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2. Menschen aus Fleisch und Blut

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Anthropologie bedeutet Wissenschaft vom Menschen. Es gibt biologische, psychologische, medizinische, philosophische und Kulturanthropologie. Alle diese Disziplinen bemühen sich um eine Wesensdeutung des Menschen und visieren damit eine Aussage über seine Stellung in der Welt an.

Seit den Anfängen der Kultur macht sich der Mensch Gedanken über sich selbst. Dabei will er wissen, in welchem Verhältnis er zu den Tieren steht und was seine Bestimmung ist. Da er sich vermutlich in der Natur als relativ klein und hilflos erlebte, neigte er dazu, kompensatorisch seinen Wert hoch anzusetzen. Er betonte früh seine Ausnahmestellung gegenüber den anderen Lebewesen.

Das zeigt sich besonders deutlich in den Mythen und Religionen. Vor allem die monotheistischen Glaubenssysteme gehen davon aus, dass der Mensch in einem speziellen Schöpfungsakt ins Dasein gerufen wurde. Die Bibel verkündet, dass er am letzten Schöpfungstag sozusagen als Krone aller Wesen verfertigt wurde, wobei ihm Gott selbst die Anweisung gab, er solle sich alles übrige Geschaffene untertan machen.

Da das Christentum in Europa siegreich war, bestimmte es das Welt- und Menschenbild der folgenden zwei Jahrtausende. Gewiss gab es auch bedeutende Einflüsse der griechischen Philosophie und orientalischer Lehren. Daraus kristallisierten sich Auffassungen, die den Menschen von der Natur abhoben und ihn geradezu in Gegensatz zu ihr brachten. Platonismus, die Stoa und der Neuplatonismus begünstigten die Meinung, dass der Mensch aus einem irdischen Leib und einer himmlischen (unsterblichen) Seele zusammengesetzt sei. Die letztere lebe im ersteren wie in einem Gefängnis und sehne sich zurück nach ihrer überirdischen Heimat.

Dieser Dualismus blockierte jedes Nachdenken über den Menschen bis ins 18. Jahrhundert hinein. Es wagte fast niemand, die biologischen Aspekte des Menschseins zu betonen und sie den seelisch-geistigen Qualitäten als relevant gegenüberzustellen. Im Allgemeinen fiel das Leibliche, Materielle und Irdische der Verachtung anheim: Der seelisch-geistige Bereich war der eigentlich menschliche, ihn allein galt es durch Tugend und frommen Lebenswandel zu pflegen.

Dem widersprachen die Aufklärer und Rationalisten des 18. Jahrhunderts. Sie waren bestrebt, der biologischen Seite der menschlichen Existenz eine angemessene Würdigung zuteil werden zu lassen. Daher sprachen sie von Trieben, Affekten und Begierden aller Art, die für den Menschen ebenso konstitutiv sind wie etwa das Denken und das Wollen. Seit jener Epoche bahnt sich ein gewisser Realismus in der Wesensdeutung des Menschen an und ist nicht mehr zu eliminieren.

Aber selbst noch der spekulative Idealismus in der deutschen Philosophie nennt den Menschen einen „Bürger zweier Welten“ (Immanuel Kant) oder sieht in ihm den Vollstrecker der kosmischen Entwicklung des Weltgeistes zu Freiheit, Wissen um sich selbst und Selbstverwirklichung (Hegel). Diese Ausuferungen einer spiritualistischen Metaphysik wurden jedoch bald durch die Entfaltung der Naturwissenschaften und der modernen Philosophie in Frage gestellt.

Schon Arthur Schopenhauer wehrte sich vehement dagegen, das Bild des Menschen religiös-spirituell schönzureden. In seiner Sicht war der Mensch ein egoistisches, triebhaftes und mehr oder minder asoziales Lebewesen, das nur mühsam zu Vernunft und Tugend hingelenkt werden könne. Liest man die Äußerungen des pessimistischen Philosophen über seine Mitmenschen, so hat man fast das Bild eines Raubtieres vor Augen, bösartig und gewalttätig. Bekannt ist das Diktum Schopenhauers, es bedürfe keiner Hölle, um die Menschen zu bestrafen. Die Welt sei schon ein Fegefeuer, und die Hölle, „das sind die anderen“ (Sartre).

Fast gleichzeitig mit Schopenhauer bemühte sich Ludwig Feuerbach um ein realistisches Menschenbild. Durch die Kritik der Religion wollte er die menschliche Selbstentfremdung aufheben und zeigen, was die wahre Natur des Menschen sei. Er entdeckte hierbei in der Theologie eine verborgene Anthropologie. Was die Religion über Gott und die Götter aussagt, ist seiner Meinung nach eine sich selbst verkennende Wesensdeutung des Menschen. Man muss nur die Attribute der Gottheit auf irdische Maßstäbe reduzieren, wodurch man in die tieferen Dimensionen der menschlichen Konstitution vorstößt. Man sagt, Gott sei allwissend, allmächtig, allgütig und ewig. Das aber sind Eigenschaften des Menschen, ins Unendliche vergrößert. Verkleinert man sie auf den irdischen Maßstab, ist der Mensch ein eher ohnmächtiges, unwissendes und vor allem auch endliches Lebewesen.

Schopenhauer und Feuerbach bedeuten eine „revolutionäre Wende im Denken des 19. Jahrhunderts“ (Karl Löwith). Von da an ist allem hochtrabenden Spekulieren über den Menschen der tragende Grund und Boden entzogen. Noch radikaler als diese beiden Denker untergrub Charles Darwin das theologische Menschenbild. Seit dem Erscheinen seines Meisterwerkes über Die Entstehung der Arten (1859) wurde der Mensch unwiderruflich ins Tierreich versetzt. Die Menschenaffen waren nun seine Vettern und nächsten Anverwandten. Zunächst hatte Darwin in seinem ersten Hauptwerk gezögert, diese Schlussfolgerung der Welt bekannt zu machen. Aber andere Forscher begriffen sofort, dass man diese Konsequenz ziehen müsse. Und Darwin folgte ihnen nach, als er 1871 sein zweites Werk über Die Abstammung des Menschen publizierte.

Nun kam es gleichsam Schlag auf Schlag. Seitdem wurden die Angriffe auf das religiöse Weltbild immer entschiedener und rückhaltloser. Die Naturwissenschaften, die Soziologie, die Lebensphilosophie, die Existenzphilosophie und schließlich auch die Tiefenpsychologie steuerten auf eine Wesensdeutung des Menschen hin, die durchaus realitätsbezogen und reduktiv sein wollte. An die Stelle gewohnter Sonntagsreden über die jenseitige Herkunft der Menschenseele und die allzu edlen Bestimmungen des Menschengeistes traten nun nüchterne Beschreibungen, in denen es um das „Menschentier“ und den geschichtlich gewordenen Menschen ging.

Das war mit großen narzisstischen Kränkungen für Mensch und Gesellschaft verbunden. Sigmund Freud sprach davon, dass seit dem Anbruch der Neuzeit dem Kulturmenschen drei fundamentale Beeinträchtigungen seiner Eitelkeit zugefügt worden seien: Zuerst habe Kopernikus mit seinem neuen Weltsystem die Erde aus dem Mittelpunkt des Weltalls verbannt. Dann kam Darwin, der die Abstammung aus dem Tierreich überzeugungskräftig nachwies. Und zuletzt trat die Psychoanalyse das Erbe dieser großen Welt-Entzauberer an, indem sie feststellte, dass der Mensch nicht einmal innerhalb seiner Seele Herr im eigenen Haus sei, sondern Impulsen seines Unbewussten, seiner Sexualität und seiner Triebhaftigkeit insgesamt folge.

Tatsächlich gilt es seit 1900 schon fast als Indiz für den Mangel an intellektueller Redlichkeit und für ein Zurückbleiben hinter dem Geist der Neuzeit, wenn man theologisch oder auch nur spiritualistisch über den Menschen redet. Wir haben ein Terrain gewonnen, wo wir Ausblicke auf Natur und Verhalten des Menschen formulieren können, die alles nebulöse Fabulieren und Spintisieren vermeiden. Wie ein solcher Realismus und Reduktionismus in der Anthropologie aussehen kann, wollen wir in der Folge in zehn Thesen erläutern.

1. Realismus und Reduktionismus in der Anthropologie bedeuten eine Aufwertung der physischen Aspekte des Menschseins. Aber man darf dabei das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: Auch wenn der Mensch ein Sprössling des Tierreiches ist, besagt das in keiner Weise, dass seine Natur nur in seiner Physis verankert ist. Solche Anschauungen wurden im 19. Jahrhundert inauguriert, aber sie trugen nicht weit. Im Gegensatz zu ihnen wurde bald die These lanciert, dass im Grunde die Kultur die wahre Natur des Menschen sei. Auch wenn der Mensch noch so stark in seiner Biologie verankert ist, hat er immer Beziehungen zur seelisch-geistigen Welt, aus der seine kulturellen Lebensinhalte hervorgehen. Und diese bestimmen ihn in der Regel mehr als seine Biologie.

Hält man den neuen Gesichtspunkt fest, dann kann man das Verhalten des Menschen nicht aus Rasse, Volkszugehörigkeit, Geschlecht, Abstammung usw. erklären, sondern eher aus den Bildungsquellen, die er aufnimmt, und den Bildungszielen, die er wählt. Er ist nicht nur Schöpfer, sondern auch immer Geschöpf der Kultur. Bis in die Persönlichkeitsdiagnostik hinein müssen wir auf seine Stellung und Einstellung zum Kulturellen achten. Daher ist es z. B. fraglich, ob Physiognomik je eine Wissenschaft werden kann. Die äußeren Formen des Gesichts und der Kopfbildung mögen biologischer Zufall sein. Eher schon muten uns der lebendige Ausdruck eines Menschen und die aus ihm erwachsene Formgebung als Charakteristik der Individualität an. Noch weiter führt es uns in das Zentrum der Person, wenn wir um ihre Erziehung und Bildung, ihre Schicksale und ihre Zukunftsentwürfe wissen.

Die meisten Autoren stimmen darin überein, dass der Mensch als „nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche) sich selbst erst eine Form geben muss. Das vollbringt eben die Kultur. Sie ist gewissermaßen die Selbsterzeugung der Menschengattung, wobei man Karl Marx in dem Sinne ergänzen muss, dass dies nicht durch die Arbeit im engeren Sinne geschieht. Der Mensch ist eben nicht nur „homo faber“ (Benjamin Franklin); auch Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie haben in vielfältiger Weise das menschliche Dasein konstituiert.

2. Wir müssen also ständig Basis und Überbau innerhalb der Menschennatur in ihrer Wechselwirkung sehen. Das ergibt etwa auch eine neue Sicht auf die Frage, ob es einen Grundtrieb im Menschen gibt. Allzu einseitig erscheinen jene Theorien, die nur eine einzige menschliche Hauptmotivation anerkennen wollen: Sexualität, Machtwille, Egoismus oder Altruismus usw. Solche monothematischen Lehren wirken enorm geschlossen, überzeugen aber nicht. Daher tendieren wir eher dazu, eine Vielzahl von Motivationsmöglichkeiten ins Auge zu fassen. Die Unfertigkeit und Instinktarmut des Menschen zwingt ihn dazu, sich selbst aufzubauen und zu verwirklichen. Dabei treten je nach Situation und innerer Gestimmtheit verschiedene Antriebskräfte auf den Plan, die erst in ihrer Gesamtheit die Menschennatur ausmachen.

Wichtig ist aber, dass man immer die Totalität des Menschen im Auge behält. Diese ist bei allen seinen Aktivitäten und Zuständen in der Vielzahl ihrer Konkretisierungen stets mit anwesend. Darum hatte z. B. Freud Recht, wenn er in jegliche Biographie seine Zweifel setzte, sofern diese nicht auch das faktische Sexualleben der dargestellten Individualität mit einbezog. Legt man aber den Akzent nur auf den Sexus eines Menschen, dann vernachlässigt man andere Sphären, die ebenso relevant sind.

Wir müssen also lernen, Teile und Ganzes, Fassade und Hintergrund des Menschenwesens jeweils in einer Synopsis zu sehen. Oder anders ausgedrückt: Die Kunst der Menschendeutung besteht darin, je nach Bedarf vom Geistigen zum Emotionalen und Affektiven sowie zum Triebhaften überzugehen und umgekehrt. Des Weiteren muss man vom Kollektiven zum Individuellen und vom Persönlichen zum Allgemeinen wechseln können. Dabei wird es von Vorteil sein, in Abhebung zur geistesgeschichtlichen Tradition eher die tragenden und basalen Schichten des menschlichen Seins zu betonen als deren Überbau.

3. Aus unserer Sicht kann ein Beitrag zur Lösung der uralten Frage geleistet werden, ob der Mensch gut oder böse sei. Bekanntlich neigen die Religionen dazu, eine urtümliche Bösartigkeit zu postulieren. Die Theologen führen sie auf den Sündenfall des ersten Menschen zurück, was aber für Vernunft und Ethos recht phantastisch wirkt. Interessant ist, dass der Autoritarismus in allen seinen Spielarten der Theologie gerne beipflichtet. Wenn der Mensch böse von Natur ist, darf man ihn unterdrücken und ausbeuten. Auch ist Unterdrückung und Ausbeutung selbst ein fast „naturgemäßes Verhalten“.

In der jüngsten Vergangenheit haben die Theorien von einem angeborenen und spontanen Aggressionstrieb (S. Freud, K. Lorenz) viel Beachtung gefunden. Sie entsprachen dem konservativen Welt- und Menschenbild, weshalb sie lebhafte Zustimmung erfuhren.

Aber es ist höchst fraglich, ob es im Menschen eine biologisch bedingte Spontanaggression gibt. Die Mehrheit der Menschen ist und war durchaus friedfertig. Den Raubtiertypus gibt es bei den herrschenden Klassen, sozusagen aus ihrer gesellschaftlichen Position heraus. Sie zwingen dann die friedliche Bevölkerung durch Dressur und Fanatisierung zur Gewalt, wobei sie ihre permanent angestachelte Machtgier austoben können. So stammt die menschliche Aggression vermutlich eher aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und überlebtem Kulturgut als aus der Biologie des Menschen. Man sollte jedenfalls vorsichtig und zurückhaltend sein, wenn man Kollektiv- und Kulturphänomene wie Krieg, Kolonialismus, Klassenkampf usw. zu erklären versucht. Sie sind soziale und kulturelle Erscheinungen großen Stils, und wer sie kurzschlüssig im Bios verankert, blendet willkürlich die Sozietät, die Geschichte und die Kultur aus.

4. Ist die von Carl von Linné im frühen 18. Jahrhundert eingeführte Bezeichung „homo sapiens sapiens“ berechtigt? Entspricht das Verhalten der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart der Klugheit, welche ihm diese Definition zuschreibt? Sollte man nicht eher vom „homo insipiens“ sprechen, also vom dummen Menschen? Tatsächlich mutet die bisherige Weltgeschichte wie ein unsägliches Epos von Dummheit, Kriminalität und Wahnsinn an.

Nietzsche sagt, Wahnsinn bei Einzelnen gäbe es gelegentlich, bei Völkern und Epochen sei er die Regel. Aber ist dies nun eine Konstante im Menschen, die in seiner Natur liegt? Wir haben Beobachtungen genug, um auch Respekt vor der Erfindungsgabe und praktischen Tüchtigkeit des Menschen zu gewinnen. Blickt man auf Wissenschaften und Technik, auf Kunst und Philosophie, dann wissen wir nicht so recht, ob wir von der menschlichen sapientia oder eher insipientia sprechen sollen.

Wiederum möchten wir die Auffassung bevorzugen, dass die Dummheit nicht primär in der Menschennatur liegt. Sie wird den Menschen systematisch aufgezwungen durch Tradition und Erziehung, wobei wiederum Herrschaftsinteressen eine wesentliche Rolle spielen. Man braucht die menschliche Dummheit, um den gesellschaftlichen Status quo aufrechtzuerhalten. Und es wird ein ungeheures Maß von List und Schlauheit eingesetzt, um jegliche Aufwallung von Verstandesgebrauch unmöglich zu machen. Man will den Menschen unmündig haben, und der von Immanuel Kant geforderte Mut zum Wissen wird, wo immer möglich, schon in der Kindheit erstickt.

5. Ein wichtiges Instrument hierzu ist die Ausschaltung der Individualität. An sich ist der Mensch darauf angelegt, ein Einzelner zu sein und zu werden. Er fühlt sich auch als solcher und ist nicht selten stolz auf seine scheinbare Eigenart und Eigenwüchsigkeit.

Sieht man aber näher zu, dann ist es mit diesem Individualismus nicht weit her. Das moderne Denken hat aufgezeigt, dass das Kollektive sehr weit ins Individuelle hineinwirkt. Schon die Massenpsychologie seit Gustave Le Bon (1895) beschreibt den Menschen als Massenwesen, das in fast allen Lebenssituationen kollektiv lebt und handelt. Und die Existenzphilosophie spricht vom „Man“ des Menschen, das seine primäre Seinsform ist und ihm überall kollektive Denk- und Verhaltensmuster aufzwingt. Wir sind eben durchaus von Gemeinschaft und Gesellschaft gesteuert, und nur eine lang anhaltende und spezifische Anstrengung kann uns zum eigentlichen Selbstsein hinführen.

Wie das stattzufinden hat, haben progressive Autoren eindrücklich geschildert. Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Jaspers, Sartre und viele andere haben den Kampf ums Selbstsein eindringlich vorgetragen, aber der Weg von der Theorie zur Praxis ist schwer und mühevoll. Auch ist dabei mit dem gnadenlosen Widerstand der großen Mehrheit des „mittleren Menschentums“ zu rechnen, das jeweils auf die Anordnungen der Obrigkeit hört und jeden Ausbrecher aus dem Kollektiv leicht zum „Verbrecher“ stempelt.

6. Dass die bisherige Weltgeschichte ein Alptraum und ein Irrsinn ist, ist kaum zu bestreiten. Berechtigt das aber nun dazu, mit Arthur Koestler den Menschen einen „Irrläufer der Evolution“ zu nennen? Es ist nicht statthaft, alle Fehlentwicklungen schlicht der Natur zuzuschreiben. Sofern man sie personifizieren will, kann man lediglich sagen, dass sie den Menschen mit seiner Instinktentbundenheit beschenkt hat. Damit wurde er zum ersten „Freigelassenen der Natur“ (J. G. Herder), den allerdings das großartige Geschenk der Freiheit in tief greifende Verwirrung setzen musste. Er stand nun vor der Aufgabe, durch Versuch und Irrtum, Versuch und Erfolg sich seinen Weg zu suchen. Kein Wunder, dass er dabei auf Irrwege verfiel.

Um welche Irrwege es sich handelt, ist nicht vollständig aufzuzählen. Wir erwähnen nur Erfindungen wie Krieg, Patriarchat, die Herrschaft von Nomadenvölkern über Ackerbauern, die Entwicklung weltfremder und lebensfeindlicher Religionen, die Entstehung von Staat, Kirchen und Gesellschaftsklassen. Es ist fraglich, ob solch krumme Pfade der Entwicklung, die in Sackgassen führen mussten, hätten vermieden werden können.

Da nun aber diese gewachsenen Strukturen des geschichtlichen Lebens vorhanden und wirkmächtig sind, müssen wir uns mit ihnen auseinander setzen. Es wäre ein tragischer Fehler, all das der menschlichen Natur anzulasten, was eher katastrophale Irrtümer der Kulturentwicklung sind. Sie gilt es kritisch zu zersetzen, um neue Anfänge zu ermöglichen. In diesem Sinne ist produktive Kritik ein integraler Bestandteil von Realismus und Reduktionismus in der Anthropologie.

7. Es liegt in der Logik von Herrschaft, dass sie den Willen zur Macht und den Willen zum Schein (Nietzsche) zu stimulieren pflegt. Die kritische Besinnung soll die Hohlheit des Machtwillens und die Bodenlosigkeit von Lug und Trug aufdecken. Sie muss überall zur Echtheit und Unverfälschtheit vorstoßen, die für den Menschen prinzipiell möglich sind.

Das weite Feld der Politik, der Moral und des Gesellschaftslebens überhaupt bietet viele Bereiche für eine solch entlarvende Disziplin. Die herrschenden Schichten umgeben sich mit einem Nimbus, der sie furchteinflößend und sakrosankt machen soll. Aber wer sind denn die Männer an der Spitze, die sich zu weltlichen Halbgöttern oder gar Göttern gerieren? Überblickt man nachträglich die einst hoch verehrten Führer der Völker und Nationen, so ist man verblüfft darüber, geradezu eine Ansammlung von Psychopathen, Halb- und Ganzverrückten vorzufinden. Es ist buchstäblich eine negative Auslese, die zur Macht hin drängt. Ganz selten sind es wirkliche Persönlichkeiten von Rang. Für die meisten aber gilt das weise Wort von Ernst Kretschmer über die Psychopathen: „In Friedenszeiten begutachten wir sie; in Krisenzeiten regieren sie uns!“

8. Wenn nun aber die politischen Machthaber im Nachhinein als machthungrige Vogelscheuchen erscheinen, wie steht es dann mit den anderen Eliten? Eine Elite ist nach Auskunft des Lexikons „eine durch hohe Leistung und Fähigkeit sich auszeichnende Minderheit innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Formationen“; oder anders ausgedrückt: „Eine Minderheit als tatsächlicher Macht- und Herrschaftsträger, auch Führungsschicht in einer Gruppe oder Organisation.“

Es ist offenkundig, dass geschichtliche Entwicklungen ohne das Wirken solcher Eliten kaum möglich sind. Die herrschende Klasse erstarrt in der Regel in ihren Traditionen und im Bemühen um die Aufrechterhaltung ihres Status quo. Die unteren Volksschichten sind bedrängt durch die Daseinsnot und können infolge von Primitivität und Bildungsmangel keine Zukunftsentwürfe schaffen. Bleiben also nur die geistigen Eliten, auf denen die Hoffnung positiver Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft ruht.

Es ist ein Gemeinplatz, dass in der bisherigen Geschichte ein Großteil der Eliten ihrer Kulturaufgabe nur mangelhaft gerecht wurde. Da Herrschaft und Autorität wichtige Gratifikationen zu vergeben haben, wurde die Intelligentsia zum Helfershelfer der Unterdrücker und Ausbeuter. Sie lieferte die ideologischen und metaphysischen Rechtfertigungen für die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen.

Nun soll man das Geistesleben nicht an die Politik fesseln; aber man ist immer berechtigt, nach den politischen Konsequenzen auch des sublimsten Werkes in Wissenschaft, Kunst und Philosophie zu fragen. Dabei gewinnt man einen tiefen Einblick in Mut, Aufrichtigkeit und Solidarität eines Kulturschöpfers, was seine Einordnung ins konservative oder progressive Lager ermöglicht. Echte Kulturleistung muss immer einen humanistischen Kern haben. Direkt oder indirekt wird sie stets Gewalt und Ungerechtigkeit untergraben. Sie wird auch im Auge behalten, dass jede Geistigkeit aus dem kollektiven Leben aufsteigt und auf es zurückwirken muss. Intellektualität, die nicht die Bildung des Volkes im Blickfeld hat, kann kaum vermeiden, in irgend einer Form reaktionär zu sein.

9. Die Fehlentwicklungen innerhalb der Kultur mögen tausend Ursachen haben; eine wesentliche davon ist das Faktum, dass der menschliche Leib im Kulturprozess nicht seinen adäquaten Rang und Platz erhielt. Er war ein Element der gefühlten Unfreiheit (Unvollkommenheit). Um diese eiligst zu überwinden, entwickelten sich asketische Religionen und Moralen, die in der Verneinung der Leiblichkeit den Weg zur Geistigkeit erblickten. Wo aber Geist aus der Verleugnung von Trieb, Vitalität und Lebensanspruch gebildet wird, erhält er von vornherein einen pathologischen Grundzug.

Wenn Sigmund Freud vom Menschen sagte, er sei ein Wesen von schwacher Intelligenz, das von starken Trieben beherrscht wird, sah er nur die halbe Wahrheit. Er hätte konstatieren müssen, dass die den Trieb verleugnende Intelligenz geschwächt wird, wobei sie von der verdrängten und unkultivierten Triebhaftigkeit immer wieder zwanghaft heimgesucht wird. Nur der zwangsneurotisch deformierte Trieb wirkt dämonisch. Eine ins Gefühlsleben wohl integrierte Leiblichkeit ist nicht furchtbar und bedrängend, sondern eine unversiegliche Kraftquelle für die Kultureinfügung.

Schopenhauer, Freud und Nietzsche werfen der Religion vor, dass sie den Kulturprozess an seiner Wurzel angekränkelt habe. Daher ist es ein Gesundheitskriterium für die Beurteilung einzelner Persönlichkeiten oder ganzer Kulturströmungen, ob sie sich aus der religiösen Beeinflussung befreit haben. Nur jenseits von frommer Autoritätsgläubigkeit überhaupt entfaltet sich das wahre Leben des Geistes.

10. Die von uns intendierte kritische, realistische und reduktive Anthropologie geht davon aus, dass der Himmel über der Menschheit leer ist. Es gibt keine überirdischen und auch keine irdischen Götter. Wir leben auf einer Ebene, wo es nur Menschen gibt. Und alle herrschenden Schichten sowie ihre diensteifrigen Eliten sind ebenfalls nur Menschen, nicht selten sogar „Untermenschen“, die sich als „Übermenschen“ gebärden. Es wäre viel damit gewonnen, wenn dieser falsche und verlogene Anspruch entlarvt und für jedermann transparent würde. Wo bleibt dann aber Sinn und Zielrichtung im Menschenleben? Müssen wir nun auf höhere Zielsetzungen verzichten und uns mit der trivialen Alltäglichkeit begnügen? Das ist keineswegs der Fall.

Man hat in theologisch inspirierten Zeiten mitunter gesagt, dass der Mensch im Werdensprozess der Gottheit eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Er schafft sozusagen einen werdenden Gott. Gott ist aber keine brauchbare Hypothese mehr; die Kultur kann und soll ihn als die umfassende Sinndimension ersetzen. In der Hingabe an die Kultur oder an den sich entwickelnden objektiven Geist findet sich vollkommener Ersatz für die kritiklose Religiosität. Aber diese Kultur der Zukunft muss leib- und lebensfreundlich sein. Sie soll in einer freien und gelösten Beziehung zu den Mächten des Es, der biologischen und der sozialen „Unterwelt“ stehen, die sie in die Sphäre des Geistes aufhebt im Hegel’schen Sinne, also bewahrt und zugleich auch läutert.

Eine solche Hoffnung jedenfalls sprach Thomas Mann aus, als er zum 80. Geburtstag von Sigmund Freud in Wien eine Festrede hielt, die den Beitrag der Psychoanalyse zu einem künftigen Humanismus würdigte. Damit erfasste er wohl ziemlich genau die Intentionen des Schöpfers der Tiefenpsychologie, der seine Theorie und Praxis nie als bloßes Anhängsel von Medizin und Psychologie einstufte, sondern in ihr einen entscheidenden Beitrag zu einer freien Philosophie und Weltanschauung sah. Des Weiteren sagte Thomas Mann im erwähnten Vortrag über die Psychoanalyse:

„Ein heiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht, die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwinden kann. Er (Freud) betreibt eine Entpathetisierung, indem er zum Geschmack am Understatement erzieht… Bescheidenheit aus Bescheidwissen – nehmen wir an, dass es die Grundstimmung der heiter ernüchterten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die Wissenschaft vom Unbewussten sein mag.“

Philosophie für den Alltag

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