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IV Weltliche Richtung

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Inhaltsverzeichnis

Wir verließen oben bei Wolfram von Eschenbach das Epos auf einer Höhe, wie sie in aller Literatur nur selten erreicht wird. Sein Parzival ist durchaus eine tiefsinnige Symbolik der christlichen Lebensansicht. Allein wir stoßen in diesem Gedicht zugleich auch häufig auf eine geharnischte Entrüstung des Dichters, auf bitteren Spott und herbe Ironie, die schon auf bedenkliche Symptome der Zeit und auf einen scharfen Gegensatz des Dichtergemüts mit der Wirklichkeit hindeutet. Zwar hat der ernste Ton, den Wolfram angeschlagen, als der bei weitem noch volksmäßigste, lange und unter allen damaligen Dichtweisen am dauerndsten nachgeklungen; zahllose Fortsetzer und Nachahmer quälten sich ab, ihn fortzuspinnen, und was allgemein gelten wollte, suchte unter Wolframs Schild, ja womöglich unter seinem Namen sich in der Welt einzuführen. Aber es ist seit dem Sündenfalle in der menschlichen Natur ein furchtbarer Zwiespalt, dessen Wiederversöhnung eben die große Aufgabe des Christentums ist. Es geht durch die ganze Geschichte, neben der unabweisbaren Sehnsucht nach Erlösung, eine Opposition des menschlichen Trotzes und Hochmuts, ein uralter, mehr oder minder verhüllter Protestantismus, der selbst und aus eigener Kraft und Machtvollkommenheit das Erlösungswerk zu übernehmen sich vermißt. Er versucht sich in den verzweifelten Anstrengungen der Waldenser und floriert in dem welthistorischen Kampfe der Hohenstaufen mit der Kirche. Es ist natürlich, dieser Geist mußte auch in der Poesie sich abspiegeln, und der mit Wolfram gleichzeitige Gottfried von Straßburg ist der Führer und Meisterdieser antikirchlichen Kunst.

In seinem berühmten Gedichte Tristan und Isolde kehrt er gradezu den Parzival um, mit offenbar feindseliger Absichtlichkeit geschäftig, den hehren Bau, den Wolfram aufgeführt, zu untergraben und niederzureißen, um über dem Schutte zwischen prächtigen Giftblumen für die irdische Genußseligkeit der emanzipierten menschlichen Natur einen bequem gemütlichen Lustgarten anzulegen. Wir sind weit davon entfernt, die Poesie mit unzeitigem Rigorismus einzig nach der kurzen moralischen Elle messen zu wollen; allein hier handelt es sich nicht mehr um Moral, sondern um Vernichtung von Religion, Tugend, Ehre und allem, was das Leben groß und edel macht. Hier wird zum erstenmal das, in allen späteren Romanen bis zum Ekel wiederholte, Dogma von der unbedingten Geschlechtsliebe verkündigt, welcher alles andere untertänig weichen und die ganze Welt nur zu würdigem Aufputz und Zierat dienen soll. Ja, der Dichter sagt: »Das Weib, das aus dieser Art schlägt und die gerne Lob und Ehre bewahrt, sei ein Mann an Gesinnung und nur mit Namen ein Weib.« Und wahrlich, die Heldin Isolde ist nicht aus dieser Art geschlagen und wird daher auch als ein Muster der Weiblichkeit aufgestellt. Der Stoff des Gedichtes ist durchaus gemein: die Verführungsgeschichte einer verheirateten Frau, die gern Lob und Ehre und Seele ihrer ehebrecherischen Liebesbrunst opfert; ein artiger, sich vor den Damen niedlich machender Fant, wie wir ihm wohl allezeit unter den eleganten Pariser Pflastertretern begegnen, der sich in seiner liebenswürdigen Flatterhaftigkeit zuletzt noch gar in eine zweite Isolde verliebt; und endlich ein schwacher Ehemann, der nicht bloß gefoppt, sondern auf das schändlichste verraten und betrogen wird und welcher am Ende noch alle Schuld allein tragen soll, weil er sich unterstanden hat, sein tolles Weib zu hüten und in ihren sauberen Kunststücken zu stören. Überhaupt aber muß man dem Dichter nachrühmen, daß er mit wahrhaft dämonischer Konsequenz alles jenem Dogma von der alleinseligmachenden Geschlechtsliebe beugt und unterordnet und auf diese Weise in moralischer Beziehung eine vollkommen verkehrte Welt zutage bringt. Da wird verräterische List und Betrug als Kardinaltugend belobt, das gewissenlose Beharren bei der Sünde heißt Treue, und die Treue der Hofleute, die es mit dem betrogenen Ehemanne gut und ehrlich meinen, wird als Untreue gebrandmarkt; ja der freigeisterische Dichter scheut sich nicht, mit der Heiligkeit des Eides und des Gebetes frevelhaften Spott zu treiben. Isolde hat nämlich, um die ihr zuerkannte Feuerprobe des Gottesgerichts für sich unschädlich zu machen, eine List erfunden, »die ihr in Not und Gebet und Fasten der gnädige Christ eingegeben«. Nun schwört sie, in »göttlicher Andacht« betend, keck den falschen Eid und faßt dann unversehrt das glühende Eisen an – »da ward es offenbar, daß der viel tugendhafte Christ viel schlaffer wie ein Ärmel ist, er ist allen Herzen bereit, zum Guten und zum Betrug, sei es Ernst, sei es Spiel, er ist ja, so wie man will.« – Und eine solche gleißende und funkelnde Kette von Abscheulichkeiten wird nicht etwa mit verhüllter Ironie vor uns aufgerollt, sondern unbefangen und scheinbar harmlos, als ob sich das alles eben so ganz von selbst verstünde. Wie schade um so viel Schönheit, die hier an das absolut Häßliche verschwendet ist, um diese scharfe und tief wahre Charakteristik des Lasters, um so viel bewundernswerte Gewandtheit und Anmut, die, wie ein lieblicher Strom, alles in ihre melodischen Zauberwirbel hinabzieht!

Es ist in dem Ganzen allerdings eine indirekte tiefmoralische Lehre verborgen; aber wer mag sie in diesem betäubenden Duft der Giftblumen erkennen und herausfinden, ohne sich vielleicht tödlich zu verwunden? Auch lag eine solche verhüllte ernste Mahnung schwerlich in der Absicht des Dichters, der vielmehr ausdrücklich erklärt, daß sein alleiniges Ziel die Darstellung des vollen Reizes und Genusses der irdischen Liebe sei, »eines so seligen Dinges, daß niemand ohne ihre Lehre weder Tugend noch Ehre habe«. Wir bezweifeln daher, daß er, wie manche gutmütig vermuten, wenn er das zuletzt abgebrochene Gedicht wirklich vollendet hätte, zum Schluß noch den Teufel als Vogelscheuche oder als Pfropfen auf seine schäumende Champagnerflasche gesetzt haben würde. Der weltliche Meister Gottfried wußte gewiß recht gut, daß der Teufel in solchem Handel nur dann seine unfreiwillige Schuldigkeit tut, wenn er mit seinen Schaudern und Schrecken insgeheim schon die ganze Geschichte durchschritten und notgedrungen mitten im Taumel der trunkenen Weltlust die grauenhaften Abgründe und den ganzen geheimnisvoll lauernden Hintergrund der Geisterwelt auf Augenblicke aufgedeckt hat, wie etwa in der Mozartschen Geistermusik zum Don Juan.

Es ist hiernach begreiflich, daß Gottfried, welcher der Schwäche der Menge schmeichelte und sie gleichsam in den poetischen Adelstand erhob, faßlicher und beliebter war als Wolfram, der sie streng und unbequem zum inneren Kampfe mit sich selbst herausforderte. Daher hinterließ Wolfram zwar viele Nachahmer, die ihn nicht verstanden und plump zu überbieten suchten, aber keine Dichterschule wie Gottfried, weil wohl höhere Formengewandtheit, nicht aber Adel der Gesinnung und der gedankenvolle Tiefsinn des Genies sich lernen und einschulen lassen. Das Verhältnis beider war ungefähr ebenso wie in neuerer Zeit zwischen Klopstock und Wieland. Gottfrieds unvollendeter Tristan fand nicht nur zwei ziemlich ungeschickte Fortsetzer in Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg; auch sein Geist verbreitete sich wie ein heimlich zehrendes Fieber in den verschiedensten Krankheitssymptomen über mehrere Dichtergenerationen, aus denen Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg als die bedeutendsten hervorragen.

Das Charakteristische der Gottfriedschen Schule aber ist eben die laxe weltmännische Lebensansicht des Meisters, die mit Sage und Heldentum nichts mehr anzufangen weiß, daher am liebsten nach gewöhnlichen, ja gemeinen Stoffen greift und, um das Kleine groß zu machen, allen Nachdruck fast ausschließlich auf eine geleckte Form der Darstellung legt. Die Dichter, da sie nichts Bedeutendes aus der Geisterwelt zu offenbaren haben, dichten nicht mehr aus innerem Bedürfnis, sie wollen geständlich nicht belehren oder erheben, sondern nur angenehm unterhalten. Kein Wunder daher, daß die Besseren unter ihnen allmählich ein Überdruß und Verzagen an der Würdigkeit ihrer Kunst überkommt und häufig in laute Klagen ausbricht.

So ist Heinrich von dem Türlin in seinem Gedicht von der (Abentiure) Krone schamlos bemüht, die schlanken Gottfriedschen Umrisse der sinnlichen Liebe ganz ins Nackte und Feiste herauszuarbeiten, und in der Heidin (angeblich von Rüdiger von Hindihofen) bildet das alles schon den Kern und Zweck des Ganzen, bis nach und nach der trübe Strom, allen Schlamm aufwühlend, in farbigen Schiller der Fäulnis ausläuft. – Nichts von alledem enthält Flore und Blancheflur von Konrad Flecke, die unschuldige, einfache Geschichte von der Jugendliebe zweier Kinder; dafür drängt sich hier die breite Gemütlichkeit, Schwäche und Weichlichkeit Gottfrieds, die dieser im Tristan noch liebenswürdig zu machen verstand, unangenehm in den Vordergrund. Die artigen Kinder wissen schon in ihrem fünften Jahre den ganzen Katechismus der Liebe auswendig, sie dichten und sprechen nur von Minne, Blumen und Vögelein, und der Knabe, da sie dann getrennt werden, fällt in Ohnmacht, während das Mädchen sich mit ihrem Griffel erstechen will; Szenen, die fast schon an die spätere Liebeskarikatur Siegwarts erinnern. – Dagegen hat Konrad von Würzburg vorzüglich und mit großem Glück und Geschick die formale Seite Gottfrieds erfaßt; seine meisterhaft gereimten Erzählungen gehen fast in lauter Duft und Blumen auf, während in seinem »Schwanritter« der abenteuerliche Stoff mit seinen noch etwas altfränkisch eckigen Gliedern überall das neue, knappe und elegante Kleid aus den Nähten zu reißen droht. – Rudolf von Ems endlich ist allerdings nichts weniger als frivol, folgt aber getreulich der von Gottfried eingeschlagenen Bahn von den Gipfeln des Lebens ins platte Land. Sein »Wilhelm von Orleans« handelt, unter Beseitigung alles Wunderbaren, von den gewöhnlichsten und prosaischsten Verhältnissen der Gegenwart, von Haus und Hof, guter Wirtschaft und anderen nützlichen Dingen; und der trockene, aber wackergesinnte Dichter hat sonach ganz recht, wenn er zuletzt selbst darüber stutzig wird und die lügenhaften Mären bereut, die er früher im lieben Wahn auf Ehre und Ruhm mit sündhaftem Munde gedichtet.

Man sieht, wir sind hier unversehens bereits in eine ganz andere Luftschicht geraten, das Rittertum steigt allgemach von seinen Felsenburgen zu den Meierhöfen der Niederungen herab, um fein ordentlich Junkertum zu treiben. Diese Unterhaltungsdichter bilden schon sichtbar den Übergang zu unserem modernen Roman, während die aufgelösten Elemente des alten Epos, einzeln und mannigfach zerstreut, sich vor dem abtrünnigen Adel in die sogenannten Volksbücher flüchten. Es scheint daher der geeignete Ort, diesen auch in seiner Unförmlichkeit noch höchst interessanten Ausgang hier etwas näher ins Auge zu fassen.

Unter diesen Volksbüchern machen sich nun zunächst verschiedene Gruppen bemerklich, in denen sich jene Elemente, die in den älteren Gedichten mehr oder minder ein organisches Ganze bilden, einzeln abgelagert haben. So ist von dem noch halbheidnischen Urgebirge der Nibelungen fast nur eine einzige Felsenzacke, die wilde Kraft des hörnernen Siegfrieds übriggeblieben, wie er seinen Vater Sieghard verläßt, im Walde den Drachen tötet, mit dessen Fett er sich bestreicht, daß von dem erstarrenden Drachenblute sich ihm der ganze Leib, nur zwischen den Achseln nicht, mit einer Horndecke überzieht; und wie er dann des Königs Gilibaldus Tochter, die ein Drache entführt hatte, errettet, sie zur Ehe nimmt und endlich vom grimmen Hagenwald an der Quelle erschlagen und in der Folge von seiner Gattin gerächt wird: alles in bloßen schmucklosen, aber sicheren und kräftigen Umrissen. – Auch aus dem karolingischen Sagenkreise wird nur der weltliche Teil im Kaiser Octavian und vorzüglich in der Historie von den vier Haimonskindern repräsentiert: der furchtbare Vasallentrotz gegen den gleich eisernen Kaiser Karl neben rührender Treue; der gutmütige, ehrliche Held Reinhold mit seinen ungeheueren Leidenschaften, mit seiner Klinge Florenberg und dem Heldenrosse Bayard, daneben seine drei tapferen Brüder und sein Vetter, der schlaue Nekromante Malagys; gleichsam nur ein verfärbtes Abbild des wilden, man möchte sagen, mit Blut geschriebenen Gedichts von den älteren Haimonskindern oder Reinhold von Montalban. – Das unmittelbar Kirchliche und Legendarische dagegen erscheint hier nicht mehr in seiner großen symbolischen Auffassung, sondern nur in einzelnen Gestalten, in der Geschichte der seligen Euphemia, der heiligen Pfalzgräfin Genoveva und vor allen in unseres Herrn Jesu Christi Kinderbuch (Beschreibung der Kindheit Jesu, der Flucht nach Ägypten usw.), einer wunderlieblichen »Idylle in der Religion«, wie es Görres nennt, welche zwar zunächst dem Leben Marias und Christus' vom Kartäusermönch Philippus (im 13. Jahrhundert) nachgebildet ist, aber ursprünglich zu den alten apokryphischen Schriften gehört, die schon Papst Gelasius I. im Jahre 495 von den echten heiligen Büchern schied. – Die Wunderwelt der alten Dichtungen aber wird hier durch eine besonders reichhaltige Gruppe vertreten. In der Reise des engelländischen Ritters Johannis de Montevilla sind fast alle Wunderdinge, die Alexander der Große auf seinem sagenhaften Zuge angetroffen, mit eingeflochten: das Paradies im fernen Indien auf dem Berge von Adamanten, der bis zum Monde reicht; das Höllental, über welchem der Teufel in Gestalt eines grauenvollen Hauptes schwebt; das dunkle Land, aus dem beständig Menschenstimmen tönen, der goldene Baum mit den künstlichen Vögeln, der Vogel Phönix, die Amazonen usw. Hierher gehört auch der einer Erzählung in den »Gesta Romanorum« entlehnte Fortunatus mit seinem Säckel und Wünschhütlein, sowie die aus dem gleichnamigen Gedichte Heinrichs von Veldeke in Prosa aufgelöste Historie vom Herzog in Bayern und Österreich, der von seinem Vater, dem Kaiser Otto, aus seinem Lande verjagt wird, nach Jerusalem wallfahrtet, Schiffbruch am Magnetberge leidet, auf einem Floß durch den Karfunkelberg fährt und in Indien für die Pygmäen gegen das Volk der Kraniche ficht. Dagegen haben aus der in den Kreuzzügen eroberten orientalischen Feenwelt die Erd-, Luft- und Feuergeister, wie eine leichte Luftspiegelung, die jeder Hauch phantastisch wandelt, sich im »Schloß der afrikanischen Höhle Xaxa« angesiedelt. Diese Feenwelt wird aber in ihrer neuen Heimat durch ein tiefes religiöses Gefühl gehoben, von dem liebevollen Bestreben nämlich, gleichsam aus Schmerz und Mitleid mit ihrer heidnischen Schönheit, dieselbe menschlich und christlich und somit der ewigen Seligkeit teilhaftig zu machen. Ein Zug, der namentlich der bekannten Historie von der schönen Melusine einen so eigentümlich rührenden Reiz verleiht: wie sie, von irdischer Liebe bezwungen, sich treu und fromm zu den Menschen gesellt und dennoch, durch menschlichen Vorwitz verscheucht und einem geheimnisvollen Naturgesetz folgend, zuletzt von Gatten und Kindern scheiden und unter herzzerreißender Wehklage wieder in das Feenreich zurückkehren muß. Das schöne Thema wiederholt sich noch in manchen anderen Volkssagen, z.B. vom Donauweibchen. Jenes Volksbuch selbst aber ist aus einem altfranzösischen, schon im 14. Jahrhundert von Jean d'Arras verfaßten und 1500 in Paris gedruckten Gedicht, dieses aber wiederum aus einer uralten Familiensage entstanden, wonach die Melusina noch oft in Witwenkleidern erscheint und jeden Samstag um die Vesperzeit sich badet, halb als schönes Weib und halb als Schlange, oder auch, wie die spätere weiße Frau, sich am Fenster des Turmes zeigt, einen furchtbaren scharfen Schrei ausstoßend, wenn ihre Nachkommen oder dem Lande ein großes Unglück bevorsteht. – Die einfältige fromme Schönheit der alten Minne endlich nimmt rührend Abschied von uns in der Magelone.

Es ist bekannt, daß diese fragmentarische, nur noch in einzeln abgerissenen Klängen nachhallende Poesie auch größtenteils formlos des Schmucks der Verse entbehrt. So macht sie den fast wehmütigen Eindruck von Trümmern einer untergegangenen Welt, die in der Waldeinsamkeit längst vergessen sind, die aber der ursprüngliche Boden, als wollte er nicht von ihnen scheiden, mit Efeu und wilden Blumen mannigfach umschlungen und überrankt hat. Das Volk träumt hier zum letzten Male von der alten Herrlichkeit, von der das Rauschen der Wipfel, die Waldvögel und Quellen den einsamen Hirten und Jägern noch immer Wunderdinge erzählen.

Diese Volkspoesie hat aber auch ihre Kehrseite. Die gleichzeitige Strömung des Urprotestantismus, die, wie wir gesehen, die oberen Regionen der Gesellschaft durchdrang und erkältete, mußte natürlicherweise in ihrem Fortgange auch die unteren Volksschichten berühren und um so reißender und geräuschvoller werden, je tiefer sie hinabkam. Es war hier allerdings im Anfange nur noch die frische, kecke Lust an der Negation und Neuerung, die sich ebenso natürlich zuerst gegen das Positivste und Konservativste im Leben, gegen die Kirche, kehrte. Wir sehen daher nur einige alte Gesellen, die wohl schon früher ziemlich unschuldig rumorten, plötzlich als entschiedene Lieblinge in der Volksgunst hervortreten. So: Morolf (den das Volk in Marcolph umtaufte), dann der Pfaffe Amis, und der Pfaff vom Kalenberg. In »Frag und Antwort König Salomonis und Marcolphi« zieht der Bauernwitz zunächst erst gegen die geistliche Schulweisheit zu Felde. König Salomon setzt vom Throne mit salbungsvoller Feierlichkeit alle seine weisen Sprüche dem Marcolph und seinem Weibe auseinander, welche dann sogleich jeden Spruch in ihrem Volksidiom parodisch verarbeiten. Über Geist und Ton dieses ergötzlichen Dialogs mag das plastische Signalement des tölpischen Gesellen vielleicht die kürzeste und getreueste Auskunft geben. »Und die Person Marcolphi war kurz, dick und grob, und hat ein groß Haupt und eine preite Stirn, rot gerunzelte haarige Ohren, hängende Wangen, groß fließente Augen, der untere Lebs als ein Kalbslebs, ein stinkenden Bart, als ein Bock, plochent Händ, kurze Finger und dicke Füß, ein spitze hagerte Nasen und groß Lebsen, ein eselich Angesicht, Haar als ein Igel usw.« Man sieht, das Volk war in seiner Lustigkeit noch weit entfernt, seinen eigenen Anwalt zu verschonen. – Bedenklicher schon verhält es sich mit den beiden Pfaffen: Amis und vom Kalenberg. Nicht darum, weil hier derber Scherz und Schwank neben dem Heiligen und Kirchlichen ihr keckes Spiel treiben; denn wir sahen dieselbe Erscheinung auch in den dramatischen Mysterien, wo der unbefangene und seiner selbst noch sichere Glaube nicht den geringsten Anstoß daran nahm. Aber unangenehm auffallen muß es, daß hier alle erdenklichen Schelmenstreiche und Lächerlichkeiten mit einer gewissen Schadenfreude grade den Priestern, wie eine Narrenjacke, angehängt werden; ja, wenn wir genauer zusehen, finden wir hier bereits die rohen Fundamente gelegt zum künftigen Aufklärungspalais. Es erinnert wenigstens schon sehr lebhaft an Tartüff, an die spätere Jesuitenriecherei und alle die wohlfeile Weltweisheit, womit seitdem der Unglaube sich zu rechtfertigen und zu beschönigen sucht, wenn z.B. der Pfaffe Amis eine reiche und alberne Gutsbesitzerin, da ihr Mann eben nicht zu Hause ist, durch Scheinheiligkeit um ein Stück feiner Leinwand betrügt und dann bei dreißig Lichtern, die er um sich stellt, herrlich die Mette und eine Messe dazu singt und solchen Ablaß erteilt, daß der, welcher nach dem Ablaß auch den stärksten Appetit hatte, daran Genüge gehabt hätte: alle Sünden, die getan waren und noch getan werden sollten und wollten durch das ganze Leben, die wurden von dem Pfaffen alle vergeben.

Andere alte Stoffe dagegen verwandelten in dem neuen Klima allmählich ihre angeborene Physiognomie. Auch das uralte Tier-Epos beruhte ursprünglich auf dem eigentümlich deutschen Naturgefühl, auf der poetischen Anschauung des geheimnisvollen Geisteslebens der Tierwelt, dessen Darstellung der einzige Sinn und Zweck war. Jetzt aber sehen wir den alten einfachen Reinhart im Reineke Fuchs polemisch in Satire umschlagen, nicht in eine gewöhnliche Satire einzelner Personen oder Geschichten, sondern der mittelalterlichen Historie überhaupt. Es ist, wie wir schon anderswo bemerkt haben, die Opposition des sich emanzipierenden Verstandes gegen den Geist des Rittertums, des Realen gegen das Ideale, des klugen Fuchses gegen den alt und matt gewordenen Löwen. – Noch kecker und unumwundener verfährt Till Eulenspiegel in dieser geistigen Revolution. Er hat aus den Schwänken und Schelmenstreichen der Amis, Kalenberg und aller Volksnarren sich ein schweinsledern kugelfestes Wams zusammengeflickt, an dem, wie bei seinem Vetter Marcolph, jederlei Tugend und Weisheit, die Tapferkeit an der List, höhere Bildung am hausbackenen Verstand, Gelehrsamkeit am Bauernwitz, abprallt und stumpf wird. Hier ist das Rittertum bereits zum Don Quichotte geworden, und Till ist sein Sancho Pansa.

Ebenso wenden sich nun die vielen Schelmenromane und lügenhaften Reisehistorien gegen das Wunderbare der alten Geschichten. In den Schelmenromanen müssen bereits Verschlagenheit und Zufall bei der Leitung des Ganzen die Stelle der göttlichen Vorsehung übernehmen; während in jener Reiseliteratur das Wunderbare des alten Abenteuers so übertrieben aufgeblasen wird, daß es an seiner eignen Ungeheuerlichkeit lächerlich zerplatzt. In dem ergötzlichen Guerillakriege der letzteren Gruppe hat sich besonders der »edle Finkenritter mit dem tapfern Monsieur Hans Guck in die Welt« einen Namen gemacht, indem er noch vor seiner Geburt die Welt durchwandert, seinem eignen Kopfe, den ihm der Wind abgewehet, nachläuft usw. Ihm folgt der zwischen Schelm und Prahlhans schwankende Schelmuffsky, der mit seinem »Bruder Graf« herumtiostiert, bettelhaft den Kavalier spielt, mit der »Frau Großmoguln« einen Ehrentanz aufführt, dann unversehens ins Lebbermeer gerät und uns endlich noch spät im Münchhausen einen Urenkel hinterlassen hat.

Ein anderes wichtiges Moment dieser Volkspoesie aber, die Sage vom Faust, ist, wenngleich einzelne zufällige Züge derselben an den mittelalterlichen Zauberer Virgilius erinnern, doch in seinem Grundwesen neueren Ursprungs und kann daher erst weiter unten in Betracht gezogen werden.

Dem sinkenden religiösen Glauben sank das Rittertum, das ihn verteidigen sollte, dem sinkenden Rittertume der Minnegesang nach, der durchaus vom Rittertum lebte und dessen eigentliche Blüte war. Denn wenn die Poesie überhaupt mit den religiösen und sittlichen Zuständen der Nation innig zusammenhängt, so muß für deren Temperaturwechsel grade die Lyrik, als die subjektivste Dichtungsart und Darstellung der Gegenwart, am empfindlichsten sein und, sobald dort die Nation an ihrem Innersten ungewiß und irre wird, hier auch zuerst die Verwirrung eintreten. Um aber in jener Zeit diese Verwirrung vollkommen zu machen, spielt auch noch eine mißverständliche Verwechselung und Vermischung des Neuplatonismus und des wahren Plato mit hinein und erzeugt in der Poesie eine Art heidnisch-christlicher Mythologie, wo, wie in einem nebelhaften Traume, die Heiligen der Legende und die Götter des Olymps einander brüderlich begegnen. Daher sehen wir denn in dieser schwankenden Übergangsperiode auch die Lyrik in alle möglichen Richtungen und Gegensätze ausfahren, Didaktisches, Rhetorik, Mystisches und Schwank bunt ineinander wirrend, so daß eine genauere Grenze kaum mehr zu erkennen ist.

Schon in Ulrich von Lichtensteins »Frauendienst« (1255), wo Lyrisches und Episches konfus durcheinanderläuft: welche widerliche Verzerrung der Minne, welch ein durchaus unsittliches Verhältnis, das ihr zum Grunde liegt! Der verheiratete Sänger wirbt auf Tod und Leben um die Gunst einer gleichfalls verheirateten Dame, weil es Mode ist, und die Dame, obgleich beständig höhnend, duldet es, weil es Mode ist. Er trinkt ihr Waschwasser, schneidet sich ihr zuliebe seine Doppellefze und einen krumm gewordenen Finger ab, und sie bewahrt gerührt den ihr verehrten Finger und betrachtet ihn alle Tage. Er tiostiert ihr zu Ehren als Venus durch neunundzwanzig Tage, besucht sie, als Aussätziger verkleidet, und will, da die Dame denn doch noch klüger ist als der tolle Phantast, sich zuletzt noch gar ersäufen. – Man sieht, hier ist die Minne und der Frauendienst bereits rein konventionell geworden, die Dichter glauben und fühlen selbst nicht mehr, was sie singen, alles wird gemacht und affektiert, und das ist überall der Tod der Lyrik. Kein Wunder daher, daß nun der Minnegesang sehr bald ins Parodische und später immermehr in sein gerades Gegenteil, in das Materielle, Grobsinnliche und Obszöne umschlägt. Ganz den Eindruck wenigstens einer absichtslosen und unbewußten Parodie macht es, wenn jetzt Nithart die Szene von den Ritterhöfen in die Dorfschenke und die Minne unter die Knechte und Mägde verpflanzt, dabei aber, da er selbst noch zu den adeligen Sängern gehört, an die übermütig gewordenen bäurischen Knollfinken rechts und links tüchtige Kopfstöße austeilt. Noch tiefer hinab führen dann der Tanhuser und Hadloub, wo der Minnegesang, mit Ausnahme einiger herzhaften Tanzweisen, in lauter Zech- und Schmausliedern austönt.

Aber wer hinkt, greift nach der Krücke; wo die Moral zu Ende geht, fängt das Moralisieren an. Und so folgt auch hier auf die invaliden Minnesänger die Gruppe der gnomischen Dichter, eine Erscheinung, die sich auch bei einzelnen Dichterindividuen wiederholt, wie z.B. bei Goethe, dessen wunderbares Lied zuletzt ebenfalls in Gnomologie ausgeht. Man könnte diesen Übergang die altgewordene Lyrik nennen: grämlich, superklug, grübelnd und lehrhaft in epigrammatischen Spitzen und Sprüchen, weil der innere Lebenshauch zu langatmigen Liedern nicht mehr ausreicht. Bei der versiegenden Produktionskraft lehnen sich nun jene Dichter begreiflicherweise immer mehr an die großen Vorgänger, und zwar vorzüglich an das Realistische Walthers von der Vogelweide, aber ohne dessen herzlichen Klang, und an den Ernst des Wolfram von Eschenbach, aber ohne dessen Tiefsinn; beides jedoch keineswegs entschieden getrennt, sondern wiederum verworren ineinanderlaufend, was oft die seltsamste Mischung von Dogma, Moral, Schwank und ritterlicher Konvenienz gibt. Hierher gehören u.a. Reimar von Zweter, der bei aller Frömmigkeit gleichwohl gegen Papst und Kirche polemisiert, der ältere Meißner, Wernher und Marner. Am schärfsten aber wird die Walthersche Richtung durch den heiteren Regenbogen sowie die Wolframsche durch den mysthischen Frauenlob bezeichnet. Die letzten Rittersänger, wie Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein, schlagen schon einfache volkstümliche Klänge an, während bürgerliche Dichter noch überkünstlich in den alten Minnegesang hineinpfuschen, z.B. Muskatblüt, der noch wirkliche Minnelieder hat, noch an den Herrenhöfen sang und die abenteuerlichsten Marienlieder dichtete. Ja, diese allgemeine Unruhe und Ratlosigkeit zeigt sich selbst in der rastlosen phantastischen Reisewut dieser Epigonen, die nicht mehr singend von Schloß zu Schlosse, sondern, wie mit Siebenmeilenstiefeln, von Weltteil zu Weltteil schweifen. So erblicken wir den Hugo von Montfort bald als Troßbube mit den deutschen Rittern in Preußen, bald in Rußland, Norwegen, England und Schottland, dann als Koch und Ruderknecht auf dem Schwarzen Meer, als Pilger in Jerusalem, als Sänger und Possenspieler am Hofe des maurischen Königs von Granada und in Paris, wo ihm die Königin von Frankreich einen kostbaren Diamanten in seinen weißen Bart einband.

Weil aber jetzt der rechte Mittelpunkt, aus welchem allein bisher der Umkreis des irdischen Daseins bis zu seinen fernsten Stadien so scharf und klar beleuchtet worden, nach und nach abhanden gekommen war, so vermochte auch die am Gleichgültigen ermattende poetische Produktionskraft nicht mehr, die Erscheinungen des Lebens unmittelbar zu individualisieren, und nahm daher zu dem abstrakten Abbild desselben ihre Zuflucht. Und so sehen wir nun die Allegorie in das Lied einziehn und es bald gänzlich überwältigen. Eine der beliebtesten Allegorien war die Darstellung des Liebenden als Jäger, wie z.B. in der Jagd des Hadamar von Laber, wo das Herz des Jägers als rastlos umherspürender Hund und der Merker als Wolf erscheint, der den Hund zu zerreißen droht. Im Spiegel wird die Treue von ihrer Kaiserin Frau Abenteuer ausgesandt, um Liebestreue zu finden. In dem Gedicht von der Liebe und dem Pfennig streitet die Liebe gegen den Weltbeherrscher Pfennig, der am Ende die Liebe ins Wasser stößt. Die Minne selbst tritt nun als bloße allegorische Figur auf und wird – nachdem sie bei der allmählichen Herabstimmung sinnlich geworden, ganz konsequent – erst zur heidnischen Frau Venus, wie in der Mohrin, und endlich gar zur Teufelin, wie in dem Gedicht vom treuen Eckart. Ja, in dem vom Kaiser Maximilian 1517 entworfenen und von seinem Geheimschreiber Melchior Pfinzing ausgeführten Theuerdank werden nicht mehr die Minne, Gedanken und Gefühle, sondern die gewöhnlichsten Jagd-, Krieges- und Brautfahrten pomphaft allegorisiert; ein Werk, das nicht seine Poesie, sondern seine vornehme Herkunft und prachtvolle Ausstattung berühmt gemacht.

Diese Entartung des Minnegesanges aber war nicht geeignet, die Lyrik in der Höhe und allgemeinen Achtung zu erhalten die sie so lange behauptet hatte. Das Dichten hörte auf, eine freie ritterliche Kunst zu sein, und wurde ein besonderes Metier, das Lied war nicht mehr singbar, der Dichter nicht mehr ein Sänger, sondern ein »Sprecher«. Sehr natürlich daher, daß diese Poeten, wie sie so häufig klagen, nun als Bänkelsänger an den Höfen »hinausgeworfen« wurden und sich immer mehr zu den Städten wandten, von deren realistischem Zunftgeist die wachsende Opposition gegen das Rittertum ausging.

Im Epos geht das Subjektive im Objekt, in der Lyrik das Objekt in der subjektiven Empfindung auf. Dort verschwindet der Dichter, die Ereignisse sprechen, wie in der Geschichte, für sich selbst; hier wird der Dichter zum alleinigen Sprecher, indem er uns nur den Nachhall gibt, den das Ereignis in seinem Herzen geweckt. Das Drama dagegen ist, wie wir schon oben angedeutet, die Durchdringung und Wiederversöhnung beider getrennten Elemente; eine Vereinigung, die jederzeit erst spät und nur dann mit Erfolg versucht wird, wenn beide Elemente selbständig ausgebildet und stark genug geworden, um sich aneinander messen zu können. Das Objekt ist hier entweder die Sage und historische Vergangenheit oder die unmittelbare Gegenwart oder der Konflikt der letzteren mit der jedem Zeitalter eigentümlichen idealen Gedankenwelt, wonach das Drama sich in Lustspiel, Schauspiel oder Tragödie verteilt. In allen diesen Verzweigungen aber wird Auffassung und Darstellung notwendig den subjektiven Farbenton des Dichters annehmen und, da der Dichter, er stelle sich, wie er wolle, selbst in seinen Idealen, immerdar ein Kind seiner Zeit bleibt, zu gleich in dem jedesmaligen besonderen Schliff des Zeitgeistes sich abspiegeln. Daher gibt das Drama, wo es sich wahrhaft volksmäßig ausgebildet hat, unter allen Dichtungsarten die schärfste Signatur der wechselnden Bildung, Gesinnung und Sitte einer Nation; daher erscheinen dieselben dramatischen Gegenstände verschieden in den verschiedenen Zeiten und Völkern, und die Jungfrau von Orleans, die bei Shakespeare eine Hexe ist, fährt bei Schiller visionär auf romantischem Gewölke gen Himmel.

Hiernach sehen wir denn auch unser Drama, obgleich es niemals zu nationaler Entwickelung gelangt ist, genau dieselben Bildungsphasen des Zeitgeistes durchmachen, die wir vorhin auch beim Epos und bei der Lyrik bemerkt haben. Auf das christliche Dogma gestellt, geht in den ursprünglichen Mysterien und Moralitäten noch alles Subjektive in den religiösen Geheimnissen auf, noch scheu und unbeholfen mit dem übermächtigen Stoffe ringend. Zwar werden schon früh komödienhafte Zwischenspiele mit eingeschoben, anfänglich jedoch nur in gewissenhaftem Dienst der Kirche, um die biblischen Texte volksmäßig zu paraphrasieren und durch den Kontrast noch mehr zu heben. Bei der wachsenden Verweltlichung des Lebens aber verweltlicht auch das Zwischenspiel immer mehr; einheimische und fremde Volksnarren, wie der Bott Jan Posset, Pickelhäring, Stockfisch und der französische Jean Potage, laufen immer bunter, lauter und kecker dazwischen, so daß endlich die Kirche zögernd und ungern sich gedrungen sah, dieser Profanation durch Verbote entgegenzutreten. Allein zu offenbarem Nachteile beider. Denn jetzt vereinsamte das Mysterium, da das mit der Welt vermittelnde Zwischenspiel wegfiel, und das Zwischenspiel, leichtsinnig und trotzig, sagte sich von seiner ursprünglichen Bedeutung völlig los, ging aus der Kirche in die Schenke und verwilderte dort zum possenhaften Fastnachtsspiele; das Mysterium wurde langweilig und das Fastnachtsspiel gemein.

Aber die Scheidung von ursprünglich Verwandtem geschieht nirgends, ohne einen nachhaltigen moralischen Stachel im Innern zurückzulassen. Auch das exkommunizierte Zwischenspiel vergalt den geistlichen Bann mit heimlichem Groll. Dieser Groll war zwar anfangs noch keineswegs unmittelbar gegen den Glauben und die Kirche, um so schlagfertiger aber gegen alles Höhere im äußeren Leben gerichtet, das sich im Mittelalter auf der Grundlage der Kirche aufgebaut hatte. Und so sehen wir denn in dieser Übergangsperiode auch beim Drama dieselbe Erscheinung wie bei dem Epischen und Lyrischen: eine vorerst noch kaum sich selbst bewußte und daher harmlos lustige und ergötzliche Negation des Rittertums, seiner Tugenden, seiner Tapferkeit, seiner Minne und seiner Übertreibungen; nur daß hier die Stelle des Eulenspiegels und seiner Gesellen durch den Hanswurst vertreten wird, dessen Charakter weder polemisch noch satirisch, sondern durchaus parodisch ist.

Mit dem Wesen der Poesie mußte sich notwendig auch die Form nach und nach verwandeln, die ja selbst hier ein Teil des Wesens ist. In der allgemeinen Herabstimmung entstand aus dem singbaren Liede das gesprochene Gedicht, und aus der Rhetorik des gesprochenen: die poetische Prosa, ein zwitterhaftes Mittelding, das man auch wohl prosaische Poesie nennen könnte. Die Phantasie, welche alles Gewöhnliche und Wirkliche in eine höhere Region emporzuheben strebt und daher auch in ihrem Ausdruck luftig und ungewöhnlich ist, hatte wegen zunehmender Alterschwäche ihre Herrschaft allmählich an den Verstand abgetreten, dessen massiver Boden eben die praktische Wirklichkeit ist. Die Sprache der Phantasie aber ist die geheimnisvolle Musik des Verses, die Sprache des Verstandes die Prosa.

Schon früher hatten die Reimchroniken hart und mühsam die schwerfälligen Fundamente zu der Übergangsbrücke gelegt, welche dann von den Volksbüchern, die wir in anderer Beziehung schon oben erwähnt, anmutig überbaut und vollendet wurde, indem sie die alten Gedichte für das neue Bedürfnis in Prosa auflösten. Wir müssen hier noch immer die unzerstörbare Gewalt des Inhalts bewundern, können aber nur bedauern, daß die schöne Form zertrümmert ward. Wie aber auf diesem tonlosen Wege die poetische Prosa zuletzt unvermeidlich bei der völlig prosaischen Poesie anlangen mußte, bezeugt am deutlichsten der Weißkunig, ein gleich dem Theuerdank vom Kaiser Maximilian I. entworfenes Geschichtswerk, das mit allegorischer Dichterprätention die Regierung dieses Kaisers sowie Kaiser Friedrichs III. verschnörkelt und hölzern schildert.

Den letzten und nicht geringsten Stoß nach der Prosa hin gab endlich auch die Erfindung der Buchdruckerkunst, indem nun gar an die Stelle des lebendigen Worts der Buchstabe, in die Stelle des persönlichen mimischen Sprechers der einsame Leser trat. Das gedruckte Buch hat, wie der Rechenknecht für das Gedächtnis, für den Geist überhaupt etwas Mumienhaftes, Stationäres und Abgemachtes, worauf sich zu jeder Zeit bequem ausruhen läßt, während die lebendige Tradition, solange sie wirklich lebendig, notwendig in einer beständigen Fortbildung begriffen ist. Durch den Druck ist aber in der Tat die ganze Literatur ein Buch geworden, in welchem jeder nach Belieben blättern mag und daraus ein allgemeiner Dilettantismus der Produzenten wie der Konsumenten entstanden. Ehedem dichtete der Sänger für eine gewisse ideale Totalität seiner Nation, oder auch für einen bestimmten Kreis spruchfähiger Freunde und Gönner, und war in beiden Fällen des Verständnisses und geistigen Widerhalls gewiß; ganz abgesehen davon, daß bei der Kostbarkeit und zeitraubenden Mühe einer Vervielfältigung der Gedichte in der Regel nur das Beste sich erhalten und vererben konnte. Jetzt dagegen bringt jeder Phantast – das Volk sagt treffend: »er lügt wie gedruckt« – seine wohlfeile Weisheit auf den großen Plundermarkt, wo Perlen und Kraut und Rüben durcheinanderliegen und ein jeder nach seines Herzens Gelüsten aufs Geratewohl zugreifen kann. Eine erstaunliche Konfusion, die noch bis heut fortzuwachsen scheint; die Köchin liest beim Messerabwischen ihre »Jungfrau von Orleans«, die Dame ihre »Mimili«. Eine maßlose Konkurrenz mag für alles Fabrikwesen ganz dienlich sein; hier führt sie selbst zur Fabrikation. Der arme Poet, wenn er wenigstens auf ein Dezennium unsterblich werden will, muß unausgesetzt seine Rivalen in der Gunst der chaotischen Menge durch immer neue Knalleffekte auszustechen suchen; und so erzeugt sich fortwährend ein ekelhaft zärtliches Verhältnis und Liebäugeln zwischen Dichterpöbel und Lesepöbel. Nun ist allerdings die Poesie nie und nirgends ausschließliche Sache der Aristokraten, der Gelehrten oder sonst einer Kaste, und wo sie es eine Zeitlang wirklich war, ist sie auch jedesmal schmählich zugrunde gegangen. Aber ebenso verderblich ist jene kommunistische Rebellion gegen die hohe Aristokratie, den Geburtsadel des Genies, der nun einmal auf diesem Gebiet von Gottes Gnaden souverän ist. Denn selbst das freie Volkslied wird nicht von der wüsten Menge, sondern von einzelnen berufenen Hirten und Jägern auf einsamer Alp oder vom Liebenden oder jauchzenden Tänzer und Zecher in glücklicher Stunde weniger erfunden, als vielmehr nur der durchs ganze Volk gehende Klang von Freud und Leid gefunden; und nur in diesem Sinne ist es wahr, daß das Volk dichte.

Die wahre Poesie ist indes glücklicherweise, wenngleich in der äußerlichen Form verwundbar, doch in ihrem Grundwesen unverwüstlich. Mitten in diesem weltlichen Getümmel flüchtete sie sich daher unerwartet aus dem Buche wieder zum lebendigen Worte, indem sie in ihrem neuen Prosa-Gewande noch einmal zu ihrer ursprünglichen Heimat, zur Kirche, zurückkehrte. Es ist nicht bloß der große Inhalt, sondern auch die wunderbare Poesie der Darstellung, welche die Predigten des Franziskaners Berthold von Regensburg so gewaltig machte, daß ihm Tausende folgten, wenn er von Bergen, an einsamen Feldkapellen oder im Walde zum Volke redete. In den Predigten Susos, wie in den Betrachtungen des Thomas von Kempen, steigt die uralte Minne noch einmal in ihrer reinsten Flamme schlank und klar zum Himmel auf. Dieselbe Kraft poetischer Weihe hat in den Predigten Johann Taulers und Geilers von Kaisersberg – obgleich der letztere, um populär zu sein, mit seinen seltsamen Vergleichungen schon öfters wieder ins Weltliche abschweift und gewissermaßen der Vorläufer Abrahams a Santa Clara ist – einen Blick in den Abgrund der göttlichen Geheimnisse eröffnet, von dem die scholastische Theologie nichts ahnte.

Diese großen Männer bewähren am leuchtendsten den ewigen Bund von Religion und Poesie. Wie sehr irren daher diejenigen, welche aus Verstandeshochmut oder vielleicht noch häufiger aus schwächlicher Scheu und Zaghaftigkeit jenen Bund als eine sündhafte Profanation verleugnen möchten, weil sie in ihrer Gemütstrockenheit in der Poesie nur eitel Schmuck und Spiel zu erkennen imstande sind. Die Religion aber nimmt – es kann nicht oft genug wiederholt werden – den ganzen Menschen, mithin auch Gefühl und Phantasie in Anspruch, welches eben die Grundelemente der Poesie sind. Warum denn also dem Menschen grade für seinen höchsten Flug die ihm von Gott verliehenen Schwingen brechen? Alle Religion ist, weil unergründlich, wesentlich zugleich auch mystisch; die Mystik aber kann nicht unmittelbar in Begriffen, sie kann nur in Anschauungen, also nur symbolisch und bildlich zu uns reden; und es wäre daher töricht, ja frevelhaft, der Kirche das Bild und der Wahrheit der Religion ihre Schönheit rauben zu wollen.

Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

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