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Den ganzen Morgen über hatte Nostromo von weitem ein Auge auf die Casa Viola gehabt, sogar während des heißesten Getümmels um das Zollamt. »Wenn ich dort drüben Rauch aufsteigen sehe«, hatte er sich gesagt, »dann sind sie verloren.« – Sobald die Menge sich zur Flucht gewandt, hatte er sich mit einer kleinen Abteilung italienischer Arbeiter in Richtung auf das Haus aufgemacht, das ja wirklich auf dem kürzesten Wege nach der Stadt lag. Der versprengte Haufe, dem er auf den Fersen war, schien sich hinter dem Haus nochmals festsetzen zu wollen; eine Salve, die seine Leute hinter einer Aloehecke hervor abgaben, brachte das Gesindel auf den Trab: in einer Lücke, die in die Hecke für die Zweiglinie der Bahn nach dem Hafen geschlagen war, tauchte Nostromo auf seiner silbergrauen Stute auf. Er brüllte, sandte den Fliehenden einen Schuß aus seinem Revolver nach und sprengte an das Fenster des Cafes hin. Er hatte es im Gefühl, daß der alte Giorgio in diesem Teil des Hauses Zuflucht gesucht haben würde.

Seine Stimme hatte der Familie im Hause atemlos hastig geklungen. »Hallo! Vecchio! Oh, Vecchio! Ist alles wohl bei euch da drin?«

»Du siehst...«, murmelte der alte Viola seiner Frau zu.

Die Signora Teresa war nun still. Draußen lachte Nostromo.

»Ich kann hören, daß die Padrona nicht tot ist.«

»Du hast dein Bestes getan, um mich durch die Angst umzubringen«, rief Signora TereSa. Sie wollte noch mehr sagen, doch die Stimme brach ihr.

Linda erhob kurz die Augen zu ihr, der alte Giorgio aber rief entschuldigend:

»Sie ist ein bißchen aufgeregt.«

Von draußen brüllte Nostromo wieder lachend zurück:

»Mich kann sie nicht aufregen!«

Signora Teresa fand ihre Stimme wieder:

»Es ist so, wie ich sage. Du hast kein Herz – und du hast kein Gewissen, Giambattista...«

Sie hörte, wie er draußen sein Pferd herumwarf; die Leute, die er anführte, schwatzten aufgeregt, italienisch und spanisch, und machten einander Mut zur Verfolgung. Er setzte sich an ihre Spitze mit dem Ruf: »Avanti!«

»Er hat sich nicht lange mit uns aufgehalten. Hier ist kein Lob von Fremden zu verdienen«, meinte Signora Teresa tragisch. »Avanti! Jawohl! Das ist alles, worum er sich kümmert. Irgendwo der erste zu sein – irgendwie – der erste bei diesen Engländern. Sie werden ihn jedermann zeigen: ›Das ist unser Nostromo!‹« Sie lachte verächtlich. »Was für ein Name! Was ist das? Nostromo? Er würde von ihnen einen Namen annehmen, der gar kein Wort mehr ist.«

Inzwischen hatte Giorgio mit ruhigen Bewegungen die Türe freigemacht; das grelle Licht fiel auf Signora Teresa, eine malerische Frau, die in aufgeregter Mütterlichkeit ihre beiden Töchter umschlungen hielt. Hinter ihr leuchtete die Wand blendend weiß, und die grellen Farben der Garibaldi-Lithographie verblaßten im Sonnenschein.

Der alte Viola an der Türe reckte den Arm empor, als wollte er all seine einander jagenden Gedanken dem Bild seines alten Führers an der Wand befehlen. Sogar wenn er für die »Signori Inglesi« kochte – für die Ingenieure (er war ein ausgezeichneter Koch, obwohl die Küche sehr finster war), selbst dann fühlte er sich sozusagen unter dem Auge des Großen, der in einem glorreichen Kampf sein Führer gewesen war, in einem Kampfe, der unter den Mauern von Gaeta den Todesstoß für die Tyrannei bedeutet hätte, wäre nicht die verfluchte piemontesische Rasse von Königen und Ministern gewesen. Wenn mitunter eine Bratpfanne während einer heiklen Operation mit ein paar Zwiebelschnitzeln Feuer fing und man den alten Mann rücklings in einer Wolke ätzenden Rauchs aus der Türe kommen sah, fluchend und hustend, dann konnte man den Namen Cavours, des an Könige und Tyrannen verkauften Erzschurken, gemengt hören mit Verwünschungen gegen die Chinesenmädchen, das Kochen im allgemeinen und das viehische Land, in dem er aus reiner Liebe zur Freiheit, die jener Schurke erdrosselt hatte, zu leben gezwungen war.

Dann kam wohl Signora Teresa, ganz in Schwarz, aus einer ändern Türe, näherte sich würdig besorgt, neigte ihr schönes, dunkelhaariges Haupt, öffnete die Arme und klagte in tiefen Tönen:

»Giorgio! Du unbesonnener Mann! Misericordia divina! So bloß in der Sonne! Er wird sich den Tod holen!«

Unter ihren Füßen stoben die Hennen mit langen Schritten in alle Richtungen auseinander; wenn gerade ein paar Ingenieure von der Strecke in Sulaco waren, dann erschien wohl das eine oder andere junge Engländergesicht in der Türe des Billardzimmers, das am einen Ende des Hauses lag. Am anderen Ende aber, im Café, hütete sich Luis, der Mulatte, wohlweislich, sich zu zeigen; die Indianerrnädchen, mit Haaren wie schwarze Mähnen und mit einem Hemd und kurzem Rock als einziger Bekleidung, gafften mit großen Augen unter den Ponyfransen hervor, die ihnen in die Stirne fielen; das laute Brutzeln des Fettes erstarb allmählich, die Rauchschwaden verwehten im Sonnenschein, der scharfe Geruch verbrannter Zwiebeln hing in der brütenden Hitze rings um das Haus; und das Auge verlor sich in der Weite der grasigen Ebene nach Westen zu, als wäre die Ebene zwischen der Sulaco überragenden Sierra und der Küstenlinie gegen Esmeralda zu groß wie die halbe Welt.

Nach einer kleinen Pause fuhr Signora Teresa vorwurfsvoll fort:

»Eh, Giorgio! Laß Cavour in Frieden und paß auf dich selbst auf, da wir nun doch ganz allein mit zwei Kindern in dieses Land verschlagen sind – weil du unter einem König nicht leben kannst!«

Und während sie ihn ansah, griff sie sich wohl manchmal an die Seite, mit einem kurzen Zucken ihrer feinen Lippen und einem Runzeln der schwarzen, geraden Augenbrauen, das wie das Flackern eines ärgerlichen Schmerzes oder Gedankens ihre schönen, regelmäßigen Züge überflog.

Es war Schmerz: sie unterdrückte die Qual. Es hatte sie zuerst befallen, wenige Jahre, nachdem sie Italien verlassen hatte, um nach Amerika auszuwandern und sich schließlich in Sulaco niederzulassen – nach Irrfahrten von Stadt zu Stadt, wobei sie da und dort versucht hatten, einen kleinen Laden zu führen; einmal auch ein regelrechtes Fischereiunternehmen in Maldonado; denn Giorgio war, wie der Große Garibaldi, seinerzeit Seemann gewesen.

Manchmal brachte sie keine Geduld für die Schmerzen auf. Durch lange Jahre hatte diese nagende Pein mit zu der Landschaft gehört, die das Glitzern des Hafenbeckens unterhalb der bewaldeten Ausläufer der Bergkette umfaßte; und sogar der Sonnenschein selbst war schwer und dumpf – geladen mit Schmerz –, nicht wie der Sonnenschein ihrer Mädchenzeit, da Giorgio, in mittleren Jahren, ernst und leidenschaftlich an den Ufern des Golfs von Spezia um sie geworben hatte.

»Komm sofort ins Haus, Giorgio«, befahl sie. »Man könnte meinen, daß du gar kein Mitleid mit mir haben willst – wo wir doch vier Signori Inglesi im Hause haben.«

»Va bene, va bene«, murmelte Giorgio dann.

Er gehorchte. Die Signori Inglesi würden wohl schleunigst ihr Mittagsmahl haben wollen. Er war einer aus der unsterblichen und unbesieglichen Schar von Befreiern gewesen, die die Söldlinge der Tyrannei in alle Winde zerstreut hatte, wie ein Orkan, »an'uragano terribile«, die Spreu. Doch das war, bevor er geheiratet und Kinder gehabt und bevor die Tyrannei wieder ihr Haupt erhoben hatte, unter Verrätern, die Garibaldi, seinen Helden, eingekerkert hatten.

Die Stirnseite des Hauses wies drei Türen auf, und jeden Nachmittag konnte man den Garibaldiner in der einen oder ändern sehen, mit seinem mächtigen weißen Haarbusch, die Arme gekreuzt, ein Bein übergeschlagen, sein Löwenhaupt gegen den Pfosten gelehnt, den Blick über die waldigen Hänge der Hügel hinweg auf den eisigen Dom des Higuerota gerichtet. Die Stirnseite seines Hauses warf einen langgestreckten, rechteckigen Schatten, der langsam über den staubigen Ochsenweg hinkroch; durch die Lücke in den Oleanderhecken liefen die zeitweilig über die Ebene gelegten Stahlbänder der Hafenzweigbahn inmitten eines Gürtels versengten und vergilbten Grases etwa fünfzig Meter von der Hausecke vorbei. Abends umfuhren die leeren Materialzüge in weitem Bogen den dunkelgrünen Hain von Sulaco und liefen unter weißen Dampfwolken, leise schwankend, auf ihrem Wege zu dem Lagerbahnhof am Hafen bei der Casa Viola vorbei. Die italienischen Maschinisten grüßten den Alten von der Plattform aus mit erhobener Hand, während die schwarzen Bremser unbekümmert in ihren Häuschen saßen und unter den breiten Krempen ihrer Hüte hervor, die im Winde flatterten, starr geradeaus blickten. Giorgio pflegte mit einem leichten seitlichen Kopfnicken zu danken, ohne die verschränkten Arme zu lösen.

An diesem denkwürdigen Tage des Aufruhrs waren seine Arme nicht über der Brust verschränkt. Seine Hände umklammerten den Lauf des Gewehrs, dessen Kolben er auf die Schwelle gestützt hielt. Er sah nicht einmal zu dem weißen Dom des Higuerota auf, dessen kühle Reinheit sich der heißen Erde fernzuhalten schien. Seine Augen durchspähten eifrig die Ebene. Da und dort standen noch kleine Staubwirbel in der Luft, am makellosen Himmel hing klar und blendend die Sonne. Kleine Gruppen von Menschen liefen aus Leibeskräften; andere hielten stand; und das unregelmäßige Knattern von Schüssen drang durch die trockene, heiße Luft. Einzelne Fußgänger rannten Hals über Kopf dahin; Reiter galoppierten aufeinander zu, warfen gleichzeitig die Pferde herum und trennten sich im Galopp. Giorgio sah einen stürzen, wobei Roß und Reiter verschwanden, als wären sie in einen Abgrund galoppiert. Die Bewegungen des belebten Bildes wirkten wie die Wechselfälle eines wilden Spiels, auf der Ebene von Zwergen zu Pferd und zu Fuß gespielt, die aus schwachen Kehlen schrien, unter der Bergkette, die wie eine Burg des Schweigens dalag. Nie zuvor hatte Giorgio diesen Teil der Ebene so voll wilden Lebens gesehen; sein Blick konnte nicht alle Einzelheiten zugleich aufnehmen; er beschattete die Augen mit der Hand, bis ihn auf einmal das Donnern vieler Hufe nahebei erschreckte.

Eine Koppel Pferde war aus der nahe gelegenen Umzäunung der Bahngesellschaft ausgebrochen, kam nun wie ein Wirbelwind daher und sauste über die Bahnlinie weg, schnaubend, stampfend, wiehernd, in einer gedrängt wogenden Masse fuchsiger, brauner, grauer Rücken: Augen blitzten auf, Hälse streckten sich, Nüstern leuchteten rot, und Langschweife wehten. Sobald sie auf die Straße gelangt waren, wirbelte der dicke Staub unter ihren Hufen empor, und fünf Meter von Giorgio weg verschwamm alles zu einer dunklen Wolke, aus der undeutlich die Formen von Hälsen und Kruppen hervorragten und die vorbeitrieb und den Boden erzittern ließ. Viola hustete, wandte das Gesicht vom Staub weg und schüttelte leicht den Kopf.

»Da wird es heute abend noch eine Pferdejagd geben«, murmelte er.

In dem breiten Sonnenfleck, der durch die Türe drang, war Signora Teresa vor ihrem Stuhl niedergekniet und hatte ihr Haupt mit der wirren Masse ebenholzschwarzen, von Silbersträhnen durchzogenen Haares in den Händen geborgen. Der schwarze Spitzenschal, den sie um ihr Gesicht zu winden pflegte, war neben ihr zu Boden gesunken. Die beiden Mädchen hatten sich erhoben und standen nun Hand in Hand, in kurzen Kleidern, mit zerzaust niederfallendem, losem Haar. Die jüngere hatte den Arm vor die Augen gelegt, als fürchtete sie das Licht. Linda, die Hand auf der Schwester Schulter, blickte furchtlos vor sich hin. Viola sah seine Kinder an. Die Sonne enthüllte die tiefen Falten in seinem Gesicht, das, energisch im Ausdruck, unbeweglich wie ein Schnitzwerk schien; es war unmöglich, zu entdecken, was er dachte. Buschige weiße Augenbrauen überschatteten seinen dunklen Blick.

»Nun? Ihr betet nicht, wie eure Mutter?«

Linda schob schmollend die Lippen vor, die fast zu rot schienen; doch sie hatte wundervolle Augen, braun, mit einem goldigen Schimmer in der Iris, blitzgescheit, ausdrucksfähig und so leuchtend, daß sie einen Glanz über ihr schmales, farbloses Gesicht zu werfen schienen. Bronzelichter glänzten in den dunklen Haarwellen auf, und die langen, kohlschwarzen Wimpern vertieften noch die Blässe des Gesichts.

»Die Mutter wird wieder ein Bündel Kerzen in der Kirche opfern. Das tut sie immer, wenn Nostromo in einem Kampf fort war. Ich werde ein paar in die Kapelle der Madonna in der Kathedrale tragen müssen.«

All das sagte sie rasch, mit großer Selbstsicherheit und mit lebhafter, durchdringender Stimme. Dann fügte sie mit einem leisen Ruck an der Schwester Schulter hinzu:

»Und sie wird auch eine tragen müssen!«

»Warum müssen?« forschte Giorgio ernst. »Will sie es denn nicht tun?«

»Sie ist schüchtern«, sagte Linda mit leisem Lachen. »Die Leute bemerken ihr blondes Haar, wenn sie mit uns geht. Sie rufen ihr nach: ›Seht die Rubia! Seht die Rubiacita!‹ So rufen sie in den Straßen. Sie ist schüchtern.«

»Und du? Du bist nicht schüchtern, wie?« meinte der Vater langsam. Sie warf ihr schwarzes Haar zurück. »Niemand ruft mir nach.«

Der alte Giorgio betrachtete nachdenklich seine Kinder; zwischen ihnen waren zwei Jahre Unterschied; sie waren ihm spät geboren, ein Jahr nach dem Tod des Jungen; wäre der am Leben geblieben, so wäre er nun fast so alt wie Giambattista gewesen – den die Engländer Nostromo nannten; was aber die Töchter betraf, so hatten seine strenge Gemütsart, sein vorrückendes Alter, die Befangenheit in seinen Erinnerungen ihn abgehalten, sich viel um sie zu kümmern. Er liebte seine Kinder, aber Mädchen gehören mehr der Mutter zu, und viel von seiner Liebesfähigkeit hatte er der Verehrung und dem Dienste der Freiheit geopfert.

In ganz jungen Jahren war er von einem Handelsschiff nach La Plata entlaufen, um in der Marine von Montevideo Dienst zu nehmen, die damals unter dem Oberbefehl Garibaldis stand. Später hatte er in der italienischen Legion der Republik im Kampfe gegen die drückende Tyrannei Rosas auf weiten Ebenen, an den Ufern ungeheurer Ströme, an den vielleicht wildesten Gefechten teilgenommen, die die Welt je gesehen hatte. Er hatte unter Männern gelebt, die ewig über die Freiheit redeten, für die Freiheit litten, für die Freiheit starben, in verzweifelter Überspannung, die Augen dem unterdrückten Italien zugewandt. Seine eigene Begeisterung hatte sich an Metzeleien erhitzt, an den Beispielen schrankenloser Hingabe, an heißem Kampfgetümmel, an der flammenden Sprache der Aufrufe. Nie hatte er sich von dem Führer seiner Wahl getrennt – dem feurigen Apostel der Unabhängigkeit – und sich in Amerika wie in Italien an seiner Seite gehalten, bis nach dem Unglückstag von Aspromonte, als sich die Verräterei der Könige, Kaiser und Minister vor der Welt in der Verwundung und Gefangennahme seines Helden enthüllt hatte; – eine Katastrophe, die ihn mit dem brütenden Zweifel erfüllt hatte, ob er je imstande sein würde, die Wege der göttlichen Gerechtigkeit zu verstehen.

Immerhin aber leugnete er sie nicht. Es brauchte Geduld, pflegte er zu sagen. Obwohl er die Priester durchaus nicht liebte und um keinen Preis den Fuß in die Kirche gesetzt hätte, glaubte er doch an Gott. Sprachen nicht die Aufrufe gegen die Tyrannei zum Volke im Namen Gottes und der Freiheit? »Gott für die Männer, die Religionen für die Frauen«, murmelte er. In Sizilien hatte ihm ein Engländer, der nach der Räumung der Stadt durch die königlichen Truppen in Palermo aufgetaucht war, eine Bibel in italienischer Sprache geschenkt – in der Ausgabe der British and Foreign Bible Society –, in dunkles Leder gebunden. In den Pausen zwischen den politischen Kämpfen, in den Pausen des Schweigens, wenn die Rebellen keine Aufrufe erließen, brachte sich Giorgio mit der erstbesten Arbeit fort, die ihm unter die Hände kam – als Matrose, als Dockarbeiter auf den Kais von Genua, einmal als Landarbeiter auf einem Bauernhofe in den Hügeln oberhalb Spezias –, und in seiner freien Zeit studierte er das dicke Buch. Er trug es mit sich in die Schlachten. Jetzt war es seine einzige Lektüre, und um sie sich nicht rauben zu lassen (der Druck war klein), hatte er sich entschlossen, ein paar silbergefaßte Brillen als Geschenk von Señora Emilia Gould anzunehmen, der Gattin des Engländers, der die Silbermine in den Bergen, drei Meilen oberhalb der Stadt, leitete. Sie war die einzige englische Dame in Sulaco.

Giorgio schätzte die Engländer sehr. Dieses Gefühl, auf den Schlachtfeldern von Uruguay geboren, war mindestens vierzig Jahre alt. Viele von ihnen hatten ihr Blut für die Sache der Freiheit in Amerika vergossen, und an den ersten, den er je gekannt hatte, erinnerte er sich nur unter dem Namen Samuel; der hatte eine Negerkompanie unter Garibaldi befehligt, während der berühmten Belagerung von Montevideo, und war heldenhaft mit seinen Negern beim Überschreiten der Boyana gefallen. Er, Giorgio, hatte es bis zum Fähnrich – Alferez – gebracht und für den General gekocht.

Später, in Italien, war er mit dem Rang eines Leutnants im Gefolge mitgeritten und hatte immer noch für den General gekocht. Er hatte für ihn in der Lombardei während des ganzen Feldzuges gekocht. Auf dem ganzen Marsch nach Rom hatte er sich die Rinder in der Campagna nach amerikanischer Art mit dem Lasso eingefangen. Er war bei der Verteidigung der römischen Republik verwundet worden, war einer der vier Flüchtlinge gewesen, die mit dem General den leblosen Körper der Gattin des Generals aus den Wäldern in das Bauernhaus getragen hatten, wo sie starb, aufgebraucht von den Härten des furchtbaren Rückzugs. Er hatte diese grauenvolle Zeit überlebt, um seinem General in Palermo zu dienen, als die Neapolitaner Granaten aus dem Kastell auf die Stadt niederkrachten. Er hatte für ihn auf dem Schlachtfeld von Volturno gekocht, nachdem er den ganzen Tag gekämpft hatte – und überall hatte er Engländer in den ersten Reihen der Freiheitsarmee gesehen. Ihre Gräfinnen und Prinzessinnen hatten in London des Generals Hände geküßt, hieß es. Er glaubte es gerne; denn die Nation war edelmütig, und der Mann ein Heiliger. Man brauchte nur einmal in sein Gesicht zu sehen, um die göttliche Macht des Glaubens in ihm zu erkennen und sein großes Mitleid für alles in dieser Welt, was arm, leidend und bedrückt war.

Der Geist des Selbstvergessens, die schlichte Hingabe an eine allumfassende Menschlichkeit, die das Denken und Wirken jener Revolutionszeit beseelten, hatten ihre Spuren in Giorgio zurückgelassen, in einer Art erhabener Verachtung für alle persönlichen Vorteile. Dieser Mann, den die niedersten Schichten von Sulaco im Verdacht hatten, einen Schatz unter dem Küchenboden vergraben zu haben, hatte sein ganzes Leben lang das Geld verachtet. Die Führer seiner Jugend hatten arm gelebt, waren arm gestorben. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, an kein Morgen zu denken; das rührte zum Teil von seinem Leben in steter Aufregung her, voll Abenteuer und wilder Kämpfe. In der Hauptsache aber war es eine grundsätzliche Einstellung und hatte nichts zu tun mit der Sorglosigkeit des Kondottiere; es war ein Puritanismus der Lebensführung, aus reiner Begeisterung geboren, wie der religiöse Puritanismus.

Diese völlige Hingabe an eine Sache hatte einen Schatten über Giorgios alte Tage geworfen; einen Schatten, denn die Sache schien verloren. Zuviel Könige und Kaiser lebten noch in der Welt, die Gott dem Volke zugedacht hatte. Der alte Giorgio in seiner Herzenseinfalt trauerte. Obwohl immer bereit, seinen Landsleuten zu helfen, und hochgeachtet von den italienischen Auswanderern, wo immer er auch lebte (in seiner Verbannung, nannte er es), konnte er sich doch nicht verhehlen, daß sie sich keinen Deut um die Pein der niedergetretenen Völker kümmerten. Sie hörten willig seinen Kriegsgeschichten zu, schienen sich aber zu fragen, was er denn schließlich von alledem gehabt habe. Es war nichts da, was sie sehen konnten. »Wir verlangten nichts, wir litten um die Liebe für die ganze Menschheit!« schrie er manchmal wütend, und die mächtige Stimme, die blitzenden Augen, die fliegende, weiße Mähne, die braune, sehnige Hand, die aufwärts wies, als wollte sie den Himmel zum Zeugen anrufen, verfehlten ihren Eindruck auf die Hörer nicht. Nachdem der alte Mann jäh verstummt war, mit einem Kopfschütteln und einer Armbewegung, die deutlich genug sagte: »Doch welchen Wert sollte es haben, euch davon zu erzählen?« – nickten sie einander zu. In dem alten Giorgio steckte eine Gefühlsstärke, eine persönliche Überzeugungskraft, etwas, das sie »terribilità« nannten. »Ein alter Löwe«, pflegten sie von ihm zu sagen. Ein kleiner Zwischenfall, ein Zufallswort konnten ihn dazu bringen, den italienischen Fischern an der Küste von Maldonado eine Rede zu halten oder in einem kleinen Laden, den er später in Valparaiso hielt, den Landsleuten unter seinen Kunden; oder plötzlich einmal, abends, im Café am einen Ende der Casa Viola (das andere war den englischen Ingenieuren vorbehalten), der ausgesuchten Clientèle aus Maschinenführern und Eisenbahnvorarbeitern.

Mit ihren schönen, bronzefarbenen, schmalen Gesichtern, glänzend schwarzen Locken, glitzernden Augen, mit Barten über der breiten Brust, manchmal mit einem schmalen Goldring im Ohrläppchen, hörte die Aristokratie des Bahnbaus dem Alten zu und ließ die Karten und das Domino im Stich. Da und dort studierte ein blondhaariger Baske seine Karten und wartete ohne Widerrede. Kein Eingeborner von Costaguana drang dort ein. Es war die italienische Hochburg; sogar die Schutzleute von Sulaco, auf Nachtpatrouille, ließen ihre Pferde langsam vorbeigehen und bogen sich in den Sätteln vor, um durch das Fenster einen Blick auf die in Rauchwolken schwimmenden Köpfe zu werfen; und das Dröhnen der wuchtig erzählenden Stimme des alten Giorgio schien sich hinter ihnen in der Ebene zu verlieren. Nur ab und zu tauchte der Assistent des Polizeipräsidenten auf, irgendein dunkelhäutiger, kleiner Herr mit breitem Gesicht und einem gut Teil Indianerblut. Der ließ dann wohl den begleitenden Schutzmann mit den Pferden vor der Türe, trat mit einem vertraulichen, schlauen Lächeln ein und ging ohne ein Wort bis zu dem langen Schenktisch. Dort zeigte er auf eine der Flaschen im Regal; der alte Giorgio klemmte sich die Pfeife zwischen die Zähne und bediente ihn eigenhändig. Außer dem leisen Klingeln der Sporen war nichts zu hören. Hatte er sein Glas geleert, dann warf der Beamte wohl noch einen langsamen, forschenden Blick durch den Raum, ging hinaus und ritt gemächlich der Stadt zu.

Nostromo

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