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In Gefangenschaft
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Wenn ein Schiff im Dock liegt und von Kais und Speichermauern umzingelt ist, sieht es wie ein Gefangener aus; mit der Traurigkeit, in die ein freier Geist verfällt, wenn er eingekerkert wird, sinnt es auf Freiheit. Schwere Taue und Ketten fesseln es an die Steinpoller auf der Kante des gepflasterten Ufers, und ein Hafenmeister mit Messingknöpfen an der Jacke geht wie ein frischer, wettergegerbter Gefängniswärter umher und sieht argwöhnisch und wachsam nach der Vertäuung, die das Schiff fesselt – duldend und still und ungefährlich liegt es da, als wäre es über die Tage der Freiheit und der Gefahr auf See in tiefe Trauer versunken.
Das Gewimmel der Abtrünnigen – Dockmeister, Hafenmeister, Schleusenwärter und dergleichen – ist in Bezug auf die Fügsamkeit und Ergebung des gefesselten Schiffes anscheinend ungeheuer misstrauisch. Es gibt wohl niemals Taue und Ketten genug, um sie zufriedenzustellen, die sich damit beschäftigen, freie Schiffe fest an die schwere, schmutzige, versklavte Erde zu binden. „Es wäre besser, wenn achtern noch eine Trosse dazukäme, Steuermann“, ist ihre stehende Redensart. Ich brandmarke sie als Abtrünnige, denn die meisten von ihnen fuhren früher zur See. Als ob die Male des Alters – das graue Haar, die Falten in den Augenwinkeln, die knotigen Adern auf den Händen – Symptome moralischer Vergiftung wären, lungern sie hinterlistig auf den Kais herum und weiden sich an der gebrochenen Kraft edler Gefangener. Sie wollen noch mehr Fender, noch mehr Dwarstaue, sie wollen mehr Springleinen, mehr Vertäuschäkel, noch mehr Fesseln; sie wollen flüchtige Schiffe so reglos wie vierkante Steinblöcke machen. Sie stehen auf dem schmutzigen Pflaster, diese heruntergekommenen Seebären, hinter ihnen klirren lange Reihen Güterwagen mit den Kupplungen, und sie, sie lassen über dein Schiff vom Vorgeschirr bis zur Heckreling missgünstige Blicke gleiten und trachten einzig und allein danach, das bedauernswerte Geschöpf unter dem scheinheiligen Deckmantel des Wohlwollens und der Fürsorge zu tyrannisieren. Hier und da lassen Kräne, die wie Folterwerkzeuge für Schiffe aussehen, an langen Ketten grausame Haken baumeln. Scharen von Dockarbeitern schwärmen mit schmutzigen Schuhen über die Fallreeps. Es ist ein herzbewegender Anblick, so viele Männer des festen Landes, so viele Erdgebundene, die sich niemals auch nur im Traum um ein Schiff gekümmert haben, gleichgültig und roh mit Nagelstiefeln auf seinem hilflosen Leibe herumtrampeln zu sehen.
Zum Glück ist die Schönheit eines Schiffes unversehrbar. Dieses Gefängnisgefühl, diese Empfindung schrecklichen und entwürdigenden Unglücks, von dem ein schönes, vertrauenswertes Wesen betroffen wird, hängt nur den Schiffen an, die in großen europäischen Häfen liegen. Man spürt, dass sie zu Unrecht eingesperrt sind und dass es ein grausamer Lohn ist, am Ende einer pflichttreuen Reise auf einem düsteren, öligen, viereckigen Teiche von Kai zu Kai gejagt zu werden.
Ein Schiff, das auf offener Reede ankert und Leichter längsseit liegen hat und die Ladung mit dem eigenen Löschgeschirr über die Reling fiert, erfüllt in voller Freiheit eine seiner Lebensfunktionen. Dabei gibt es weder Zwang noch Haft, es hat auch Platz, klares Wasser ringsumher, klaren Himmel über den Toppen und um den Ankerplatz herum eine grünhügelige Landschaft mit lieblichen Buchten. In diesem Falle wird es von seinen Leuten nicht der fragwürdigen Barmherzigkeit irgendwelcher Landbewohner preisgegeben. Es beherbergt noch seine eigene kleine, ergebene Schar, die weiterhin für es sorgt, und man hat das Gefühl, gleich wird es durch die Einfahrt zwischen den beiden Landzungen fort gleiten und verschwinden. Nur zu Hause im Dock liegt es verlassen da; die ganzen unerforschlichen Maßnahmen der Menschen, denen es nur um rasche Abfertigung und einträgliche Frachten geht, halten ihm den Weg in die Freiheit verschlossen. Nur dann fallen die verhassten, rechtwinkligen Schatten von Mauern und Dächern auf seine Decks, nur dann regnet es Ruß darauf hernieder.
Ein Mensch, der niemals etwas von dem außerordentlichen Adel, der Kraft und Anmut gesehen hat, die hingebungsvolle Schiffbauergenerationen aus einigen reinen Winkeln ihrer einfältigen Seelen hervorgebracht haben, würde einen Anblick, den es vor fünfundzwanzig Jahren noch gab, als begeisterndes Schauspiel empfunden haben: eine große Klipperflotte, die an der Nordseite des New South Dock festgemacht hatte. Eine Viertelmeile Schiffe lag damals von den eisernen, polizeilich bewachten Werfttoren an in langer, waldartiger Flucht zu zweien und zweien an vielen starken Holzpiers. Neben ihren hohen Masten erschienen die mit Wellblech gedeckten Schuppen zwergenhaft, Klüverbäume ragten weit über das Ufer hinaus, ihre weißen und goldenen Galionsfiguren überhingen in nahezu blendender Reinheit den geraden, langen Kai mit seinem Staub und Schmutz, und geschäftige Männer liefen einzeln und in Gruppen ruhelos und dunkel unter ihrer erhabenen Reglosigkeit hin und her.
Zur Flutzeit konnte man wohl eins der beladenen Schiffe mit verschalkten Luken aus der Reihe gleiten und auf der offenen Dockfläche liegenbleiben sehen; schwarze, dünne Leinen hielten es noch bei Bug und Heck wie die ersten Fäden eines Spinngewebes an den Belegpollern des Ufers fest. So wartete es denn anmutig und reglos wie ein Vogel, ehe er seine Flügel ausbreitet, bis beim Öffnen der Schleusen ein oder zwei Schlepper lärmend hereinhasteten, sich geschäftig und besorgt um das Schiff herumbewegten und es hinaus auf den Fluss brachten; vorsichtig führten und leiteten sie es durch geöffnete Klappbrücken und wehrartige Tore zwischen den flachen Pierköpfen mit einem Stückchen grünen, von Kies umgebenen Rasens und einem weißen Signalmast darauf, der mit Rah und Gaffet getakelt war und ein paar verwaschene blaue, rote oder weiße Flaggen zeigte.
Dieses New South Dock (wie sein amtlicher Name lautete) ist ein Kernpunkt meiner frühen beruflichen Erinnerungen; es gehört zusammen mit zwei kleineren und viel älteren Hafenbecken namens Import und Export, die beide schon ihre Wichtigkeit für den Handel verloren haben, zur Gruppe der West India Docks. Diese beiden Bassins breiten malerisch und so sauber, wie Docks eben sein können, den dunklen Schimmer ihres gläsernen Wassers Seite an Seite aus; sie sind nur spärlich von wenigen Schiffen bevölkert, die an Bojen oder weit voneinander entfernt am Ende der Schuppenreihen in Winkeln leerer Kais aufliegen. Dort scheinen sie still und einsam zu schlummern, das Getriebe der Menschengeschäfte stört sie nicht. Diese beiden altmodischen Becken befanden sich damals eher im Ruhestand als im Dienst, sie waren freundlich und anheimelnd, leer und schweigsam; auf ihren schmalen Ufern gab es keinen herausfordernden Aufwand an Kränen, und ihnen fehlte der ganze Apparat, den Eile und Arbeit beanspruchen. Keine Bahngleise verunzierten sie. Schwerfällig kamen Arbeiter in kleinen Scharen um die Ecken der Lagerschuppen, sie wollten in Frieden ihr Essen aus den roten Kattuntaschentüchern verzehren, und das sah nach einem Picknick am Ufer eines einsamen Bergsees aus. Sie waren friedvoll (und vermutlich sehr uneinträglich), diese Becken, zu denen sich der Obersteuermann eines der nur wenige Meter entfernt im aufreibenden, rastlosen, lauten Betrieb des New South Dock liegenden Schiffe während der Mittagszeit hinflüchten konnte, um hier ganz ungehindert von Menschen und Geschäften umherzuschlendern und (wenn er Lust hatte) über die Eitelkeit aller menschlichen Dinge nachzusinnen. Früher einmal mussten sie voll der guten, alten, behäbigen Westindienfahrer mit den platten Hecks gelegen haben, die ihre Gefangenschaft vermutlich so unempfindlich aufnahmen, wie ihre plumpen, ehrlichen Buge dem Ansturm der Wellen begegneten. Sie werden hier gelassen mit ihrem eigenen Geschirr Zucker, Rum, Melasse, Kaffee oder Bauholz ausgeladen haben. Aber als ich sie kannte, war von Export keine Spur mehr zu finden, und der ganze Import, den ich dort je gesehen habe, bestand aus ein paar seltenen Tropenholzladungen, ungeheuren, in den Wäldern um den Golf von Mexiko roh aus den Stämmen gehauenen Eisenholzbalken. Diese mächtigen Pfeiler wurden zu Stapeln aufgesetzt, und es war fast nicht zu glauben, dass solche Massen toter, geschälter Bäume aus den Flanken einer schmalen, unschuldig aussehenden kleinen Bark gekommen sein sollten, an deren schönem Bug meist ein schlichter Frauenname stand – Ellen oder vielleicht Annie. Aber das ergeht einem mit gelöschter Fracht eigentlich immer so; liegt sie erst einmal ins einzelne verteilt auf dem Kai, dann glaubt kein Mensch mehr, dass sie jemals in das längsseit liegende Schiff hineingepasst haben kann.
Diese Becken waren in der betriebsamen Welt der Docks stille, heitere Winkel. Ich habe nie das Glück gehabt, nach einer mehr oder weniger mühseligen Reise in ihnen einen Liegeplatz angewiesen zu bekommen. Man sah auf den ersten Blick, dass die Schiffe wie die Leute dort niemals umher gehetzt wurden. Wenn man sich ihrer genau erinnert, kommt es einem vor, als könnte es sie nie gegeben haben, so still waren sie – Ruheplätze, wo müde Schiffe träumen durften, Stätten der Einkehr statt der Arbeit, wo böse Schiffe – die ranken, trägen, leckenden, schlechten Seeschiffe, die schlecht zu steuernden, die launischen, die dickköpfigen, die allgemein unlenksamen Schiffe – volle Muße haben würden, sorgenvoll, nackt und der zerrissenen Segeltuchkleider entblößt ihre Sünden einzusehen und zu bereuen, während der Staub und die Asche der Londoner Luft sich auf die Häupter ihrer Masten legen. Denn das allerschlechteste Schiff wird in sich gehen, wenn man ihm nur die Zeit dazu lässt, dessen bin ich gewiss. Ich habe zu viele von ihnen gekannt. Kein Schiff ist vollkommen schlecht, und nun, da ihre Leiber, die so vielen Stürmen widerstanden haben, durch eine kleine Rauchwolke vom Antlitz der See fortgeblasen worden sind, die Guten und die Schlechten zusammen hinab ins Fegefeuer der ausgedienten Dinge, nun kann ruhig gesagt werden, dass es unter diesen dahingegangenen Generationen willfähriger Diener niemals eine ganz unverbesserliche Seele gegeben hat.
Im New South Dock gab es gewisslich weder für die gefangenen Schiffe noch für ihre Offiziere Zeit zu Gewissensbissen, Selbstbetrachtungen oder irgendwelchen anderen wunderbaren Erscheinungen des inneren Lebens. Von morgens sechs his abends sechs ging die harte Gefängnisarbeit, mit der die Tapferkeit und Stärke eines Schiffes belohnt wird, wenn es den Hafen gewonnen hat, ununterbrochen weiter. Große Hieven Stückgut pendelten über das Schanzkleid und fielen plötzlich auf einen Wink des Gangführers in die Luken hinab. Das New South Dock diente hauptsächlich als Ladedock für die Kolonien, jedenfalls damals in den großen (und letzten) Tagen der schnellen Wollklipper, die gut anzusehen und – na ja – aufregend zu bedienen waren. Von ihnen sahen manche schöner aus als die anderen, viele waren (gelinde gesagt) etwas übertakelt: von allen wurden gute Reisen erwartet, und unter den Schiffen der ganzen langen Reihe, deren Riggen ein dickes, riesiges Netzwerk gegen den Himmel zeichneten und deren Messingteile fast so weit blitzten, wie der Schutzmann an den Toren sehen konnte, gab es kaum eines, das unter allen Häfen der weiten Welt von einem anderen Hafen als London und Sydney oder London und Melbourne oder London und Adelaide gewusst hätte, wozu vielleicht für die mit geringer Tonnage noch Hobart Town kam. Man hätte beinahe glauben können, was der mit einem grauen Backenbart verzierte Zweite Steuermann des alten Duke of S... von seinem Schiffe sagte, nämlich, dass sie alle die Straße zu den Antipoden besser kennten als ihre eigenen Schipper, die sie jahrein, jahraus von London – dem Ort der Gefangenschaft – nach einem australischen Hafen brachten, wo die Schiffe, obwohl sie auch dort reichlich fest an die Bollwerke vertäut wurden, sich nicht als Gefangene, sondern als geehrte Gäste fühlten.
alte Postkarte – aus Band 17 – Ernst Richter
Diese Antipodenstädte, die damals noch nicht so groß waren wie heute, nahmen an der Schifffahrt, der stetigen Verbindung mit „zu Hause“, großen Anteil, und ihre Zunahme bestätigte ihnen das Gefühl der eigenen wachsenden Bedeutung. So wurden die Schiffe zum wesentlichen Bestandteil ihrer alltäglichen Interessen. Das war besonders in Sydney der Fall, wo man vom Herzen der schönen Stadt aus durch die Flucht der Hauptstraßen hinab auf die Wollklipper am Circular Quay schauen konnte – und das war kein mauerumstelltes Gefängnisdock, sondern der wesentlichste Teil einer der besten, schönsten, weitesten und sichersten Buchten unter der Sonne. Jetzt liegen große Liniendampfer auf den Plätzen, die immer der Seearistokratie vorbehalten waren – große, prächtige Schiffe, aber sie kommen heute an und sind in der nächsten Woche schon wieder fort; wohingegen zu meiner Zeit die mit schweren Spieren getakelten, scharflinigen Stückgut-, Auswanderer- und Passagierklipper monatelang zusammen liegen blieben, um ihre Wollladung zu erwarten. Ihren Namen widerfuhr die Ehre, in die Alltagssprache einzugehen. An Sonn- und Feiertagen kamen die Stadtleute in Scharen herab und waren auf Besichtigungen erpicht, und der einsame diensttuende Offizier tröstete sich damit, den Fremdenführer zu spielen – besonders gern reizenden Damen von Lebensart gegenüber, die einen gut entwickelten Sinn für den Spaß hatten, der beim Durchstöbern der Kabinen und Passagierräume des Schiffes herauskommen mochte. Das Geklimper mehr oder weniger verstimmter Klaviere drang aus den offenen Heckpforten, bis die Gaslaternen in den Straßen zu zwinkern begannen und des Schiffes Nachtwachmann, müde vom unzureichenden Tagesschlaf, seinen Dienst begann, die Flaggen herunterholte und eine brennende Laterne am Fallreep festmachte. Die Nacht schloss sich schnell über den schweigenden Schiffen, deren Mannschaften an Land waren. Oberhalb eines kurzen, steilen Anstieges in der Nähe der King's-Head-Wirtschaft, die hauptsächlich von den Köchen und Stewards der Schiffe besucht wurde, rief in regelmäßigen Zeitabständen die Stimme eines Mannes „Warme Würstchen!“ aus; dort, am Ende der George Street, befanden sich auch die billigen Speisehäuser (fünfzig Pfennig die Mahlzeit), die von Chinesen betrieben wurden (das von Sun-kum-on war gar Straßenhändler (ich möchte wohl wissen, ob er gestorben ist oder ein Vermögen zusammengebracht hat) stundenlang zugehört, während ich auf der Schanz der alten Duke of S... saß (er ist, der Arme, an der Küste von Neuseeland eines gewaltsamen Todes gestorben) und von der Eintönigkeit, Regelmäßigkeit und Plötzlichkeit des immer wiederkehrenden Rufes ganz gebannt und bestrickt war, bis ich mich schließlich über diese alberne Betörung dermaßen ärgerte, dass ich wünschte, der Kerl sollte an einem Bissen seiner elenden Ware ersticken.
Meine Kameraden waren der Ansicht, das Amt des Nachtwachmanns eines gefangenen (wenngleich geehrten) Schiffes wäre zum Trübsinnigwerden langweilig und passte nur für alte Männer. Gewöhnlich wird denn auch der älteste Matrose der Mannschaft dazu bestimmt. Aber manchmal steht weder der älteste noch ein anderer einigermaßen verlässlicher und gesetzter Seemann zur Verfügung. Schiffsmannschaften hatten damals die Eigenheit, unversehens zusammenzuschmelzen. So widerfuhr es mir, wahrscheinlich wegen meiner Jugend, Unschuld und Nachdenklichkeit (die mich zuweilen etwas langsam machte, wenn ich in der Takelage zu tun hatte), dass ich plötzlich durch Mr. B..., unseren Obersteuermann, auf seine bitterste, hämischste Art zu diesem beneidenswerten Dienst befohlen wurde. Ich bedaure diese Erfahrung nicht. Das nächtliche Leben der Stadt stieg in den stillen Nachtstunden von den Straßen hinab an das Wasser: Strolche kamen bandenweise herangestürmt, um irgendwelche Streitereien fern der Polizei durch einen regelrechten Boxkampf auszufechten – ein undeutlicher, durch aufgestapeltes Frachtgut halb versteckter Ring, das leise Knallen der Schläge, dann und wann ein Stöhnen, das Schleifen und Aufstampfen der Füße und der plötzliche Ruf „Zeit!“ über dem dunklen, erregten Gemurmel; nächtliche Plünderer, die verfolgten oder verfolgt wurden – ein halberstickter Schrei und darauf tiefe Stille, oder sie kamen verstohlen wie Geister längsseits geschlichen und machten mir unten vom Kai aus mit geheimnisvoller Stimme unverständliche Vorschläge. Auch die Droschkenkutscher, die zweimal wöchentlich an den Abenden, wenn der A. S. N.-Passagierdampfer fällig war, gegenüber dem Schiff ein Bataillon leuchtender Laternen aufziehen ließen, waren auf ihre Weise recht unterhaltsam. Sie kletterten von ihren Böcken herunter und erzählten einander in der urwüchsigsten Sprache zweideutige Geschichten, von denen jedes einzelne Wort klar und deutlich über die Verschanzung zu mir her drang, der rauchend auf der Großluke saß. Bei einer Gelegenheit erlebte ich eine höchst geistvolle Unterhaltung von über einer Stunde Dauer, und zwar mit einer Person, die ich nicht deutlich erkennen konnte, einem Gentleman aus England, wie er mit kultivierter Stimme sagte; ich stand an Deck, und er saß auf einer Klavierkiste (die wir gerade am Nachmittag aus unserem Laderaum an den Kai gegeben hatten) und rauchte eine Zigarre, die sehr gut roch. Wir berührten in unserem Gespräch die Physik, Politik, die Naturwissenschaften und Opernsänger. Dann, nachdem er etwas unvermittelt bemerkt hatte: „Sie scheinen ganz intelligent zu sein, lieber Mann“, teilte er mir geradeheraus mit, sein Name wäre Mr. Senior, und ging weg – in sein Hotel, vermute ich. Schatten, Schatten! Ich meine einen weißen Backenbart gesehen zu haben, als er sich unter der Laterne umwandte. Es gibt mir einen innerlichen Stoß, wenn ich daran denke, dass er nach dem natürlichen Lauf der Dinge nun wohl schon tot sein muss. Gegen seine Intelligenz war nichts einzuwenden, außer einem kleinen bisschen Dogmatismus vielleicht. Und sein Name war Senior! Mr. Senior!
Die Stellung hatte aber auch ihre Nachteile. Als ich in einer winterlichen, stürmischen, finsteren Julinacht schläfrig in der Ecke beim Heckaufbau stand, um vorm Regen geschützt zu sein, kam etwas übers Fallreep gestürzt, das Ähnlichkeit mit einem Strauß hatte. Ich sage Strauß, weil das Geschöpf, obwohl es auf zwei Beinen lief, seiner Vorwärtsbewegung durch ein Paar kurze, schlagende Flügel nachzuhelfen schien; es war jedoch ein Mann, und er sah nur durch seinen Rock, der hinten aufgeschlitzt war und in zwei Hälften um seine Schultern flatterte, so geisterhaft und vogelartig aus. Ich vermute jedenfalls, dass es sein Rock war, denn es war unmöglich, ihn genau auszumachen. Wie er es fertigbrachte, schnell und ohne auf dem fremden Deck zu stolpern spornstreichs zu mir herzukommen, ist mir ein Rätsel. Er musste im Dunkeln besser sehen können als eine Katze. Während er noch keuchte, überstürzte er mich mit der flehentlichen Bitte, ihn bis zum nächsten Morgen in unserem Logis unterkommen zu lassen. Ich schlug seine Bitte meinen strengen Vorschriften gemäß ab, zuerst ruhig und dann, als er mit wachsender Frechheit darauf bestand, in strengerem Tone.
„Um Gottes willen, lassen Sie mich rein, Stüermann! Es sind welche hinter mir her – ich hab ’ne Uhr geschnappt.“
„Sie gehen hier runter“, sagte ich.
„Ha’m Se doch’n bisschen Mitleid mit’n armen Kerl, Meister“, jammerte er kläglich.
„Los jetzt, sofort an Land! Hören Sie nicht?“
Schweigen. Er schien sich stumm zu winden, als wären ihm vor Kummer alle Worte abhanden gekommen; dann – peng! gab es eine Erschütterung und einen großen Lichtblitz, in dem er verschwand, und ich lag platt auf dem Rücken und hatte das fürchterlichste blaue Auge, an das man bei treuer Erfüllung seiner Pflicht geraten kann. Schatten, Schatten! Ich hoffe, er ist den Feinden entkommen, vor denen er floh, und lebt und gedeiht bis auf den heutigen Tag. Aber er hatte eine ungewöhnlich harte Faust und konnte im Dunkeln wunderbar genau zielen.
Ich machte auch noch andere Erfahrungen, die meisten waren weniger schmerzhaft und spaßiger, eines zeitigte geradezu dramatische Verwicklungen, aber die wichtigste Erfahrung von allen war Mr. B..., unser Obersteuermann selbst.
Er ging jeden Abend an Land, um in der Gaststube irgendeines Hotels mit seinem Busenfreunde, dem Obersteuermann der Bark „CICERO“, die an der anderen Seite des Circular Quay lag, zusammenzukommen. Spät in der Nacht hörte ich dann von weitem ihre lauten Stimmen in endloser Diskussion und ihre stolpernden Schritte. Der Obersteuermann der CICERO gab seinem Freunde bis zum Schiff das Geleit. Sie setzten am Landende unseres Fallreeps ihren sinnlosen und verworrenen Disput ungefähr eine halbe Stunde im Tone engster Freundschaft fort, und dann hörte ich, wie Mr. B... darauf bestand, den anderen an Bord seines Schiffes zu begleiten. Und fort ging es, ihre Stimmen wanderten weiterhin in übermäßig freundschaftlicher Unterhaltung rund um den Hafen herum. Es geschah mehr als einmal, dass sie so den Weg drei- oder viermal zurücklegten, indem jeder den anderen aus reiner, uneigennütziger Zuneigung zu seinem Schiff begleitete. Dann brachten sie es vor lauter Müdigkeit oder in einem Vergesslichkeitsanfall irgendwie fertig, sich voneinander zu trennen, und bald darauf knarrten und bogen sich die Planken unseres langen Fallreeps unter dem Gewicht Mr. B...s, der nun endgültig an Bord kam.
Auf der Höhe des Schanzkleides blieb die untersetzte Gestalt gewöhnlich stehen und schwankte ein wenig hin und her.
„Wachmann!“
„Sir.“
Eine Pause.
Ehe er sich an die drei Binnenbordstufen zwischen der Monkeyreling und dem Deck heranmachte, wartete er einen Augenblick ab, in dem er seines Gleichgewichts sicher war; der Wachmann war durch Erfahrung klug geworden und unterließ es, in dieser besonderen Phase der Rückkehr seine Hilfe anzubieten – sie wäre nämlich als Beleidigung aufgefasst worden. Aber ich habe viele Male um sein Genick gezittert. Er war ein schwerer Mann.
Dann ein Anlauf und ein Aufpoltern, und es war geschehen. Er fiel niemals hin, aber er benötigte doch eine runde Minute, um sich nach dem Abstieg wieder zu sammeln.
„Wachmann!“
„Sir.“
„Kapitän an Bord?“
„Ja, Sir.“
Pause.
„Hund an Bord?“
„Ja, Sir.“
Pause.
Unser Hund war ein mageres, unerfreuliches Vieh, eher ein heruntergekommener Wolf als ein Hund, und ich habe nie bemerkt, dass Mr. B... sonst zu irgendeiner anderen Zeit auch nur die geringste Teilnahme für das Tun und Lassen des Tieres gezeigt hätte. Aber diese Frage blieb nie aus.
„Geben Sie mir Ihren Arm, und bringen Sie mich längs.“
Auf dieses Ersuchen war ich immer vorbereitet. Er stützte sich schwer auf mich, bis wir so nahe an die Kabinentür gekommen waren, dass er die Klinke zu fassen kriegen konnte.
„So, das genügt. Jetzt kann ich schon klarkommen.“
Und er kam klar. Er kam damit klar, den Weg in seine Kabine zu finden, die Lampe anzustecken, in die Koje zu klettern – jawohl, und auch wieder aus ihr heraus, wenn ich ihn um halb sechs weckte. Er war der Erste an Deck, er hob seine Tasse Morgenkaffee mit vollkommen ruhiger Hand an die Lippen und stand für seinen Dienst bereit, als hätte er tugendhaft zehn gediegene Stunden lang fest geschlafen, ein besserer Obersteuermann als mancher andere, der nie in seinem Leben Grog geschmeckt hat. Er konnte mit alledem klarkommen, womit er aber niemals klarkommen konnte, das war, im Leben vorwärtszukommen.
Nur einmal geschah es, dass er die Klinke der Kabinentür nicht beim ersten Zugreifen packte. Er wartete ein wenig, versuchte es noch einmal und verfehlte sie wieder. Sein Gewicht lastete immer schwerer auf meinem Arme. Er seufzte auf.
„Verdammte Klinke!“
Er drehte sich um, ohne mich loszulassen, sein Gesicht war vom Vollmond taghell beleuchtet.
„Ich wollte, wir wären draußen auf See“, knurrte er wütend.
„Ja, Sir.“
Ich fühlte, dass es gut und nötig wäre, etwas zu sagen, denn er klammerte sich schwer atmend und gleichsam wie verloren an mich.
„Häfen sind zu nichts gut – Schiffe verrotten, Leute gehe zum Teufel.“
Ich verhielt mich still, und nach einer Weile wiederholte er mit einem Seufzer:
„Ich wollte, wir wären hier raus und auf See.“
„Ich auch, Sir“, wagte ich zu behaupten.
Er hielt sich an meiner Schulter fest und wandte sich mir zu.
„Du! Was macht es dir aus, wo das Schiff ist? Du – trinkst nicht.“
Selbst in dieser Nacht „kam er klar“ und erwischte schließlich die Klinke. Aber er brachte es nicht fertig, die Lampe anzuzünden (ich glaube gar nicht, dass er es überhaupt versuchte), und dennoch war er am nächsten Morgen wie üblich als erster an Deck, stiernackig und kraushaarig stand er da und überwachte mit bitterem, hämischem Ausdruck und unbewegtem Blick das Zutörnen der Leute.
Zehn Jahre darauf traf ich ihn zufällig und unerwartet auf der Straße, als ich eben aus dem Büro meines Agenten heraustrat. Ich hatte ihn mit seinem „Nun komme ich klar“ wohl schwerlich vergessen. Er erkannte mich sofort, erinnerte sich meines Namens und auch, auf welchem Schiffe ich unter seinen Befehlen gedient hatte. Er musterte mich von oben bis unten.
„Was machen Sie hier?“ fragte er.
„Ich kommandiere eine kleine Bark“, sagte ich, „wir laden hier für Mauritius.“ Und dann fügte ich gedankenlos hinzu: „Und was tun Sie, Mr. B... ?“
„Ich“, sagte er und sah mich mit seinem alten bitteren, hämischen Grinsen unnachgiebig an, „ich suche Arbeit.“
Ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Sein kohlschwarzes, krauses Haar war eisengrau geworden; er sah so peinlich sauber wie auch sonst immer aus, aber seine Kleidung war entsetzlich abgetragen, und seine blitzblanken Schuhe hatten schiefe Absätze. Er trug es mir jedoch nicht nach, und wir nahmen eine Droschke, um an Bord meines Schiffes zu essen. Er besah es gewissenhaft von oben bis unten, lobte es von Herzen und beglückwünschte mich in aller Aufrichtigkeit zu meinem Kommando. Als ich ihm bei Tisch Wein und Bier anbot, schüttelte er den Kopf, und als ich ihn fragend ansah, sagte er mit gedämpfter Stimme:
„Ich habe das alles aufgegeben.“
Nach Tisch gingen wir wieder an Deck. Es war, als könnte er sich nicht von dem Schiff losreißen. Wir hatten gerade damit zu tun, die untere Takelage zu überholen und zu erneuern, und er hielt sich dazu, verbesserte dies, schlug jenes vor und gab mir auf seine alte Manier gute Ratschläge. Zweimal redete er mich mit „Mein Junge“ an, verbesserte sich aber sofort und sagte „Kapitän“. Ich sollte in Kürze meinen Obersteuermann verlieren (er wollte heiraten), aber ich erwähnte Mr. B... gegenüber nichts von der ganzen Sache. Ich hatte Angst, er würde mich durch irgendeine grausige, lustige Andeutung, die ich keinesfalls hätte umgehen können, bitten, ihm die Stelle zu geben. Ich hatte Angst. Es wäre unmöglich gewesen. Ich hätte Mr. B... keine Befehle geben können, und ich bin überzeugt, dass er sie auch nicht lange von mir entgegengenommen hätte. Damit wäre er nicht klargekommen, obwohl er es fertiggebracht hatte, sich das Trinken abzugewöhnen – zu spät.
Schließlich verabschiedete er sich. Als ich die untersetzte, stiernackige Gestalt die Straße hinauf fortgehen sah, fiel mir mit sinkendem Herzen ein, ob er wohl viel mehr als den Preis für eine Übernachtung in der Tasche hätte. Und es war mir klar, dass er nicht einmal den Kopf wenden würde, wenn ich ihm in diesem Augenblicke nachriefe. Auch er ist nur noch ein Schatten, aber mir ist, als hörte ich es noch, wie er auf dem mondbeschienenen Deck der alten Duke sagte:
„Häfen sind zu nichts gut – Schiffe verrotten, Leute geh’n zum Teufel.“
1879/80 – D „EUROPA“
Dampfer EUROPA
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– London – Genua – Neapel – Patras – Messina – London – 12.12.1879 bis 30.01.1880
Dampfer EUROPA
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1880 – Im Juni - Erstes Examen
1880/81 S „LOCH ETIVE“ – London – Sydney
https://de.wikipedia.org/wiki/Sydney
– Kap Horn – London – 21.08.1880 – 25.04.1881