. Widerstand gegen zwei Männer in einer ihr völlig unbekannten Umge­bung schien ihr aussichtslos.

„Jetzt trink das! Du hast es bald überstanden, ich meine deinen unfreiwilligen Besuch bei uns. Wir sagen dir gleich, wie es weitergeht.“

Anke hatte bereits im Badezimmer Leitungswasser getrunken und zögerte.

„Ist gut für dich. Trink das!“, wiederholte der eine der Maskierten. Das Wasser schmeckte bitter. Sie hatten wohl etwas hinein getan. Anke schauderte bei dem Gedanken und stieß ein Schimpfwort hervor.

„Reg dich nicht auf, Mädchen! Es ist wirklich gleich vorbei. Du darfst nur nichts über uns erfahren. Deshalb müssen wir dich nochmals ruhig stellen. Brauchst keine Angst haben!“

Anke war wütend über die hochherzige Fürsorge ihrer Bewacher. Sie riss an den Bändern, mit welchen immer noch ihre Füße so gebunden waren, dass sie keine großen Schritte machen konnte. Sie spürte, dass sie wenig Kraft hatte. Sie sah ein, dass sie sich unmöglich selbst befreien konnte. Dann beschlich sie das Bedürfnis, sich ausruhen zu wollen. Warum nur, wo sie doch eine be­trächtliche Zeit ohnehin nur ruhig da gelegen war? Sie spürte die Schläfrigkeit, aber sie konnte sich nicht dagegen aufbäumen. Sie fühlte wohlige Wärme und Ruhe. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Als Anke erneut zu sich kam, war es genauso dunkel um sie wie vorher. Wieder dachte sie zuerst an einen bösen Traum, konnte nicht glauben, dass sie das wirklich erlebt hatte, was ihr die Erinnerung nach und nach preisgab. Wo war sie jetzt? War sie noch in der Gewalt ihrer Entführer oder der von diesen beauf­tragten Personen? Sie merkte, dass sie nicht mehr gefesselt war. Sollte sie schreien? Sie entschloss sich, zuerst nach Gegenständen in ihrer Umgebung zu tasten. Sie glaubte, einen ihr vertrauten Geruch wahrzunehmen. Oder roch sie sich selbst? Ihre Finger glitten eine Wand hoch, eine tapezierte Wand. Sie setzte sich auf. Langsam erfassten ihre Augen Konturen. Es war doch nicht voll­kommen finster im Raum. Sie konnte die Umrisse eines Fensters erkennen. Das war offenbar verdunkelt, denn die Fensterfläche war schwarz. Dann glitt ihr Blick zu einem Möbelstück, das ein Schrank sein musste. Anke erschrak. Das war ihr Schrank. Und jetzt kam ihr Bewusstsein Schlag auf Schlag voran. Sie war zu Hause, man hatte sie in ihrer eigenen Wohnung abgesetzt.

Mit einem Ruck – oh je, so schnell ging das nicht, nach der langen Betäubung – unter Aufbietung all ihrer Kraft richtete sie sich auf. Sie fühlte sich elend schlapp. Am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt, sie war ja zu Hause, sie war nicht mehr in einer ihr fremden und feindlichen Umgebung. War es wirklich kein Traum gewesen? War sie vielleicht krank? Ja, sie fühlte sich wie nach einer schweren Grippe, wenn man hohes Fieber hinter sich hatte und noch gar nicht gerne auf die Beine will. Ausruhen von einer langen schweren Krankheit, das war die Sehnsucht, die sie wieder auf das Bett, auf dem sie gelegen war, nieder­drücken wollte. Doch das Geschehene forderte sie zum Handeln heraus. Ihr Geist kämpfte gegen ihren schwachen Körper. Was war als Erstes zu tun? Sie zwang sich auf, um wenigstens Licht machen zu können. Ihre teure Decken­beleuchtung tauchte das Zimmer in das gewohnte Licht. Sie schleppte sich zum Fenster. Das hatte einen Rollladen, der den Raum fast völlig vom Außenlicht abschirmen konnte. Sie zog den Rollladen hoch. Wie schwer das fiel! Er musste ja nicht gleich ganz hochgezogen sein! Durch den Spalt, den sie schaffte, drang das graue Licht eines düsteren Novembertages. Es war Tag. Anke fragte sich, welcher Tag es war. Wie lange war sie ohne Bewusstsein gewesen? Wie lange hatten sie die Entführer festgehalten? Sie hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Sie schaute auf die Standuhr auf der Kommode: Es war fast 11 Uhr. Aber welcher Tag war heute? Sie schaltete den Fernseher ein. Da kam ihr in den Sinn, dass sie unmöglich allein in ihre Wohnung hereingekommen sein konnte. Hatten die Entführer sie hier abgesetzt? Wie kamen die in ihre Wohnung? – Natürlich! Sie hatte ja den Wohnungsschlüssel in ihrer Handtasche. Das war also leicht erklärbar. Waren die Entführer womöglich noch hier? Wurde sie nun in ihrer eigenen Wohnung gefangen gehalten? Anke schleppte sich ins Vorzimmer, hielt Nachschau in allen Räumen ihrer kleinen, aber geschmackvoll ausgestatteten Wohnung. Die Tür auf den Korridor war geschlossen. Sie war allein in ihrer Wohnung, sonst niemand hier. Bevor sie jemanden von ihrem Auftauchen in­formieren würde, beschloss sie, eine Dusche zu nehmen.

Dann rief sie zuerst Herbert an. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Herbert an ihrer Geschichte zweifelte. Aber er wollte sie immerhin sofort aufsuchen, was bedeutete, dass er die Sache an sich ernst zu nehmen schien. Sie war ernst und es machte keinen Unterschied, ob es wirklich passiert war oder eingebildet. Es war in beiden Fällen ernst. Doch Anke wurde bewusst, dass man auch in ihrer Firma, der Consulting Support, ihr Wiederauftauchen so rasch wie möglich erfahren sollte. Da war doch dieser Gast, den sie vom Flughafen abholen sollte. Wer sich wohl um den gekümmert haben würde? Also beschloss Anke, erst einmal in der Firma anzurufen und dann auch gleich hinzufahren. Ja, und die Polizei wäre auch zu verständigen. Aber das würde sie von der Firma aus machen, nachdem sie mit den klugen Köpfen dort beraten haben würde, was jetzt alles zu erledigen sei.

*

Mario Andolfi saß in seinem Büro und konnte sich nicht auf seine Arbeit kon­zen­trieren. Sollte er seine Frau verständigen, in welch merkwürdiger Situation sie plötzlich durch sein Wissen waren? War nicht nur er, sondern waren auch seine Frau und seine Tochter in Gefahr? Wenn es sich um skrupellose Ver­brecher handelte, könnten die sich an seine Familie heranmachen, um ihn zum Verrat von Rons Aufenthalt zu zwingen. Wenn nun aber sein Telefon ebenfalls bereits abgehört würde, dann wäre sein Anruf nur die Bestätigung dafür, dass er der Schlüssel zu Ron war, der einzige Schlüssel, wie er sich nicht ohne stei­gen­des Angstgefühl eingestehen musste. Der Gedanke lähmte ihn so, dass er sich zu keiner Handlung durchringen konnte. Was hatte dieser Priem gesagt? Er solle sich nicht aus dem Büro wagen, bis sie professionellen Schutz organisiert hätten? Wie war es nur möglich, dass er plötzlich zur Schlüsselfigur in einem Kri­mi­nalfall geworden war?

Andolfis Sekretärin meldete einen Herrn Weissacher, der im Auftrag von Consulting Support hier wäre. Mario war froh, dass sich jemand so schnell um ihn kümmerte. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke, dass dieser Be­sucher von der Gegenseite sein könnte, dass er in eine Falle getappt sein könnte. Aber Weissacher war schon im Zimmer.

„Alles in Ordnung? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse seit dem Telefonat mit Herrn Priem?“

Weissacher machte auf Mario einen beruhigenden Eindruck. Der schien die Sache professionell anzugehen.

„Glauben Sie, dass … dass auch meine Familie in Gefahr ist?“

„Wir werden einen Wagen hinschicken. Geben Sie mir die Adresse!“

Sie würden einen Wagen hinschicken? War denn hier schon eine ganze Armee mit dem Fall beschäftigt? Was für eine Riesensache musste das sein?! Mario fühlte wieder die Angst hochsteigen.

„Und jetzt sagen Sie mir, wo wir Ron Sturiak finden können!“, brachte Weis­sacher seine Mission auf den Punkt.

Mario nannte das Hotel.

„Gut! Ich werde hinfahren. Rufen Sie sicherheitshalber weder Sturiak in seinem Hotel noch Ihre Frau zu Hause an! Wir lassen einen Wagen hier vor Ihrem Büro. Sicher ist sicher! Sehen Sie hinunter!“, und Weissacher deutete zum Fenster hin­aus, „das ist der Wagen; die zwei Typen, die sich dort unterhalten, sind zu Ihrem Schutz hier.“ Damit eilte Weissacher schon wieder zur Tür.

Marios Blick fiel auf seine Tischuhr. Sie zeigte 11 Uhr. Da fiel ihm Rons An­kün­digung ein, dass er nur bis 10 Uhr im Hotel bleiben würde.

„Herr Weissacher! Hoffentlich ist das kein Problem: Ron sagte mir, dass er … eigentlich … nur bis … bis 10 … Uhr in diesem Hotel bleiben würde.“

„Zum Teufel!“ Und Weissacher setzte noch einen Fluch drauf, der nicht nur in den Wind gesprochen war, sondern wohl auch zu einem guten Teil Andolfi galt. „Und da verständigen Sie uns nicht früher? – Mit wem sind Sie im Bund? Ge­hören Sie zu denen, die ein Interesse daran haben, dass Mr. Sturiak seinen Auftrag nicht ausführen kann? Sie werden das noch zu erklären haben!“

„Und beinahe hätte ich vergessen: Sturiak hat sich unter falschem Namen dort registriert!“ Andolfi nannte den Decknamen.

„Jetzt sagen Sie mir aber gleich alles, was Sie noch auf Lager haben, auf einmal!“ Als Andolfi nur hilflos stammelte, nein, das wäre jetzt wirklich alles, ließ ihn Weissacher wortlos stehen. Andolfi wäre am liebsten im Erdboden versunken und haderte mit dem Schicksal, das ihn plötzlich so ganz ohne seine Schuld, wie er meinte, in eine ziemlich unangenehme, offenbar sogar ge­fähr­liche Sache verwickelt hatte.

*

Da Sturiak überzeugt war, dass Mario etwas Vernünftiges unternehmen würde, um ihn an seinen Widersachern vorbei zu seinem Auftraggeber, der Consulting Support, zu bringen, genoss er nach der langen Nacht das Frühstück in seinem Hotel in der Margaretenstraße, jedenfalls so lange, als der Stundenzeiger der auf antik getrimmten Wanduhr noch respektabel weit von der Ziffer zehn entfernt war. Je näher er aber dieser Marke rückte, desto unsicherer wurde Sturiak. War er womöglich bereits entdeckt worden? Er musterte immer aufmerksamer die Personen, die den Frühstücksraum betraten. Einmal wollte er schon aufspringen und auf die Toilette flüchten, als er meinte, dass zwei sportlich aussehende junge Männer zögernden Schrittes den ganzen Raum mit ihren Blicken sorgfältig ausloteten, als ob sie, ohne selbst auffallen zu wollen, jemanden suchen würden. Als sich die beiden dann aber an einem von den übrigen Gästen etwas abseits stehenden Tisch niederließen und einander zärtlich die Hände reichten, wusste Sturiak, dass bei den beiden etwas anderes lief als seine Ausforschung.

Sturiak hatte sein Handgepäck sicherheitshalber schon vor dem Frühstück ge­packt und seine Rechnung bezahlt. Er hätte das Hotel jederzeit sofort verlassen können. Bevor er sich eine Viertelstunde nach 10 Uhr dazu entschloss, ging er nochmals auf sein Zimmer, das ein Fenster auf die Straße hatte, um sich zu überzeugen, dass keine verdächtigen Personen oder Fahrzeuge unten zu sehen waren. Aber was war in dieser Situation eine verdächtige Person oder ein ver­dächtiges Fahrzeug? Die Straße war um diese Zeit durchaus stark fre­quen­tiert, Passanten eilten vorbei, betraten Geschäfte, kamen aus Geschäften heraus, Autos fuhren vorbei, füllten die wenigen Parklücken, sobald sie frei wurden, wieder auf, das Bild eines Alltags in einer Geschäftsstraße, nicht gerade einer Hauptgeschäftsstraße, aber doch ein lebendiges stets wechselndes Bild. Es schien Sturiak unmöglich, in diesem Szenario jemanden zu entdecken, der ihm auflauerte.

Schließlich beschloss er, das Hotel zu verlassen und Mario nochmals von einer Telefonzelle aus anzurufen. Diese musste aber weit genug von hier ent­fernt sein, sonst wäre es leicht möglich, dass seine Gegner nach Abhören seines Telefonats rasch an die betreffende Stelle dirigiert würden. Also spazierte er einige Straßenzüge weiter und bestieg dann auf der Wiedner Hauptstraße die nächste Straßenbahn, die gerade des Wegs kam. Er las an der Stirnseite die Nummer 62 und die Bezeichnung „Wolkersbergenstraße“. Sturiak war es egal, wohin diese Tramway fuhr. Er wollte auch nur ein paar Stationen weg von seinem bisherigen Aufenthaltsort kommen.

In der nächsten Station bemerkte Sturiak, wie ein Fahrgast sich während des Aussteigens umdrehte und „Schwarzkappler“ in den Waggon zurückrief. Sturiak wusste anfangs nicht, ob diesem Verhalten irgendeine Bedeutung zukäme, das Einzige, was ihm auffiel, war, dass im letzten Moment zwei weitere Fahrgäste den Waggon verließen. Die Bedeutung wurde ihm allerdings schnell klar, als sich der zugestiegene Herr ein kleines Schild an die Brust heftete und sich als Kontrollor ausgab. Sturiak hatte keinen Fahrschein und nicht damit gerechnet, dass er auf seiner dramatischen Flucht auch noch mit solchen Zwischenfällen konfrontiert würde. Offenbar hatte aber mindestens ein weiterer Fahrgast die Bedeu­tung des Zurufs nicht verstanden. Denn der Kontrollor stieß sehr bald auf eine junge Frau, die sich zunächst verzweifelt bemühte, in ihrer Handtasche einen Fahrschein zu finden. Endlich hatte sie ihn gefunden und hielt ihn dem Kontrollor in geziemender Entfernung hin. Der wollte es aber genau wissen und entdeckte bei näherem Besehen sofort, dass dieser Fahrschein nicht gültig war. Die Suche ging von Neuem los. Sturiak war dem Fahrgast innigst dankbar für die Verzögerung. Schon fuhr die Tram­way in die nächste Station ein. Der Kontrollor forderte die junge Frau zum Aussteigen auf und sie folgte ihm wider­willig. Auch Sturiak beeilte sich, den Waggon zu verlassen, ohne zu wissen, wo er gelandet war. Er ging nun einige Straßenzüge zu Fuß weiter, bis er auf ein flaches Bauwerk stieß, das sich als über dem Straßenniveau liegende Bahntrasse entpuppte.

Endlich tauchte auch eine einsame Telefonzelle an einer wenig befahrenen Straßen­kreuzung auf. Er hatte sich vorsorglich an der Rezeption des Hotels eine Telefonwertkarte beschafft. Tatsächlich gelang es ihm sofort, Marios Frau zu erreichen und von ihr die Büronummer ihres Mannes zu bekommen. Es war schon 11 Uhr vorbei, als das Telefon in Marios Büro läutete. Sturiak konnte durch die Telefonleitung geradezu fühlen, wie Mario in Panik geriet, als er erwähnte, dass er die Nummer von dessen Frau erhalten habe. Mario fühlte sich und seine Familie offensichtlich äußerst gefährdet. Sturiak erfuhr nun, dass sich ein Sicherheitsdienst unter der Führung eines gewissen Herrn Weissacher um ihn kümmerte. Man war also auch bei der Consulting Support Vienna zur Auf­fassung gelangt, dass ihn jemand an seiner Arbeit hindern oder vielleicht sogar „aus dem Verkehr ziehen“ wollte. Die Situation, in der er sich befand, war also, da bestand nun kein Zweifel mehr, kritisch.

Mario zeigte sich überzeugt, dass das Gespräch von der gegnerischen Seite ab­ge­hört würde, und bemühte sich daher, den Kontakt möglichst schnell wieder zu beenden. Sturiak schien es unmöglich, auf diesem Weg einen Plan auszuhecken und zu kommunizieren, wie er weiter verfahren würde. Denn das konnten die Geg­ner damit aus erster Hand mitbekommen. Er wollte jedenfalls rasch wie­der seinen Standort wechseln und sich dann mit Consulting Support Vienna direkt in Verbindung setzen. Mario nannte Sturiak die Telefonnummer, die ihm Weis­sacher hinterlassen hatte. Sturiak kritzelte diese Nummer auf eine Seite eines ver­­dreckten Telefonbuches, das in der Zelle herumlag, und riss das Stück Papier ab. Er vermeinte gleichzeitig die Erleichterung bei Mario zu spüren, die signa­lisierte, dass dieser ab sofort nicht mehr die Schlüsselfigur in diesem Spiel sein würde.

Sturiak verließ die Telefonzelle und stieg in einen der städtischen Busse, deren Linienführung hier vorbei führte. Bei nächster Gelegenheit wechselte er in die U-Bahn, es war die Linie U4, und Sturiak bemerkte nach einiger Zeit, dass er in die Richtung der Endstation mit dem für ihn seltsamen Namen „Heiligenstadt“ unterwegs war. Ob das ein gutes Omen war? Oder ob ihn der Zug dorthin beför­derte, wo sich die Heiligen nach ihrem Martyrium aufhielten? Er entschloss sich, in der Station Karlsplatz auszusteigen, die ihm nahe dem Zentrum zu liegen schien und als Kreuzungspunkt für mehrere Linien wohl viele durch­einander eilende Passanten erwarten ließ, die ihm notfalls Deckung gewähren oder eine eilige Flucht erleichtern konnten.

*

Weissacher war währenddessen auf Kosten von Consulting Support Vienna mit einer unauffälligen Limousine und einem Mitarbeiter von Austrian Security, einer privaten Sicherheitsservice-Gesellschaft oder, wie man wohl früher gesagt hätte: Detektivagentur, unterwegs. Er vermied jetzt den Telefonkontakt zu Con­sul­ting Support, weil auch er es für durchaus möglich erachtete, dass jemand die Telefonverbindungen der Firma angezapft hatte. Sobald er Priem wieder persön­lich träfe, würde er vorschlagen, den Kontakt über die privaten Mobiltelefonan­schlüsse fortzusetzen. Das war zwar ebenfalls nicht vollkommen sicher, aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ihre privaten Anschlüsse ausfindig ge­macht habe und diese ebenfalls überwachte, schien ihm fürs Erste gering.

Im Hotel in der Margaretenstraße angekommen, erkundigte er sich an der Re­zeption sofort nach Sturiak unter dessen hier verwendeten Decknamen.

„Ja, der Herr war hier, ist aber bereits abgereist.“

Weissacher glühte innerlich vor Zorn gegenüber Andolfis Nachlässigkeit, die ihm den Gesuchten entwischen ließ. Aber er fasste sich unter dem Druck der Aufgabe, die er nun einmal übernommen und die für das Renommee seiner jungen Firma durchaus wichtig sein konnte, und fragte den Rezeptionisten nach einem Gast namens Sturiak.

Nachdem der Rezeptionist in seinem Computer nachgesehen und offenbar den Namen nicht gefunden hatte, versuchte er dennoch behilflich zu sein und sagte: „Einen Moment, ich muss meine Kollegin fragen. Ich glaube, den Namen heute schon gehört zu haben.“

Das ließ Weissacher aufhorchen. Wenn sich das bewahrheitete, hätte er viel­leicht den Beweis dafür, dass jemand, der nicht wusste, dass Sturiak hier unter falschem Namen abgestiegen war, hinter diesem her war.

Eine junge Dame kam aus dem Büro und bestätigte, was Weissacher hören wollte: „Ich habe schon Ihrem Kollegen gesagt, dass bei uns kein Mr. Sturiak abgestiegen ist. Der wollte es zwar nicht glauben, aber es ist nun einmal so. Tut mir leid, Sie können noch so oft nachfragen, ein Mr. Sturiak war nicht hier, nicht heute, nicht gestern und nicht die ganze letzte Woche!“

„Sagen Sie mir doch bitte, wie der Kollege von mir ausgesehen hat, der nach Sturiak gefragt hat, damit ich unserer Zentrale sagen kann, dass sie hier nicht mehr nachfragen lässt.“ Weissacher wurde die schwache Logik dieser Argu­mentation zwar rasch bewusst, aber die junge Dame schien es nicht zu be­merken, sondern gab bereitwillig Auskunft, dass es sich um einen sehr gut aus­sehenden jungen Mann mit asiatischen Gesichtszügen in dunklem Anzug und mit einer sehr gepflegten Kurzhaarfrisur gehandelt habe. Der Betreffende hatte bei ihr sichtlich Eindruck hinterlassen. Die Organisation wusste offenbar, wie man Rezeptionistinnen zum Schmelzen bringt, wenn man heikle Auskünfte will.

Weissacher bedankte sich für die Mühe und bedauerte die Belästigung. Er war sich sicher, nicht denselben starken Eindruck hinterlassen zu haben wie sein Vorgänger. Was ihn allerdings mehr bewegte, war, dass Sturiak tatsächlich ver­folgt wurde. Aber wo war er jetzt? Es war mittlerweile Mittag geworden. Weissacher entschloss sich, zu Priem zu fahren. Bisher hatte er nur Maßnahmen ergriffen, die aufgrund der Dynamik der Ereignisse keine Alternative zugelassen hatten. Aber richtig weiterkommen würde er wohl erst, wenn er sich mit den Hintergründen und nicht mit den Symptomen der Vorgänge beschäftigte.

Er wurde am Empfang der Consulting Support Vienna sofort erkannt und in die Chefetage vorgelassen. Dort war offenbar eine intensive Beratung im Gange. Neben Mosak fand er noch Priem, den Leiter des Projektteams Machlinger so­wie Anke, die inzwischen ebenfalls eingetroffen war und den Anwesenden ge­rade über ihre Erlebnisse berichtete.

„Haben Sie Sturiak?“, prallte ihm gleich Mosaks scharfe Stimme entgegen.

„Nein! Er hat das Hotel bereits verlassen gehabt, als wir hinkamen. Er hat auch keine Spur hinterlassen. Aber man hat sich vor meiner Ankunft dort bereits nach ihm erkundigt. Es ist somit völlig klar, das jemand hinter ihm her ist. Ich nehme an, dass er das Hotel rechtzeitig unbemerkt verlassen konnte. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass wir nun keine Ahnung haben, wo er sich befindet, und darauf angewiesen sind, dass er sich von selbst wieder meldet. Er wird vielleicht sogar den Telefonanschluss hier meiden, weil der abgehört wer­den könnte.“

„Welchen Eindruck hast du eigentlich von diesem Andolfi?“, fragte ihn Priem.

„Der ist wahrscheinlich harmlos, hat uns aber mit seiner Ahnungslosigkeit und seinem Zögern das Auffinden von Sturiak vermasselt. – Kann aber sein, dass sich Sturiak nochmals bei ihm meldet. – Anderseits: Das glaube ich wiederum nicht, wenn ich bedenke, dass Sturiak es Andolfi, das ist übrigens ein Studien­kollege von ihm, zu verdanken hat, dass die Kontaktaufnahme zu uns fehlge­schlagen ist.“

„Was meinen Sie, Herr Weissacher, sollen wir jetzt die Polizei einschalten? Die Ent­führung von Anke ist ein eindeutiges Delikt, das mehr verlangt als nur die bürokratische Anlage eines Protokolls“, gab Mosak zu bedenken.

„Ohne Polizei wird es nicht gehen. Aber ich fürchte, dass wir dadurch kostbare Zeit verlieren könnten, wenn die uns alle mit der Protokollaufnahme beschäf­tigen. Lassen wir das für später! Wir müssen unser Augenmerk auf zwei Dinge richten: Erstens müssen wir auf ein Lebenszeichen von Sturiak warten. Wir wissen nicht, wie er es anstellen wird. Möglicherweise kriegen wir seinen Anruf mit falschen oder verschlüsselten Angaben über seinen Aufenthaltsort. Dann haben wir gegenüber den anderen wieder einen kleinen Vorsprung, ihn eher zu schnappen und in Sicherheit zu bringen. Zweitens sollten wir uns noch inten­siver mit den Hintergründen befassen. Warum geschieht das alles? Was hat das mit Consulting Support und Nasdal und deren Forschungsprogramm zu tun?“

Mosak schien zufrieden: „Also gut, Herr Weissacher, lassen Sie sich die Details von Ankes Erlebnissen nochmals von ihr persönlich schildern. Ich denke, sie braucht das ohnehin zur Verarbeitung des Schocks, den das Ganze bei ihr ausgelöst hat, und vielleicht ist ein wichtiges Detail dabei, das wir bisher nicht beachtet haben.“

Weissacher zog sich mit Anke in ein Nebenzimmer zurück. Anke sah endlich die Gelegenheit gekommen, ihre Geschichte so zu erzählen, dass die Emotionen zu ihrem Recht kamen, nachdem man sie bisher immer wieder zur Konzen­tration auf die harten Fakten des Geschehens gezwungen hatte. Weis­sacher war natürlich auch an harten Fakten interessiert, obwohl er den Schlüssel für weitere wichtige Informationen nicht in den Details der Entführung von Anke erwartete. Es konnte aber sein, so sagte er sich, dass etwas, das bisher nicht zur Sprache gekommen war, weil man sie so sehr auf Fakten festgenagelt hatte, doch Bedeutung haben konnte. Also ließ er Anke drauflosreden und stimu­lierte ihren Erzählfluss auch noch durch die eine oder andere Zwischen­frage.

„Sie wissen ja gar nicht, welche Angst ich hatte, als ich mich in der fremden Umgebung gefesselt und geknebelt wiederfand, und diese Schmerzen im Kopf und überall, und dann diese Maskierten, die mich wie ein Schulmädchen be­handelten …“

Weissacher fiel auf, dass Anke sich besonders über die zwei Kerle ärgerte, die sie zu einem Drink in das Flughafenhotel eingeladen hatten, aber nicht wusste, ob diese ihre Entführer waren; ja sie wusste nicht einmal, ob die beiden über­haupt etwas damit zu tun hatten oder ob sie gezielt dazu gebraucht worden waren, sie in die Garage zu locken, wo dann die eigentliche Überwältigung stattgefunden haben könnte.

„Aber Sie kannten die beiden doch! Können wir sie nicht einfach befragen?“, meinte Weissacher.

„Nun, ich kannte sie nur von einem Lokal im Bermudadreieck, wo wir Annies Geburtstag feierten. Annie ist meine Freundin, müssen Sie wissen.“

„Dann fragen wir doch einfach bei Annie nach!“

Anke war einverstanden. Sie hatte sowieso noch keine Gelegenheit gehabt, Annie von ihrem Abenteuer zu erzählen, und zog sich in ihr Zimmer zurück, um sie anzurufen.

Der kritische Punkt in der etwas längeren Geschichte, die Anke anschließend erzählte, war für Weissacher die Beziehung von Annie zu den beiden Verdachts­personen. Es stellte sich heraus, dass Fred und Stoffel keineswegs zum stän­digen Freundeskreis von Annie gehörten, sondern ihr und offenbar auch anderen Personen bei der besagten Geburtstagsparty nur als gelegentliche Gäste in dem betreffenden Lokal bekannt waren. Wer sie eigentlich waren und was sie trie­ben, war Annie nicht bekannt. Aber man könnte ja versuchen, die beiden bei einem Lokalaugenschein anzutreffen.

Anke war enttäuscht, dass Weissacher nicht einmal in Erwägung zu ziehen ge­dachte, mit ihr noch am selben Abend in das besagte Lokal im Bermudadreieck aufzubrechen und den beiden eine Falle oder wenigstens ein paar unangenehme Fragen zu stellen, wenn sich diese, wie sie hoffte, dort blicken ließen. Anke verlor langsam die Gewissheit, dass sie in der Geschichte eine Hauptrolle spiel­te. Weissacher bat sie sogar, mit der Anzeige bei der Polizei noch zu warten, weil später, wenn man erst einmal Sturiak gefunden habe, der Polizei wahr­scheinlich noch zusätzliche Informationen für die Aufklärung des Falles ge­liefert werden könnten und man wegen ihrer bereits glimpflich beendeten Ent­führung allein heute ohnehin keine Amtshandlungen mehr setzen würde.

Schließlich drängte Weissacher Anke, zum Schluss zu kommen. Er musste auch der Firma Nasdal noch einen Besuch abstatten. Sie sah ein, dass er unter Zeitdruck stand. Weissacher verabschiedete sich von Anke mit ein paar trösten­den und aufmunternden Worten, ließ sich von Priem bei der Firma Nasdal an­melden und bat ihn auch sicherzustellen, dass das Forscherteam dort für eine Befragung zur Verfügung stünde.

*

Dr. Rohrig machte auf Weissacher den Eindruck eines introvertierten, an äu­ßeren Vorkommnissen wenig interessierten, aber dafür von seiner Forschungs­arbeit vollkommen besessenen Mannes.

„Für mich ist besonders wichtig herauszufinden, was sie mit der Software von Consulting Support anfangen wollten“, begann Weissacher den sachlichen Teil des Gesprächs.

„Nun, hat Ihnen das Herr Machlinger nicht schon erzählt?“, antwortete Dr. Rohrig mit einer Gegenfrage, die andeutete, dass er sich nicht gerne der Mühe unterziehen wollte, mit Details herauszurücken, vielleicht auch gerade nicht gegenüber einem Laien wie Weissacher. Diesen überraschte an der Gegenfrage aber auch der Gegensatz zu Machlingers Aussage, wonach das Einsatzgebiet der Software möglichst flexibel gehalten werden sollte. Machlinger hatte jedenfalls bei Weissacher den Eindruck hinterlassen, als wüsste er gar nicht genau, was bei Nasdal mit der gelieferten Software gemacht würde.

„Ich möchte es gerne von Ihnen beschrieben bekommen, weil Sie vielleicht an­dere Akzente setzen, was die Anwendungsmöglichkeiten der Software be­trifft.“

„Nun, einfach gesagt, es handelt sich um eine Prognosesoftware, die gegenüber den bisher benützten Algorithmen völlig neue Dimensionen der Treffsicherheit errei­chen sollte. Das hätte uns in einigen Entwicklungsprojekten weiter­ge­bracht.“

Weissacher versuchte sich zu erinnern, was „Algorithmus“ genau heißt, er­kann­te aber, dass in diesem Moment etwas anderes für seine Arbeit wesent­licher war, und fragte: „Auch weiter als die Konkurrenz?“

„Das kann man sagen!“, rückte Dr. Rohrig mit deutlicher Emotion heraus. „Wir hätten die Chance, auf gewissen Gebieten absolut die Ersten zu werden.“

Weissacher fiel auf, dass Dr. Rohrig den letzten Satz nicht mehr in der Ver­gangenheitsform formulierte. Also lebte die Chance noch.

„Um welche Krankheiten geht es denn bei Ihren Forschungen?“

Dr. Rohrig zögerte. Nun war man offenbar am kritischen Punkt des Eindringens in Betriebsgeheimnisse angelangt.

„Bitte bedenken Sie, dass wir hier sind, Ihnen zu helfen! Der erste Versuch, die Software mithilfe der Expertise des Mr. Sturiak zu retten, wurde offenbar von Gegnern vereitelt. Sturiak ist verschwunden. Wir sind nicht an Ihren For­schungs­­ergebnissen interessiert, sondern daran, die Sache für Sie wieder in Ord­nung zu bringen“, versuchte Weissacher das Gesprächsklima zu verbessern.

„Woher soll ich wissen, auf welcher Seite Sie stehen?“

Das war für einen introvertierten, auf seine Arbeit konzentrierten Forscher eine überraschend scharfe Gegenfrage. Dr. Rohrig war sich also der Brisanz des Falles bewusst, wahrscheinlich weil er die Bedeutung seiner Forschung hoch einschätzte.

„Es gibt keine Sicherheit in dieser Welt!“, versuchte es Weissacher philoso­phisch. „Als Unternehmer muss man riskieren und auf ein Pferd setzen. Ich sage Ihnen, wir sind das richtige Pferd!“

Weissacher fand, dass er überzeugend geklungen hatte. Er fühlte sich fast in seine frühere Zeit als Vertriebsleiter zurückversetzt. Hier galt es, einem Kunden über die Wahrnehmung seines Käuferrisikos hinwegzuhelfen.

„Es geht um Viren!“ Dr. Rohrig ließ immerhin schon ein wichtiges Detail aus.

„Ich nehme an, es geht um irgendwelche biologischen Krankheitserreger und nicht um Computerviren“, mutmaßte Weissacher, bewusst ein bisschen provo­zierend, damit Dr. Rohrig endlich in Schwung kam.

„Nein, nein“ – welche Ahnungslosigkeit! – „es geht natürlich um biologische Viren, um Grippeviren!“ Wieder versuchte Dr. Rohrig das Gespräch auf Spar­flamme zu schalten. Aber Weissacher ließ jetzt nicht locker. Er war dem Jagd­wild auf der Spur: „Weiter!“

„Nun, wie Sie sicher aus den Pressemeldungen wissen, erwarten wir in den nächsten Jahren eine, vielleicht sogar mehrere Grippeepidemien, vielleicht sogar Pandemien. Das besondere Problem damit besteht darin, dass sich die Viren ständig verändern und daher der herkömmliche Impfschutz sowie Medikamente zur Behandlung einer bereits ausgebrochenen Krankheit versagen können. Das wäre eine ziemliche Katastrophe. – Wir könnten mit unserer Methode aber wirk­same Impfstoffe und Medikamente entwickeln.“

„Das klingt allerdings sensationell! Was macht Sie so zuversichtlich, nachdem die großen Pharmakonzerne diese Chance viel pessimistischer beurteilen?“ Weis­sacher hatte es immer geliebt, mit Kunden über Vor- und Nachteile von Produkten, deren Inneres, deren Technologie er selbst nicht oder nur ungefähr durchschaute, zu diskutieren. Diese Lust verspürte er, nach langer Zeit, wie ihm schien, eben wieder einmal.

„Was ich Ihnen jetzt sage, ist der Schlüssel zu unserem Erfolg und zu unserem Problem gleichzeitig: Die neue Software, die uns die Consulting Support ge­bastelt hat, hat uns in die Lage versetzt, die Mutationskorridore von Viren einzu­grenzen.“

„Das heißt, Sie wüssten dadurch im Vorhinein, welche Viren mit welchen Eigen­schaften auftreten würden, und hätten in der Entwicklung von Impfstoffen einen entscheidenden Vorsprung vor der Konkurrenz!“ Weissacher war faszi­niert. Was für ein Trumpf für einen Verkäufer! Aber nicht das war seine Rolle hier! „Wieso sagen Sie: …’hat uns in die Lage versetzt’…? Hat es denn schon funktioniert?“

„Das ist ja eben unsere Enttäuschung! Es hat schon funktioniert. Wir konnten bereits Mutationen eines bestimmten Virus der Vogelgrippe, die in Ostasien vor Kurzem auftrat, prognostizieren und unsere Prognosen verifizieren. Es war kein Zufall. Dass unser Ergebnis ein zufälliges gewesen wäre, liegt unter jeder ver­nünftigen Wahrscheinlichkeitsgrenze.“

„Also muss das Programm inzwischen verändert worden sein!“

„Und um das zu diagnostizieren und gegebenenfalls wieder zu reparieren, dazu wollte die Consulting Support, wollten die Herren Mosak und Machlinger auf einen Experten ihres Konzerns zurückgreifen. Das Programm ist durch die Kon­figuration vieler Module so kompliziert, dass wir mit unseren Möglichkeiten nicht mehr weiter kamen. Wir konnten keinen Fehler und keine Veränderung entdecken!“

„Und damit Sturiak seinen Auftrag nicht erfüllen kann, versucht man ihn aus dem Verkehr zu ziehen! Und da es sich um milliardenschwere Gewinne handelt, die mit einem solchen Impfstoff erzielt werden könnten, werden diejenigen, die daran interessiert sind, auch keine Kosten und Mühen scheuen, Sturiaks Inter­vention zu verhindern.“

Weissacher stellte befriedigt fest, dass er einen wichtigen Schritt weiter war. Aber es war anderseits nur ein kleiner Schritt. Denn genauso schwierig, wie Sturiak unter der gesamten Einwohnerschaft Wiens zu finden, würde es sein, seine Verfolger und deren Hintermänner zu identifizieren.

„Dr. Rohrig, ich denke, Sie haben sich und uns schon wesentlich geholfen. Nun bitte ich Sie noch, mir eine Liste aller in Frage kommenden Interessenten an dieser Software in Europa oder“, Weissacher wurde die Globalisierung bewusst, „sagen wir gleich: auf der ganzen Welt, soweit Sie über solche Bescheid wissen, zusammenzustellen. Faxen Sie diese Liste sobald als möglich an mein Büro! – Das wär’s dann fürs Erste!“

*

Die Telefonzentrale von Consulting Support Vienna schaltete den Anruf von Ron Sturiak sofort zu Gerhard Priem durch.

„Herr Sturiak, ich bin Assistent der Geschäftsleitung. Wir haben verlässliche Informationen, dass jemand Ihren Einsatz in unserem Unternehmen stören will. Wir haben Maßnahmen zu Ihrer Sicherheit ergriffen, müssen aber annehmen, dass unsere Kommunikation abgefangen wird. Bitte geben Sie uns Informa­tionen nur in verschlüsselter Form, bis wir Sie in unsere Sicherheitszone ge­bracht haben. Wir danken Ihnen für Ihr Durchhalten und wissen Ihre Hart­näckigkeit sehr zu schätzen. Wir brauchen Sie dringend! Aber wir beenden am besten dieses Gespräch jetzt und bitten Sie, uns Hinweise bei der nächsten Kontaktaufnahme zukommen zu lassen. Wir raten Ihnen, sich rasch wieder von Ihrem Standort zu entfernen, ohne Spuren zu hinterlassen.“

Sturiak zeigte sich einverstanden. Eigentlich war er durch die Aussagen Priems mehr erleichtert als beunruhigt. Die Erleichterung rührte daher, dass er seinen Verdacht bestätigt fand und sein Partner die Sache genauso gefährlich ein­schätzte wie er. Es hätte für ihn viel unangenehmer werden können, wenn man seine Befürchtungen als Hirngespinste abgetan hätte. Jetzt wusste er, dass er nicht mehr allein gegen unbekannte Gegner kämpfte. Ab sofort ging es darum, diese zu irritieren und für ausreichende Zeit abzuschütteln, während welcher er die Brücke in die Obhut der Consulting Support überschreiten musste. Es lag an ihm, diese Brücke so zu bauen, dass sie von den Leuten der Consulting Support richtig erkannt, von seinen Gegnern aber wenigstens für einige Zeit nicht wahrgenommen würde.

Sturiak ging den langen Korridor der U-Bahnstation „Karlsplatz“, von wo aus er telefoniert hatte, entlang Richtung Staatsoper. Doch es hielt ihn nicht länger in der Enge und dicken Luft. Als er aus der Unterführung unter der Kreuzung der Wiener Ringstraße mit der Kärntner Straße an das Tageslicht hinaufstieg, fand er sich unmittelbar vor dem Operngebäude. Hier also hatten Gustav Mahler und Richard Strauss als Direktoren gewirkt! Sturiaks Blick fiel auf das An­kün­digungsplakat für die heutige Vorstellung in einem Schaukasten an der Front­seite. Er las „Der Rosenkavalier“. Gerne hätte er seine Gegenwart ver­gessen und sich um eine Eintrittskarte umgeschaut. Aber für ihn spielte es heute keine Kavalierszene. Er war auf der Flucht vor unberechenbaren Gegnern.

Sturiak sah auf der anderen Straßenseite eine Straßenbahnhaltestelle. Es drängte ihn, seinen Standort wieder zu verlassen, so gerne er sich hier noch länger auf­gehalten hätte, und er stieg in die erste Tramway ein, die in die Station einfuhr. Auf einem der Waggons las er den Buchstaben „D“. Im Inneren versuchte er sich anhand einer Tafel zu orientieren, wohin die Fahrt ging. Er war sich nicht sicher, ob er die Richtung „Südbahnhof“ oder „Nuss­dorf“ gewählt hatte. Aber das war ja auch egal. Sturiak stieg vor dem Burg­theater wieder aus und bestaunte die neugotische Fassade des Wiener Rathauses, das dem Theater gegenüber am Ende eines ziemlich kahlen Platzes stand. Hier wurde offenbar eine Art Marktveranstaltung vorbereitet, denn es wurde an einer Menge von kleinen Bretterbuden gezimmert.

Sturiak versuchte während seiner unfreiwilligen Sightseeingtour krampfhaft ein Rätsel über einen Aufenthaltsort zu erfinden, wo er mit Vorsprung vor seinen Verfolgern von den Leuten der Consulting Support in Empfang genommen werden konnte. Das war aber gar nicht leicht für jemanden, der diese Stadt nur oberflächlich und obendrein seine eigenen Partner ebenso wenig wie seine Geg­ner kannte.

Sturiak wandte sich vom Burgtheater nach links und stand nach wenigen Schrit­ten vor dem Café Landtmann, einem der renommiertesten Wiener Kaffee­häuser. Er verspürte das Verlangen, etwas zu essen oder wenigstens einen Kaf­fee zu trinken, stellte aber fest, dass dieses Lokal nur einen Eingang besaß, was in dem Fall, dass er das Lokal schnell verlassen musste, höchst nachteilig sein konnte. Er riskierte es trotzdem. Schließlich konnte doch, solange er sich nicht wieder meldete, niemand ahnen, wo er sich nun befände. Die körperliche Nah­rung würde vielleicht seinem Gehirn einen neuen Anstoß für die Konzeption eines geschickten Rätsels geben.

Im Landtmann gewahrte Sturiak eine große Zahl von Gästen, die teils hier zu Mittag aßen, teils nur Kaffee tranken und Zeitung lasen. Er hatte Glück, einen Tisch im rechten Rondeau zu bekommen, von wo aus er den Eingang im Auge behalten, aber nicht gleich selbst von Hereinkommenden gesehen werden konnte, vor allem, wenn er sich ein wenig hinter dem Mauervorsprung zurück­lehnte. Er bestellte einen Kaffee mit Milch. Der Kellner murmelte „Melange oder verkehrt?“, was Sturiak nicht deuten konnte. Der Kellner gewahrte seinen hilflosen Blick und entfernte sich. Sturiak hatte seinen Mantel über einen der Sessel geworfen, auf dem er auch sein voluminöses Handgepäckstück, das er mit sich herum­schleppen musste, abgestellt hatte. Als ihn eine Dame ansprach, hatte er eine kurze Schrecksekunde zu überstehen, denn von jemandem hier als vollkommen Unbekannter angesprochen zu werden, konnte womöglich auf seine Entdeckung durch die, die ihn suchten, hindeuten. Aber es stellte sich heraus, dass die Frau unbedingt seinen Mantel in die Garderobe mitnehmen wollte, was sie auch bei anderen Gästen tat. Sturiak sträubte sich dagegen und argumentierte, dass er wahrscheinlich rasch wieder gehen müsse und den Mantel sicherheitshalber griffbereit bei sich haben wollte. Ob der zweifelnde Blick der Garderobiere seine nicht ganz selbstsicher vorgebrachte Ausrede betraf oder zum Ausdruck bringen sollte, dass man, wenn man schon ins Landtmann käme, dann auch genügend Zeit für einen Kaffeegenuss mitbringen müsse?

So verging wieder ein halbe Stunde, in der Sturiak nichts zur Auflösung des Knotens einfiel und in welcher er auch seinen Standort nicht gewechselt hatte. Das war somit ein Punkt für seine Gegner. Es wäre nun an der Zeit, dachte er, dass er einen entscheidenden Punkt für sich herausholte. Da fiel sein Blick auf das Theaterprogramm einer Tageszeitung. Zweimal las er die Ankündigung eines Stückes namens „Elisabeth“, einmal als Musical und einmal als Thea­terstück, das präzise „Elisabeth II.“ hieß. Das konnte die Basis für ein Rätsel abgeben. Dazu fand er in derselben Zeitung auch noch einen Kommentar zu „Elisabeth II.“ und entnahm daraus den Hinweis, dass dieses Stück im Salon eines reichen Industriellen namens Herrenstein spielte, von dem aus auch für das Publikum im Hintergrund der Bühne die Fassade der Wiener Staatsoper zu sehen wäre. Ein Bühnenfoto ließ Sturiak darauf schließen, dass die Fassade der Staatsoper, vor welcher er vor Kurzem erst gestanden war, vom Balkon des be­sag­ten Herrn Herrenstein halb rechts auf der anderen Straßenseite auszumachen war. Das wollte Sturiak für die verschlüsselte Beschreibung des Standortes, von dem man ihn abholen sollte, ausnützen.

Aber wie würde man ihn erkennen, vorausgesetzt, dass die Wiener Kollegen sein Rätsel überhaupt verstanden. Er bestärkte sich selbst in seiner Entscheidung mit der Überlegung, dass es in den gutbürgerlichen Kreisen Wiens, welchen die Personen, die ihn angefordert hatten, wohl zuzuordnen waren, ausreichend Kulturbeflissene geben würde. Die Gegenseite würde sich vielleicht einer nicht so sehr an Kultur interessierten Mannschaft zur Aus­führung ihrer Pläne bedie­nen. Und er formulierte den folgenden Text, den er sicherheitshalber auf eine Serviette schrieb, damit er ihn auch optisch vor sich sah und dadurch besser auf etwaige Schwächen prüfen konnte.

Dieser Text lautete: „Vor dem Haus, wo Elisabeth wirklich spielt, ist der Rosen­kavalier drei Stunden zu früh dran.“

„Hallo Priem!“ Sturiak befand sich schon in der nächsten Telefonzelle, „hören Sie: Vor dem Haus, wo Elisabeth wirklich spielt, ist der Rosenkavalier drei Stunden zu früh dran.“ Er wiederholte den Satz und legte sofort auf.

Drei Stunden zu früh. Das hieß, dass er jetzt noch eine Stunde Zeit hätte. Der Rosenkavalier begann um 18.30 Uhr, also musste er um 15.30 an Ort und Stelle sein. Er würde sich auch beim nächstbesten Blumenstand eine Rose kaufen, damit seine Identifikation leichter fiel. Aber das konnte natürlich auch seine Gegner auf ihn aufmerksam machen. Hoffentlich kannten sie sich mit Oper und Theater nicht aus! Die Burschen, die sich ihr Geld mit der Entführung von Menschen verdienen, werden doch nicht etwa Opernfans sein! Doch fiel ihm in diesem Moment ein: Mafiosi nannten sich doch „Freunde der italienischen Oper“! Er war sich nicht sicher, ob das nur in einem Film so vorgekommen oder tatsächlich in der Realität so gewesen war. Zum Erstaunen der Gar­derobiere hinterlegte er vor dem Verlassen des Cafés sein Handgepäck in der Garderobe und eilte, nun wenigstens von dieser Last befreit, mit neuem Mut ins Freie.

Gut zehn Minuten vor 15.30 Uhr traf Sturiak mit der Ringlinie der Straßenbahn wieder vis-à-vis der Wiener Staatsoper ein. Sofort suchte sein Auge an der langen Fassade des vor ihm stehenden Gebäudes, das den Namen „Hein­richs­hof“ führte, nach einem geeigneten Balkon, wobei er die Perspektive des Büh­nen­fotos zu beachten suchte. Der Heinrichshof hatte eine Fassade, die nicht mehr die des ursprünglichen Prachtbaus war. Denn dieser war im Zweiten Welt­krieg den Bomben zum Opfer gefallen und danach neu errichtet worden. Sturiak konnte sich nicht vorstellen, dass von den paar Balkönchen mit Gittern aus Eisenstäben einer der vom Dichter der „Elisabeth II.“ gemeinte sein könnte. Er musste daher geradezu zwangsläufig sein Auge über die Fassade des Hein­richshofs hinaus auf das nächste Gebäude gleiten lassen. Dazwischen lag die Unterbrechung der Häuserfassade durch die hier hindurchführende Opern­gasse.

Das Eckhaus auf der anderen Seite der Operngasse, die hier die Ring­straße kreuzte, hatte eine ältere Fassade, an der auch auf der Ring­straßenseite ein alter steinerner Balkon zu sehen war. Sturiak kam zur Über­zeugung, dass es sich um diesen Standort handeln musste, von dem aus die Fassade der Wiener Staatsoper in halbrechter Richtung im Hintergrund des Bühnenbildes sichtbar war. Hier musste die letzte Szene des Dramas von Thomas Bernhard spielen, in welcher dieser Balkon einstürzt und die Gäste des alten Herrenstein, die gekommen sind, um die auf der Ringstraße vorbei­zie­hende Königin von Eng­land, eben Elisabeth II., aus der Nähe zu sehen, in den Tod reißt.

Unterhalb des Balkons saßen, umgeben von allerlei Kuchen und Süßigkeiten, hinter einer Glasfassade die Gäste einer Konditorei. Oder war es auch ein Kaffee­haus? Was stand da zu lesen? „Aida“! Oh Schreck, durchzuckte es Sturiak: Was hatte das mit dem Rosenkavalier zu tun? Das war doch eine andere Oper! Hoffentlich würde seine Botschaft nicht missverstanden werden. Der Treffpunkt musste hier sein, wo nicht der Rosenkavalier, sondern Aida zu Hause war. Die Gäste an den engen Tischen und Stehpulten ahnten nichts von der Sorge, die der auf der gegenüber liegenden Straßenseite nervös um sich spä­hende Herr verspürte.

*

Vor Priem lag ein Blatt Papier, auf dem der von Sturiak diktierte Satz in großen Buchstaben zu lesen war. Er hoffte, dass die Wörter umso eher ihr Geheimnis preisgeben würden, je größer sie geschrieben stünden. Weissacher beugte sich über seinen Rücken und starrte ebenfalls auf das Papier. Priem ließ auch Anke kommen, auf deren Intuition und Kreativität bei der Interpretation von Texten er schon manchmal mit Erfolg zurückgegriffen hatte.

„Vor dem Haus, wo Elisabeth wirklich spielt, ist der Rosenkavalier drei Stunden zu früh dran.“ Priem las es langsam nochmals vor und setzte hinzu: „Wo spielt man ‚Elisabeth’?“

„Das Musical, das die Lebensgeschichte der unglücklichen Kaiserin von Öster­reich nachzeichnet, wird im Theater an der Wien gespielt.“ Darin waren sich Anke und Weissacher einig. Aber das war doch zu leicht! Das weiß doch jeder in Wien! Es musste noch eine andere Bedeutung geben.

Anke liebte das Theater. Daher kannte sie das Stück von Thomas Bernhard, hatte es aber noch nicht gesehen. Sie wusste auch, dass es im Burgtheater nach längerer Pause wieder auf dem Programm stand. War das Burgtheater ge­meint? – Nein, das wäre doch genauso durchsichtig wie der Hinweis auf das Theater an der Wien.

Es war Weissacher, der die Idee äußerte, dass nicht das Theater als Spielort gemeint sein könnte, sondern der im Stück angegebene Ort. Was kam da für das Musical in Frage? Das spielte an verschiedenen Schauplätzen, eben wohin das Leben die arme Kaiserin verschlagen hatte. Konnten das Schloss Schönbrunn oder einer der vielen anderen Schauplätze gemeint sein? – Das hätte Sturiak genauer formulieren müssen.

Wo spielte „Elisabeth II.“? Niemand wusste es. Anke wurde beauftragt, das im Burgtheater zu erfragen. Aber halt! Sie durfte es nicht telefonisch tun, denn im Fall der Abhörung des Telefonanschlusses würde man den Gegnern die heiße Spur gratis servieren. Anke erinnerte sich, dass die Österreichischen Bundes­theater Informationen über die Stücke, die sie spielten, im Internet anboten. Vielleicht würde sich ein Hinweis dort finden! Anke saß schon an ihrem Com­puter und rief die Homepage der Bundestheater auf.

Währenddessen versuchten sich Priem und Weissacher gegenseitig zur Inter­pre­tation der Zeitangabe zu stimulieren.

„Der Rosenkavalier ist drei Stunden zu früh dran.“ Die beiden sprachen ab­wechselnd diese Passage vor sich hin.

„Wann kommt der Rosenkavalier? – Damit überfordert er uns! Hätte nicht gedacht, dass einer, der sich die meiste Zeit in Singapur oder Taiwan aufhält, was vom Rosenkavalier weiß!“, sinnierte Priem.

„Vor allem: wann er kommt?“, ergänzte Weissacher.

„Wer?“

„Na, der Rosenkavalier!“

„Natürlich! – aber so kommen wir nicht weiter! Wir brauchen eine Inspiration! Vielleicht einen Cognac?“

„Gut, einen Cognac!“, willigte Weissacher ein.

Gerade als sie die Gläser hoben, betrat Geschäftsführer Mosak den Raum.

„Ich sehe, die Herren haben etwas zu feiern. Bin gespannt, was Sie mir berichten werden!“

Betretenes Schweigen bei den Betroffenen.

„Wenn Sie schon einen heben, dann wissen Sie zumindest, wo Sturiak abzu­holen ist. Denn hier sehe ich ihn noch nicht“, stellte Mosak kühl und mit spür­barem Vorwurf fest.

„Entschuldigen Sie“, versuchte Priem seine Erklärung einzuleiten, „wir sind ihm auf den Fersen, wir haben konkrete Hinweise, wir brauchen nur etwas Fantasie für die Interpretation dieser Hinweise.“

„Dann können sie aber noch nicht sehr konkret sein! Lassen Sie hören!“

Mosak wurde mit dem kryptischen Satz aus Sturiaks Mund konfrontiert. Er ver­stand nichts davon. Da stürmte Anke herein, man sah ihr den Triumph an, der auch, so hofften Priem und Weissacher, Mosak wieder versöhnen würde.

„Das Stück spielt in einem Haus vis-à-vis der Oper!“

„Jetzt müssen wir nur noch rechtzeitig dort sein!“, ergänzte Weissacher.

„Also dann, meine Herren, worauf warten Sie noch?“, gab sich Mosak zufrieden und anfeuernd.

„Da bedarf es noch einer kleinen Interpretation! Wofür wir uns Impulse vom Cognac erhofften. Wie viel Uhr ist es, wenn der Rosenkavalier drei Stunden zu früh kommt?“

Betretenes Schweigen!

„Komische Idee! Mr. Sturiak sollte für eine Rätselzeitung arbeiten“, versuchte Mosak von seiner eigenen Einfallslosigkeit abzulenken.

„Herrgott! Daran darf es doch nicht scheitern!“, stieß Priem verzweifelt heraus und setzte hinzu: „Anke, sieh dir doch auch die Texte zum Rosenkavalier an. Welche Zeitangaben sind in dem Stück? Wo kommt überhaupt eine Zeitangabe darin vor? Da singt doch wer etwas über die Zeit!“

Anke versuchte es wieder im Internet. Priem war stolz darauf, dass er das mit der Zeit noch wusste, obwohl er von dem Text des „Rosenkavalier“, als er ihn einmal in der Oper erlebt hatte, kaum etwas verstanden hatte, und das war schon vor etlichen Jahren gewesen. Aber er war sich nicht bewusst, dass er damit auf eine gefährlich falsche Fährte geriet. Denn wenn die Marschallin in der Nacht alle Uhren stillstehen lässt, dann würde das nicht zum richtigen Date führen. Die Zeit, die ist eben ein sonderbar Ding!

Dafür schaffte es wieder Anke: „Wisst ihr, was heute in der Oper gegeben wird?“

„Ich ahne es; doch nicht etwa ‚Der Rosenkavalier’?“, versuchte Priem die Antwort selbst zu geben.

„Und die einzige Zeitangabe, die ich gefunden habe, ist die Beginnzeit: 18.30 Uhr.“

„Und drei Stunden früher ist 15.30 Uhr! Wir haben es!“, triumphierte Weis­sacher, aber nur kurz: Denn ein Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass es schon fast 15 Uhr war. Priem und Weissacher stürzten die Treppe hinunter und stiegen hastig in den wartenden Wagen der Austrian Security.

„Zur Oper! Aber bitte schnell! Der Gesuchte wird wahrscheinlich Punkt 15.30 dort auftauchen!“

*

In der Hand hielt Sturiak eine etwas unscheinbare Rose, die der kleinen Sophie, die drüben auf der Bühne bald ihren Rosenkavalier erwarten würde, wohl keine Bewunderung entlockt hätte. Das feuchte Wetter tauchte die Stadt, die sonst wenigstens auf der Ringstraße den fremden Gast mit imperialem Glanz umhüllt, in kleinstädtisches Grau. Aus dem Hochnebel nieselte es nur so leicht herab, dass die meisten Passanten keinen Regenschirm aufspannten. Sturiak hatte seinen Schirm im Handgepäck, das sich in der Garderobe des Café Landtmann befand, vergessen. Er hatte ihn bisher nicht gebraucht, aber jetzt hätte er einen aufgespannten Schirm als Tarnung verwenden können. Er hätte ihn vor sein Gesicht halten und darüber hinwegspähen können, wenn sich ein Wagen näherte, sodass er beim geringsten Verdacht einer Unregelmäßigkeit im Schutz dieses Schirms den nächsten Geschäftseingang oder die Rolltreppe in die vor ihm liegende Passage unterhalb der Straßenkreuzung hätte ansteuern können. Ein Schirm wäre bei diesem Wetter ein unauffälliges Requisit gewesen. Aber stattdessen hatte er diese kleine, für einen genauen Beobachter auffällige Rose in der Hand.

Um der zunehmenden Nässe zu entgehen, entschloss sich Sturiak, seinen auf­fälligen Standort aufzugeben und auf die andere Seite der Operngasse zu wech­seln. Dort stand dieser riesige Bau des Heinrichshofs, der zu ebener Erde Arkaden für Fußgänger bot, die von plumpen, rechteckigen Pfeilern getragen wurden. Sturiak stellte sich hinter den Eckpfeiler, wo er von vorbeifahrenden Fahrzeugen höchstens teilweise sichtbar und nicht sofort eindeutig identi­fizier­bar war. Er blickte mehrmals auf seine Armbanduhr und auf das in einiger Ent­fernung über einem Geschäftsportal angebrachte Ziffernblatt. Er konnte eine Abweichung von rund eineinhalb Minuten feststellen. Auf seiner Armbanduhr war es inzwischen 15.30 Uhr geworden, ohne dass sich ein Auto in die hier vorbeiführende Nebenfahrbahn der Ringstraße verirrt hätte. Auf der anderen Seite dieser Fahrbahn stand ein Bus, der offenbar Kunden zu einem Möbel­geschäft in einer Shopping City bringen sollte. Einige Passanten gingen an Sturiak vorüber, überquerten die Fahrbahn und stiegen in den Bus ein. Dieser füllte sich langsam und fuhr dann ab. Sturiak war dadurch offenbar einige Sekunden in seiner Wachsamkeit beeinträchtigt, denn das Motorgeräusch, das der Bus bei der Anfahrt und Be­schleunigung von sich gab, ließ ihn nicht gleich bemerken, dass plötzlich jemand neben ihm stand.

Er hörte die Worte: „Werfen Sie die Rose weg und folgen Sie mir. Der Rosen­kavalier ist am Ziel.“

„Woher soll ich wissen, dass Sie der Richtige sind?“ Doch Sturiak war klar, dass er das Risiko auf sich nehmen musste. Und er tat es, ohne die Antwort abzu­warten, die sowieso nicht kam, weil auch Weissacher klar war, dass es keine Sicherheit in solchen Dingen geben konnte. Die Gegenseite hätte ja vorher hier sein und einen anderen an die Stelle des echten Sturiak postieren können, um bei der Entführung des richtigen Sturiak Zeit zu gewinnen. Erst die Konfrontation mit den Computerexperten würde Sicherheit schaffen, ob es sich hier wirklich um den ersehnten Spezia­listen handelte.

Weissacher führte Sturiak unter der Operngasse durch – der Aufgang auf der anderen Straßenseite existierte damals noch – in einen anderen Abschnitt der Seitenfahrbahn der Ringstraße, wo das Auto der Austrian Security an einem Taxistandplatz wartete. Sturiak holte tief Luft, als ob es um ein letztes Atemholen in Freiheit ginge, und stieg in den Fond des Wagens. Hier begrüßte ihn Priem mit so großer freudiger Erregung, dass Sturiak erleichtert im weichen Sitz der Limousine zusammensank. Weissacher nahm vorne neben dem Fahrer Platz. Bevor das Büro der Consulting Support angesteuert werden konnte, bat Sturiak noch um die Abholung seines Handgepäcks im Café Landtmann. Weissacher hielt das für ein unnötiges Risiko, aber Sturiak bestand darauf, weil er in seinem Gepäck auch Material für seine Arbeit mitgebracht hatte. Weis­sacher ließ sich den Garderobenschein aushändigen und erledigte die Abholung für Sturiak, den man nicht aus dem Wagen mit den für eine leidliche Abschir­mung ausreichend getönten Scheiben steigen lassen wollte.

In Wien begann die Abendstoßzeit vielleicht etwas früher als in anderen Großstädten. Man hatte den Eindruck, als hätte jeden Tag gut die Hälfte der Beschäftigten verfrühten Dienstschluss. Daher mehrte sich auch der Verkehr auf dem Weg zur Consulting Support bereits deutlich. Als der Wagen in eine der Ausfallstraßen aus dem Zentrum einbog, musste er gleich wieder stoppen, denn es hatte sich offenbar bereits ein Stau gebildet. Das war dennoch für die kom­mende Stoßzeit zu früh, und Weissacher dirigierte den Fahrer bei der nächsten Abbiegemöglichkeit auf eine andere Route um.

Kaum hatte der Wagen die neue Route erreicht, bemerkte Weissacher, dass ein hoch motorisierter VW-Golf zuerst einmal von hinten nahe an den Security-Wagen heranfuhr und sich dann vor der nächsten Ampel links daneben einreihte. In diesem Auto saßen zwei Männer, die dunkle Brillen trugen. Der Beifahrer blinzelte über den oberen Brillenrand angestrengt herüber. Die getönten Schei­ben schützten vor klaren Einblicken in das Wageninnere, aber Weissacher schien es, als ob die beiden Männer eine fernöstliche Physiognomie hätten. Priem schob Sturiak eine aufgefaltete Zeitung vor die Nase, sodass dieser sich vor Blicken aus praktisch allen Richtungen dahinter verstecken konnte. Der Golf versuchte immer wieder an den Security-Wagen heranzukommen und ließ sich dann wieder etwas zurückfallen, um es von der anderen Seite zu versuchen. Der Beifahrer telefonierte. Weissacher und Priem mussten annehmen, dass die Aufmerksamkeit ihnen bzw. ihrem besonderen Fahrgast galt. Weissacher forderte den Fahrer auf, den Golf abzuschütteln. Dieser probierte es zuerst mit einer kontrollierten Beschleunigung vor einer Ampel, die auf Rot sprang. Der Golf musste wegen des Querverkehrs abbremsen, nutzte aber die nächste Gelegenheit, um noch während der Rotphase über die Kreuzung zu fahren.

„Wenn es nicht mit Gewalt geht, dann eben mit einer List“, sagte Weissacher zu dem Fahrer und den beiden Passagieren auf den Rücksitzen. „Wir ändern die Route und tun so, als ob wir nicht in Richtung Consulting Support fahren würden.“

Der Fahrer drehte an der nächsten Kreuzung um 180 Grad um und fuhr wieder ein Stück stadteinwärts. Hätte der Golf dasselbe gemacht, hätte sich dieser ein­deutig als Verfolger demaskiert. Priem konnte durch das Fond-Fenster noch beo­bachten, dass der Golf mit deutlich langsamerem Tempo die ursprüngliche Richtung beibehielt. In diesem Augenblick läutete Weissachers Handy. Ilona gab die Meldung durch, dass man in der Gegend um die Consulting Support mehrere Personen beobachtet habe, die dort Koffer und anderes Gepäck, das wie Verpackung für Musikinstrumente aussah, aus einem Lieferwagen ausräumten. Man war sich nicht sicher, ob es ein Transport für eine Musikkapelle oder wo­mög­lich getarnte Waffen für einen Überfall waren. Man wollte jedenfalls jetzt, da man so viel Mühe und Vorsicht für die Einholung von Sturiak aufgewandt hatte, kein Risiko eingehen und riet davon ab, direkt den Standort der Consul­ting Support anzusteuern. Nachdem Ilona bestätigt hatte, dass bei Nasdal „die Luft rein sei“, und Dr. Rohrig bereitstünde, um Ron Sturiak zu empfangen, ent­schloss sich Weissacher, den Wagen zur Firma Nasdal umzuleiten. Das Be­triebs­gebäude am südlichen Stadtrand wurde ohne weitere Zwischenfälle er­reicht. Sturiak war endlich in seinem „Bestimmungshafen“ eingetroffen.

Ebenfalls noch vom Auto aus wies Gerhard Priem das Soft­wareent­wick­lungs­team von Consulting Support, Herrn Machlinger und die bei­den anderen, an, zur Nasdal zu kommen. Die drei Leute sollten aber getrennt fahren und so tun, als ob sie ihre Firma wie nach Dienstschluss verließen. Wenn es gelänge, alle an dem Fall arbeitenden Personen bei Nasdal zusammenzubringen, könnte man, so die Überlegung von Priem, sowohl gleich mit der Arbeit an dem Software­problem beginnen als auch weitere Nachforschungen anstellen, wer in diese myste­­riöse Sache verwickelt sein könnte.

*

Während sich Sturiak von Dr. Rohrig den bisherigen Verlauf der Tests und damit die Arbeitsweise der Software und deren Anomalien erklären ließ, ver­suchte sich Weissacher zusammen mit Priem ein erstes Bild über den Perso­nenkreis zu machen, der an dem Projekt beteiligt war. Beide hielten es für wahr­scheinlich, dass es irgendwo eine undichte Stelle gab, über welche Infor­mationen darüber, was bei Nasdal mithilfe der Software der Consulting Support erforscht wurde, in unbefugte, aber begierige Hände gelangt waren. Das musste zu der gerade noch verhinderten Attacke gegen Ron Sturiak geführt haben. Aber wer konnte ein Interesse daran haben? Weissacher und Priem sahen sich mit einer Reihe von Personen konfrontiert, die verschiedenen Gruppen zuzuordnen waren.

Da war zunächst das Projektteam von Consulting Support Vienna, das aus fremd bezogenen Softwarebausteinen ein neues „Super“-Programm gebastelt hatte. Das hatte offenbar eine besondere Qualifikation erfordert, die diese Leute mit­brachten. Weissacher musste sich eingestehen, dass er solche Qualifikationen einem Team einer relativ kleinen Filiale eines internationalen Software­unter­nehmens, noch dazu hier in Wien, nicht zugetraut hätte.

Die zweite Gruppe, die für eine undichte Stelle ebenso in Frage kam, war die Forschergruppe um Dr. Rohrig bei Nasdal. Auch hier schien sich eine Spezial­kompetenz entwickelt zu haben, die weltweit höchste Aufmerksamkeit ver­diente, wenn sich die Forschungsarbeiten an der Mutation von Grippeviren nicht als Luftblase erweisen sollten. Die ganze Welt der Pharmaindustrie müsste eigent­­lich hier Schlange stehen und ungeduldig auf die Ergebnisse warten.

Bevor Weissacher und Priem ihre Überlegungen weiterentwickeln konnten, wurde ihnen die Ankunft des ersten Mitarbeiters aus dem Consulting-Support-Team gemeldet. Es war Kurt Machlinger, der Leiter dieses Teams. Er wurde sofort in das Forschungslabor weitergeleitet, in dem die Gruppe um Dr. Rohrig mit Sturiak konferierte. Weissacher blieb keine Zeit, Machlinger jetzt mit Fra­gen zu bombardieren. Sein Interesse hatte, wenn er hier überhaupt noch weiter gefragt sein würde, nicht der Technologie zu gelten, sondern der Abwehr oder Aufdeckung von Störversuchen. Sein Erfolg oder Misserfolg konnten darüber ent­scheiden, wohin viel Geld, sehr viel Geld fließen würde.

Der Gedanke daran führte Weissacher noch eine dritte Personengruppe vor Augen, deren Verwicklung in diese Angelegenheit ihm allerdings die größten Schwierigkeiten bereiten würde. Er dachte an die Führungskräfte in beiden Unter­nehmen, die die geschäftliche Verantwortung für ihre Projekte trugen und daher am besten in der Lage waren, die wirtschaftlichen Implikationen abzu­schätzen, um die es hier ging. Natürlich müssten diese Leute am Erfolg ihres Unternehmens interessiert sein. Wahrscheinlich waren sie am Umsatz oder Ge­winn beteiligt und besaßen Unternehmensanteile. Das schloss aber nicht aus, dass einer auf die Idee kommen könnte, einen größeren Happen von dem zu erwartenden Kuchen in die eigene Tasche zu lenken. Weissacher fühlte, wie ihm mit der Fortführung dieses Gedankens die Gänsehaut hochkroch. Hier meinte er, an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu stoßen. Wie sollte er die persönlichen Verhältnisse dieser Leute, die er zum Teil noch gar nicht kannte, analysieren und herausfinden, welche Interessen sie verfolgten oder mit welchen Personen – vielleicht aus Konkurrenzunternehmen – sie Kontakt hatten?

Wenn wirklich hier die undichte Stelle war, dann konnte man seine Bemü­hungen aus nächster Nähe beobachten und daher auch leicht behindern, bei­spiels­weise durch Zurückhaltung von wichtigen Informationen. Wollte nicht dieser Mosak – vor allem bei seiner ersten Begegnung – gar nicht erst mit den Gründen herausrücken, warum man Sturiak unbedingt und raschestmöglich finden sollte? Weissacher schüttelte sich unmerklich, wie ein Hündchen das Wasser abschüttelt, das ihm nach einem Ausflug in einen Tümpel noch im Fell sitzt. Er wagte nicht, Priem auf Mosak und dessen Integrität direkt anzu­sprechen. Vielleicht sollte er doch lieber die ganze Angelegenheit als für ihn beendet betrachten? Doch als sich Priem von ihm mit dem Versprechen verab­schiedete, sich bei Mosak für eine Verlängerung und Ausweitung des Auftrags einzusetzen, widersprach er nicht. Priem war ebenfalls der Meinung, dass auch nach Sturiaks glücklicher Landung bei Nasdal noch vieles aufklärungsbedürftig war.

Mittlerweile war es Abend geworden. Während im Umkreis die Gebäude in der Finsternis einer trüben Novembernacht versanken, verblieben im Westflügel des Betriebsgebäudes von Nasdal einige Zimmer hell erleuchtet. In einem Raum saß eine Personengruppe an einem Konferenztisch beisammen und führte eine ernste, aber keineswegs heftige Diskussion über die Besonderheiten ihrer Arbeit angesichts der jüngsten Schwierigkeiten. Der eingeflogene Experte Ron Sturiak sollte diese Erstinformationen für die Planung seiner Untersuchungen best­mög­lich nützen können.

Die Firma Nasdal war durch Dr. Stephan Rohrig und einen weiteren Mitarbeiter, den Laborleiter Maurer vertreten. Etwas später kam einer der beiden Inhaber der Gesellschaft dazu, und zwar Dr. Hans Dallinger. Sein Kompagnon, Professor Dr. Richard Nasté, weilte im Ausland.

Das Team von Consulting Support, das an der Software für Nasdal gearbeitet hatte, war vollständig vertreten, also neben Herrn Kurt Machlinger noch Herr Bügler und Frau Sporer, die Weissacher schon beim kurzen Gespräch am Mor­gen kennengelernt hatte. Frau Sporer traf etwas verspätet ein. Sie sagte, sie habe noch ihre Familie versorgen und die Hausaufgaben der Kinder kontrollieren müssen, da zu befürchten stand, dass die Sitzung etwas länger dauern könnte. Von Priem hatte Weissacher erfahren, dass Bügler und Sporer ein abge­schlos­senes Informatikstudium an der Technischen Universität Wien hatten. Unter den Mitarbeitern des internationalen Konzerns sei es aber unüblich, die akade­mi­schen Titel zu verwenden. Machlinger war dagegen ein Selfmademan, der nach einem Studienabbruch vor zehn Jahren in die Informatik eingestiegen und mit der Entwicklung seither mitgewachsen war.

Auch Stefan Mosak traf während der Besprechung ein, stellte ein paar Fragen, entfernte sich mit Dr. Dallinger für ein paar Minuten zu einem Vierau­gen­ge­spräch und verabschiedete sich dann relativ schnell wieder.

Nachdem sich Weissacher von Ilona telefonisch hatte informieren lassen, was in seinem Büro an Anfragen oder Post im Laufe des Nachmittags eingegangen war, schickte er Ilona nach Hause und gesellte sich zu der Konferenz der Consulting-Support- und Nasdal-Leute mit Ron Sturiak. Er fühlte sich ziemlich müde, da jetzt auch die Spannung, die dieser Tag mit sich gebracht hatte, allmählich von ihm wich. Vielleicht lag es auch daran, dass er die Wortgeplänkel zwischen diesen Leuten nicht verstand, vor allem wenn sie sich technischer Abkürzungen bedienten, die ihm fremd waren.

Daher beschloss Weissacher, seine Ermittlungen am nächsten Tag fortzusetzen. Er verabschiedete sich, wobei er gleichzeitig alle Anwesenden bat, sich morgen für ein weiteres Gespräch bereitzuhalten. Dr. Dallinger verlieh dieser Bitte, die eigentlich eine Aufforderung sein sollte, Nachdruck, nachdem dieser ebenso wie Weissacher bemerkt haben dürfte, dass man ihn, Weissacher, nicht für kompetent und autorisiert genug betrachtete, in der Angelegenheit weiter herum­zuschnüffeln. Wer war er denn schon für diese hohen Experten? Ein kleiner Möchtegern-Inspektor, ein Kleinunternehmer, der sich glücklich schät­zen sollte, ab und zu von ihren Firmen einen bescheidenen Auftrag zu erhalten. Er verstand das, denn als Vertriebsleiter hatte er früher auch mit solchen Leuten zu tun gehabt, die sich manchmal einen Auftrag geradezu von ihm erbettelten und sich nur mühsam über Wasser halten konnten. Weissacher war daher für die Stär­kung seiner Rolle durch Dr. Dallinger sehr dankbar. Er verließ das Betriebs­gebäude von Nasdal, versicherte sich der Aufmerksamkeit der Austrian-Secu­rity-Leute, die auch die Nacht über das Gebäude im Auge behalten sollten, und stieg in das herbeigerufene Taxi, das ihn wohlbehalten nach Hause brachte.

Wenig später entfernte sich auch Ron Sturiak aus der Runde und begab sich in einen Nebenraum. Er nahm die ihm zugeteilte Workstation in Betrieb und be­gann seine Überprüfungen, indem er einen Test nach dem anderen aktivierte. Er hielt zwei Fehlerkategorien für möglich: Entweder der Algorithmus des Daten­analyseprogramms war gestört oder die Software hatte einen technischen Fehler. Ein Hardwareproblem konnte er sehr bald ausschließen. Aufgrund der Komple­xität sowohl der mathematisch-statistischen Grundlagen als auch der Archi­tektur des Programms selbst war ihm unklar, wie lange seine Tests dauern konnten. Da er in zwei Tagen wieder in der Zentrale in London erwartet wurde, würde er wohl auch die Nacht opfern müssen, um nicht kostbare Zeit zu ver­lieren.

Die Konferenz nebenan ging mittlerweile noch weiter. Sie interessierte ihn allerdings nicht mehr, störte ihn aber auch nicht. Er war froh, dass er hier in einem Betriebsgebäude weit außerhalb des Stadtzentrums, umgeben von park­ähnlichen Vorgärten und anderen Firmenstandorten, die er aus seinem Fenster in der Dunkelheit ausnehmen konnte und die nun verlassen schienen, nicht allein zurückgelassen war. Er erinnerte sich, dass er kurz vor Erreichen der Nasdal an einer Kreuzung die Bezeichnung „Richard-Strauss-Straße“ gelesen hatte. Er nahm dies als gutes Omen für seine Mission, da ihm ja dieser Komponist heute schon einmal zu Hilfe gekommen war.

Sturiaks erste Versuche in dieser Nacht, in der Software der Consulting Support Vienna Fehler zu entdecken, blieben ohne Erfolg. Es war bereits 2 Uhr früh, als er sich aus dem Arbeitszimmer in das Gästezimmer zurückzog, das ihm von Nasdal zur Verfügung gestellt wurde. Glücklicherweise gab es dieses Gäste­zimmer, sodass er das Gebäude nicht verlassen musste. Der Haupteingang wurde von einem Portierdienst, in dem sich zwei Leute während der Nacht ab­wechselten, gesichert. Dazu kam das Duo vom Sicherheitsdienst, das auch die anderen Gebäudeteile beobachtete. Das Haus hatte außerdem eine Alarmanlage, an der man heute auch den Bewegungsmelder scharf stellte, der sonst in der Regel ausgeschaltet war, weil es oft vorkam, dass sich auch in der Nacht Mit­arbeiter im Gebäude, vor allem in den Forschungslabors, aufhielten. Sturiak konnte sich also sicher fühlen.

Trotz dieses Gefühls und der Müdigkeit fand er lange keinen Schlaf. Er musste immer wieder daran denken, dass ihn jemand aus dem Verkehr ziehen wollte. Und dann war da noch das fachliche Problem der Fehlersuche. Er erinnerte sich, dass ihm ein Kollege bei seinem letzten Aufenthalt in der Londoner Zentrale von einem Fall erzählt hatte, der gewisse Ähnlichkeiten mit der Situation hatte, die er hier vorfand. Der Kollege hieß Erik Lundström und befasste sich mit dynamischen Programmstukturen. Er war eben aus den USA gekommen, wo er die EDV-Software einer kleinen, aber sehr renommierten Privatuniversität, die auf Meteorologie spezialisiert war, zu überprüfen hatte. Leider hatte sich Sturiak keine Details gemerkt, denn er war damals während des Gesprächs von Rose abgelenkt worden, deren Figur ihn elektrisierte. Rose war eine junge Dame von wenig mehr als zwanzig Jahren, die in der G.C.S.-Zentrale ein Praktikum machte und offenbar für einige Zeit Erik Lundström zugeteilt war. Diese Erin­nerung aufnehmend stellte er sich nun vor, mit Rose auf die Südseeinsel zu fahren, von der er schon beim Anflug auf Wien geträumt hatte. Das Bild von Rose nährte in ihm die Stimmung, dass die Welt noch anderes als knifflige, unter Zeitdruck zu lösende Softwareprobleme für ihn bereithielte. Wenn er eines Tages nicht mehr wollte, würde er einfach aussteigen und ein anderes Leben beginnen, vielleicht irgendwo auf dem Land oder auf einer Insel, fernab dieser hektischen Städte mit ihren EDV-Zentralen, vielleicht zusammen mit Rose. Die Erscheinung von Rose als Bäuerin war allerdings bereits so absurd, wie es erste Anflüge von Träumen sind, die im Übergang in den Schlafzustand auftauchen. Sturiak war eingeschlafen.

Die Nacht verlief für alle beteiligten Personen ohne besondere Vorkommnisse. Fast schien es, dass der Morgen des neuen Tages die Geschehnisse des Vortags wie Albträume nach dem Erwachen vertreiben könnte. Denn die Wetterfront, welche die beiden letzten Tage bewölkt und regnerisch gestaltet hatte, war vorübergezogen und machte einem freundlichen Sonnenaufgang Platz. Doch waren immer noch alle Probleme von gestern ungelöst.

Melange, Verkehrt und Einspänner

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