Читать книгу Beethovens unsterbliche Geliebte - Joseph August Lux - Страница 4

I. Kapitel.

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Es war einmal – – – –

Es war einmal eine Zeit, da hatten die Musen und Grazien ihren Göttersitz noch auf Erden aufgeschlagen, und zwar dort, wo nach der Legende das Glück zu Hause gewesen sein soll: im alten aristokratischen Wien.

Hier war ja immer der Himmel offen und hing voller Geigen; in den Adelspalästen, bei Musikfesten allgemein zugänglich, dirigierte Vater Haydn seine »Schöpfung«, wie Gottvater selber; Ritter Gluck veroperte den ganzen griechischen Olymp, und am höchsten in allen Himmeln tönte die Zauberflöte Mozartscher Musik, diese melodische Seele des barocken Wiens: Damen im Reifrock und Herren mit Degen und Haarzopf, Spitzenjabot und goldgestickter Seidenweste bewegten sich im höfisch-abgemessenen, galanten Schritt des Menuetts.

In diese kunstvoll verschnörkelte Welt des Barocks war der junge Genius vom Rhein, Herr Ludwig van Beethoven, als ein erfrischendes Lenzgewitter hereingebrochen, ein Naturelement, das wie Pan den erstaunten Götterkreis betritt und eine Revolution bewirkt, von der Musik aus. Der neue Mensch. Schon äußerlich wirkt er auffallend: sein unbekümmertes Gebaren, seine lässige Haltung auch in der Kleidung nach der »freieren Weise der überrheinischen Mode« – für die einen abstoßend, für die anderen »originell«, jedenfalls höchst bedeutsam; eine Persönlichkeit, um die man nicht herumkann; ein Genius, der eine Sendung trägt, wenn man auch die Tragweite noch nicht abzuschätzen vermag. Eine Wende stand bevor. Und der Adel selbst, noch ganz von Barocktraditionen beherrscht, für Haydn und Mozart begeistert, jubelt dem jungen Stürmer und Dränger zu und wird damit zum Träger des Umsturzes – die Romantik erwacht. Die berühmten Freitagskonzerte im Palais Lichnowsky sind der Ausgangspunkt des neuen Ruhms: das Flügelrauschen des sich entfaltenden Genius ward hier von aufhorchenden und bezauberten Herzen vernommen; hier folgten bewundernde Blicke seinem Flug nach unbekannten Höhen – – – –

*

Das Gefühlsbarometer stand auf Sturm an einem jener Freitagsmorgen, als der hochedelgeborene und in exklusiven Kreisen bereits viel gefeierte Herr Komponist und Klaviervirtuose sorgfältiger als sonst Toilette machte, um sich in das Palais Lichnowsky zu begeben, wo sich regelmäßig eine erlesene Gesellschaft zu den Freitagskonzerten einfand.

Der Diener war davongelaufen; der Meister hatte vergangene Nacht lange gearbeitet und das Abendessen vergessen; als er gegen Mitternacht sich endlich erhob und vergebens an dem Glockenzug riß, daß es gellend durchs Haus tönte, trat er selbst in die Küche hinaus. Hier fand er den Diener eingeschlafen und das Nachtmahl auf dem Herde kalt. Es gab einen heftigen Wortwechsel; der unwillige Herr versetzte in seiner Erregung dem Widerspenstigen eine Ohrfeige, die zwar sofort mit einem Pflaster von fünf Gulden geheilt wurde, aber der aufgebrachte Meister hatte bei dem unliebsamen Auftritt eine kleine Kratzwunde im Gesicht erhalten, die am Morgen noch nicht verschwunden war. Dafür war der Diener verschwunden, der sich in aller Frühe mit seinen Siebensachen auf und davon gemacht und den gewalttätigen Herrn im Stich gelassen hatte; der mochte nun läuten und schelten aus Leibeskräften, was er konnte, er mußte sehen, wie er nun allein fertig werden würde, und das war nicht einfach für den Künstler, der sich nur schwer mit dem Alltag abfand.

Das Frühstück zwar pflegte er selbst in einer Glasmaschine zu bereiten, er hielt auf guten starken Kaffee, wohlabgezählte sechzig Bohnen die Tasse, die er in eigener Verwahrung hielt, aus Furcht, bestohlen zu werden; er war mißtrauisch, und das nicht immer mit Unrecht.

Indessen der Kaffee kochte und in der Maschine brodelte bis zum schließlichen Überlaufen, indem er Wolken würzigen und belebenden Duftes in dem Raum verbreitete, begann der Meister seine gewohnten Wasserbegießungen über Kopf, Brust und den ganzen Körper hinunter, bis der Fußboden in Wasser schwamm; er stampfte wie ein Nilpferd unter dem wohligen Naß, heulend, singend, komponierend. Das gehörte zu seinen täglichen Morgenübungen.

Dann rasch Seifenschaum ins Gesicht; der Bart hatte sich schon tagelanger Ungeschorenheit erfreut und umwucherte mit freiheitlicher Ungezügeltheit Kinn und Wangen des bräunlichen Gesichts, stachlich wie eine Kaktuswaldung. Aber mitten im Einseifen hatte der summende Meister eine hübsche musikalische Eingebung, die eiligst zu Papier gebracht werden wollte; also schnell ans Pult, wo er sich in die Idee vertiefte, und dann war auch schon die äußere Welt wieder vergessen: die überkochende Kaffeemaschine, der sprossende Bart, der Seifenschaum – – – als er sich wieder besann, war der Kaffee übergelaufen, die Seife im Gesicht vertrocknet – man mußte von neuem beginnen. Nun aber rasch! In der Übereile hantierte er etwas ungeschickt mit dem kleinen Wandspiegel, den er des besseren Lichtes wegen am Fensterhaken befestigen wollte: patsch! lag das Ding am Boden – in Scherben.

Wütend riß er an der Klingelschnur; die Glocke gellte zwar wie zum Jüngsten Gericht, aber kein Diener erschien. Richtig, der Kerl war ja ausgerissen! »Himmel, alle vierzehn Nothelfer, stehet mir bei!« In der Verzweiflung denkt er an seinen Freund, den Musikliebhaber Baron Zmeskall, der bei solchen Gelegenheiten immer den Nothelfer spielt, vierzehn in einer Person oder einer von den vierzehn: er behandelt seine Wiener Freunde als bloße Instrumente, auf denen er spielt, wie's ihm gefällt; eigentlich aber ist er in seiner Hilflosigkeit dem praktischen Leben gegenüber auf ihre Dienste angewiesen, und sie dienen ihm in Ehrfurcht vor seinem Genius.

Ein paar Zeilen an den Baron sind rasch hingeworfen; er muß ihm seinen Diener zur Aushilfe schicken, seinen Spiegel leihen, nachdem der eigene zerbrochen ist, ja, und dann noch eins: da die letzten fünf Gulden als Schadloshaltung für die Ohrfeige in die Hand des entwichenen Dieners geflossen sind, muß auch damit der Freund aushelfen. In launigen Worten und scherzhaft gemeinten Anreden, wie: geliebtester Conte di Musica – nicht Musikgraf, sondern Freßgraf – Dineen-Graf, Suppeen-Graf, Baron Dreckfahrer und ähnlichen Titulaturen, die er sich gegen den Getreuen angewöhnt hat – anders tut es der Meister nicht –, setzt er ihm die Lage auseinander: »– – ja, liebster Conte, vertrauter Amico, die Zeiten sind schlecht, unsere Schatzkammer ausgeleert, die Einkünfte gehen schlecht ein, und wir, Euer gnädigster Herr, sind gezwungen, uns herabzulassen und Euch zu bitten um ein Darlehen von 5 Gulden, welches wir Euch binnen einigen Tagen wieder zufließen werden lassen – – –«

Das wäre also soweit gut getan – aber da ist wieder der Rat teuer: durch wen soll der Brief geschickt werden, da kein Diener zur Hand ist? Wo den Spiegel schnell hernehmen?

Seufzend fügt er sich in das Unvermeidliche; die Scherben werden mühsam aufgelesen und die größeren Stücke notdürftig in den Rahmen gesteckt; für den ersten Augenblick geht es ja. Die Erbärmlichkeiten des kleinen Alltagslebens pflegt der Meister wohl mit seinem grimmigen Humor zu quittieren, wie er es eben in den Zeilen an Zmeskall getan; aber eigentlich wird er sich jetzt recht tief seiner Verlassenheit bewußt, der Mißmut gewinnt Oberhand.

Am liebsten wäre er nun gar nicht mehr in das Freitagskonzert gegangen und würde sich statt dessen in das Reich seiner Muse geflüchtet haben, wo ihm Trost und Vergessen über all die äußere Misere sicher zuteil wird. Nur der Umstand, daß heute bei Lichnowsky seine neuen Trios zur Aufführung gelangen, bestimmt ihn zu guter Letzt, sich doch fertig anzukleiden.

Aber da hat er erst recht seine liebe Not. Zwar hat er sich nach und nach auch in seiner Tracht ganz und gar der vornehmen Gesellschaft, in der er verkehrt, angepaßt; gegen seine frühere Gewohnheit hält er jetzt auf gewählte, ja elegante Kleidung mit einem Stich ins Neumodische. Er zeigt sich gern in Werther-Tracht, so hat ihn einer der Freunde, Herr von Mähler, ein Maler-Amateur, porträtiert, mit einer Lyra in der Hand – und wenn er in feine Gesellschaft geht, trägt er sich nach der herrschenden Sitte: blauen Frack, weiße Seidenstrümpfe, Schnallenschuhe; nur statt des Jabot eine große, kunstvoll geschlungene Halsbinde von lieber Hand – – – Diese Halsbinde ist das Zeichen der neuen Zeit, zum Unterschied von Haydn, der noch ganz Rokoko ist mit gepuderter Perücke und Seitenlocken.

Der Anblick der schönen Halsbinde, mit der er nun Staat macht, erweckt Gefühle der Wehmut; Tränen entstürzen seinen Augen, eine unbeschreibliche Traurigkeit kommt über ihn. Leonore, die teuerste Freundin seiner Bonner Jugend! Sie hat das Kunstwerk gearbeitet, es ist ein Angebinde von ihrer Hand, das sie ihm in die Fremde nachgesandt hat. Wieviel zärtliche Gedanken hat sie in das Werk ihrer Nadel mitverwoben, welche teuren Schatten ruft das seidenweiche Ding in seiner Erinnerung – – –! Wie ein liebender Arm legt es sich zärtlich um den Hals, er fährt damit über die Wangen, eine verstohlene Träne abzuwischen; er lächelt fast, als spürte er eine linde, streichelnde Hand, die alle Trauer, alle Tränen fortnimmt. Bonn, seine Heimat, sein Rheinland ist nicht vergessen, und noch weniger vergessen ist der Engel Leonore – – – Glühende Kohlen sammelt das Denken an sie auf Haupt und Herz. Im Zwist war er fortgegangen, mit bitterbösen Worten: junge Liebe; der Rest ist Leid. Nun ist alles weit, weit zurück: die Eifersucht, die ihn gequält, der Rivale Franz Wegeler, Medizinstudent, arm wie er und gleich ihm fast Kind im Hause der Hofrätin Breuning, der Mutter Leonorens; die stille Liebe, die ihm aus den Augen der Jugendfreundin, aus gelegentlichen scheuen Versen und hundert kleinen Aufmerksamkeiten entgegenblühen wollte, und die er zu wenig bedacht und bedankt hatte, als bis er fort war, und schließlich erfahren mußte, daß der beargwöhnte Freund nach langem geduldigem Werben Erhörung gefunden und die ferne Geliebte heimzuführen im Begriffe sei. Da brach das Eis; er schrieb beiden rührende Briefe, in denen er sich seiner Heftigkeit anklagte; denn er liebte sie beide, den Freund und die Freundin, und mußte sich sagen, daß es seine eigene Schuld war, wenn alles so kam, und doch kaum Schuld, denn es war Bestimmung: er hatte zu wählen zwischen dieser Liebe und zwischen seiner Göttin Kunst, die ihn hinausdrängte ins Große und Weite, auf die Bahn des Ruhms, und so ward dem Herzen der bittere Verzicht.

Das war der Grund der plötzlichen Tränen und Wehmut, die ihn immer beschlich, wenn er Leonoren gedachte; die Weste, die sie ihm einmal gestickt, war unmodisch geworden, sie wurde als teures Andenken aufbewahrt. Er wollte ein Stück ihrer kunstfertigen Hände tragen wie einen Talisman, und so hatte sie ihm diese Binde geschickt. Das war Gruß aus der Ferne und doch fühlsame Nähe, ein Sinnbild entschwundenen Jugendglücks, alles was ihm davon geblieben war, und eigentlich noch etwas mehr: eine Leidensseligkeit im Herzen, darin das Idealbild Leonorens in nie verwelkender Jugendschöne und Verklärung thronte, nun schon selbst irgendwie Verkörperung seiner Muse, sein Engel Leonore.

Wenn er hätte wissen können, daß ihm heute bei Lichnowsky jene andere irdische Verkörperung seiner Muse entgegentreten würde, die noch tieferes Glück und tieferes Leid ihm bescheren und das Engelsbild Leonorens verdunkeln sollte, ja, daß ihm diese weibliche Schicksalsbotschaft in der Dreizahl der Grazien erschiene, um ihm eine folgenschwere Bedeutung zu künden – er hätte vielleicht erst recht gezaudert, in das Freitagskonzert zu gehen und wäre in seiner eigenwilligen, störrischen Laune daheimgeblieben. Denn er besaß ein stolzes Herz, das er der Göttin Kunst verschrieben, und fürchtete für seine mühsam behauptete Ruhe im Dienst dieser strengen Göttin. Ansonsten sagten ihm Frauen nicht viel, obzwar er viel umschwärmt war, und sich mehr zu sanften, leidenden Frauennaturen, wie die Fürstin Christiane Lichnowsky, hingezogen fühlte, die gewissermaßen eine mütterliche Herrschaft über ihn führten.

Leise ging die Tür auf, ein schmaler blasser Jüngling glitt ins Zimmer, sein Schüler Ferdinand Ries.

Unerwünschter Besuch!

Der Meister wandte sein Gesicht weg und drückte sich ganz an den zerbrochenen Spiegel heran, eifrig bemüht, die große Halsbinde zu einem kunstvollen Knoten zu schlingen; er nahm keine Notiz von dem jungen Menschen, der sich gleich am Klavier zu schaffen machte und in Notenheften blätterte; der Meister tat, als ob er sein Eintreten gar nicht bemerkt hätte, eigentlich aber wollte er seine Gemütsbewegung verbergen; der Junge sollte nicht sehen, daß er Tränen vergossen hatte.

Das Stundengeben war Frondienst für den Genius, in den Stunden der Muse war es ihm eine unerträgliche Qual; er hätte Ries längst zum Kuckuck geschickt, so lästig war er ihm, aber der Junge war ja der Sohn des alten Bonner Hausfreundes und Hofmusikers Franz Ries, der in den Tagen der Not, als die Mutter Beethoven starb und alle Habseligkeiten ins Leihhaus und auf den Trödelmarkt wanderten, die Familie wie ein sorgender Vater unterstützte, zumal der eigene Vater die Not noch vergrößerte und seinen Kummer in den Weinschenken ertränkte – – – oh, diese traurigen Bonner Tage, an die ihn nun auch der junge Ries gerade in der Stunde der Wehmut durch sein höchst ungelegenes Erscheinen erinnern mußte! Vater Ries hatte ihm den Sohn Franz zur weiteren Ausbildung geschickt; die Dankbarkeit für den alten Ries legte dem Meister eine Pflicht für den Sohn auf, die er heilig nahm, obzwar der Schüler die Launen und Eigenheiten des Meisters mit in Kauf nehmen mußte und keine ganz leichte Lehrzeit hatte.

»Ich kann Ihnen heute keine Stunde geben«, brummte endlich der Meister, um sich die lästige Anwesenheit vom Halse zu schaffen.

»Ich gehe schon«, sagte leise der Junge. Die Trauer der Stimme fiel dem Lehrer auf; er wandte sich um.

»Nein, bleiben Sie!« befahl er in einem barschen Ton, dahinter sich die Weichheit des Gefühls verschanzte, und plötzlich wieder ganz verändert, voll Teilnahme, fast erschrocken: »Ja, um Himmelswillen, wie sehen Sie nur aus? Sind Sie übernächtig, sind Sie krank, weil Sie so blaß aussehen?«

Der junge Mensch wurde plötzlich rot und sah scheu und verlegen zu Boden. »Nichts, nichts«, hauchte er und griff nach einer Stuhllehne, als wollte er sich vor Schwäche stützen.

Der Meister schien zu erraten: »Haben Sie schon gefrühstückt?«

»Nein«, kam die Antwort etwas zögernd.

»Ja, warum sagen Sie denn das nicht gleich, Sie Unglücklicher,« fuhr ihn der Meister an, »hier ist Kaffee, Brot und Butter, greifen Sie zu und stärken Sie sich!« Und er schenkte dem Jungen gleich selbst die Tasse voll und bemerkte, daß sich Ries mit kaum beherrschtem Heißhunger über die Reste des Frühstücks herstürzte und rasch einige große Bissen hinunterschlang.

Der Lehrer beobachtete ihn eine Weile, und als der Junge sich gestärkt hatte, sagte er mit tiefem Ernst: »Ferdinand, Sie verbergen mir etwas!«

Nun ergoß sich eine neue Welle der Verlegenheit über das Gesicht des jungen Mannes, der zuerst beschämt schwieg.

»Ferdinand!« begann der Meister wieder mit mahnender Stimme: »Verstecken Sie sich nicht vor mir! Seien Sie aufrichtig! Ich bin der Freund Ihres Vaters und vertrete jetzt seine Stelle bei Ihnen. Reden Sie also offen, ich habe ein Recht, Sie zu fragen, und Sie haben die Pflicht, klar und offen zu antworten, als ob Sie beichten würden: Wann haben Sie zum letzten Male gegessen?«

Ries zögerte noch eine Weile und sagte dann mit niedergeschlagenen Augen: »Vorgestern.«

Da schlug auch schon der Meister mit der Faust dröhnend auf den Tisch: »Nun da haben wir's ja! Geht es Ihnen schlecht?! Haben Sie kein Geld? Heraus mit der Sprache!«

Nach einigem Hin und Her gestand der Junge, daß er von allen Mitteln entblößt sei und bereits seit einiger Zeit empfindlichen Mangel leide. Der Vater könne ihm nur wenig schicken, seit Monaten habe er nichts mehr von zu Hause erhalten, aber er wollte nicht mahnen, denn er wisse, daß es auch in Bonn nicht am besten stünde, seit der gute Fürst von den Franzosen verjagt und die Hofkapelle aufgelöst worden sei. Er habe dem Vater nicht zur Last fallen wollen, der durch den gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse selbst in große Bedrängnis geraten sei und für eine große Familie zu sorgen habe; er habe den Vater darum in der Meinung gelassen, daß es ihm gut gehe und daß er durch Erteilung von Nebenunterricht genug für den eigenen Lebensunterhalt verdiene. Dem sei aber leider nicht so.

Nun brach erst recht das Unwetter los.

»Unseliger! Warum eröffnen Sie sich mir nicht? Verdiene ich kein Vertrauen?! Wenn Sie es nicht dem Vater sagen, um ihm unnötigen Kummer zu ersparen, so hätten Sie es doch mir sagen müssen, mir, der ich genau weiß, was Not ist, und der ich in solchen Zeiten selbst einen Helfer in Ihrem Vater gefunden habe. Bin doch ich jetzt der Erste und Nächste, der Ihnen beizuspringen hat, oder wollen Sie mir die höchst erwünschte Gelegenheit vorenthalten, eine Schuld an Ihrem Vater abzutragen? Sie Undankbarer, Sie Ungeratener, ei ja, Sie Nichtswürdiger, der Sie es jetzt verdienen würden, daß ich Sie nicht mehr meinen Schüler nenne, Sie – – Sie – – – Sie – – –! Kennen Sie mich, Ihren Lehrer, den Freund Ihres Vaters so schlecht?! Solange ich etwas habe, sollen meine Freunde nicht darben müssen!«

Aufschluchzend von Ergriffenheit und Dankbarkeit stürzte der Schüler vor dem Meister auf die Knie und wollte ihm die Hand küssen.

Unwillig wehrte ihn der Meister ab: »Dummes Zeug, lassen Sie diese Possen! Aber merken Sie sich: als ich so alt war wie Sie, ist es mir nicht besser gegangen. Ich hatte, als meine gute Mutter starb, nicht nur für meine Brüder zu sorgen, sondern auch für meinen Vater, Gott habe ihn selig! Ich war sozusagen Familienvater mit siebzehn Jahren. Indessen, hören Sie wohl, ein junger Mensch ist nicht arm, auch wenn er nichts zu beißen hat. Also Kopf hoch! Und wie mir Ihr Vater beistand, als wäre er mein eigener Vater gewesen, so will ich jetzt an Ihnen handeln. Sehen Sie den Brief hier? Gehen Sie damit ins Bürgerspital, Sie wissen ja, und sagen Sie dem Baron Zmeskall, daß ich ihm ganz teuflisch gewogen bin; Sie werden dort etwas empfangen, kommen Sie damit ins Palais Lichnowsky. Also Gott befohlen! Es war doch gut, daß Sie heute morgen erschienen sind; danken Sie dem Himmel, daß er Sie zur rechten Zeit hergeführt hat.«

Damit entließ er den hochbeglückten Schüler, der eilends davonstürzte und im Herzen den guten Meister pries, dem er fortan als treuester Famulus anhing.

Fertig angekleidet, verließ bald darauf der Meister seine Behausung. Den Kopf zurückgeworfen, Hut im Nacken, die Hände mit dem Elfenbeinstock auf dem Rücken gekreuzt, lenkte er seine Schritte nach dem Palais in der Alstergasse. Er ging nicht schnell und ging immer gradaus, ohne eines Haares Breite von seinem Weg abzuweichen. Die Passanten mußten zur Seite treten, er tat es nicht. Und sie wichen aus. Manch einer blieb stehen und sah ihm verwundert nach. Er war nicht groß und erschien doch mächtig. Der muß wer sein, dachte der eine oder andere, daß ihm die Leute Platz machten, obschon sie kaum wußten warum. »Der ist wer«, das fühlte auch der Unbekannte.

Der Meister hatte es wirklich nicht eilig. Voll Selbstbewußtsein schritt er dahin. Keine Spur von Weichheit oder Wehmut war ihm anzumerken, wenn er unter die Leute ging. Er fühlte sich als Großer unter Großen, als Fürst unter Fürsten, mit denen er wie mit seinesgleichen verkehrte, wenn er sie nicht gar geringschätzig behandelte.

Nur wenn er ein hübsches Mädchen kommen sah, blieb er wohl stehen und sah ihm nach und ging dann still lächelnd weiter. Der Blick ging ein wenig nach oben und ruhte sinnend auf dem Horizont, in unbestimmter Ferne, wo wie eine leichte Vision der Engel Leonore schwebte. Dieser faszinierende, ideale Blick und dieses glückliche sonnenhafte Lächeln in dem trotzigen Gesicht, das man sonst häßlich nennen würde: es war ein eigentümliches Widerspiel, das den Reiz des Ungewöhnlichen hatte. »Der muß wer sein – – – –«

Stürmisch hatte der Freitag begonnen, aber allmählich wendete er sich ins Rosenrote und Himmelblaue. Daß sich das Gewölk freundlich zerteilen und das liebliche Gestirn der Venus ihn holdselig anlächeln werde, konnte der Meister allerdings nicht voraussehen. Aber in der Regel ereignet sich das Unvorhergesehene. Das gehörte nun einmal zu seinem Schicksal.

II. Kapitel.

Als der Meister das fürstliche Treppenhaus hinaufstieg, wo barocke Genien und Putti als Leuchterträger ihr künstlerisches Wesen trieben nach des Bildhauers Laune, kamen ihm schon mehrere Livreediener mit geleerten Servierbrettern entgegen, ein Zeichen, daß ein Teil des Konzertprogramms und die Erfrischungspause bereits vorüber waren.

Der Künstler eilte darum keineswegs. Die oben mußten auf ihn warten, nicht er auf sie; und er hatte Zeit. Die Freitagskonzerte waren, wie alle aristokratische Hausmusik jener Zeit, nicht nur Kunstereignis, wo alle Neuheiten »brühwarm von der Pfanne« gebracht wurden, sondern auch Gesellschaftsereignis, wo sich die vornehme Welt zu begegnen pflegte. Der Meister konnte den Anfang, der nichts Ungewöhnliches brachte und zugleich wegen der Unruhe der Begrüßungen und des Gesellschaftsklatsches, der Chronique scandaleuse nur geteilte Aufmerksamkeit fand, ruhig versäumen; das eigentliche Interessante kam erst im Hauptteil, und das war er.

Die schweren gelbseidenen Brokatvorhänge rauschten auf, von dienstbeflissenen Händen gehoben; der Meister betrat den großen Musiksaal, dessen Fenster an dem trüben Tage von den Vorhängen geschlossen waren. An den Wänden schimmerten Kerzen in zahlreichen Leuchtern; farbensprühende Altmeistergemälde glänzten mit tiefen Reflexen in breiten geschnitzten Goldrahmen; ein erlesener Personenkreis erfüllte den Saal mit heiterem Lärm und bewegtem Leben, ein Flor von Damenschönheit und eine Galerie von männlichen Charakterköpfen, die mit den Ahnengesichtern in den Gemälden wetteiferten.

Mit seiner metallischen Stimme begrüßte Fürst Lichnowsky den ersehnten Meister und dankte mit etwas auffallender Betonung, daß der so ungeduldig Erwartete nun doch erschienen sei. Der Meister fühlte den Stachel des leisen Vorwurfs in der übertriebenen Form des Willkomms und wendete sich etwas brüsk ab; aber das war eben die Art des Fürsten, der sich einbildete, er müsse den eigensinnigen Künstler mit Anstand erziehen und zum Hofmanne machen. Aber der war und blieb naturhaft, und gerade das gefiel in dem hochkultivierten Kreis. Augenblickliche Stille war eingetreten, man ist gespannt auf den Künstler und beobachtet ihn wie ein Wundertier.

Der Meister hat sich zur Hausfrau gewendet, der blassen leidenden Fürstin Christiane, die am Klavier sitzt und dem Eintretenden mit dem huldvollsten Lächeln der Welt die Hand entgegenreicht, die der Künstler ehrerbietig küßt. Dieses schmerzensmüde Lächeln der Fürstin! Man munkelt, sie sei nicht glücklich. Die großen Ausgaben des Fürsten, seine kostspieligen Passionen – – –! Schöner noch ist ihre Schwester Elisabeth, die Gattin des stattlichen Fürsten Rasumoffsky, des russischen Staatsrates; sein Hausheiliger ist Haydn – jetzt hat er eine neue Mission gefunden, den Genius Beethoven: auch sie begrüßen ihn wie einen lieben Freund des Hauses; ja, die Mama der beiden Schwestern, die begeisterte Gräfin Thun, die das Andenken Mozarts hütet, löst sich sogleich von einer Gruppe von Damen und Herren los und steuert unbekümmert um alle Förmlichkeit auf den Künstler zu, den sie wie einen teuren Sohn fast umarmt. Sie war es doch, die vor Jahren den werdenden Meister, als er zum erstenmal nach Wien gekommen war, um bei dem damals noch lebenden Mozart Stunden zu nehmen, auf die Empfehlung des Grafen Waldstein hin liebevoll aufgenommen und ihn dem Kaiser Joseph vorgestellt hatte, der regelmäßig bei ihren Musikabenden zu erscheinen pflegte. Aristokratische Hausmusik – der gesellschaftliche Boden des musikliebenden Adels Wiens war die Pflanzstätte der ringenden Begabungen; aus der Hauskunstpflege des Hochadels und des Hofes waren die großen Meister hervorgegangen, als es noch keinen öffentlichen Konzertbetrieb gab – einen anderen Weg gab es nicht. Nach Mozart kam Beethoven; sie betrachtete ihn als ihr Werk. Kam er doch selbst von einem Hofe als Schützling des Bonner Kurfürsten Maximilian Franz, der gleich seinem Bruder Joseph II. die Förderung junger Talente als eine seiner Regentenpflichten erkannte, und seines Vertrauten, des Grafen Waldstein, der mit der Gräfin Thun verwandt war. So war der Künstler von Haus aus aufs beste gesellschaftlich legitimiert; durch seinen Genie-Adel fühlte er sich übrigens dem Geburtsadel gleichgestellt: wenn nicht sogar überlegen.

Um die übrige anwesende Gesellschaft kümmerte er sich indessen blutwenig, sondern machte sich gleich an den Pulten zu schaffen, wo »Falstafferl« mit seiner kleinen Hauskapelle saß, der rundlich fette junge Schuppanzigh, den Rasumoffsky samt seinem Quartett als Privatkapelle fest in seine Dienste genommen hatte und abwechselnd dem Fürsten Lichnowsky und dem Fürsten Lobkowitz für ihre Aufführungen zur Verfügung stellte. Eigentlich war es aber die Privatkapelle des Meisters, der seine Schöpfungen, kaum daß die Tinte trocken war, gleich orchestral durchproben und jederzeit über den ganzen Musikapparat verfügen konnte. Die Fürsten selbst wirkten im Orchester mit wie bei den berühmten Kavalierkonzerten im Augarten, ja sie fühlten sich geehrt, die Diener des Genius sein zu dürfen, der sie alle mit seinem Taktstock beherrschte und der König dieses musikalischen Reiches war, wo die glänzendsten Geschlechternamen froh sein durften, neben dem Berufsmusiker zu sitzen: die Kunst galt alles, Geburt fast nichts.

Geflüster und Gemurmel erhob sich wieder, nachdem sich die erste schweigende Spannung gelöst hatte; die Unterhaltung nahm ihren Fortgang.

Auf einer der seidenen Polsterbänke der Fensterwand zwischen den gelben Damastvorhängen saß Frau von Bernhard, eine baltische Klavierlöwin, die auf der russischen Gesandtschaft wohnte; sie hatte durch ihr Lorgnon die Vorgänge beobachtet und wendete sich jetzt mit etwas enttäuschtem Gesicht zu ihrer Nachbarin, der Baronin Ertmann, die bereits angefangen hatte, durch ihren genialen Vortrag der Beethovenschen Klaviersachen in der Gesellschaft zu brillieren:

»Also das ist Euer berühmter Beethoven?! Hm! Habe ihn mir ganz anders vorgestellt!«

Die Ertmann sah sie fragend an: »Wie denn?«

»Nun – nicht so klein und unscheinbar. Eben anders.«

»Klein und unscheinbar?« Die Baronin schüttelte lächelnd den Kopf. »Gerade das finde ich nicht.«

»Dieses häßliche braune Gesicht voll Pockennarben! Und wie unmanierlich sein ganzes Gebaren und Benehmen ist! Dann die Kleidung! Ganz und gar unpassend für diesen gewählten Kreis. Sehen Sie doch den Altmeister Haydn dagegen!«

Richtig, da war Papa Haydn, der an der Schmalseite des Saales stand und in einem Gespräch mit einem zierlichen behenden, quecksilberartigen Männchen vertieft war, ein Grandseigneur dagegen, ganz Rokoko mit reich gestickter Weste, braunem Staatsrock, großen Silberschnallen an den Schuhen; auf einem Seitentischchen lagen seine tadellos weißen Handschuhe, gleichsam unentbehrliches Attribut neben dem Dreimaster.

»Und wer ist denn das exotische Männchen, mit dem sich Haydn so angelegentlich unterhält? Ja, der mit der Perücke und dem dünnen Zopfschwänzchen? Ein kleiner Diavolo, der lebhaft gestikuliert und die Augen überall hat?«

»Ach so, der Hofmusikkapellmeister Salieri?«

»Ah, der Italiener? Dachte mir's doch! Alle sind so sorgfältig nach der Hofmode gekleidet – nur Euer Beethoven scheint sich emanzipiert zu haben: fast vulgär; neben diesen großen Meistern sieht er doch wirklich sehr unscheinbar aus«, wiederholte die kritische Baltin.

»Wenn Sie ihn spielen gehört haben, werden Sie ihn mit anderen Augen ansehen«, gab die Ertmann zurück.

»Ich gestehe, daß ich nun doppelt neugierig bin – sehen Sie doch, wie die Fürstin die Hände zu ihm erhebt, als ob sie ihn bitten wollte, und er tut, als bemerkte er es nicht – – – ein ganzer Reigen von Damen, die auf einen Blick, auf ein Wort von ihm zu warten scheinen, aber er ist geizig damit, fürwahr, stolz ist er nicht wenig; ich finde das unerträglich – – –«

Tatsächlich schien die Fürstin Christiane auf den Augenblick zu warten, da sich der Meister nach ihr umwenden würde; ein Kranz von Damen um sie harrte gleichfalls einer solchen gnädigen Audienz; augenscheinlich Enthusiastinnen, die ihm irgend etwas Schönes sagen wollten; aber er war in die Notenblätter vertieft und schien völlig entrückt.

Dann ging sein Blick verloren über den Saal – lauter bekannte Gesichter, bis sein Auge plötzlich in größerer Nähe an einigen Erscheinungen haften blieb, die ihm völlig neu und ungewöhnlich waren.

Die Hohe, Schlanke, mit dem römischen Gesicht, die schweren Flechten schlicht ums Haupt gewunden wie eine Krone, fesselte seine Aufmerksamkeit. Wer mag die sein?!

Blick tauchte in Blick – nur eine Sekunde lang. Zwei dunkle Strahlen, die sich rätselhaft ins Herz senkten und eine seltsame Unruhe weckten. Sie schlug die Augen nieder.

Fast verwirrt glitt sein Blick ab und wanderte zur Nachbarin. Himmel, wer ist diese Zarte mit den feuchtschimmernden, träumenden Mignon-Augen?!

Wieder sah er zur anderen hin, und blickte bald auf die eine, bald auf die andere, indessen die beiden schönen Mädchen sich zulächelten und dann in anscheinend gutgespielter Unbefangenheit sich zur Fürstin wendeten, die nun einer älteren Dame mit hoher schneeweißer Frisur ein flüchtiges Wort gab.

Er glaubte zu bemerken, daß die beiden Mädchen sich im leisen Geflüster mit seiner Person beschäftigt hatten; er wollte schon unwillig werden und sich in den Hintergrund zu »Falstafferl« zurückziehen, denn er liebte das Begafftsein nicht – da bemerkte er endlich die Fürstin, die ihm mit dem Fächer einen leichten Wink gab.

Sofort stand er an ihrer Seite.

»Ich möchte Sie bekanntmachen, lieber Meister, neue Verehrerinnen Ihrer Kunst«, sagte die Fürstin leichthin und deutete mit dem Fächer auf die Matrone und die beiden Mädchen: »Gräfin Brunszvik und ihre Töchter Theresa und Josephine – – – die jungen Damen sind mit der Eilpost hergereist von dem Landsitz in Ungarn und rechtzeitig erschienen, um das Konzert nicht zu versäumen – – –«

Der Künstler reichte etwas derb der alten Dame die Hand – nein, Hofmann war er wirklich nicht, trotz des kurkölnischen Hofes zu Bonn, wo er aufgewachsen war –, dann schüttelte er Josephine und schließlich Theresa, jener mit der Haarkrone, ebenso stumm als kräftig die Hand.

Schmal und zart lag Theresens Hand in seiner starken Faust. Wieder ruhte Blick in Blick, ganz kurz; er wollte etwas sagen, aber die Worte versanken, und er wartete, daß sie ihre Lippen öffnen werde; aber sie senkte nur die langen Wimpern wie einen Schleier und stand hold verwirrt da, ohne die Hand zurückzuziehen, die er plötzlich losließ. Theresa lächelte. Ein leises, fast spöttisches Lächeln, das sich weghob zu Josephine hin. Er bemerkte es und kam sich recht plump und ungeschickt vor, eine ungemütliche Situation, der er damit ein Ende machte, indem er sich ziemlich brüsk umwendete, auf das niedrige Podium sprang und »Falstafferl« zurief: »Anfangen, anfangen!«

Dann nahm er selbst am Klavier Platz und schlug einen Ton an, für die anderen das Zeichen, daß es losging.

Man setzte sich zurecht: im Halbkreis saßen ihm zunächst, so daß sich ihre Blicke begegnen mußten, wenn er aufsah, Theresa und Josephine mit ihrer Mama und Christiane. Aber er sah nicht auf. Den Löwenkopf mit der dichten ungeordneten Mähne gesenkt – er trug keine Perücke wie der alte Haydn oder wie der Satanskünstler von einem Salieri – das Gesicht verschlossen, finster, so saß er da und lauerte wie auf dem Sprung.

Atemlose Stille im Saal. Dann brach die Tonflut hervor, nie gehörte Klänge, die aus ungeahnten Urwelten zu quellen schienen, wildes Sehnsuchtsweh, das in Klüften und Felsen von Einsamkeiten hallte und schrie, höher und höher schwellend, als wollten sie Götterthrone stürmen und die Himmlischen bedrängen. Das Lächeln über den ungeschlachten Meister versiegte, der Olymp bebte in seinen Grundfesten, die herrliche Umwelt zerfloß, zerschmolz in einer einzigen Träne, die er an den Wimpern der Gräfin Theresa schimmern sah, als er geendet und plötzlich aufblickte.

Nun war an ihm die Reihe zu lächeln. Ein Lächeln so fremd, so wunderbar wie ein Strahl aus einer anderen fernen sagenhaften Welt; ein Lächeln von ergreifender tragischer Schönheit über der wilden heroischen Landschaft seines Gesichtes.

Die Ertmann hatte sich zu ihrer Nachbarin gebeugt: »Nun, was sagen Sie jetzt?«

»Was ich sage? Unbegreiflich, unbegreiflich! Es ist wahr, ich sehe ihn jetzt mit anderen Augen an. Ich war blind, jetzt bin ich sehend geworden'«

Und sie sah ihn jetzt noch neugieriger an als je zuvor.

Das erste, das zweite Trio rauschte vorüber. Aber am höchsten griff das dritte in C-Moll, der spezifisch Beethovenschen Tonart. Pathetisch, männlich kraftvoll, heroisch, voll ungebändigter Leidenschaft, voll auflehnendem Trotz. Eine neue, gänzlich unbekannte Empfindungswelt.

Die andächtige Ergriffenheit ließ es nicht zu, am Schlusse der Aufführung zu applaudieren. Man hätte es als eine Entwürdigung des Werkes und der weihevollen Stimmung empfunden, in die alle Hörer versunken waren. Nur ganz allmählich löste sich der Bann, und das Erwachen aus dem Traum der Musik war zunächst peinlich und voll Verlegenheit. Alle Worte waren schal, kein Ausdruck fand sich.

Der Hausherr machte der Ratlosigkeit entschlossen ein Ende, indem er mit lauter Stimme Papa Haydn anrief. Er, der Altmeister, sei berufen, dem jungen Genius den Dank und den schuldigen Zoll der Bewunderung im Namen aller auszudrücken. Er allein sei berechtigt, über das Opus 1 des Künstlers, der zwar schon viele rühmliche Proben seiner ungewöhnlichen Begabung geliefert, aber mit diesem Werk einen neuen Anfang setzen wolle, wie schon die Ziffer 1 besagt, ein Urteil zu fällen.

Man atmete wie befreit auf und jubelte von allen Seiten: »Ja, ja, Papa Haydn!« Es erschien als das rechte Wort zur rechten Zeit.

Papa Haydn, dem Salieri eifrig zugetuschelt hatte, kam langsam und gravitätisch näher, umarmte den Künstler und sagte, daß er stolz darauf sei, den jungen Meister einst zu seinen Schülern zählen gedurft zu haben.

»Er hat uns ein unbestreitbares Meisterwerk beschert«, erklärte er neidlos; »das haben ihn nicht seine Lehrer gelehrt; das hat ihm ein Höherer geschenkt!«

»Bravo, bravo, Papa Haydn!« Der Fürst klatschte in die Hände voll Vergnügen über das rückhaltlose Lob, das aus so berufenem Munde seinem Freund und Schützling zuteil wurde; er fühlte den Ehrgeiz eines Sportmannes, der ein gutes Pferd laufen läßt und damit den ersten Preis erringt. Der Lorbeer des Künstlers gehörte sonach auch ihm.

Alle klatschten aus Leibeskräften mit und jubelten Papa Haydn zu; der Beifall, der eigentlich dem Künstler galt und vorhin durch eine unerklärliche Scheu gehemmt war, ergoß sich jetzt über das greise Haupt des würdigen Lobredners. Es schien, als sollten die anderen die Ehren einstreichen, die sich der Meister verdient hatte. Der saß indessen mit trotzig gesenktem Haupt am Klavier; das Ganze erschien ihm als eine überflüssige und unangenehme Komödie.

»Unser junger Meister ist weit über seine älteren Meister und Lehrer hinausgeschritten,« ließ sich Papa Haydn wieder vernehmen, »und das ist sein gutes Recht, das Recht der Jugend und der neuen Kraft; auch wir haben es nicht anders gemacht – – –«

»Bravo, bravo!« rief da und dort eine Stimme.

»Aber er ist zugleich auch seiner Zeit weit vorausgeeilt,« setzte Haydn fort, »und die Menge wird ihn darum nicht verstehen. Ich meine damit insbesondere das dritte Trio in C-Moll, gewiß das herrlichste von den dreien. Aber auch das Geheimnisvollste. Diese leidenschaftlich aufrüttelnde Musik wird mißverstanden werden, weil sie mit unserer Geschmacks-Ästhetik nicht zu messen ist. Mein wohlmeinender Rat geht darum dahin, der geniale Schöpfer möge dieses dritte Stück nicht veröffentlichen, wenigstens vorläufig nicht.«

Dieser Ausspruch wirkte wie eine kalte Dusche. Nur eine feine spitze Stimme rief: »Bravissimo!«

Salieri, natürlich.

Alle waren betreten über diese unerwartete Wendung, besonders der hochgesinnte Fürst, der bereits beschlossen hatte, die drei Kompositionen bei Artaria auf eigene Kosten stechen zu lassen und dem Künstler nebst einer Anzahl von Subskriptionsexemplaren auch eine ansehnliche Ehrengabe zuzuwenden, die als Verlegerhonorar gelten sollte.

»Aber, Papa Haydn!« rief der Fürst ganz betroffen, der von Salieri und Haydn in ein abseits geführtes Gespräch gezogen wurde.

Und von allen Seiten erhob sich jetzt ein verwundertes Fragen:

»Ja, warum nicht?! Warum nicht?! Warum sollte die Musikwelt dieses dritte Trio nicht zu hören bekommen?!«

»Warum nicht – –,« antwortete der junge Meister jetzt selbst auf diese Frage, indem er sich erhob und zu »Falstafferl« hinübersagte, daß es die Umstehenden hören mußten: »weil er es mir nicht gönnt. Es ist Neid!«

»Nein, aber das müssen Sie jetzt wirklich nicht glauben, lieber Meister Ludwig«, mischte sich die alte Gräfin Thun in die Debatte, indem sie auf den Künstler einredete und immer beteuerte: »Neid ist es wahrhaftig nicht, das liegt dem reinen Charakter des grundgütigen Haydn völlig fern! Es ist ihm vielleicht nur zu neu, zu kühn, zu revolutionär!« Und treuherzig fügte sie hinzu: »Na ja, wir alten Leut können halt net immer mit; das müssen S' doch einsehen!«

Der gemütliche Ton entspannte ein wenig und rief ein Gelächter hervor; das befreit immer.

Aber die Unmutsfalte saß zu tief auf des Meisters Stirn, und das unfreiwillige Geständnis der Gräfin war auch nicht dazu angetan, diese dräuende Wolke zu zerstreuen.

Da legte sich eine Hand ganz leicht und flüchtig auf seinen Arm; er zuckte ein wenig zusammen und wandte sich hastig um.

Gräfin Theresa stand vor ihm, sie sah ihn mit ihren ernsten dunklen Augen an, und wieder ruhte Blick in Blick, als sie langsam und leise sagte: »Ich danke Ihnen für so viel unaussprechlich Schönes und bitte Sie um das eine: bleiben Sie sich treu und lassen Sie sich nicht beirren von den anderen!«

»O mein Gott!« murmelte er und griff sich an die Stirn, als ob er eine Vision geschaut und eine Stimme aus höherer Welt oder auch nur die Eingebung seiner idealen Muse vernommen hätte. Er wollte seinen Dank stammeln und fühlte sich förmlich überschüttet von einem hochgelinden Regen des Trostes und der inneren Stärkung; doch als er die Hand von Stirn und Augen wegzog, war die Holde wie eine engelhafte Erscheinung verschwunden und mit ihr die schwärmerisch blickende Schwester Josephine und die stolze weißhaarige Mama. Er konnte sie, wie er auch in dem Gewühl umherspähte, nirgends erblicken, und in dem Lärm um ihn mußte er sich mehrmals fragen: »Wach' ich oder träum' ich?!«

Der Fürst Lichnowsky nahm ihn denn auch sofort in Beschlag, um ihm zu erklären, wie Papa Haydn das mit der Nichtveröffentlichung gemeint habe; aber der Meister, noch immer mißtrauisch und ärgerlich, obschon auch wieder übermütig und angriffslustig, rief mit starker Stimme:

»Papa Haydn meint, ich solle das dritte Trio nicht veröffentlichen; infolgedessen werde ich es veröffentlichen!«

Nun brach erst der donnernde Applaus los, dessen Ausbleiben vorhin den Künstler doch einigermaßen verstimmt hatte; aber der gutmütige alte Haydn selbst lachte und applaudierte am lautesten mit und bekräftigte seinen Beifall mit den Worten: »Recht so; das sind wir schon gewöhnt – mein lieber Großmogul!«

Nun hatte Haydn wieder die Lacher auf seiner Seite; der Spitzname »Großmogul«, womit der Alte die selbstbewußte Art des einstigen Schülers geißelte, der ihm ein unlösbares Rätsel, ein ewiger Aufruhr war, blieb sitzen; der Junge war eben schon zu sehr Meister gewesen, als er nach Wien kam und bei ihm Stunden nehmen wollte, und der Lehrer war auch schon zu alt, als daß der Schüler noch etwas hätte von ihm lernen können: sie zankten sich und liebten einander, aber ihr Widerspruch war der Zeiten Widerspruch; der Alte war Vergangenheit, Barock, Klassizismus – der Junge war Zukunft, Romantik.

Der Künstler, der vergebens nach Theresa ausgeblickt hatte, die ihm nun statt Leonore wie ein Sinnbild seiner Muse erschienen war, fand plötzlich, daß die Seele entflohen war, seit die Schöne unsichtbar geworden. Die Pracht des Saales dünkte ihn mit einmal leer und nichtssagend, die Menschen als Masken, ihre Worte bloßer Lärm ohne Sinn und Inhalt.

Unbemerkt entschlüpfte er durch eine der großen Portieren; ließ sich von dem Diener Hut und Stock geben und stürmte eilends davon, die Treppe hinunter, so schnell ihn die Füße trugen. Nicht einmal von der Fürstin hatte er sich verabschiedet, die es doch so gut mit ihm meinte; aber gerade darum mußte sie ihn verstehen und ihm verzeihen.

Und sie hatte schon so vieles in fein mütterlicher Weise verstanden und verziehen, wenn es überhaupt etwas zu verzeihen gab.

Der Meister kehrte nicht sogleich heim. Er lief aus der Enge der hohen Gassen hinaus durch das Basteitor ins Freie. Draußen auf dem Glacis, wo drüben der umbuschte Wienfluß sich hinwindet und über den Bäumen sich die Karlskirche mit Kuppel und Säulen erhebt, eine Madonna im Grünen, atmete er tief auf. Der Wind fuhr in grimmigen Stößen über den weiten Plan und peitschte die hohen Pappeln der Alleen, daß sie sich wie Gerten niederbogen; das tat ihm wohl. Er brauchte die Einsamkeit, die freie Natur; er brauchte den Sturm. Der bot seinem inneren Aufruhr ein Gegengewicht. Nur jetzt keinen Menschen sehen, nur nicht reden müssen – er mußte allein sein, um Zwiesprach zu halten mit den widerstreitenden Mächten in seiner Brust und fertig zu werden mit den wogenden Gedanken und Empfindungen. Er mußte sich rühren nach dem Rhythmus des allzu stark bewegten Herzens und tollte dahin wie ein Vollblutpferd, daß die Schöße flogen, und heulte und sang in den Sturm, der seine heiße Stirn kühlte und die Haare wie eine Mähne flattern ließ. So kam er daher wie ein ossianisch wilder Natursänger oder Barde mit wetterleuchtendem Antlitz von eigentümlicher, fast dämonischer Schönheit. Ab und zu blieb er stehen, zog aus den Frackschößen ein dickes Zimmermannsblei und ein beträchtlich großes Skizzenheft hervor und notierte sich den einen oder anderen Notensatz in ein paar hieroglyphischen Zeichen. So spazierte oder rannte er arbeiten, nach alter Gewohnheit. Und stapfte dann wieder ungestüm drauflos, brummend, taktierend, singend, heulend. Zuweilen murmelte er ein paar abgerissene Sätze oder Worte, oder schrie sie wie im Streit mit einem unsichtbaren Gegner, oder lachte hell auf, daß es ganz schauerlich war. Und wenn er lachte, zog sich das Gesicht breit und grinsend in Falten, daß es anzusehen war wie eine Fratze. Dann hatte er etwas von einem mythischen Fabelwesen, von einem Naturgeist wie Pan, der hinter den Nymphen, luftigen Phantasiegebilden einhertollte. Oder etwas von einem Kaliban, der ein verwandtes Elementarwesen ist. Dann aber trat wieder jenes eigentümliche, wehmütige Lächeln wundersam verklärend über sein Antlitz, das sich himmlisch verschönte, als ob der Lichtgeist Ariel in die Erscheinung treten wollte. Kaliban und Ariel, er vereinigte beider Wesen in sich, und mochte sich so recht als der Magier Prospero fühlen, der über beide Genien herrschte, und nicht zufällig gehörte Shakespeares »Sturm« zu seinen Lieblingsdichtungen; der Meister mochte eine innere Verwandtschaft fühlen.

»Wie sagte sie? Bleiben Sie sich treu und lassen Sie sich nicht von den andern – –« Er lächelte still und selig in sich hinein. »Theresa, du Holde, Himmlische!«

Ihr mildes Bild umschwebte ihn; selbst Leonore war verblaßt; eine andere hatte den verlassenen Thron seines Herzens eingenommen, die größer, königlicher, engelhafter war als selbst die vergötterte Seelenfreundin der Jugend, und diese andere war Theresa.

Jetzt konnte selbst der Ärger über den alten Lehrer Haydn keine rechte Macht mehr gewinnen, die schlimmen Schatten des Argwohns waren in Schranken gehalten.

»Oh, ich lasse mich nicht beirren,« wiederholte er im Selbstgespräch nach Art der einsamen Naturen, »nie, nie, nie! – – – Aber das waren Worte, die dir die Himmlischen eingegeben haben, du gute Theresa! Haydn – er mochte wohl fühlen, daß alle andere Musik daneben zahm und geistlos erscheinen mußte; darum wollte er nicht, daß ich das Trio veröffentliche – – – Ich, sein Schüler – –« Er mußte bei diesem Gedanken hellauf lachen, daß es schallte. »So scheint es wohl in den Augen der Welt, und der kindische Alte ist wohl stolz darauf – – Nur weiß es die Welt nicht, daß er mir so wenig geben konnte wie Mozart; sind die Menschen blind oder taub, daß sie nicht merken, wie unähnlich beiden mein Werk ist?! Theresa, du fühlst es – dein Blick sagte es mir, deine Tränen sagten es, mehr als es deine Worte sagen konnten – – – Oh, ich spüre diesen Blick, der warm in meiner Seele ruht, unvergeßlich; ich spüre deine Tränen wie einen sanften Regen, der die Fruchtbarkeit des Herzens weckt, die Liebe; ich spüre deine Worte und bewahre sie tief da drinnen wie ein heiliges Vermächtnis, ein Unterpfand – – – Ach, ein Mensch, der wirklich versteht in der ganzen Menge, ist das nicht genug? Eine Seele, die ein Echo gibt, ist das nicht alles? Ist das nicht unendlich mehr als der Beifallslärm aller übrigen?! Fürwahr, die Musen haben den Tag und das Werk gesegnet durch diese eine – bin ich nicht glücklich? Aber war es wirklich nur diese eine?!«

Das Gefühl wollte sich verwirren. Neben dem Idealbild Theresas tauchte der schwärmerische Zauberblick ihrer Schwester Josephine auf. Oh, die unergründliche blausamtene Nacht dieser wundersamen Augen, kindlich und zugleich verführerisch wie das Gesicht Mignons, das, dunkle Sehnsuchtsgewalten weckt und die Gedanken fortzieht, daß man ganz hilflos wird.

Der Meister wehrte sich gegen die Sinnenmacht dieser Augen, die behexen und Leidenschaften wecken konnten, aber nicht die erlösende, erhebende, beseelende Kraft hatten, die von Theresa ausging und rein, wunschlos, glücklich machte.

»Fort, fort, unbeherrschte, wilde Wünsche,« stieß der Meister hervor, »o Gott, wo gerate ich hin!« und er rannte querfeldein, als wollte er seinen eigenen Gedanken entfliehen. »Man könnte ganz unglücklich dabei werden,« dachte er, »und das soll nicht sein! Bleibe du mir, Theresa, himmlische Liebe, das macht mich fromm und gut! So will ich es, so muß es bleiben!«

Er hielt inne und zog Heft und Bleistift hervor. Rasch zog er ein paar Notenlinien, ein grauses Gemengsel von Punkten und Strichen war im Nu hingeworfen, ein musikalischer Gedanke, der ihm durch den Sinn ging. Dazu summte er ein paar Verse seines Lieblingsdichters Matthisson, die ihm gerade einfielen und die er unter das Notengestrüpp setzte. »Einsam wandelt dein Freund – – –«

Dann schrieb er seitlich das eine Wort »Adelaide« und entwickelte daraus den Sehnsuchtslaut der Melodie, lang hingezogen in allen Modulationen, bis sie dem inneren Klang, den er in der Seele spürte, entsprach.

Aus den Worten, die er rasch hinwarf, rankte blühend der Gesang hervor: »Vieles ist auf Erden zu tun, tue es bald. – Zeige mir die Laufbahn, wo an dem fernen Ziel die Palme steht! – Meinen erhabensten Gedanken leihe Hoheit, führe ihnen Wahrheiten zu, die es ewig bleiben – – –«

Die Muse segnete ihn. Sie gab ihm den Namen »Adelaide« zum Phantasiegeschenk und nahm die sanft-ernsten Züge Theresas an. Ihr mochten die Schlußzeilen des Liedes gelten, an sie dachte er, sie schwebte ihm vor, als sich die Worte fanden und zu den Worten die Töne:

»Einst, o Wunder! entblüht auf meinem Grabe

Eine Blume der Asche meines Herzens;

Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:

Adelaide!«

Was der Künstler empfand, strömte in Tönen aus; daß er gerade diese Verse wählte, daß sie ihm zwangsläufig in Sinn kamen wie ein Orakelspruch, das ist ein Geheimnis seiner Muse. Dabei ist alles folgerichtig, nichts ist zufällig. War es eine Schicksalsahnung, ein prophetisches Gefühl, das ihn diese Verse aus der Erinnerung finden ließ? War es ein Gelöbnis an Theresa, ein Seelenband, das sich schier von selbst geschlungen hatte und sanft hinleitete zu dem Erfühlen dessen, was möglich und zugleich heimlich oder unterbewußt empfunden war? Der Tondichter wußte es nicht und dachte auch darüber nicht nach. Aber insgeheim wußte es seine Seele, was ihm noch verborgen und höchstens unbestimmtes Sehnen blieb, und diese Seele wußte alles Kommende und Künftige; in ihr lag Schicksal und Bestimmung. Dieses Geheimnis lag in seiner Kunst und wirkte in dem Lied. Es war Leben geworden und hatte seinen eigenen Sinn. Darüber zu grübeln, war nicht Sache des Meisters.

Eine neue Schöpfung war ihm geworden; der Sturm war beschworen, er fühlte, daß er ruhig wurde in der Brust. Sterne zogen am dunkel gewordenen Himmel auf; es war Nacht, als der Meister in seine arme turmhohe Behausung am Petersplatz heimkehrte.

Arm, arm, arm war diese trostlose Wohnung.

Welch ein Kontrast zur Palastherrlichkeit der Fürsten, die ihn verhätschelten und mit ihrer Freundschaft auszeichneten! Daß sie sich gar nicht um ihn kümmerten, wie er wohnte und lebte!

Oh, er hätte es so haben können wie sie! Er dachte jetzt daran, als ihm selber der krasse Unterschied im äußeren Leben zum Bewußtsein kam. Er erinnerte sich der ersten Zeit in Wien, da er im Hause Lichnowsky wohnte, Diener und Reitpferd hatte und für alles gesorgt war. Und hatte sich doch nur gefühlt wie der Vogel im goldenen Käfig, wo er nur eines entbehrte zum vollen Glück, dieses eine, das freilich alles andere weitaus aufwog: die Freiheit! Unmöglich, die Mittagszeit, die im Hause Lichnowsky um ½4 Uhr festgesetzt ist, einzuhalten! Unmöglich, pünktlich zu Hause zu sein, sich umzukleiden, für den Bart zu sorgen! Das ergab immer Mißhelligkeiten; er pflegte einfach auszubleiben und im Gasthaus zu speisen, wenn es ihm paßte. Die Fürstin zwar vergab die Unart, aber auch sie versuchte ihn mit mütterlicher Liebe zu erziehen, und das ging so weit, daß sie schier eine Glasglocke über ihn machen ließ, damit kein Unwürdiger ihn berühre oder anhauche. Das war erst recht eine Unmöglichkeit für den Meister. Auch das Reitpferd war eine Unmöglichkeit. Anfangs hatte es ihm Spaß gemacht, es den Kavalieren gleichzutun. Aber bei der Arbeit vergaß er darauf und ward erst daran erinnert, als der Reitknecht die Futterrechnung brachte. Dann war es zu Ende mit der edlen Passion.

Nein also, die Freiheit war nicht zu teuer erkauft. Wenn er daran dachte, dann war ihm seine ärmliche Behausung doppelt lieb und wert, wenn auch heute nicht einmal ein dienstbarer Geist seiner wartete und noch alles in der greulichen Verwüstung lag, wie er es am Morgen verlassen hatte. Diese Bettelarmut war aber zugleich Freiheit. Und Freiheit war zugleich Muse. Er konnte nicht schaffen inmitten eines üppigen gesellschaftlichen Lebens. Und darum hatte er die fürstliche Wohnung preisgegeben, leichten Herzens, und die Mietmisere vorgezogen. Hier hatte er außer des hohen Gutes der persönlichen Freiheit noch etwas anderes, das ihm unschätzbar war: Fenster, die weit über die Dächer in die Landschaft und in die Ferne blicken ließen. Das brauchte er, darum wohnte er so hoch. Auf Luxus machte er keinen Anspruch, er störte ihn nur. Seine Wohnung war ein Arbeitsraum. Er wohnte den Wolken nah, und die Glocken von Sankt Peter und Sankt Stephan waren seine lieben Nachbarn.

»Mit dem Adel ist gut leben«, dachte er nun mit dankbarem Gefühl, als er die dunkle Wendeltreppe hinaufstieg und des verlaufenen Tages und aller früheren Wohltaten sich erinnerte, die er empfangen. »Aber man muß etwas haben, womit man ihm imponieren kann!«

Als er sich die Treppe hinaufgetastet hatte und an seine Wohnungstür trat, stieß sein Fuß an etwas Weiches, Lebendiges, das sich sofort rührte.

»Holla, was ist das?« Er strich rasch ein Wachshölzchen an und leuchtete einem Menschen ins Gesicht, der vor der Tür gelegen und eingeschlafen war.

»Was zum Kuckuck, sind Sie es, Ries?«

»Ja,« erwiderte der junge Mensch, »ich kam zu spät zu Lichnowsky, nachdem ich Zmeskall nicht zu Hause fand und erst nachmittags erreichen konnte. Da Sie noch nicht daheim waren, hielt ich es für das beste, hier zu warten, und wäre beinahe eingeschlafen. Es ist wohl spät geworden – – –«

Der Meister mußte lachen, aber insgeheim war er doch gerührt über diesen Beweis dankbarer Anhänglichkeit. Also hatte doch ein menschliches Wesen auf ihn gewartet.

»Hier bringe ich die gewünschten Sachen, den Spiegel, das Geld; und morgen wird sich Herzog, ein alter Diener mit guten Zeugnissen, vorstellen.«

»Nun kommen Sie herein, Ries,« sagte der Meister, indem er aufschloß; »wir wollen sehen, ob sich noch ein Tropfen Wein in der Flasche und ein kleiner Imbiß vorfindet. Ich habe Hunger, und Sie werden auch ein paar Bissen nicht verschmähen.«

Mit ein paar Handgriffen hatte Ries das Zimmer halbwegs in Ordnung gebracht und die Spuren der Morgentoilette hinausgeschafft, indem der Meister seine Vorräte musterte. Da standen noch ein paar halbgeleerte Weinflaschen umher, die Reste früherer Mahlzeiten, zwischen den Fenstern lag ein halber Laib Strachinokäse; ein tüchtiges Überbleibsel echter Veroneser Salami, eine ausreichende Krume Brot, wenn auch schon ziemlich hart geworden, fand sich vor, aber man hatte gute Zähne, und es dauerte nicht lange, so hieben die beiden wacker ein – es dünkte ihnen ein Göttermahl und schmeckte weitaus besser als an der reich bestellten Fürstentafel. Nach beendeter Mahlzeit erhob sich der Künstler und trat an das Klavier. Er vertiefte sich sofort in seine Notizen über die »Adelaide« und arbeitete die Komposition rein heraus.

Als er nach einer Stunde aufsah, saß Ries noch immer da, aufmerksam und treu wie ein Hund. »Ja, zum Teufel, jetzt machen Sie aber, daß Sie fortkommen und sich tüchtig ausschlafen! Das Geld von Zmeskall können Sie behalten; morgen springen neue Quellen!« Er merkte gar nicht, daß Ries sich empfahl, denn er war schon wieder tief in seine Arbeit versenkt, die sein königlicher Reichtum und sein Segen war.

III. Kapitel.

Das Wiener Absteigequartier der gräflichen Familie Brunszvik war das kleine Adelshotel, das den Namen »Zum goldenen Greifen« führte und in der Kärntnerstraße lag, wo sich heute ungefähr das Hotel Erzherzog Karl befindet.

Die Gräfin-Mutter saß in diesen traulichen Gemächern, die mit ihren weißen Tapeten und sparsamen Goldleisten, mit bestickten Klingelzügen und blumigen Sofas, mit den Glasschränken voll alten Porzellans und den unerdenklichen Tischchen in allen Formen, mit Vasen und kostbaren Uhren einen überaus behaglichen, vornehm fraulichen Eindruck machten.

Die Menschen sahen gut aus in solchen Räumen, besonders wenn sie Stil hatten. Und Stil hatte die weißhaarige Gräfin, wie ihre beiden Töchter Theresa und Josephine, die in langen, fließenden Gewändern eine geradezu klassisch-griechische Linie aufwiesen. Die Damen waren mit Handarbeiten beschäftigt, dabei floß das Gespräch munter hin.

Besuch war da, eine Kusine, die junge Komtesse Giulietta Guicciardi, eine hochblonde Teufelsschönheit, die erst kürzlich nach Wien gekommen war, als der Vater, Graf Guicciardi, von Triest hierher versetzt worden war und die böhmische Hofkanzlei zu leiten hatte.

Auch der junge Graf Gallenberg war erschienen, trotz seiner großen Jugend schon sehr blasiert und durch seine Ballettmusik im Mozartstil, die sich in Paris großer Beliebtheit erfreute, bereits berühmt geworden. Er bildete sich nicht wenig darauf ein, obschon er sehr verächtlich von der Kunst und den Künstlern sprach. Er glaubte dies seinem Adelsrang schuldig zu sein, der zwei Klassen unterschied: eine, die in Musikenthusiasmus aufging, und eine andere, die alles Geistige verachtete und als nicht standesgemäß empfand. Hier galt nur das Pferd, die Jagd und das Weib. Der blutjunge Gallenberg hielt es mit beiden Gruppen.

Er war augenscheinlich nur wegen der Gräfin Giulietta erschienen, der er wie ein Schatten folgte und auffallend den Hof machte. Sie behandelte ihn dafür ebenso auffallend schlecht und widerlegte damit aufs schlagendste das immer wieder auftauchende Gerücht einer bevorstehenden Verlobung.

Theresa und Josephine erzählten von der anstrengenden Tag- und Nachtfahrt, die sie von ihrem Familienschloß Martonvásár in Ungarn nach Wien gemacht hatten; Giulietta und Gallenberg hörten zerstreut zu.

»Die Straßen waren grundlos nach den letzten gewitterartigen Wolkenbrüchen,« erzählte Theresa, »die Erde ein See, alles unter Wasser – Wiesen, Äcker, Ödland; wir gondelten mit vier Pferden dahin, daß es unter den Hufen spritzte und schäumte, als ob wir mit neptunischen Rossen dahinsausten. Aber schön war der Abendhimmel über Land und Wasser wie nach der versickernden Sintflut: purpurn bis türkisgrün, so schön, wie er nur in Ungarn sein kann oder in der Campagna – – – Dann diese Monotonie der Ebenen und der Ödländer: hie und da ein einsames Strohdach, ein verlorner Brunnen mit hohem Gestänge; dann wieder gepflegte Parkbezirke mit weißem Schloßantlitz, halbverhüllt von dunklem Geäst – – –«

»Hören Sie auf, Gräfin, Sie werden mir zu poetisch,« warf Gallenberg näselnd ein, »das hält man nicht aus.«

»Es war auch poetisch«, sagte kühl Theresa.

»Als es finster wurde, traute sich der Kutscher János nicht durch den Wald; er fürchtete sich vor den Räubern,« spann jetzt Josephine den Faden der Erzählung weiter, »da nahm ihm Theresa kurzerhand die Zügel aus der Hand, und fort ging's durch die pechschwarze Finsternis und über Wurzelknoten, daß man meinte, die Räder gingen entzwei; mir liegt die holperige Fahrt noch in allen Gliedern. Mir ist es immer ein Vergnügen, wenn etwas glücklich überstanden ist, und hinterher lachten wir den János tüchtig aus, der sich recht geschämt hat.«

»Das lasse ich mir schon eher gefallen«, näselte wieder Gallenberg. »So hätte ich es auch gemacht.«

»Sie hätten es gemacht wie János, des bin ich sicher, Gallenberg«, spottete Josephine.

Und Giulietta rief fast sehnsüchtig: »O du! Das muß ja herrlich gewesen sein! Weißt du: je größer die Gefahr, desto lieber das Abenteuer! Das wäre mein Geschmack. Habt ihr keine Räuber gesehen? Nein?! Oh, wie schade!« Sie dehnte das Wort mit dem Ausdruck einer solchen Enttäuschung, daß man glauben konnte, es ginge ihr von Herzen. Alle mußten lachen.

Die Gräfin-Mutter entsetzte sich über die Beschwerden solcher Reise; sie war seit einem Jahr nicht auf das Gut zurückgekehrt und hatte tausend Fragen.

In dem graufließenden Gewand glich sie der fadenabschneidenden Parze; das weiße Spitzentuch um Hals und Schulter, die weiße Frisur, die feinen Linien und Fältchen des Gesichts, die brennend schwarzen Augen in der aschenhaften Blässe des Antlitzes, die strenge und doch schier ungezwungene Haltung gaben ihr die traditionelle Erscheinung eines wandelnden Ahnenbildes; in ihrer etwas eisigen Erstarrung schien sie übrigens älter, als sie sein mochte.

Ob sich der alte slowakische Schäfer noch immer so betrinke, wollte sie wissen; und ob ihm der Schnaps endlich entzogen worden sei. Ob die Pfauenkücken wohl gedeihen und wie die Wintersaat stehe. Ob die Kübelpflanzen aus dem Glashaus ins Freie geschafft und auf dem Kiesweg zur Schloßauffahrt aufgestellt seien. Der März lasse sich warm und sonnig an, Schnee war diesen Winter wenig und kaum mehr zu befürchten. Dann, ob der beschädigte Wetterhahn ausgebessert und das Dach beim Sturm nicht Schaden gelitten. Und die feuchte Mauer im Erdgeschoß trockengelegt und die Schattenbilder unter Glas im Eßzimmer sich noch immer wellen, wie sie es wegen der Feuchtigkeit getan. Ferner was die Öfen machen, ob sie gut brennen, und ob der Hofhund, der in eine Mausefalle getreten war, schon die kranke Pfote wieder heil und gesund habe. Ob sich die neue Rasse englischer Zuchtschweine bewähre und ob die Weinbergsarbeiten schon begonnen hätten. Endlich ob die Kinder der Gemeinde ordentlich die Schule besuchen und wie die neu angestellte Dorfschullehrerin ihr Amt versehe. Ob das alte Spinett im Gartenhaus zum Unterricht für die Söhne und Töchter der Gutsbeamten fleißig benützt und der strikte Auftrag befolgt werde, das Klavier und die sonstigen Instrumente des großen Musikzimmers zu schonen und in Ordnung zu halten für den Fall, daß man doch mit Sommers Beginn ungeachtet der Reisestrapazen draußen erscheinen und mit guten Freunden Musikfeste feiern wolle ...

Die Töchter hatten auf alle Fragen abwechselnd nur mit einem einsilbigen: »Ja, Mama!« geantwortet oder mit einem ausweichenden Hinweis auf den Bruder Franz, der näheren Bescheid wisse; die Fragen hatten eine sehr einschläfernde Wirkung, nur die letzte Bemerkung über die Musikfeste machte alle lebendig und gesprächig.

»Aber Mama, das wäre herrlich! Wie kommst du nur plötzlich auf diesen Gedanken?!« rief Josephine fröhlich aus. »Und weißt du, Theresa, wen wir dann einladen?!«

Theresa beugte sich tiefer auf ihre Handarbeit und erwiderte nichts.

»Ach, wenn's nur mit meinem Klavierspiel besser ginge«, seufzte Josephine. Und dann rasch, wie von einer Erleuchtung betroffen: »Mama, mir fällt etwas ein! Du hast gesagt, ich darf mir zu meinem kommenden Namenstag in vierzehn Tagen etwas wünschen – ich weiß jetzt was! Wirst du ja sagen, Mama?«

»Wenn es nichts Unmögliches ist.«

»Es ist gar nichts Unmögliches! Es ist vielmehr etwas höchst Einfaches.«

»Nun, dann ist es schon gewährt.«

»Dank, Dank, liebe Mama!«

»Dürfen wir nicht wissen, was es ist«, fragte die Kusine Giulietta.

»Ja freilich, Kind, wie soll ich dir denn sonst deinen Wunsch erfüllen«, fügte Mama hinzu.

»Ach, den erfülle ich selber, nachdem ich nun einmal deine Erlaubnis habe,« lachte der Schelm, »aber ich will kein Geheimnis daraus machen: ich möchte bei Beethoven Klavierunterricht nehmen!«

Die Eröffnung war verblüffend.

Theresa ließ ihre Handarbeit fallen und sah die unternehmende Josephine fragend an: »Pepi, du bist aber eine!«

Josephine warf den Kopf auf: »Warum denn nicht? Du kannst ja mitkommen und auch Stunden nehmen, wenn du willst.«

Das war einleuchtend.

»Ich fürchte, er wird uns nicht nehmen«, meinte Theresa plötzlich zaghaft.

»Wir laden ihn einfach zu uns ein«, entschied die resolute Pepi. Darauf Theresa eifrig:

»Nein, das ist ganz vergebens; und wenn er nicht kommt? Dann haben wir das Spiel verloren. Er nimmt keine Einladungen an, wie ich gehört habe. Drum ist es am besten, wir gehen selbst zu ihm!«

»Du hast Courage, Theresa! Mehr wie ich!«

Mama geriet ganz außer sich.

»Aber, Kinder, Kinder, das geht ja nicht! So hab ich es nicht gemeint! Ich kann meine Erlaubnis unmöglich dazu geben. Wenn ihr de Olivera als Klavierlehrer haben wollt, meinetwegen, er gibt in aristokratischen Häusern Unterricht und ist ein Mann von guten Manieren.«

»Ach, Olivera ist nichts. Du hast übrigens dein Wort gegeben, Mama; und ich bleibe dabei: Beethoven und kein anderer!«

»Überdies, Mama, ist Erzherzog Rudolf Schüler Beethovens geworden«, warf Theresa ein. »Wo bleibt da Olivera in diesem Vergleich?«

Giulietta verfolgte mit wachsendem Interesse die Debatte. »Beethoven, sagt mir, wer ist denn das? Habe den Namen nie gehört.«

Gallenberg neigte sich zur schönen Kusine: »Komtesse, er verdient ihr Interesse gar nicht. Ein neuerer sehr häßlicher Musiker, der augenblicks in Wien von sich reden macht.«

»Oh, häßlich also ist er?« wandte sich Giulietta fragend an ihre Kusinen, »das interessiert mich aber. Wo kann man den Mann sehen?«

»Häßlich?!« riefen Theresa und Josephine jetzt wie aus einem Munde. »Nein – interessant ist er!«

»Die Häßlichkeit würde ich ihm gerne verzeihen,« sagte die alte Gräfin, »aber er ist anmaßend, arrogant, fast brutal und gewöhnlich. Ich finde ihn abstoßend. Er nennt sich ›van‹, ist er denn von Adel?«

»Er ist von Adel,« erklärte aufs entschiedenste Theresa, »ganz gewiß durch sein Genie.«

»Die Frau Gräfin hat recht,« zeterte jetzt Gallenberg, der etwas nervös geworden war, »er ist anmaßend, brutal, gewöhnlich. Das ›van‹ ist kein Adel.«

»Gallenberg!« sagte Giulietta leise und etwas irritiert, »unterdrücken Sie Ihre Beredsamkeit!« Eine verächtliche Handbewegung der ungnädigen Schönen, und er sank sofort seufzend auf seinem Stuhl zusammen.

»Wo habt ihr diesen – – Beethoven kennengelernt?« wollte Giulietta wissen.

Und nun ging es an ein lebhaftes Erzählen der Eindrücke vom letzten Freitagskonzert bei Lichnowsky, wobei Theresa und Josephine einander an begeisterten Schilderungen überboten.

»Ach schade, Giulietta, daß du nicht dabei warst! Wenn du ihn gesehen hättest, wenn er am Klavier spielt und phantasiert – das vergißt man nicht mehr!« Josephine begann zu schwärmen: »Was dann auf seinem Gesicht vorgeht, ist gar nicht zu beschreiben. Es ist wie ein prachtvolles Gewitter, ganz wie seine Musik; aber auch zum Fürchten. Ich habe förmlich Angst vor ihm! Ich glaube, er kann recht zornig und böse sein.«

»Nein,« entgegnete Theresa, »er ist herzensgut, ich weiß es. Das sagt schon sein idealer Blick!«

»Er hat dich auch lange genug angeschaut«, bemerkte Josephine, der Racker, und lachte dazu.

»Oh, im Gegenteil,« protestierte Theresa errötend, »ich habe immer nur bemerkt, daß er dich angeschaut hat, Josephine!«

»Nun, dann hat er halt uns alle zwei angeschaut«, gab Josephine zu.

»Shocking«, sagte die alte Gräfin und erhob sich. Die Jugend blieb allein im Zimmer.

»Ich möchte aber wissen, warum er euch nicht hätt' anschauen sollen,« wunderte sich Giulietta, »das ist doch ganz natürlich; ich wenigstens täte mich furchtbar ärgern, wenn er mich nicht anschauen würde!«

Gallenberg räusperte sich. »Hm!«

»Aber die Theresa hat er länger angeschaut als mich«, eiferte Josephine.

»Du beobachtest viel zu viel, Pepi!«

»Ihr habt ja auch geredet miteinander; darf man wissen, was?«

»Oh, das weiß ich selber nimmer!«

»Und was hat denn er gesagt?«

»Er? Ich glaube, er hat überhaupt nichts geredet. Er ist sehr wortkarg. Er war nur sehr ärgerlich über Haydn. Die Gräfin Thun hat's ihm ausreden wollen und hat's erst recht verdorben. Es war auch zu dumm!«

»So, was hat sie denn gesagt?« forschte Giulietta.

»Nun ungefähr, daß man seine Musik nicht versteht.«

»Da hat sie recht gehabt«, ließ sich Gallenberg wieder hören. Aber die energische Giulietta schnitt ihm ungeduldig das Wort ab:

»Gallenberg, schweigen Sie, wenn Sie reden wollen!«

»Gut, dann rede ich, wenn ich schweigen will!«

Die Hochblonde würdigte ihn überhaupt keiner Antwort mehr. »Aber sagt mir: ist er wirklich so häßlich? Wie sieht er denn eigentlich aus?«

»Von häßlich keine Spur. Eher schön, nicht wahr, Josephine?«

»Na ja – die Nase etwas verunglückt ...«

Dagegen Theresa: »Kann ich nicht finden. Ich könnte mir eine andere Nase in diesem Löwengesicht gar nicht denken – – Sie erinnert vielleicht etwas an Michelangelo – ich glaube, da liegt irgendeine Ähnlichkeit. Und die Stirn, diese gewaltige offene Stirn!«

»Du hast ihn dir aber gut angeschaut, Theresa.«

»Oh, gar nicht. Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, wie er aussieht. Ich habe nur so eine ungefähre Idee.«

»Groß, schlank?« fragte Giulietta.

»Klein, derb!« konnte sich Gallenberg nicht enthalten einzuwerfen.

Theresa mußte sich besinnen: »Klein? Bestimmt nicht. Imponierend. Riesenmäßig!«

»Wie interessant!« kam es von den Lippen Giuliettas. »Elegant, gut gekleidet?«

»Salopp, plebejisch, wie seine Manieren«, fuhr Gallenberg heraus.

Giulietta stampfte zornig mit dem Fuß: Gallenberg –!«

Und Josephine: »Er ist freilich in allen Stücken anders wie Sie, Graf!«

»Gott sei Dank!« rief Giulietta, »ich will es hoffen. Ihr macht mich furchtbar neugierig!«

Und Theresa ergänzte: »Er ist eben in allem bedeutend, originell und neuartig, ungewöhnlich. Ganz wie seine Musik. Drum hat er Gegner und Feinde.«

»Aber auch Freunde!« betonte Josephine.

»Ein Bär!« piepste der etwas verlebte Jüngling.

»Besser ein Bär als ein Stutzer«, gab Giulietta zurück. »Schade, daß ich ihn nicht kenne.«

Das eigensinnige Köpfchen, von der Prachtfülle des rotblonden Haares umwellt, warf sich zurück, eine verwegene Idee blitzte in dem pikanten Gesicht auf, darin allerhand Teufeleien ihr verführerisches Wesen trieben. Giulietta fühlte sich jederzeit zu verwegenen Schelmenstreichen aufgelegt; sie spielte gern mit dem Feuer und wußte ihre Koketterie in vollendete Unschuld zu kleiden. Nur einen Augenblick lang tauchte der lose Schalksgeist in dem Antlitz der reizenden jungen Hexe auf. Dann bezwang sie sich auch schon zu einer gut geheuchelten Unbefangenheit.

»Ach!« seufzte sie, »ich sollte auch eigentlich etwas tun für mein arg vernachlässigtes Klavierspiel. Es ist doch jammerschade darum!«

Gallenberg ergriff lebhaft die kostbare Gelegenheit: »Gräfin, bei Ihrem bewundernswerten Talent – ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Ihnen dabei nützlich sein könnte – – –«

Giulietta lachte spöttisch und warf sich in den Sessel weit zurück, indem sie ihn durch die gesenkten Wimpern ziemlich hochmütig anblickte. Geringschätzung lag in ihrer Gebärde und in ihren Worten: »Sie wollen mir Unterricht geben, hahaha! Es klingt wirklich komisch. Ich fürchte außerdem, daß ich bei Ihnen gar nichts lernen würde – – Warum? Weil ich mir von Ihnen gar nichts sagen ließe und stolz auf meine alten Fehler wäre, nur um Sie zu ärgern.«

Der Gehänselte war jetzt gekränkt und schwieg. Das blasse faltige Gesicht nahm den Ausdruck eines ungezogenen, trotzenden Knäbleins an. Es rührte die Grausame nicht im mindesten; sie freute sich vielmehr, daß sie seine Eitelkeit verwundet hatte.

»Nein,« sagte Giulietta, »ich habe eine andere Idee. Wie wäre es, meine Geliebten, wenn ihr mich mitnehmen würdet zu Beethoven. Wenn wir zu dritt kommen und ihm recht schön tun, dann kann er nicht nein sagen. Und wenn es ihm zuviel ist, dann kann er ja wählen: eine von uns dreien!«

Jetzt war die Überraschung und Betretenheit auf Seite der Schwestern.

»Ja – wenn du glaubst«, sagte etwas gedehnt Josephine.

Und nach einer Pause Theresa:

»Übrigens: warum auch nicht? Wenn er uns nur nicht alle wegschickt.«

Giulietta lachte spitzbübisch auf: »Nun, nun, ich will euch nicht eifersüchtig machen.«

»O durchaus nicht«, sagten die beiden Schwestern etwas verlegen; »es steht ja jedem frei, ihn zu bitten – – wir haben nicht mehr Recht auf ihn als jede andere – –«

»Nein, nein, es war nur so eine Laune«, sagte Giulietta, die sich an der Verwirrung aller drei weidete. »Es ist besser, ihr geht allein. Ich habe mir's schon wieder anders überlegt!«

Der Graf hatte sich erhoben, um sich förmlich zu verabschieden. Zu Giulietta gewendet, sagte er: »Gräfin, wenn Sie den Rivalen vorziehen, dann werde ich ihn zum Duell herausfordern.«

Ganz bestürzt und erschrocken suchten die Schwestern den Grafen umzustimmen: »Wie, Sie wollen ihm ein Leid antun? Ja, warum denn eigentlich? Was hat er Ihnen denn getan? Weshalb wollen Sie ihn denn fordern?«

»Ich werde ihn fordern!« betonte der junge Graf und stellte sich in Positur. »Ich oder er!«

»Ach Sie!« sagte Giulietta wegwerfend. »Sie sind viel zu schwach, einen Säbel zu führen!«

»Ich sprach nicht von Säbeln, auch nicht von Pistolen«, erwiderte der Graf mit düsterer Entschlossenheit; »ich werde ihn zu einem Klavierwettkampf herausfordern und ihn besiegen. Und der Sieger wird Ihr Meister werden! Gilt es?«

»Es gilt!« rief Giulietta übermütig. »Ich schlage ein in die Wette und bin selbst der Kampfpreis!« Und sie schlug in die Hand ein, die ihr der Anbeter hinreichte.

»Ach so!« atmeten die Schwestern erleichtert auf, »wenn's das ist, dann ist uns nicht mehr bange!«

»Auf Wiedersehen also beim Grafen Fries!« Eine Verbeugung, und der Graf ging.

Der Graf gehörte zur Partei der Mozartianer, die sich gegen das Spiel der Neuerer verschworen hatten. Die Gegensätze unter den Virtuosen wurden durch Klavierwettkämpfe ausgetragen, das gehörte zur musikalischen Mode der Zeit. Das Palais des Grafen Fries war der Schauplatz, wo solche Kämpfe der Klaviermatadoren mit besonderer Vorliebe veranstaltet wurden und immer von einem großen Kreis von Kunstfreunden besucht waren.

Kaum war Gallenberg fort, kam Franz Graf von Brunszvik heim, der Bruder Theresas und Josephinens. Der stattliche Kavalier mit offenen sympathischen Gesichtszügen, in der kleidsamen ungarischen Attila prächtig anzusehen, war als guter Cellospieler in seinen Kreisen berühmt; er gehörte zu den stillen Verehrern des Meisters, ohne ihm noch persönlich näher getreten zu sein, und freute sich über die Absicht der Schwestern, bei dem Künstler Unterricht zu nehmen. Das Widerstreben der Mama, die wieder erschienen war, war bald besiegt; daß auch der Sohn dafür war, der alles bei ihr galt, hatte wenigstens ihren lauten Protest verstummen gemacht. Innerlich war sie nicht überzeugt, sie war zu adelsstolz, um an dem Gehaben des Meisters Gefallen zu finden; da sie nun Grund hatte zu zweifeln, ob das »van« wirklich Adelsprädikat war, wie viele stillschweigend annahmen, war sie erst recht in ihrem Widerwillen bestärkt.

»Er mag ja ein guter Künstler sein, das will ich nicht leugnen,« meinte sie, »aber er ist nicht ebenbürtig, und weil er so tut, ist er mir doppelt unangenehm.«

Als nun die Jugend um sie her hell auflachte, fügte sie seufzend hinzu: »Ich bin eine alte Frau und kann mich in den verkehrten Zeitgeist durchaus nicht finden; ich fürchte, die Welt steht nicht mehr lang, wenn es so fortgeht«, was neues Gelächter auslöste.

Natürlich wurde dem Bruder Franz brühwarm die Geschichte mit der beabsichtigten Herausforderung Beethovens durch Gallenberg zu einem Klavierwettkampf erzählt.

Franz meinte, Gallenberg sei ein nicht zu unterschätzender Virtuose, der Beethoven vielleicht an Präzision in der Wiedergabe gedruckter Noten überträfe, während der Meister eben Musik mache und durch das wundervolle Legato, den beseelten Ton, der seine besondere Stärke ist, alles Dagewesene überträfe. Aber das wichtigste bei solchem Klavierwettspiel sei eben das freie Phantasieren, und darin habe Beethoven überhaupt noch nicht seinesgleichen gefunden.

»Also mit dem neuen Löwenritter anzubandeln, der auf allen Turnierplätzen seine Gegner ausgestochen und zusammengedroschen, ist eine gewagte Sache«, fuhr Franz fort und gab das köstliche Stückchen mit dem Abbé Gelinek, einem der berühmtesten Klaviervirtuosen Wiens, zum Beweis, der auch einmal gemeint hatte, den »Neuling« Beethoven »zusammenhauen« zu können und am anderen Tage, als er befragt wurde, wie die Sache abgelaufen, trübselig zugab: »Der Kerl hat den Satan im Leib; so spielen hab ich noch nicht gehört – es ist einfach nicht aufzukommen dagegen!«

»So ist es bisher allen gegangen mit ihm«, schloß Franz; »nun, ich wünsche Gallenberg, daß er nicht mit einer tüchtigen Schlappe abzieht.«

Die schöne Kusine hatte währenddessen mit eigentümlichem Lächeln zur Decke geblickt, sie schien in Träumereien verloren, ihre Gedanken gingen geheime, ungewöhnliche, vielleicht gefährliche Wege, und sie wußte wohl, daß sie diesen Gedanken auf solchen Wegen nachziehen werde.

Nur auf die letzte Bemerkung Franz von Brunszviks gab sie ein Echo, indem sie, obschon halb im Selbstgespräch, plötzlich sagte:

»Nun, mir kann es ja recht sein!«

»Ist dir nichts aufgefallen an der Guicciardi«, fragte Josephine, als Giulietta fort war.

»Daß sie ihren Bräutigam schlecht behandelt«, erwiderte Theresa.

»Nein,« entrüstete sich Josephine, »daß sie neidisch und eifersüchtig ist auf uns!«

»Auf uns?!«

»Ja, auf uns! Beethoven wegen!«

»Aber Pepi!«

»Das laß ich mir nicht nehmen! Gefallsüchtig ist sie! Mannstoll! Die ist zu allem fähig! Du wirst sehen, mit der werden wir noch was erleben!«

»Du träumst, Pepi! Ein guter Kerl ist sie. Sie mag halt den faden Gallenberg nicht, das kann ich verstehen.«

»Nein, Theresa, das ist es nicht! Den möcht' ich auch nicht. Aber siehst du nicht, daß sie nach allem lüstern ist, was sie nicht hat? Auf Abenteuer ist sie erpicht; hast du das nicht bemerkt?«

»Ach, Kindereien!«

Theresa war an den Flügel herangetreten und blätterte in den Noten. Der lange Faltenwurf des blauen Gewandes, in der Mitte von einem breiten Silbergürtel umschlossen, ließ sie größer erscheinen, als sie war, und verhüllte den etwas verwachsenen Rücken, die Folge eines Sturzes vom Pferde, den sie als Kind erlitten, so vollkommen, daß nichts davon zu merken war. So bildete die Gestalt in dem weichen Spiel des Gewandes eine klingende Linie voll unbewußten Adels vom Fuß bis zum stolzen Nacken unter der dunklen Haarkrone. Die sanfte Schönheit der großen Gesichtszüge war trotz der heiteren Stirn von leiser Schwermut gehoben, die sinnend über den kühn zusammenschließenden Augenbrauen thronte. Melancholisch, fast schmerzlich war der Mund, der Schweigen verhieß und doch beredt war und nur das eine unausgesprochene Wort zu verraten schien: Entsagen. Man konnte sie nicht ansehen, ohne von Teilnahme und Rührung ergriffen zu sein.

Anders war Josephine. Beweglicher, lebensfroher, temperamentvoller. Sie konnte nicht leicht hinterm Berg halten, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. Sie war ganz Gefühl und sehr entschieden in ihren Zu- und Abneigungen. Auf die Guicciardi hatte sie nun einmal einen Pik. Ganz aufgeregt war sie mit einem Male.

»Falsch ist sie, sage ich dir! Oh, die ist falsch! Wir nehmen sie nicht mit, hörst du? Sie führt etwas im Schild, was sie natürlich nicht sagt. Oh, ich traue ihr nicht. Nimm dich nur in acht vor ihr. Sie ist gefährlich. Weißt du was?«

Sie trat nahe an Theresa heran, und im Ton eines großen Geheimnisses:

»Verliebt ist sie!«

»So,« sagte Theresa ziemlich gleichmütig, »verliebt ist sie? Etwa in Gallenberg?«

»Ach was, du bist aber fischblütig, Theresa, merkst du denn gar nichts?!« Ganz ärgerlich konnte Josephine über die allzu kühle Schwester werden. »Natürlich nicht in Gallenberg, den sie erbarmungslos zappeln läßt wie eine Fliege, die sich in einem Spinnennetz verfangen hat.«

»In wen denn sonst? Etwa in Franz?«

»Ganz gefehlt!« Und nun leise, ganz geheimnisvoll: »In Beethoven!« Jetzt mußte Theresa wirklich lachen.

»Ich glaube, du siehst Gespenster, Pepi! Den kennt sie ja gar nicht!«

»Nun eben drum!«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ach!« Ganz ungeduldig konnte Josephine werden. »Sie hat uns ausgefragt und sich ein Bild gemacht. Aber das allein ist es natürlich nicht. Die Wahrheit ist die: sie vergönnt uns ihn nicht!«

»Uns?!« Nein, die Pepi war wirklich drollig. Theresa traute ihren Ohren nicht. Und sie betonte nochmals: »Uns?! Ja, was geht er uns an? Wir kennen ihn doch selber kaum! Mir scheint, Pepi, du bist mehr eifersüchtig auf die Guicciardi, als sie auf uns, wenn sie es überhaupt ist!«

»Geh, du verstellst dich nur! Das ist nicht schön von dir, Theresa! Aber jetzt sag' ich dir auch nichts mehr!« Josephine konnte es nicht fassen: »Entweder bist du wirklich so ahnungslos, oder – – –«

Theresa streifte die Schwester mit einem raschen fragenden Blick, als wollte sie sagen: hat die wirklich auch Feuer gefangen – Liebe auf den ersten Blick? Sie schüttelte den Argwohn alsogleich ab und lächelte schon wieder:

»Kinder seid ihr, alle zwei! Närrische Kinder.«

»Kindische Narren, alle drei!« erwiderte Josephine und lachte.

Theresa hatte sich ans Klavier gesetzt und sang mit wohlklingender Stimme eine der beliebten Mode-Arien:

»Mich heute noch von dir zu trennen

Und dieses nicht verhindern können,

Ist zu empfindlich für mein Herz!«

IV. Kapitel.

Schon von frühem Morgen an war der Meister mit wahrem Bienenfleiß tätig; der Vormittag brachte allerlei Besuche, das Vorzimmer war von Menschen angefüllt, sechs bis acht Personen, die geduldig warteten, bis sie der alte Diener in das Allerheiligste vorließ, nachdem sie angemeldet waren: Orchesterdirektoren, der Mozartschüler Süßmayer, Schuppanzigh; mancher mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen, wenn der Meister nicht bei Laune war.

Nur der alte Krumpholz, Violinist im alten Hoftheater, hatte jederzeit Zutritt. Er hatte ein feines, richtiges Gefühl für Tonkunst, ein untrügliches Gehör; in der Lehrzeit bei Haydn war er der eigentliche heimliche Berater, dem Beethoven, der sonst sehr zurückhaltend war mit seinen neuen Schöpfungen, alles vorspielte und jede Idee mitteilte. Ihm war der Meister von Herzen zugetan als seinem musikalischen Intimus; wogegen er erklärte, daß er von Haydn eigentlich nichts lernen konnte, und daher den Wunsch Haydns, er möge auf seine durch Lichnowskys Vermittlung bei Artaria erschienenen Trios unter seinem Namen die Bemerkung »Schüler Haydns« setzen, rundweg ablehnte. Das war zugleich auch die Antwort auf den bekannten Vorbehalt des Altmeisters gegen das dritte Trio.

Krumpholz, sein Narr, wie ihn der Meister wegen seiner Verzückung und Anhänglichkeit nannte, war mit dem Musiker und Sänger Czerny erschienen, der seinen begabten Sohn Karl mitgebracht hatte; der Meister sollte diesen in die Lehre nehmen.

Als sie in das Zimmer eintraten, kam ihnen Beethoven entgegen, in langhaariges, dunkelgraues Zeug gehüllt, so daß der junge Karl Czerny glaubte, Robinson Crusoe vor sich zu sehen, der eben seine Knabenlektüre bildete und seine Phantasie mächtig anregte. Wattebauschen steckten in seinen Ohren, der Meister klagte über Sausen im Ohr, dann über Koliken, die ihm zusetzten. Die Kompositionen zu seiner ersten öffentlichen Akademie seien knapp vor der Aufführung fertig geworden, während er unter heftigen Leibschmerzen, seinem alten Übel, litt; ein Arzt habe ihm Landaufenthalt verschrieben, ein anderer Pillen; dieser kalte Bäder, jener lauwarme.

Nach den Klagen über die verschiedenen Miseren führte der Meister seine Besucher ans Klavier heran und bedeutete dem Vater Czerny, indem er ihm ein Manuskript reichte: »Ich hab's kürzlich niedergeschrieben – eben jetzt brennt ein lustiges Feuer im Ofen, sehen Sie, und da soll es hinein.«

»Nun wir wollen einmal sehen«, sagte Krumpholz, der Narr, und las mit dem alten Czerny das Blatt durch und las es immer wieder.

»Du gütiger Gott!« jammerte der Narr, »in den Ofen! Welche Sünde!«

»Ich will's mal probieren,« meinte Czerny, »wenn es der Meister hören will.«

»Nun, so probiert es, wenn Ihr wollt«, war die Antwort.

Der Sänger begann, und Beethoven, eben noch finster und unruhig, wurde ernst; als das Lied zu Ende war und Czerny mit Krumpholz vor Begeisterung überfloß, sagte er ganz heiter:

»Nein, nein, lieber Alter; die Adelaide werden wir schon nicht verbrennen!«

Der junge Czerny hatte unterdessen Zeit, sich in dem Zimmer umzusehen. Es kam ihm recht wüst und zyklopenhaft vor. Ein wunderliches Durcheinander von Büchern, Musikalien und Briefen in allen Ecken und Enden, auf dem Klavier, am Fußboden und in den Winkeln. In einer Zimmerecke war ein kleiner häßlicher, rothaariger Mensch beschäftigt, in das Chaos Ordnung zu bringen; kostbare Originalmanuskripte, flüchtige musikalische Notizen, die Niederschriften unsterblicher Gedanken, gedruckte Noten, Korrekturbogen, die der Erledigung harrten, lagen wirr durcheinander und waren nun halbwegs gesichtet; aber der Meister, der ein bestimmtes Manuskript suchte, warf wieder alles kunterbunt durcheinander, darüber der kleine rote Kerl in unbändige Wut geriet und schrie, daß alles vergebliche Arbeit sei, und daß er sich einen anderen suchen möge, der ihm den Narren abgebe. Der Meister wieder beschuldigte den Famulus, daß er alles Wichtige und Kostbare verräume, so daß sich überhaupt kein Mensch mehr auskenne, und daß die scheinbare Unordnung nur eine Art höhere Ordnung sei, die Karl eben durch seinen blinden Eifer gestört habe. Es gab heftige Worte auf beiden Seiten mit dem Resultat, daß der Rothaarige davonlief.

Aus dem Zusammenhang der Debatte und den aufklärenden Äußerungen des Meisters ging hervor, daß dieser Karl sein Bruder sei, Musiker und nun auch Beamter in der Staatsschuldenkassa; er habe ihn, ebenso wie den Bruder Johann, der in einer Apotheke untergekommen sei, nach Wien kommen lassen, um besser für beide sorgen zu können, nachdem er, der Meister, als der Älteste, schon in Bonn gleichsam die Vaterstelle an ihnen vertreten und für die Ausbildung und Erziehung sich bemüht habe. Aber es sei ein rechtes Kreuz mit den Brüdern. Er habe gehofft, dankbare Hilfe an ihnen zu finden, er brauche eben jemand zur Erledigung der Korrespondenz und der geschäftlichen Angelegenheiten, für die ihm weder Zeit noch Geduld bliebe, so wichtig sie auch sind; zuerst habe ihm Johann Sekretärsdienste geleistet, aber mit ihm ging's gar nicht, und jetzt sei Karl eingesprungen, dieser nervöse, aufgeregte Mensch, mit dem auf die Dauer ebensowenig auszukommen sei. Er müsse doch wieder selbst auf alle Dinge sehen, sonst ginge alles schief; das eine oder andere verschwindet, man wisse gar nicht wie – kurzum nichts als Ärger!

»Das hat man von den lieben Brüdern! Eigentlich kann ich keinem vertrauen.« Mit diesem bitteren Wort schloß der Meister seine Klage. »Und ich brauche doch jemanden; der Alltag zerstört mich!«

Der Meister, im übrigen wohl befriedigt von dem guten Eindruck, den »Adelaide« auf die begeisterten Zuhörer machte, war gnädig gestimmt und nahm den jungen Czerny als Schüler auf, obwohl er hinzufügte, daß der Unterricht für ihn eine harte Fron sei. »Was hat sich doch die gute Hofrätin Breuning in Bonn für redliche Mühe gegeben, mich in der Jugend bei der Stange zu halten,« äußerte er erinnerungsselig, »wenn ich beim Grafen Westphal, wo ich Stunden zu geben hatte, vor der Haustür wieder umkehrte, weil es eben manchmal beim besten Willen nicht ging. Aber sie beobachtete mich vom Fenster aus, und dann gab's immer eine Strafpredigt. Wenn aber manchmal gar nichts half, dann pflegte sie zu sagen: er hat eben heute wieder seinen Raptus! Das ist mir aus der Jugend geblieben, der Raptus; damit man es nur weiß, wenn ich ab und zu meinen Schüler unverrichteter Dinge wegschicken muß. Nun setz dich her, mein Junge!«

Der Knabe spielte etwas vor aus Mozarts großem D-Dur-Konzert; der Meister rückte näher, spielte mit der linken Hand bei den akkompagnierenden Passagen die Orchestermelodie mit und äußerte sich wohl zufrieden.

»Der Knabe hat Talent, schicken Sie ihn wöchentlich einigemal zu mir.«

Krumpholz, sein Narr, war entzückt über den Ausspruch: drei Beglückte verließen das Haus.

Nachmittags kam Bruder Karl wieder zurück, etwas kleinlaut. Aber es war schon Ferdinand Ries da und hatte sich, wie sooft schon, über den Haufen hergemacht, um halbwegs Ordnung zu schaffen, eine reine Sisyphusarbeit, denn alsbald war ja doch alles wieder durcheinandergeworfen. Meister Ludwig schickte den Bruder weg.

»Laß das; das macht jetzt schon ein anderer!«

Wieder ging Karl wütend davon.

»Du kommst schon wieder,« rief er unter der Tür, »wenn du mich brauchst, aber dann kannst lange warten, bis ich nochmals einen Narren abgebe.« Und schlug die Tür krachend hinter sich zu.

»Der betrügt mich doch nur, wie mich Johann betrogen hat«, äußerte der Meister mit schlimmem Verdacht; »nie mehr über meine Schwelle!« Er rang förmlich die Hände: »Ach wohin wird das noch führen, wenn man sich nicht einmal auf die eigenen Brüder verlassen darf!«

Der Meister tat sich wirklich schwer mit dem Alltag.

Einige Tage später war Bruder Karl wieder da. Ganz verändert; grinsend freundlich, schmeichlerisch.

»Lieber Ludwig, wie geht's dir? Ich hab's gar nicht mehr ausgehalten vor Sehnsucht, dich zu sehen!«

Gerührt über soviel Liebe, schloß Ludwig seinen Bruder in die Arme.

»Herzensbruder, daß du nur wieder da bist! Du siehst ganz schlecht aus; fehlt dir etwas?«

»Ach Ludwig, ich wollte dir eigentlich gar nichts sagen, um dir das Herz nicht unnötig schwer zu machen – aber, aufrichtig gestanden, freilich fehlt mir etwas: du weißt, der kleine Gehalt, und bis zum Monatsende ist weit; ich getraue mich gar nicht zu fragen: könntest du mir mit einer Kleinigkeit aushelfen?«

»Aber natürlich, Herzensbruder! Ich bin zwar gerade auch nicht bei Kasse, und siehe, der Hauswirt hat einen Zettel heraufgeschickt wegen der schuldigen Miete; die 600 Gulden Jahresrente, die mir Fürst Lichnowsky ausgeworfen, erlauben auch keine allzu großen Sprünge – aber das tut alles nichts; abends kommt Freund Amenda, da wollen wir sehen, was sich vorläufig tun läßt.«

Karl war schlau; er wußte, wie er den Bruder zu nehmen hatte, der dankbar war für ein bißchen Liebe, wenn es auch nur eine sehr interessierte Liebe war; er nahm sie für echt.

»Aber dem Johann geht's doch gut in seiner Apotheke; hat dir der nicht beispringen können?« fragte der Meister.

»Lieber Ludwig,« beteuerte Karl, »du weißt doch, was Johann für ein selbstsüchtiger, aufgeblasener Mensch ist. Dem um etwas zu kommen, da ist man schon beim Rechten!« Und nun legte er los und schimpfte in einem Atem über den abwesenden Bruder. Er wußte, daß auch Ludwig auf ihn nicht gut zu sprechen war, und redete dem Meister zu Gefallen.

»Ja, ja,« sagte Ludwig, »ich kenne ihn; und in einigem hast du recht. Ein undankbares Geschöpf ist er, und das kränkt mich!«

»Und gegen dich hat er es scharf,« schürte Karl, »daß du nichts Rechtes bist und auch nichts Rechtes werden wirst: er beurteilt eben alles vom Geldstandpunkt; wer nichts hat, der gilt ihm nichts!«

Das brachte Ludwig erst recht gegen Johann auf: »So, also das ist seine Meinung! Der Elende, der alles, was er ist, mir zu verdanken hat! Seine Stellung, sein Einkommen, alles, was er ist und hat! Oh, dieser Mißratene! Sei nur guten Muts, Karl, du brauchst dich nicht erniedrigen vor ihm, ich werde für dich sorgen, wie ich früher gesorgt habe für euch beide!«

Der Familiensinn und das Pflichtgefühl, ein großväterliches Erbe, waren stark in dem Meister, und Karl verstand es vortrefflich, diese Tugenden für sich auszubeuten.

Abends kam wirklich der junge kurländische Theologe Amenda, der in Wien einige Studienjahre verbrachte und im Hause des Fürsten Lobkowitz Vorleser war. Dort hatte ihn der Meister kennengelernt und sofort eine warme Freundschaft zu ihm gefaßt. Amenda begleitete ihn oft auf Spaziergängen, verbrachte halbe Nächte in seinem Quartier, wo gemeinschaftlich musiziert wurde, denn Amenda war auch ein guter Violin- und Cellospieler; nebstbei war er Lehrer bei Mozarts Kindern, nachdem die Witwe Mozarts wieder geheiratet hatte und sich in guten Verhältnissen befand.

Fast sprichwörtlich war die Unzertrennlichkeit der beiden Freunde geworden, daß man rief: »Wo ist der andere?«, sobald man den einen sah.

In dem freundschaftlichen Beisammensein des Abends wurde fleißig musiziert, und der Meister phantasierte wundervoll auf dem Klavier.

Schließlich sagte Amenda: »Jammerschade, daß solche herrliche Musik mit dem Augenblick verschwindet, in dem sie geboren.«

»Du irrst«, sagte Meister Ludwig und wiederholte die extemporierte Phantasie ohne jede Abweichung.

Im Vorzimmer wurde heftiger Wortwechsel hörbar, der Diener wollte einen robusten Mann abweisen, der indessen den Alten beiseite schob und mit kurzem Anklopfen ungestüm hereintrat: »Mein Geld muß ich haben, sonst haben Sie morgen die Kündigung.«

Der Hausherr.

Ach, daß diese gemeine Prosa den hochbeschwingten Augenblick stören muß!

»Geld, Geld! Das ist leicht gesagt! Woher nehmen, wenn man's just nicht hat!«

»Nun, das wird doch nicht schwer sein«, meinte Amenda, der sich ins Mittel legte, um einen unliebsamen Auftritt zu verhüten. Denn der Meister wollte Grobheit mit Grobheit erwidern und den ungebärdigen Mahner vor die Tür setzen. Amenda hieß den Mann, im Vorzimmer zu warten oder in einer Viertelstunde wiederzukommen.

»Nun?!« wandte sich Meister Ludwig fragend und erwartungsvoll an Amenda.

»Nichts leichter als das«, erwiderte dieser kaltblütig. »Ich gebe dir ein Thema auf: Freudvoll und leidvoll. Du hast eine Viertelstunde Zeit zur Variation.«

Der Meister begriff nicht, was Amenda wollte, aber er ahnte einen dunklen Sinn und fügte sich.

Als die Zeit um war, gab er ihm mürrisch das Blatt: »Da ist der Wisch!« So begann die Bekanntschaft mit Goethes Dichtung.

Amenda ließ den Wirt wiederkommen und gab ihm das Blatt mit der Anweisung, sich das Geld bei den Verlegern Beethovens Steiner und Haslinger, den »Paternostergäßlern«, einzukassieren.

Etwas mißtrauisch nahm der Hauswirt diesen sonderbaren Schein in Empfang; es war kurz nach sieben Uhr, wenn er sich beeilte, so konnte er den einen oder anderen Chef der Verlagsfirma noch antreffen.

Es dauerte gar nicht lange, so kam der Mann hocherfreut zurück und entschuldigte sich wegen seines vorigen allzu aufdringlichen Benehmens; dabei tat er die Frage, ob er noch mehr solcher »Zettel« haben könne.

Dem Bruder Karl glänzten gierig die Augen, als er eine solche schnell funktionierende »Notenpresse« sah.

Ludwig erinnerte sich, daß ihn Karl angepumpt hatte; er ließ sich ein neues Thema aufgeben, und in einer weiteren halben Stunde hatte auch Karl seinen »Zettel«. »Das muß ich mir merken«, dachte er und empfahl sich eilends, in der Hoffnung, den Laden in der Paternostergasse noch offen zu finden.

Die Freunde waren allein.

Amenda machte eine betrübende Eröffnung.

»Habe ich dir schon gesagt,« begann er, »daß ich im Begriffe bin, Wien zu verlassen?«

»Nein, das darf nicht sein«, erwiderte der Meister erschrocken; »du kannst mich nicht allein zurücklassen in der großen fremden Stadt.«

»Ich habe eine Anstellung in der Heimat«, erwiderte der junge Theologe, der dem Meister merkwürdig ähnlich sah, besonders wenn er lachte. Ähnliche Züge, ähnliche Seelen – das mochte der geheime Grund der tiefen Sympathie und des Vertrauens sein, das der sonst so leicht mißtrauische Meister für Amenda empfand.

»Du bist nicht allein,« sagte der Theologe, »du hast viele Freunde, die größer und mächtiger sind als ich; was konnte ich armer Student denn dir sein, dem anerkannten, viel umworbenen Künstler, außer daß ich ein Empfangender war und dir dankbar bin dafür.«

»Ich habe viele Bekannte, aber keine Freunde außer dir und etwa Stephan Breuning, Leonorens Bruder, der seit einiger Zeit auch hier ist, wie du weißt, und mir Wegeler, den Bonner Jugendfreund, ersetzt, der nun schon wieder in Bonn ist und mich verlassen hat wie du jetzt, der Glückliche!« Der Gedanke an Leonore stahl sich durch sein Gemüt, als er den Namen Wegelers und Steffens genannt hatte; sie waren ja ein unzertrennliches Bonnsches Kleeblatt gewesen. Und ein noch tieferer Schatten von Trauer senkte sich über ihn. »Jetzt bin ich arm und verlassen!«

»Wieso, Freund?« tröstete ihn Amenda, »du sitzest mitten im Glück, verwöhnt von den Großen, ein Liebling der Frauen – ich wollte, ich wäre an deiner Stelle!«

»Ach, unter diesen elenden egoistischen Menschen,« greinte der unzufriedene Künstler, der leicht zur Misanthropie neigte, »da ist allenfalls der Fürst Lichnowsky, der mir noch der liebste ist; er hat sich wenigstens generös gezeigt. Aber was sie tun, das geschieht doch auch wieder aus Eigennutz, und da kennen sie keine Rücksicht; wenn einem schon das Blut aus den Fingern spritzt, da heißt es trotzdem noch immer spielen, spielen, spielen, und schließlich trotzen sie es einem durch Bitten und Schmeicheln ab. Sie kümmern sich gar nicht darum, daß Phantasieren heißt: die Seele bloßlegen, daß man sich oft dabei wund und elend am ganzen Körper fühlt; für sie ist es ein bloßer Genuß – oh, wie ich diesen Genießerstandpunkt in der Kunst hasse, – wie ich ihn verachte!« –

Und da er schon im Zuge war, so goß er gleich die ganze Schale seines Unmuts aus, gleichviel ob er im Recht war oder nicht.

»Und was die anderen betrifft, wie etwa den Zmeskall, so weißt du, daß er mir ebensowenig wie alle übrigen gefallen kann, sie sind und bleiben zu schwach zur Freundschaft. Ich betrachte sie als bloße Instrumente, auf denen ich spiele, wie's mir gefällt; ich taxiere sie nach dem, was sie mir leisten. Seit ich mein Vaterland verlassen habe, bist du einer, den mein Herz erwählt hat und mit dem ich wie mit meinen Jugendfreunden das Vergnügen des Umgangs und der uneigennützigen Freundschaft teilen kann. Und nun gehst auch du, aber das muß eben sein – es ist nun mein Los, und das heißt: allein sein!«

Amenda wunderte sich ein wenig über das harte Urteil, das der Meister über seine Wiener Freunde fällte; doch er wußte, daß er die Übertreibung liebe und daß ihm jene doch mehr waren als bloße »Instrumente«; es war eben Seelenbekümmernis über das Scheiden des Freundes, die aus ihm sprach: sein Gemüt war verfinstert. Ihn auf freundlichere Gedanken zu lenken, brachte Amenda das Gespräch nochmals auf die Frauen; Wegeler wollte wissen, daß der Meister »immer in Liebesverhältnissen« war und mitunter Eroberungen machte, die manchem Adonis, wo nicht unmöglich, so doch sehr erschwert gewesen wären.

Er erinnerte ihn jetzt daran.

Der Meister lächelte wehmütig. »Du weißt, wie ich über diese Dinge denke: die längste Liebe hat nicht sieben Monate gedauert, und betrachtet man's genau, so war's nicht einmal eine Liebe. Die müßte kommen im Sturm, wie eine Katastrophe, die den ganzen Menschen um und um stürzt, das Innerste nach außen – aber ich fürchte, ich bin zu vernünftig dazu, vielleicht auch zu bedenklich und zu sehr an die eine Frau Kunst verschworen, als daß ich den Kopf an eine andere verlieren könnte. Es müßte denn sein, daß sie mich inspiriert und selbst so eine Art Muse wird – aber das gibt es wohl nicht!«

Er sann eine Weile nach und fügte in Erinnerungen verloren hinzu: »Einmal allerdings habe ich eine geliebt, die mir Herzensfreundin und Muse zugleich war: mit ihr wäre ich vielleicht glücklich geworden – vielleicht bilde ich mir das nur ein – genug an dem, sie gehört einem andern, du weißt ja: Leonore ... Wegeler irrt sich; seitdem ist mir Frau Venus beharrlich aus dem Wege gegangen; ist auch besser so – – –«

Eine Pause entstand.

»Kennst du die Komtessen Brunszvik?« fragte er plötzlich und ganz unvermittelt. »Ich glaube Theresa heißt die eine, Josephine die andere, die mit den Teufelsaugen.«

Amenda verneinte; er kannte wohl den Bruder Franz Brunszvik und erzählte, daß er bei Lobkowitz viel geschwärmt habe von Meister Ludwig; übrigens sei er selten in Wien, meistens in Ungarn auf seinem Gut und in dem kleinen Palais in Ofen-Pest – –

»Das hat mich neulich gepackt bei Lichnowsky, als ich sie zum erstenmal sah«, gestand Ludwig. »Ich dachte unwillkürlich an Leonore – ich bin immer ein wenig unglücklich, wenn ich an sie denke –, diesmal aber war ich wie verzaubert, ganz getröstet: ich hatte das Gefühl, die könnte mir ersetzen, was die Jugendliebe war, vielleicht mehr als das; zum erstenmal, daß Leonore in meinem Gefühl ausgelöscht war; aber dann war ich erst recht unglücklich: ich sah die ganze Hoffnungslosigkeit; diese stolzen Gräfinnen, auch wenn sie liebe Augen machen und gar süß und vertraulich tun –, es gibt eine Schranke, du kommst nicht hinüber, man braucht nur die hochgeborene Gräfin-Mutter anzusehen, liebenswürdig und eiskalt! Und wenn ich mich jetzt genau erinnern will, weiß ich gar nicht mehr recht, welche mich mehr bezaubert hat, die Theresa oder die Josephine; beide fließen mir jetzt in eine zusammen: die mit der Haarkrone und dem wunderbar schönen, fast traurigen Gesicht und die andere mit den brennenden Augen, die wie dunkles Feuer lodern: nein, Amenda, ich bin froh, daß ich sie nicht kenne und wahrscheinlich nicht mehr sehe, es wäre geschehen um meinen Frieden: freudvoll und leidvoll, das wäre jetzt mein Los; besonders aber leidvoll – es war schon das richtige Thema, das du mir aufgegeben hast.«

Der Meister trat ans Klavier, er war aufs neue angeregt, immer wenn er im Herzen Sturm fühlte, und begann zu phantasieren. Der Schmerz, der Freund, die Liebe, sie waren vergessen, oder sie traten in anderer Gestalt hervor, als Klangerscheinung, eine geisthafte Existenz, in der etwas wie Schicksal lag, eine Ankündigung.

Unheimliche, düstere Klopfmotive melden sich, ein dämonischer Anfang, dem bald ein Ausbruch von Leidenschaft folgt, ein tönendes Gewoge, wie wenn die See heult. Dann ein traumhaftes, gebetartiges Thema, wie eine himmlische Erscheinung, engelmild. Und wieder der Aufschrei der Leidenschaft, verzweifeltes Ringen nach dem Licht und dem Frieden, nach der Engelgleichen, im Kampf mit Dämonen, wahre Seelenstürme bis zur grausigen Wildheit gesteigert.

Es waren Ahnungen von Dingen, die möglich sind oder gar unvermeidlich.

Ab und zu machte der Meister Notizen, um diesen oder jenen Gedanken der Improvisation festzuhalten. »Das könnte ich brauchen,« sagte er wie zu sich selbst, »das könnte was werden!« Und dann fiel das Wort: »Appassionata müßte man's nennen – –«

Zum endgültigen Abschied Amendas sollte ein Festschmaus veranstaltet werden, den Meister Ludwig in seiner Wohnung gab. Es war damit kein Ohrenschmaus gemeint, der die Gäste entzückt hätte, sondern ein richtiger Küchenschmaus; der Künstler liebte es, sich auch als Kochkünstler zu zeigen, was freilich weniger Entzücken weckte. Der ewigen Gasthausküche – beim »Schwanen«, oder im »Fischtrüherl«, oder im »Jägerhorn«, oder beim »Römischen Kaiser«, beim »Schwarzen Kamel«, im »Blumenstöckl«, in der »Eiche« auf der Brandstatt und wie sie alle hießen, die bevorzugten Altwiener Lokale, wo gerne Musiker verkehrten – überdrüssig geworden, kam er auf die barocke Idee, zu der ihn sein Unabhängigkeitssinn trieb, gelegentlich sein eigener Küchenchef zu sein. Der Diener verstand nichts von der Kocherei, also hieß es eigenhändig zupacken; der Meister wollte den Freunden beweisen, daß er auch auf diesem Gebiete seinen Mann stellen könne. Um nicht betrogen zu werden, was seine ewige Furcht war, begab er sich schon am frühen Morgen in eigener Person auf den Markt, wählte mit großer Umsicht und Kennermiene, schimpfte über die Preise, feilschte – und kaufte schließlich schlecht und teuer.

Die Freunde wußten schon, was ihrer bei Meister »Mehlschöberl« – das war sein Spitzname als Koch – harrte. Es waren nur die Intimsten geladen: außer Amenda als dem Gefeierten das »Falstafferl«, »Baron Dreckfahrer«, nämlich Zmeskall, der Kapellmeister Hummel, kurz »Natzl« genannt, und Steffen Breuning, der Bonner Jugendfreund, der in der Hofkriegskanzlei tätig war. Die Freunde hatten verabredet, vorher insgesamt in einer Gastwirtschaft ein tüchtiges Frühstück zu nehmen und von dort aus zum Diner in des Meisters Wohnung zu ziehen, wo man die Speisen als bloße »Schaugerichte« unbehelligt vorüberspazieren zu lassen entschlossen war. Man war gewitzigt. Nur durfte man es »Mehlschöberl« ja nicht merken lassen.

Alles kam, wie man es bei solchen Anlässen schon gewohnt war: der Hausherr empfing seine Gäste als Koch im Nachtjäckchen, eine stattliche Schlafmütze auf dem struppigen Kopf, eine blaue Schürze um die Lenden gebunden, das braune Gesicht brandrot erhitzt wie Meister Vulkan von der emsigen Tätigkeit am Feuerherde.

Die Vorbereitungen zogen sich wie gewöhnlich in die Länge; schon anderthalb Stunden harrten die Gäste der Dinge, die da kommen sollten, geduldig zwar, aber doch mit dem bangen Wunsche, daß die Prüfung gnädig vorübergehen sollte.

Endlich schlug die große Stunde; der Diener begann zu servieren. Man wußte es schon von früher und hatte sich auch diesmal nicht getäuscht: die Suppe war mager wie die Bettelsuppe der Gasthöfe; das Rindfleisch halb gar und zäh, etwa für einen Straußenmagen berechnet; das Gemüse ein Gemengsel von Zellstoff, Fett und Wasser, unvermengt, der Braten halb verkohlt.

Am besten schmeckte es dem Festgeber; der höfliche Beifall der Gäste würzte das Mahl und versetzte ihn in rosigste Laune; aufgemuntert, selbst tüchtig zuzugreifen, würgte jeder ein paar Bissen hinunter und beteuerte, schon übersatt zu sein; im übrigen hielten sie sich wacker an das frische Brot, Obst und Backwerk und besonders an den süffigen Ofener Wein, der Hausmarke des Meisters, und ließen »Mehlschöberl«, die komische Person in der Burleske »Das lustige Beilager«, hochleben. Meister Ludwig war kein Kostverächter, er verschmähte keineswegs einen guten Tropfen; in der Regel aber hielt er sich an klares Brunnenwasser, das er freilich übermäßig und in Strömen trank. Der tüchtige Zug lag schon in der Familie; der Großvater, Hofmusikkapellmeister in Bonn, aus Belgien eingewandert, führte nebenher einen Weinhandel, seine Frau, die Großmutter, erlag der Trunksucht, und leider auch der Vater war ein Trinker und hatte dadurch sich und die Familie ruiniert. Der göttlichen Natur des Meisters lag der Mißbrauch fern; Wassertrinken war kein Laster.

Nur der Kaffee war seine Leidenschaft, den er selbst braute, sechzig Bohnen auf jede Tasse, und der unter seinen Gästen mit Recht berühmt war. Waren auch die lukullischen Genüsse bei solcher Tafel mehr als mäßig, so ersetzten gute Laune und heitere Reden reichlich das Fehlende, und schließlich wurden die Gäste herrlich entschädigt durch das musikalische Nachgericht, das der Meister seinen Freunden bot und das allen die Hauptsache war. Auch das durfte man natürlich nicht merken lassen, denn im Hinblick auf seine Kochkünste war der Meister empfindlicher als auf seine Klavierkünste, darin er viel eher eine Kritik vertrug. Zum Glück ergriff er nur selten das Küchenzepter und entsagte alsbald den Ausflügen auf dieses entlegene Gebiet, durch Magenverstimmungen nachdrücklich gewarnt, die sich regelmäßig nach einem solchen Symposion einzustellen pflegten.

So war allmählich der Nachmittag im schönsten Verein verflogen, man wußte kaum wie; abends entschloß man sich doch, gemeinsam in den »Schwan« zu gehen und dort erst den Scheidenden zu feiern. Das Abschiedsweh wurde in Wein ertränkt, bis endlich spät nachts so ziemlich alle Absterbens Amen waren. Die Narkose erleichterte den Trennungsschmerz, und als man doch am nächsten oder vielmehr übernächsten Tag das bürgerliche Gleichmaß wieder gefunden hatte, war Amenda im Postwagen schon viele Meilen fern, und man konnte kaum mehr denken, daß das Leben die beiden Freunde, die eine Strecke weit so einträchtig miteinander gewandert waren, je wieder zusammenführen werde. Aber gerade die Ferne und Trennung wirkte festigend auf diese eigenartige Freundschaft. Das hatte der Meister schon mit seinen Bonner Jugendfreunden erfahren. Er blieb ihnen treu, weil sie fern waren. Dadurch rückten sie in eine ideale Zone, die keine Trübung durch die sonst unvermeidlichen täglichen Reibungen erleiden konnte. Die Nähe, der tägliche Umgang, war viel gefährlicher. Und der Meister war alles, nur kein bequemer Freund.

Das Frühjahr lockte hinaus; Meister Ludwig entschloß sich auf ärztlichen Rat, einige Wochen eine Badekur in Baden zu machen. Aber auch der kurze Badeaufenthalt war für ihn keine Arbeitspause, sondern erst recht eine ungestörte Gelegenheit zu neuem emsigem Schaffen.

Dem entsprachen auch die umfänglichen Anstalten, die zu solchem Zwecke gemacht wurden.

Eines Morgens schwankte ein vierspänniger Lastwagen mit einem turmhohen Bau von Musikalien, Manuskripten, Notizheften, Büchern und etlichen Gerätschaften zum Linienwall hinaus nach den elysischen Bezirken des lieblichen Badens am Südostrande des Wiener Waldes, wo die Quellennymphe unter klassizistischen Badetempeln ein arkadisches Idyll gefunden hat. Ernste Tannenwälder ziehen die Höhen hinauf, von droben schauen Burgruinen talwärts. Klassizismus und Romantik. So liebt es der Meister, denn beides ist ihm verwandt.

Ferdinand Ries, der Schüler und Famulus, soll binnen wenigen Tagen nachkommen und mit Meister Ludwig die Einsamkeit teilen.

Er selbst wandert zu Fuß dem Wagen voraus, seelenvergnügt. Lerchenjubel, sanfte Lüfte, schaukelnde Kornfelder. Ideen schwirren heran, wetterleuchten durchs Gemüt; das dicke Zimmermannsblei hat zu tun im flüchtigen Festhalten der Eingebungen. Vergessen ist die Welt, der Sänger schwebt schon halb im Elysium. Vergessen auch der Möbelwagen.

Todmüde, staubbedeckt, schweißtriefend kommt der Meister spät abends ans Ziel. Nirgends der Lastwagen zu sehen. Endlich, am Kirchenplatz findet er seine Sachen abgeladen, zu einem Haufen aufgestapelt, eine Rotte Buben herum. Der Kutscher, der sein Geld im voraus empfangen hatte, ist längst heimgefahren.

Zuerst Wut, dann schallendes Gelächter, und schließlich mit Hilfe der Buben ein stundenlanges Bergen der Habseligkeiten in den Mietzimmern, wo dann alles kunterbunt durcheinanderliegt, in gewohnter Weise. Aber, Gott sei Dank, man ist endlich glücklich installiert.

Am übernächsten Tag kommt Ries an, und nun geht das Leben seinen geregelten Gang. Ries ist sozusagen Verbindungsoffizier mit der Außenwelt, er besorgt alles Nötige, begleitet Meister Ludwig auf den ausgedehnten Spaziergängen, macht auch gelegentlich die Kopiatur der neuen Kompositionen, ist Gesellschafter, vernünftig, bescheiden, diskret; er empfängt dafür Unterricht und freie Station.

Eines Abends kommt Ries heim und tritt in das Zimmer des Meisters, prallt aber sofort zurück, als er eine dichtverschleierte, anscheinend junge schöne, jedenfalls aber sehr elegante Dame bei ihm auf dem Sopha sitzen sieht.

Ries fürchtet, daß er ungelegen käme, und will sich sofort unauffällig entfernen. Aber da winkt ihm schon der Meister zu und fordert ihn auf:

»Bleiben Sie nur, und spielen Sie einstweilen!«

Ries setzte sich hin und spielte, indessen hinter seinem Rücken der Meister mit der Dame plauderte. Es dauerte sehr lange.

In einer zufälligen Kunstpause hört der Junge seinen Herrn und Meister zur Fremden sagen:

»Lüften Sie doch Ihren Schleier! Ich komme mir vor wie auf einem Maskenball. Und ich gestehe, daß ich begierig bin – – –«

»Und ich war ebenso begierig auf Sie – ich interessierte mich für den berühmten Künstler; finden Sie das ungewöhnlich oder unrecht? Denken Sie nicht schlecht von mir – – –«

Ries hatte unwillkürlich die Pause verlängert, und der Meister rief ihm sofort zu: »Ries, spielen Sie etwas Verliebtes!« Und dann zur Schönen: »Was ich denke, kann Ihnen ja gleich sein – ich kenne Sie leider gar nicht!« Das Gespräch ging unverständlich fort.

Der Schüler hielt inne.

»Ries, etwas Melancholisches!« befahl der Meister.

»Sie werden mich vielleicht eines Tages kennen,« sagte die Schöne hinter ihm, »aber Sie sollen dann nicht wissen, daß ich es war, die bei Ihnen war. Vielleicht werde ich es Ihnen einmal sagen, vielleicht auch nicht, das hängt von Umständen ab, die ich nicht voraussehen kann.«

Der Meister mußte plötzlich etwas Ungeschicktes gesagt haben, wodurch die Dame beleidigt schien; denn Ries hörte sie plötzlich sagen: »Als Kavalier wissen Sie, daß ich in Ihrem Schutz stehe, besonders in dieser Lage, in die mich mein romantischer Fürwitz und meine Verehrung geführt hat; wenn Sie meinem Ruf schaden, so schaden Sie Ihrem noch mehr, und die Gesellschaft würde Ihnen das nie verzeihen.«

Der Meister suchte nun durch gute Laune wieder gutzumachen, was er verdorben zu haben schien, und schrie dem Klavierspieler, der wieder nachließ, übermütig zu: »Vorwärts, Ries, etwas Leidenschaftliches!«

»Woran soll ich Sie wieder erkennen, schöne Unbekannte!«

»Sie sollen mich nicht wieder erkennen! Ich bin Ihnen eine Unbekannte und will es bleiben. Ob ich schön bin, können Sie nicht wissen.«

»Werde ich Sie je kennen? Ich habe den Wunsch, das Unbekannte lockt, es ist das Romantische! Und man sagt mir nach, daß ich Romantiker bin.«

»Dann wird Sie diese Episode freuen und Ihrer Kunst vielleicht von einigem Gewinn sein.«

»Sie weichen meiner Frage aus, Verehrte. Ob Sie mir ewig Geheimnis bleiben wollen – –«

»Ja und nein – Sie werden mich kennen als eine andere; mehr kann ich Ihnen nicht versprechen – – –«

Der Meister horchte ein wenig auf den Spieler, sprang dann auf und schrie: »Ja Mensch, das sind ja lauter Sachen von mir!«

In der Tat hatte Ries Motive aus des Meisters Ludwig Arbeiten aneinandergereiht und durch kurze Übergänge verbunden, bei der Wahl immer auf die allgemeine Charakteristik bedacht: etwas Verliebtes, etwas Melancholisches, etwas Leidenschaftliches – – es fand sich alles und stimmte vortrefflich.

Die Dame hatte sich erhoben, dankte mit wenigen gewählten Worten für die köstlichen Augenblicke und bat, nicht auf des Rätsels Lösung zu drängen, es würde sich eines Tages vielleicht ganz mühelos ergeben. Sie sagte noch »Auf Wiedersehen!«, machte eine graziöse Bewegung und schwebte hinaus.

Meister und Schüler sahen sich verdutzt an.

»Ries, kennen Sie die Dame?«

Der Gefragte verneinte und gab die Gegenfrage zurück:

»Ja, kennen Sie sie selbst nicht?!«

»Keine Ahnung; sie ist wenige Augenblicke vor Ihnen erschienen und erklärte, sie wolle ungenannt und ungekannt bleiben. Ich möge mir auch keine Mühe geben und nicht auf irgend jemand aus dem Gesellschaftskreis schließen, denn sie gehöre nicht dem Personenkreis an, in dem ich bisher verkehrte, und ich sei ihr bis nun auch da nie begegnet.«

»Hm,« lächelte Ries etwas knabenhaft und sagte großartig: »Galantes Abenteuer!«

»Können Sie sich ungefähr denken, wer sie sein mag?« fragte der Meister. »Kommt sie Ihnen nicht irgendwie bekannt vor?«

»Nicht im mindesten, aber daß sie den vornehmen Ständen angehört, glaube ich durchaus; es muß doch wenigstens eine Gräfin sein, um sich solche Kaprice in den Kopf zu setzen. Eine andere wagt das gar nicht. Vielleicht ist sie eine Ausländerin, eine Russin oder Engländerin, die sind so emanzipiert!«

»Jedenfalls scheint sie jung und schön, zweifellos vornehm. Kommen Sie, Ries, wir müssen herausbekommen, wer sie ist; wir folgen ihr unauffällig nach, und haben wir ihre Wohnung, dann wird sich auch Name und Stand erforschen lassen.«

Sagte es, und stürmte hinaus, Ries ihm nach.

Die Nacht war mondhell; von weitem sahen die beiden ihre dunkle Gestalt, dann war sie plötzlich verschwunden.

Sie liefen, so schnell sie konnten, ein Gewirr von ländlichen Gassen und Gärten; die Geheimnisvolle war nirgends zu entdecken.

Silberhell und tannenschwarz öffnete sich das Helenental, Wasser rauschte und plauderte neben der mondweißen Straße. An ein Nach-Hause-Gehen war jetzt nicht zu denken. Unter allerlei Gesprächen und Vermutungen verging die Zeit, sie wanderten noch gut anderthalb Stunden umher, auf das lebhafteste angeregt.

Beim Heimweg sagte der Meister noch zu seinem Getreuen: »Ich muß herausfinden, wer sie ist, und Sie müssen mir helfen, Ries.«

Noch bis tief in die Nacht saß der Meister am Klavier. Es war ja sein urpersönliches Instrument, sein Seelenorgan, mit dem er vertrauteste Zwiesprache hielt. Was er dem treuesten Freund nicht zu sagen vermochte, weil Worte schließlich unzulänglich werden, das vertraute er dem Klavier an. Sein freies Phantasieren und seine Klaviersonaten waren intimes Bekenntnis, gleichsam Tagebuch. Nur daß niemand recht wußte, was er sich bei seiner Musik dachte. Es war sein tiefstes Geheimnis. Die anderen mochten ahnen; ganz verstehen niemand. Indem er eine verstehende Seele zu ergreifen glaubte, war es schon wieder mehr ihr eigenes Wesen, das sich in dem Tonbild spiegelte und ihr eigenes Gleichnis suchte, als jenes des Meisters, der seine Seele hineingelegt hatte. So blieb es undurchdringliches Mysterium; nur eines wußte man, und das war das unerhört Neue und Bezaubernde: es war Ausdruck des persönlichen Seelenlebens wie nie vor ihm.

Was nun unter seinen Händen am Klavier erblühte, war traumhaft wie die Mondnacht draußen mit ihren lockenden Werbungen und ihrer unerfüllten Sehnsucht. Zerfließende Harfenakkorde in schwermütigen Adagioharmonien, aufschäumende Presti, fiebernde Erregung und darüber schwebender Gesang mit melancholischer Grundstimmung. Ein musikalisches Gleichnis auf das seltsame Erlebnis dieses Abends, darüber der Schleier des Geheimnisses gebreitet war, und das eben deshalb um so aufwühlender wirkte. In flüchtigen Umrissen entstand die sogenannte Mondschein-Sonate.

Als der Meister inmitten der einstürmenden Eingebungen innehielt und bemerkte, daß Ries noch immer wartend dasaß, sagte er nur kurz: »Ich kann Ihnen heute keine Stunde geben«, und vertiefte sich sofort wieder in seine Arbeit. Das war für den Schüler das Zeichen, daß er für diesmal entlassen war und sich stillschweigend entfernen sollte, um den Besuch der Muse, nicht weniger geheimnisvoll als jene schöne Unbekannte, nicht länger zu stören. Immer wieder kehrten die Gedanken zu der Fremden zurück; sie war fast schon unwirklich geworden, eine flüchtige reale Verkörperung der Göttin Phantasie. Keine andere Spur ihrer Anwesenheit war geblieben als jene Skizzen und Entwürfe der neuen Sonate, die aus diesem eigenartigen Vorkommnis entsprossen waren, die geistige Frucht jener mysteriösen Annäherung. Ob sich das Rätsel jemals lösen werde?

Meister Ludwig war bald darauf nach Wien zurückgekehrt. Eines Tages kam Ries in heller Aufregung, er habe die Fremde wiedergesehen. Sie sei in einer Karosse gefahren; er lief hinterdrein, so schnell er konnte; aber alsbald sei der Wagen seinem Gesichtskreis entschwunden. Zufällig sei ihm Zmeskall begegnet, dem er den entschwindenden Wagen habe im letzten Augenblicke zeigen können. Zmeskall, der nur einen flüchtigen Blick erhaschte, meinte, sie sei die Geliebte eines ausländischen Prinzen, wenn ihn der Augenschein nicht täusche. Es sei allerdings fraglich, ob er recht gesehen habe.

Der Meister zweifelte. Es war ihm fast zur inneren Gewißheit geworden, daß er die Geheimnisvolle wiedersehen werde. »Sie kommt wieder,« meinte er, »wer weiß, als was sie sich dann entpuppen wird!«

Und zugleich hatte er das unbestimmte Gefühl, als ob es besser wäre, ihr nicht wieder zu begegnen. Ob sie nicht die Verkörperung eines Verhängnisses sei, das sich ihm in dieser verführerischen Form näherte? Er war eine zu gerade, sittlich gesunde Natur, um an einem so dunklen Spiel sein Gefallen zu haben. Leichtfertige, frivole oder auch nur ungeklärte Verhältnisse waren ihm ein Greuel. »Was hatte die Unbekannte zu verbergen; warum gab sie sich nicht zu erkennen? Hatte sie etwas zu verbergen? Um so schlimmer für sie!« Das waren die Erwägungen, die sich immer wieder einstellten. Eigensinnig liefen die Gedanken zu ihr zurück und ließen ihn Theresa und Josephine fast vergessen. Selbst das Bild Leonorens war entschwunden. Stets drängte sich die Geheimnisvolle vor. Der Meister war schon ärgerlich über sich selbst geworden. »Sie ist wie ein Dämon, der mich unsichtbar verfolgt! Hätte ich sie doch nie gesehen! Was stört sie meine Ruhe?« Und er beschloß, sie hart und abweisend zu behandeln, wenn sie ihm je wieder begegnen würde.

Beethovens unsterbliche Geliebte

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