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[40][41]3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben?

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Methodologie der Medienhistoriografie. Wie Mediengeschichte geschrieben wird, ist von Disziplinen abhängig. Disziplinen sind Einzelfächer, die man an Universitäten studieren kann. In Deutschland beschäftigen sich viele Disziplinen mit Medien, allen voran die Medienwissenschaft (auch Medienkulturwissenschaft genannt) und die Kommunikationswissenschaft. Literaturwissenschaftler neigen aufgrund ihrer Ausbildung zum Umgang mit Texten; sie interessieren sich in einem besonderen Maß für Mediengeschichte als Diskursgeschichte. Kommunikationswissenschaftler legen dagegen mehr Wert auf eine Analyse der Medien selbst und interessieren sich für den Diskurs oft nur, insofern dieser einen Einfluss auf die Medienentwicklung hatte. Da die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft in Deutschland von den Literaturwissenschaften dominiert wird, konzentrierte sich zum Beispiel die Analyse des frühen Kinos zunächst in einem erheblichen Maß auf die Diskurse der Kinoreformer bzw. der Schriftsteller, während die Frage, wie das Medium Film als Kino etabliert wurde, weniger Aufmerksamkeit fand.

Disziplinen sind nicht neutral, sondern schaffen und verteidigen bestimmte Fragestellungen und Analysemethoden. So ist die Medienwissenschaft, die aus der Literatur- und Theaterwissenschaft entstanden ist, in einem besonderen Maß an den medialen Produkten, den Mediennutzungsformen, interessiert und bedient sich hermeneutischer Methoden. Die Kommunikationswissenschaft stellt dagegen stärker die Frage der Mediennutzung und -wirkung in den Vordergrund und bedient sich vor allem empirischer Methoden. Disziplinen konstruieren ihren Gegenstand auf je besondere Art und Weise und weisen, oft vehement, analytische Instrumente von sich, die ihrer Meinung nach fachfremd sind.

Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass sich die Forschung von solchen akademischen Zwängen stärker freischwimmen sollte. Anstatt den Untersuchungsgegenstand auf fachspezifische Weise zu konstruieren, ist es sinnvoller, von Fragen und Problemen auszugehen, die gelöst werden müssen. Wie und warum wandeln sich Medien, sind solche Fragen, die kaum von einer akademischen Disziplin allein beantwortet werden können.

Der wissenschaftliche Tunnelblick ist der akademischen Forschung durchaus bewusst. Traditionell wird das Problem dadurch gelöst, dass eine Zusammenarbeit von Forschern unterschiedlicher Disziplinen gefordert wird. Sonderforschungsbereiche, an denen Wissenschaftler mehrerer Disziplinen beteiligt sind, bieten hier eine geeignete Möglichkeit. De facto findet ein solches interdisziplinäres Arbeiten jedoch nicht in einem wünschenswerten Maß statt. Eine Alternative dazu,[42] die der Autor dieses Buchs favorisiert, ist, sich selbst weniger von Disziplinen als von Fragestellungen antreiben zu lassen und sich dabei, was die Beantwortung der Fragen angeht, unterschiedlicher Methoden verschiedener Disziplinen zu bedienen. Dieses transdisziplinäre Verfahren ist wissenschaftlich gesehen von Vorteil, hilft der akademischen Karriere jedoch nicht, da diese von Disziplinen mit ihren Grenzen und Verteidigungslinien bestimmt wird.

Kapitel 8 und 9 sind sozialwissenschaftliche Studien, die nach der Kultur- bzw. Schichtenspezifik von Filmpräferenzen fragen. Kapitel 10 ist ein Beispiel für eine transdisziplinäre Analyse, die sich kultur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Methoden bedient.

Im Folgenden werden zum einen begriffliche Konzepte vorgestellt, die nützlich sind, um den Wandel der Medien zu erforschen, zum anderen wird die Rolle der eigenen Wahrnehmung thematisiert, die unsere Sicht auf den Medienwandel mit bestimmt.

Begriffliche Konzepte

Aufgabe einer Medienhistoriografie ist nicht allein, ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen, sondern dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren. Ein Medienhistoriker, der dies leistet, ist also immer auch ein Mythenjäger, der Legenden als solche erkennt und durch ein adäquateres Wissen ersetzt. Aber wie ist das möglich?

Grob gesprochen gibt es zwei Typen von Medienhistorikern. Die Vertreter der einen Gruppe sind Verfechter von Konzepten, die sie selbst in der Regel als Theorien bezeichnen, während die Vertreter der anderen Gruppe ein theoriegeleitetes Forschen für einen Irrweg halten. Die Vertreter der ersten Gruppe lassen sich zudem danach unterscheiden, welchem Theoriegebäude sie sich verpflichtet fühlen (also etwa der Systemtheorie, den Cultural Studies, der Kritischen Theorie). Die Möglichkeiten, medienhistorisch Innovatives zu leisten, sind bei Vertretern dieser Schule beschränkt, da ihre Sicht auf die Mediengeschichte in einem erheblichen Maß durch das jeweilige Theoriegebäude präjudiziert wird. Interessanterweise arbeiten die Vertreter der zweiten Gruppe, deren Blick auf den Wandel der Medien offener ist, keineswegs ohne begriffliche Konzepte – sie explizieren sie nur nicht.

Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass man begriffliche Konzepte, aber keine Ideologien oder Großtheorien braucht, um Mediengeschichte zu schreiben. Ein wissenschaftliches Konzept funktioniert im Grunde wie ein begrifflicher Rahmen, der unseren Blick so auf den Forschungsgegenstand richtet, dass neue[43] Erkenntnisse möglich werden. Konzepte sollten alle für die jeweilige Forschung relevanten Faktoren berücksichtigen, jedoch so offen sein, dass sie Forschungsergebnisse nicht vorwegnehmen. In diesem Sinn sind Medienhistoriografie und Konzeptualisierungen interdependente Prozesse. Ohne Reflexion auf die Konzepte bleibt das Verständnis des Medienwandels verschwommen und belastet durch Vorurteile der Forschenden. Die bloße Arbeit an Konzepten, ohne den ständigen Bezug auf den Wandel der Medien, ist dagegen ein intellektuelles Spiel, das wenig Sinn ergibt.

Alle Fallstudien dieses Buchs arbeiten mit begrifflichen Konzepten. Die meisten Fallstudien arbeiten mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität. Im kulturwissenschaftlichen Kontext ist es üblich, Popularität als eine Eigenschaft des Produktes zu definieren (populär im Sinn von »bloß unterhaltsam«) und nicht als Resultat der Mediennutzung. Definiert man den Popularitätsbegriff dagegen empirisch-vergleichend, ändert sich die Sicht auf die Mediengeschichte grundlegend, da der Mediennutzer in den Blick gerät. Ein Medienprodukt ist dann populärer als ein anderes, wenn es von mehr Menschen genutzt wird.

Um ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen und dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren, muss man nicht nur wissenschaftliche Konzepte reflektieren, sondern auch Primärquellen recherchieren und auswerten. Diese sind für neue Einsichten fast immer unverzichtbar.

Oft wird Mediengeschichte ausschließlich auf der Basis von Sekundärliteratur geschrieben. Die Qualität solcher Arbeiten steht und fällt mit der Qualität der Sekundärliteratur selbst. Hält die Sekundärliteratur einer kritischen Prüfung stand, ist gegen dieses Verfahren nichts einzuwenden. Vielfach werden in der Sekundärliteratur jedoch Vorurteile weitergegeben, da sie sich oft nur auf Sekundärliteratur bezieht, ohne dass diese zuvor einer kritischen Überprüfung unterzogen worden wäre. Nur ein systematisches Quellenstudium kann zu einer nachhaltigen Korrektur tradierter Vorurteile führen.

Als Quellen werden alle Zeugnisse verstanden, die eine möglichst zeitnahe Auskunft über ein vergangenes Ereignis geben können. Im Unterschied zur Forschungsliteratur liefern Quellen selbst keinen substanziellen Beitrag zur Interpretation der Geschichte. Forschungsliteratur leistet dagegen genau dies; hier werden Ereignisse der Geschichte gedeutet bzw. erklärt. Quellen sind jedoch keineswegs gleichbedeutend mit Fakten – auch Quellen können »lügen«. Jede Quelle bedarf der sorgfältigen Interpretation, wobei zu berücksichtigen ist, wer das Dokument mit welchem Interesse verfasst hat.

Ob ein Dokument als Quelle oder als Forschungsliteratur gilt, kann von der Fragestellung des Forschenden abhängen. Ein Text eines Schriftstellers zum Kinodrama[44] der frühen 1910er-Jahre liefert zweifelsohne eine Interpretationsleistung. Fragt man jedoch diskursgeschichtlich nach der Art, wie das Kino dieser Zeit von Schriftstellern wahrgenommen wurde, so hat ein solcher Text in diesem Zusammenhang den Status einer Quelle.

Es gibt eine große Bandbreite unterschiedlicher Quellen: Unveröffentlichte Quellen wie z. B. Bauakten zu Kinos, Zensurunterlagen jedweder Art, Protokolle von Entscheidungsgremien der Rundfunkanstalten, Geschäftsunterlagen, Nachlässe von Firmen, Einzelpersonen; veröffentlichte Quellen wie zum Beispiel Branchen- oder Fanzeitschriften, Jahresberichte von Firmen oder Werbematerial. In Deutschland finden sich solche Quellen in einer Vielzahl öffentlicher Archive wie zum Beispiel:

 Bundesarchiv, Berlin (Akten des Propagandaministeriums, der Ufa u. a.)

 Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main (Akten der öffentlichrechtlichen Sender)

 Hochschule für Bildende Künste, Berlin (eine Vielzahl von Nachlässen einzelner Künstler)

 Deutsches Filminstitut, Frankfurt am Main, und Filmmuseum Berlin (Branchenzeitschriften, diverse Nachlässe u. a. von Paul Kohner, Artur Brauner)

Sie finden viele Quellen – aber längst nicht alle – mittlerweile auch im World Wide Web. Bitte informieren Sie sich über die Präsenz von Quellen etwa auf den Seiten des Deutschen Rundfunkarchivs (www.dra.de) sowie auf den Seiten des Deutschen Filminstituts (www.deutsches-filminstitut.de).

Neben nationalen Archiven sind lokale Archive für die Mediengeschichte von großer Bedeutung. In Stadtarchiven befindet sich oft eine Vielzahl interessanter veröffentlichter und unveröffentlichter Quellen zur lokalen Mediengeschichte wie zum Beispiel:

 Lokale Tageszeitungen mit Anzeigen und Berichten

 Dokumente zur lokalen Zensurgeschichte

 Bauakten zu Kinos, Varietés usf.

 Quellen zur Vergnügungssteuer

Kapitel 6 verwendet diverse Quellen aus lokalen Archiven, um das Phänomen des mobilen Kinos der Jahrmärkte in Deutschland um 1900 darzustellen.

[45]Kapitel 13 wertet die Sammlung Paul Kohner aus dem Filmmuseum Berlin systematisch aus, während Kapitel 15 auf allen für die dort behandelte Thematik relevanten Dokumenten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main basiert.


Schreiben von Fritz Keller an Ludwig Stössel vom 4. August 1938

(Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin, Sammlung Paul Kohner)


Auszug aus dem Protokoll der Kölner Sitzung der ständigen Programmkonferenz am 13. September 1957

(Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main, ARD-Reg. 6-58)

Für die Frage, in welchem Maß in Deutschland im 20. Jahrhundert Primärquellen zum Film überliefert sind, spielen kulturelle Mentalitäten ebenso eine Rolle wie politische Entwicklungen. Im Unterschied zu den USA, wo große Filmfirmen ihre Aktenbestände Universitäten übergeben haben, gilt in Deutschland die Firmengeschichte als ein zu bewahrendes Geheimnis. Deutsche Filmfirmen haben ihre Akten nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist, die heute zehn Jahre beträgt, daher in aller Regel nicht an öffentliche Archive gegeben. Stattdessen haben die Unternehmen die Akten in der Regel vernichtet, weil sie für die aktuellen Geschäfte keinen Wert mehr hatten und ihre Archivierung daher nur unnötige Kosten verursacht hätte. Die politische Katastrophe des Dritten Reichs stellt sich vor dem Hintergrund dieser Mentalität überlieferungsgeschichtlich als ein »Glücksfall« dar, weil durch die Verstaatlichung von Medienfirmen viele Firmenakten erhalten geblieben sind, die ansonsten – wie viele Akten aus der Nachkriegszeit – mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtet worden wären. Die im Besitz des nationalsozialistischen Staates befindlichen Firmenakten gingen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Deutschen[46] Demokratischen Republik über und sind heute im Wesentlichen über das Bundesarchiv zugänglich.

Alle Fallstudien dieses Buchs basieren auf einem umfangreichen Quellenstudium. Kapitel 9, 12 und 17 sind Beispiele dafür, wie ein tradiertes Wissen durch ein systematisches Quellenstudium revidiert werden kann. Kapitel 9 widerlegt die Annahme, Charles Chaplins Filme seien universell populär gewesen. Kapitel 12 widerlegt die Auffassung, Leni Riefenstahl transportiere mit ihrem Film OLYMPIA primär die nationalsozialistische Ideologie. In Kapitel 17 wird das international favorisierte Modell über die Rolle Hollywoods auf den Auslandsmärkten widerlegt, demzufolge der US-Film seit Mitte der 1910er-Jahre weltweit dominant gewesen sei. Alle Fallstudien bringen die Vorurteile nicht nur zu Fall, sondern setzen überzeugendere Aussagen an ihre Stelle.

Erforscht man ein Medium im Wandel, ist es erforderlich, es nicht zu isolieren, sondern in seiner Interaktion mit anderen Medien zu sehen. Mediengeschichte wurde über Jahrzehnte als Einzelmediengeschichte geschrieben, also ohne andere Medien systematisch mit in die Analyse eines Mediums einzubeziehen. Heute findet man oft das Gegenteil: Eine Mediengeschichtsschreibung, die von Medien handelt, aber Einzelmedien kaum zur Kenntnis nimmt. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist, Mediengeschichte in Bezug auf einzelne Medien wie Film und Fernsehen zu schreiben (denn nur so können Quellen wirklich ausgewertet werden), dabei aber andere Medien mit in die Analyse einzubeziehen, weil diese Funktion und Profil des untersuchenden Mediums mit bestimmen.

Kapitel 15 und 16 zeigen, wie Film und Fernsehen von den 1950er- zu den 1990er-Jahren miteinander interagieren. Zeigt Kapitel 15, wie sich die Mediennutzungsform TAGESSCHAU des Fernsehens in der Auseinandersetzung mit der Kinowochenschau und der Nachrichtensendung des Hörfunks gewandelt hat, so stellt Kapitel 16 dar, wie sich die Institution Kino (neben anderen Faktoren) unter den Bedingungen des immer erfolgreicher werdenden Fernsehens verändert hat.

Darüber hinaus ist es sinnvoll, die kulturellen Referenzsysteme zu reflektieren, indem man eine Medienkultur mit einer anderen vergleicht. Referenzsysteme können unterschiedlicher Art sein: Kultur kann die Kultur einer sozialen Gruppe, einer Generation, einer Stadt, einer Region, eines Landes/einer Nation oder auch die der Welt insgesamt sein.

Oft wählt die Forschung ein Land als Referenzsystem der Kultur, weil dort überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft leben, die[47] ähnliche kulturelle Praktiken teilen. Am Beispiel von Ländern, in denen die Zusammensetzung der Bevölkerung in einem größeren Maß aus Menschen verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften bestand, lässt sich ablesen, dass es durchaus aber nicht immer Länder sind, die sich durch eine relative kulturelle Homogenität auszeichnen. Das Beispiel der Tschechoslowakei in den 1930er-Jahren zeigt sehr deutlich, dass die Sprach- und Kulturgemeinschaften der Tschechen, Slowaken, Deutschen usf. starke gemeinsame kulturelle Vorlieben hatten, die sich deutlich voneinander unterschieden. Die Filmpräferenzen der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei etwa waren den Vorlieben der Deutschen in Deutschland ähnlicher als denen der Tschechen.19

Über Jahrzehnte schien das eigene Land als ein selbstverständlicher Bezugspunkt der Medienforschung; Forscher blickten kaum über die jeweiligen nationalen Grenzen hinaus. Heute ist das Pendel beinahe ins andere Extrem ausgeschlagen. Mediengeschichte wird heute oft geschrieben, ohne sie zu lokalisieren; es wird quasi von vornherein unterstellt, dass Medien globale Phänomene seien (was die Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs widerlegen). Man kann diese Fallstricke vermeiden, indem man sich auf ein Land konzentriert (eine Beschränkung des Quellenkontingents ist ein Gebot der Machbarkeit) und dabei die Ergebnisse der Forschung mit der Situation anderer Länder vergleicht (auf der Basis der Forschungsliteratur bzw. einer selektiven Nutzung von Quellen). Auf diese komparatistische Weise lässt sich beurteilen, ob die Medienentwicklung für das eigene Land spezifisch bzw. ob sie in mehreren Ländern ähnlich verlaufen ist. Stellt man kulturelle Varianzen zwischen verschiedenen Ländern fest, so sind diese erklärungsbedürftig.

In jüngster Zeit haben sich Medienhistoriker verstärkt mit der Frage des Kulturtransfers beschäftigt. Die Medienlandschaften zweier Länder – ob es sich dabei um Nachbarländer oder um Länder auf verschiedenen Kontinenten handelt – müssen sich nicht unabhängig voneinander entwickelt haben. In Europa etwa war im 20. Jahrhundert ein intensiver Austausch von Medienprodukten üblich. Sicherlich wurden viele Filme nur für die einheimischen Märkte produziert. Andererseits gab es eine gezielte Produktion für den europäischen Markt (siehe Kapitel 11), also einen Austausch von Filmen über Ländergrenzen hinweg. Deutsche Filme wurden in französischen Kinos gezeigt und französische Filme in deutschen Kinos. Historiker fragen oft danach, wie sich das jeweilige Zielland durch den Kulturaustausch verändert hat. Bei Unterhaltungsprodukten kann man jedoch auch fragen, welchen Unterhaltungswert die Filme eines Landes für das Publikum eines anderen Landes hatten. Sind die ausländischen Filme kulturell zu fremd, sind sie beim Publikum oft chancenlos, da ihnen der bewährte Unterhaltungswert fehlt. Das Publikum wirkt in diesem Fall wie ein Filter, der verhindert, dass der Kulturtransfer die Kultur des Ziellandes nachhaltig verändert.

[48]Kapitel 10, das sich mit unterschiedlichen Übersetzungsverfahren fremdsprachiger Filme beschäftigt, ist ein Beispiel für ein komparatistisches Vorgehen. Erst im Ländervergleich wird deutlich, dass sich in unterschiedlichen Ländern spezifische Übersetzungsverfahren etabliert haben. So lässt sich zeigen, dass die Synchronisation eines fremdsprachigen Films in der eigenen Sprache nur in Deutschland, Italien und Spanien zur dominanten Übersetzungspraxis wurde.

Kapitel 9, 12 und 14 sind Beispiele für Kulturtransfer. In Kapitel 9 wird untersucht, wie erfolgreich Charles Chaplins Filme beim deutschen Publikum der 1920er- und 1930er-Jahre waren. Kapitel 12 analysiert, wie Leni Riefenstahl ihren Film OLYMPIA in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre so gestaltet hat, dass er eine Chance hatte, international erfolgreich zu werden. Kapitel 14 untersucht, warum für das deutsche Publikum der 1950er-Jahre die Nazis aus dem Film CASABLANCA herausgeschnitten wurden.

Da das Angebot an Medientechnologien und -nutzungsformen in aller Regel sehr vielfältig ist und die privaten Mediennutzer daraus eine Auswahl treffen, ist es sinnvoll, die Dynamik von Angebot und Nachfrage zu analysieren. Eine Vielzahl angebotener Filme bilden Angebotsmuster, etwa hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft oder ihrer Genres. Filme, die vom Publikum favorisiert werden, bilden miteinander Erfolgsmuster in dem Sinn, dass bestimmte Filmtypen stärker als andere vertreten sind. Um die Filmvorlieben diverser Kinopublika historisch zu untersuchen, gibt es eine Fülle von bisher nicht ausgeschöpften Möglichkeiten. Das wichtigste – aber nicht das einzige – Forschungsinstrument, um Aussagen über die Präferenzen bestimmter Kinopublika machen zu können, ist die Filmerfolgsrangliste – also eine Liste, die die Filme nach ihrem Erfolg bei einem bestimmten Publikum in einem bestimmten Zeitraum (also etwa einer Spielzeit oder einem Kalenderjahr in einem bestimmten Land oder einer Region) hierarchisiert. Die auf dieser Basis beruhenden Erfolgsranglisten zeigen, wie das Publikum die große Zahl der angebotenen Filme tatsächlich genutzt hat. Da Anbieter keineswegs nur das anbieten, was das Publikum favorisiert, unterscheiden sich die Erfolgs- von den Angebotsmustern mitunter erheblich. Die Differenz zwischen beiden Mustern kann für ein Verständnis der Medienkultur sehr aufschlussreich sein.

Die Fallstudien dieses Buchs, die mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität arbeiten, nutzen Daten über den Erfolg von Filmen beim Publikum ebenso wie Daten über das Angebot, auf deren Basis sich der Erfolg erst interpretieren lässt. Kapitel 11 zeigt an einem Beispiel aus den 1920er- und 1930-Jahren, wie Filmproduzenten sich auf die Produktion eines bestimmten Filmtyps spezialisiert haben. Kapitel 8 macht deutlich, wie die europäischen[49] Kinopublika in den 1930er-Jahren die Fülle der angebotenen Filme hoch selektiv genutzt haben.

Die medialen Produkte, die der Mediennutzer selektiert, können sich in unterschiedlicher Art und Weise aufeinander beziehen. Als intermedial bezeichnet man die ästhetische Beziehung zwischen zwei Produkten unterschiedlicher Medien, als intertextuell die Beziehung zwischen zwei Produkten des gleichen Mediums. Fälle von Intermedialität liegen etwa vor, wenn sich frühe Filme der Ästhetik des magischen Illusionstheaters bedienen oder wenn sich die TAGESSCHAU des Deutschen Fernsehens in den 1950er-Jahren am Modell der Kino-Wochenschau orientiert. Wenn sich dagegen z. B. die frühen Filme von Roland Emmerich am US-amerikanischen Science-Fiction-Film orientieren oder wenn mit CASINO ROYALE (GB/USA 1967) eine filmische Parodie auf die James-Bond-Filme realisiert wird, dann sind dies Beispiele für Intertextualität.

Beide begrifflichen Konzepte stehen in der Tradition der Literaturwissenschaft, die sich im Wesentlichen für Texte und ihre Beziehung zueinander interessiert. Der Autor dieses Buchs hat für ein erweitertes Konzept der Intermedialität plädiert, das über die Texte hinaus auch die Kontexte einbezieht (wie Aufführungs- und Programmformen, Produktions- und Vertriebsformen).20

Kapitel 6 und 15 geben Beispiele für eine intermediale Analyse im hier definierten Sinn. Kapitel 6 zeigt u. a., dass sich das Kino der Jahrmärkte sowohl hinsichtlich der Filminhalte als auch hinsichtlich der Programmform an der erfolgreichen Unterhaltungsinstitution des Varietés orientierte. Kapitel 15 macht anschaulich, dass die TAGESSSCHAU des Deutschen Fernsehens ihr Modell in den 1950er-Jahren an der Kino-Wochenschau fand, während sich das Gesamtprogramm des Fernsehens an dem des Kinos orientierte.

Sinngemäß lässt sich das Konzept der Intertextualität auch auf Kontexte erweitern – man müsste dann sinnvollerweise einen anderen Begriff prägen, wie zum Beispiel den der Intramedialität (der teilweise auch synonym mit Intertextualität verwendet wird), der nicht nur die Beziehungen auf Text-, sondern auch auf Kontextebene erfasst. Ein Beispiel dafür ist etwa, dass sich die ersten ortsfesten Kinos hinsichtlich ihrer gezeigten Filme an den Programmangeboten der Jahrmarktkinos orientiert haben, worauf Kapitel 7 eingeht.

Zur Wahrnehmung des Medienwandels

Die Analyse des Medienwandels wird nur dann gelingen, wenn wir in die Analyse nicht nur eine Vielzahl von Fakten einbeziehen, sondern darüber hinaus auch bedenken,[50] dass unsere Wahrnehmung der Fakten die Art und Weise mitbestimmt, wie wir den Medienwandel beschreiben. Dies lässt sich klar daran zeigen, ob wir Mediengeschichte als evolutionären Prozess der kleinen Schritte oder als revolutionären Prozess in der Form von Umbrüchen begreifen. Mit dem Wort Umbruch wird allgemein eine plötzliche, radikale Veränderung eines bis dahin kontinuierlich verlaufenden Prozesses bezeichnet. Als Medienumbruch kann somit eine besondere Form des Medienwandels gelten, nämlich ein Wandel, der sich nicht evolutionär, sondern revolutionär vollzieht. Man kann den Begriff sowohl für die Struktur des Medienwandels als auch für seine Auswirkungen verwenden. Im ersten Fall geht man davon aus, dass sich die Etablierung neuer Medien als radikale Abkehr des Tradierten vollzieht. Verwendet man den Begriff zur Bezeichnung der Folgen des Medienwandels, dann behauptet man, seine kulturellen Auswirkungen seien so tief greifend, dass sich in der Folge der Etablierung neuer Medien die Kultur und die Gesellschaft radikal gewandelt haben.

Vier Faktoren spielen dabei eine Rolle, wie Forscher einen Medienwandel wahrnehmen:

Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt erstens vom kulturgeografischen Bezugsrahmen ab, von dem aus der Medienwandel beurteilt wird. Die Wahrnehmung ändert sich je nachdem, ob die Weltkultur, die Kultur eines Landes oder die einer sozialen Schicht als Bezugsrahmen für die Wahrnehmung des jeweiligen Medienwandels gewählt wird.

Man kann zum Beispiel argumentieren, dass das lange Kinodrama (mehr dazu in Kapitel 7) um 1910 keine Innovation darstellt, da es Dramen bereits seit der Antike gibt. Verändert man dagegen den Bezugsrahmen, dann lässt sich die Etablierung des Kinodramas als Umbruch deuten. Zum einen kann man argumentieren, die Einführung langer Dramen sei ein intramedialer Umbruch gewesen, da es zuvor im Kino keine vergleichbaren Dramen gegeben hat. Zum anderen lässt sich argumentieren, dass die Etablierung des Kinodramas deshalb ein Medienumbruch war, weil der größte Teil der Zuschauer, die ins Kino gingen, keine Dramen auf dem Theater gesehen hatte, weil das Theater in Deutschland um 1900 im Unterschied zum Kino im Wesentlichen eine Angelegenheit der oberen sozialen Schichten war.

Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt zweitens von der zeitlichen Perspektive ab, die der Forscher wählt: Je näher er am Objekt ist, desto wahrscheinlicher erscheint ein Medienwandel als »evolutionär«; je größer die zeitliche Distanz jedoch ist, desto grundlegender oder »revolutionärer« wird ein Medienwandel erscheinen. Verfolgt man in chronologischer Reihenfolge die Etablierung eines neuen Mediums, so erscheint dieser Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit als ein Prozess der kleinen Schritte. Macht man jedoch zwei Zeitschnitte – den ersten in dem Moment, in dem ein neues Medium in den Markt[51] eingeführt wird, und den zweiten dann, wenn es sich etabliert hat, wird man den Wandel eher als Umbruch wahrnehmen.

Vergleicht man zum Beispiel die Zeit um 1895 zur Einführung des Films in den Markt mit dem Jahr 1914, dann erscheint dieser Medienwandel als plötzlicher Bruch einer kontinuierlichen Entwicklung. 1896 war die Reichweite des neuen Mediums Film noch relativ gering: Artisten und Schausteller präsentierten Programme »bewegter Bilder«, die kaum länger als 15 Minuten dauerten, überwiegend in Großstädten. 1914, also weniger als zwei Jahrzehnte später, gab es knapp 2.500 ortsfeste Kinos in deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten, die abendfüllende Filmprogramme boten und bis zu 250 Millionen Eintrittskarten pro Jahr verkauften. Betrachtet man diesen Medienwandel jedoch, indem man der Chronologie der Ereignisse von 1895 bis 1914 sukzessive folgt, dann zeigt sich die Etablierung des Films als ein komplexer Prozess mit vielen Zwischenstufen. Der Prozess scheint aus dieser Binnenperspektive betrachtet als evolutionär, aus der Außenperspektive dagegen als revolutionär.

Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt drittens von der Persönlichkeit des Forschers ab: Je aufgeschlossener für Neuerungen jemand ist, desto weniger radikal wird ihm eine Veränderung erscheinen. Je konservativer jemand ist, desto stärker wird er eine Veränderung als Umbruch wahrnehmen. Man kann auch sagen: Je stärker jemand für Veränderungen aufgeschlossen ist, desto weniger abrupt erscheint ihm ein Medienwandel, weil er mehr erwartet hat. Je stärker jemand an der Tradition festhält, desto mehr wird er einen Medienwandel als Medienumbruch wahrnehmen, da er jeglichem Wandel gegenüber skeptisch ist.

Viertens hängt die Art, wie ein Medienwandel wahrgenommen wird, von dem Forschungskontext ab, in dem der jeweilige Medienhistoriker steht. An einem Institut, an dem ein chronologisches Vorgehen in kleinen Schritten für verbindlich gehalten wird, werden Mitarbeiter einen Medienwandel kaum als Umbruch wahrnehmen. In einem Sonderforschungsbereich zum Thema Medienumbrüche ist es dagegen außerordentlich schwierig, den Medienwandel nicht als revolutionären Prozess zu interpretieren.

Unabhängig von der Art des Wandels selbst hängt die Frage, ob ein Medienwandel als Evolution oder als Revolution wahrgenommen wird, also auch von Faktoren ab, die mit dem Wandel selbst nichts zu tun haben, sondern »im Auge des Betrachters« liegen. Die Analyse des Medienwandels ist also ein relativ komplexer Prozess, da es notwendig ist, eine Fülle von Fakten unter Benutzung klarer begrifflicher Konzepte zur Kenntnis zu nehmen und zugleich das Referenzsystem der eigenen Wahrnehmung zu reflektieren.

Medienwandel

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