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I.
Der Knoten des Schicksals

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Inhaltsverzeichnis

Wer den Norden von Frankreich mit einem Abendzuge verlassen hat und am nächsten Morgen die Augen auf das Rhônetal öffnet, erlebt einen Eindruck, um so stärker, je gebildeter sein Geist ist. Je tiefer er hinabsteigt, desto mehr ändert die Natur Aussehen und Seele: sie vermenschlicht sich.

Ein Fluß beherrscht immer die Landschaft: das lebendige Wasser, das strömt und das rauscht, macht diese ewige Gebärde, der die Menschheit stets gehorcht hat. Die berühmten Städte sind Töchter der Welle, und ihre großen Ströme strahlen, wie die Ufer, die hohen Gedanken zurück, die dort ihre Hafen aushöhlten. Auf diesen bewegten Spiegel wirft die Vergangenheit ihre unsterblichen Bilder.

Die majestätische Rhône, die zwischen ihren Nebenflüssen Ardèche und Drôme ein malerisches Bett belebt, nimmt einen neuen Charakter an: die Kultur stäubt und das Ideal der lateinischen Rassen grünt.

Der Himmel klärt sich auf, der Boden wird trocken, die Luft zittert, die Linien werden bestimmter; die Farben bestätigen sich nüchtern und stark; eine philosophische Einfachheit vervielfacht den klassischen Eindruck, je näher man dieser Provence kommt, wo die drei Kräfte der Geschichte, Kaiserreich, Papsttum und Der freie Gedanke, um die Herrschaft kämpften.

Rom ist hier, mit seinen Triumphbögen, seinen Wasserleitungen, seinen Amphitheatern; Jesus auch, mit den unvergleichlichen Zeugen der Erlösung, Magdalena und Lazarus, den Marien und deren Dienerinnen. Hier waren die Bischöfe die direkten Schüler der Apostel; Kaiser Konstantin dachte nach Arles den Mittelpunkt der civilisierten Welt zu verlegen; hier haben die Päpste Bullen geschrieben und Blitze geschleudert; hier hat Petrarca an Laura den heiligen Hymnus seines Lebens gerichtet; und vor ihm war die Liebe eine Religion, die christliche Umwandlung der platonischen Lehre. Die ersten Kirchen aus Stein, die ersten Blüten des Humanismus haben zur selben Decke diesen Himmel gehabt, klar wie der von Hellas.

In dem rollenden Zuge betrachtet ein junger Mann, ans Fenster gelehnt, mit Entzücken eine Natur, die ihm teuer ist. Er hat den Typus dieses Südens, den er zu seiner Freude wiederfindet, aber ein langer Aufenthalt in den Nebeln des Nordens hat seine äußeren Züge verändert. Schweigsam, taktvoll, macht er zuerst den Eindruck von Vornehmheit, dieser unbestimmbaren Eigenschaft, die man die Grazie des Mannes nennt. Ohne diese würde er jenem tadelnden Ausdruck entsprechen, den man im Languedoc auf die Vogelfreien anwendet: »Das ist ein Künstler«. Seine schwarzen lockigen Haare, sein Flaumbart, der Filzhut würden einen hübschen Maler bezeichnen, wenn der Haarwuchs etwas länger, der Bart weniger gepflegt wäre, der Hut schiefer säße. Seine weiße Hautfarbe, seine starken roten Lippen, seine schwarzen tiefen Augen haben den jugendlichen Ton und diesen jungfräulichen Charakter des Wesens, das noch nicht gelebt hat. Durch seine Sanftmut würde er einen weiblichen Eindruck machen, wenn nicht die Stirn hoch wäre und die Nase mit den offenen Nüstern Willen zeigte. Ohne Eleganz schwarz gekleidet, trägt er saubere Handschuhe und feine Stiefel. Unter dem Sitz und im Netz liegen viele kleine Pakete, mit Bindfaden verschnürt, die Bücher enthalten, bezeugend, daß für diesen Reisenden der dritten Klasse die Überfracht zählt. Ein Beobachter würde erkennen, daß er sein Schicksal beherrscht. Seine Jugend beschwört die Zukunft: Kalender, der Sohn des Königs, wie die orientalischen Märchen sagen, um auszudrücken, daß der sociale Mensch weniger der Sohn seiner Werke ist, wie man den Kindern sagt, als der Spielball des Schicksals in der unbegreiflichen Willkür.

Durch die Bäume schimmern einige Bogen vom Pont Saint Esprit; am Horizonte erheben die Lance und der Ventoux ihre Gipfel. Bald verkündigt die Mauer von Orange, die größte des Landes, das französische Italien, das Land, in dem der christliche Geist auf den heidnischen Geist folgte, ohne daß die neue Schrift die alte auslöschte. Der große Pan lächelt versöhnt noch im Schatten des siegreichen Kreuzes.

Mit welcher trompetenden Stimme der Schaffner diesen feenhaften Namen »Avignon« ausruft, den er provenzalisch betont!

Bevor der Zug hält, hat sich der junge Reisende erhoben, wie die, welche auf dem Bahnsteig die zärtlichen Umarmungen des Blutes oder der Freundschaft erwarten. Seine Reisebegleiter beeilen sich mit einem sympathischen Lächeln, ihm seine Bücherpakete zu reichen, die bald einen Stoß auf dem Boden bilden. Er muß zwei Träger nehmen, um sie als Handgepäck abzugeben!

Eine prächtige Sonne vergoldet die Wälle; das wolkenlose Blau beherrscht den Himmel von einem Ende zum andern; und der Mistral weht über diese große häßliche Straße, die mit ihrer geometrischen Strenge den Charakter der alten Stadt zerreißt.

Mit munterem und begierigem Schritte geht der Kömmling dahin; er grüßt den Glockenturm von St. Martial mit dem zackigen Helm, der an die rätselhafte Königin Johanna1 erinnert; passiert ohne Vergnügen die Kirche der Jesuiten, hält sich nicht auf dem Uhrplatze auf, der von Schuhputzern bevölkert und von Cafés mit übergroßen Terrassen umgeben wird.

Das häßliche Viereck der Bank von Frankreich umgehend, pflanzt er sich an der Ecke auf, erregt von dem Anblick dieses Palastes des Papstes, der mit dem cäsarischen Aussehen einer Festung mehr Eindruck macht als die ungeheure Fehlgeburt des Vatikans. In Rom erblickt man nur, wenn man von den Dimensionen absieht, eine römische Nachahmung, wo das Haus von Savoyen, Akademien, Magistrat hausen könnten; in Avignon betont der Stil Zeit und Charakter, die der Geschichte entsprechen. Dort und hier drückt das Monument nur die weltliche Macht aus: die Tochter Konstantins, nicht die Tochter Christi. Der Königspalast des Tibers, der Lehnspalast der Rhône sind keine Gotteshäuser, sondern Priesterschlösser mit dem Welfenwappen.

Nur die drei großen Pyramiden bestätigen ebensoviel Despotismus wie dieses feste Haus. Diese fünfzehntausend Quadratmeter Citadelle bewahren ein gebieterisches Wesen, das stärker wirkt als die Schloßtürme der Foulques Nera und der Coucy2. Welches Joch gleicht an Dauer der Theokratie? Da ist ihr kolossaler Turm! Der Tourist, der Archäologe studieren das schöne Beispiel der militärischen Architektur im 14. Jahrhundert. Als ob davon die Rede wäre! Die wahnsinnigen Bullen, die aus diesen Mauern hervorgingen, geben das wahre Maß: Jesus als König der Könige überträgt seiner Kirche die Königreiche der Erde und die Kaiser müssen dem Papste auf Knien dienen. Welch furchtbare Leidenschaften dort Schutz suchten! Wunderbare Dekoration jenes brausenden 14. Jahrhunderts, diese riesigen Steinschichten, auf dem lebendigen Felsen aufgetürmt, und der ungeheuere Spitzbogen, das einzige Ornament der Mauer, das den Einzug Clemens' V. über die Benezet-Brücke3 darstellte, des Papstes, der aus Avignon für hundert Jahre Rom machte. Hier erfolgten die ersten Kontakte zwischen dem Geist des sterbenden Mittelalters und dem Geist der aufsteigenden Renaissance; die Leidenschaften Italiens flossen in diesem Palast zusammen, wo Petrarca Gesandter, wo Rienzi Gefangener, wo eine Königin Johanna ihre Sache vor den Kardinälen lateinisch führte und durch ihre Grazie gewann, wo Johann XXII. durch Zauberei starb, wo Benedikt XII. der Tiara eine dritte Krone hinzufügte, wo die schöne Cecilia von Comminges über Clemens V. herrschte, wo man aus einem spanischen Banditen den König der kanarischen Inseln machte, wo die heilige Katharina von Siena als florentinische Gesandtin wirkte, wo die Räuberbande der Tard-Venus das Papsttum bedrängte und für mehr als sechzigtausend Goldmünzen den vollständigen Ablaß eintrieb. Turniere, Ringelstechen, Waffengänge, Processionen, Wallfahrten, Heiligsprechungen, Marter, Ketzereien, Ausschweifungen bilden eine Folge von erstaunlichen Gemälden; und die größten Probleme der civilisierten Menschheit verbinden sie unter einander.

Diese vergangene Welt, diese Gesellschaft von Gespenstern muß der um sich haben, der nicht banal werden will. Die Provinz empfängt nur Geld: niemand hat ein anderes Ansehen als seine Renten oder seine Gewinne; die geistigen Werte verachtet sie, verleumdet sie, stößt sie mit ihrem ganzen Mißtrauen zurück. War Ramman durch seine Erfahrung einsam geworden oder durch die Leiden seiner Kindheit? Das Studium hat diese Menschenscheu entwickelt. Es gibt für ihn keinen gleichgiltigen Verkehr: er freut sich über die geringste Sympathie und leidet unter dem neutralen Umgang, der weder liebt noch erhebt.

Als er den Palast des Papstes betrachtet, entdeckt er dort das Wappen seiner Gedanken: religiös und menschlich, liebt er die Kirche, erträgt aber schlecht die Gewalt ihres Joches und die Polizei ihrer Disciplin; als Ghibelline verabscheut er es, daß sich die tröstende Taube in einen raubenden Adler verwandelt. Ein junger Geist will, wenn er in die Welt tritt, mehr umfangen, als er umfassen kann; er fordert von diesen furchtbaren Steinen, daß sie seinen Haß gegen die Inquisition stärken, den er wie ein Katharer4 empfindet. Da eine Liebe seinem Leben fehlt, begeistert er sich für alte Kämpfe. Unter all den verschiedenen Rufen teilt sich die Menschheit, so weit man zurückdenken kann, in einige ewige Bünde: er sieht in den Troubadours die Ahnen des Humanismus und ehrt die Provence als den ältesten Mittelpunkt des Abendlandes.

Er wirft noch einen Blick auf den Domfelsen; auf die gezackte Fassade des alten Seminars, das die Scene schließt; auf das seltsame Konservatorium, dessen Barockstil so prahlerisch ist, mit seinen schweren Guirlanden und den Adlern seiner Terrasse.

Auf den Uhrplatz zurückgekehrt, wendet er sich, ohne zu zögern, durch die kleine Vialastraße nach der Rue Dorée und klopft an die schwere Pforte des ersten Hauses; sie öffnet sich langsam auf einen weiten Mosaikflur; und links, hinter einer Glaswand, nimmt der Pförtner, ein alter Mann, den Brief entgegen, auf dessen Umschlag er mit Bleistift geschrieben hat:

Herr Ramman bezeigt Fräulein Adelaïde de Pierrefeu seine Ehrerbietung und bittet, ihr heute zwischen eins und zwei, wenn diese Stunde paßt, die Grüße von Fräulein de Claustral überbringen zu dürfen.

Es schlug sieben, als er den kleinen Platz der Präfektur überschritt, der noch verlassen war, um die nächste Kirche zu erreichen.

St. Agricola hat diese selbstgefällige Schönheit, die den Gebäuden des 14. Jahrhunderts eigen ist. Wie die anderen Pfarrkirchen ist sie überladen von Gemälden einer Schule, an denen man in einem Museum schnell vorübergehen würde, die aber etwas Kunst und Luxus in die Andacht des Halbschattens bringen. Ein Parrocel, ein Mignard, die Schüler der Carracci, verschwinden in der Nachbarschaft der Meister; in der Provinzkirche enthüllen sie ihre wirklichen Verdienste und vertreten ziemlich gut die Kunst der Andacht.

Plötzlich färbte sich die Kirche, erleuchtete sich, duftete. Hinter einem Pfeiler sitzend, begriff Ramman nicht, woher dieser dreifache Eindruck kam; und doch, die Farben belebten sich, die Luft erschien leuchtender und ein unmerkbares Aroma koste seine Nüstern.

Der Offiziant trat auf die rechte Seite des Altars. Ramman erhob sich und bemerkte ein junges Mädchen, ganz weiß gekleidet, das ihre Messe las. Er sah nur noch sie. Alles verschwand, der Ort, die Feier, sogar die Idee des Gebetes: er trat in eine Art Ekstase ein.

Die Schönheit ist eine Hieroglyphe, von der die Mehrzahl der Menschen nur die Seltsamkeit begreift: sie unterliegen ihrem Zauber. Auserwählte, durch Nachdenken und Studium gebildet, entziffern sie. Der junge Mann sah nicht das Gesicht der Betenden; er bemerkte nur die Harmonie ihres Körpers, die Reinheit der Linien, einige Accente der Modellierung, und was die so gemessenen Bewegungen einer Kirchengängerin offenbaren. Die Farbe allein enthüllte sich durch goldblondes Haar, dessen widerspenstige Locken von Schleifen zusammengehalten wurden. Der Hals war von einer so leuchtenden Weiße, daß er buchstäblich glänzte. Diese Grundfarben steigerten sich gegenseitig in eine prächtige Seltsamkeit. Statt einer rosigen und spröden Haut zeigte diese Blonde einen matten und soliden Ton, wie die Blüte der Lilie. Was den Betrachter erstaunte, war die Rasse dieses wunderbaren Mädchens, nicht jene Rasse des blauen Blutes, die anspruchsvoll und wollüstig ist, sondern eine Rasse roten Blutes von starkem Saft, der von wilden Tieren ähnlich. Wer hat sich nicht an den Bewegungen der Katze erfreut und, seltener, an denen des Panthers: an der Geschmeidigkeit der Beugungen, an dem überraschenden Strecken oder dem fast unerklärlichen Einziehen der Glieder? Die Gebärde war von einer unsagbaren Vollkommenheit: wie sie auf den Betstuhl niederkniete und sich ohne Stütze wieder aufrichtete; wie sie den Körper warf, um sich zu erheben, und ihn losließ, um sich zu setzen: diese alltäglichen Bewegungen vollendeten sich mit köstlichem Rhythmus. Achtzehn oder zwanzig Jahre: die jungfräuliche Schlankheit! Die zierlichen Glieder waren rund, die vollen Schultern hatten einen dionysischen Bogen der Lenden.

Ramman wäre nicht erstaunter noch entzückter gewesen, wenn er einen echten Lionardo im Schaufenster eines Kunsthändlers entdeckt hätte, so bezauberte ihn dieses lebendige Meisterwerk bei einer stillen Messe. Trotzdem seine Augen begierig waren, wußte er nicht, bei welchem Reize er weilen sollte, so seltene vereinigte dieses wunderbare Mädchen. Flava et Candida, blond und weiß, strahlte sie. Dieser Glanz des Haares und der Haut hätten genügt, um ihn zu entzücken. Über die Formen erstaunte er auch: der Oberarm nahm für Augenblicke eine heldische Kraft an; und die lange schmale Hand hielt das Gebetbuch mit der fließenden Gebärde der heiligen Gespräche. Die geringste Bewegung verband sich einem plastischen Rhythmus. Einen Augenblick griff sie mit beiden Händen hinter den Kopf, um ihren Schleier fester zu knüpfen: er öffnete halb den Mund, so überraschte ihn die Bewunderung. Die Wollust hüllte die Unbekannte in eine Strahlenkrone: sie ging von ihrem Körper aus wie eine Ausatmung, zugleich musikalisch wie aromatisch; ein Magnetismus, dem nicht zu widerstehen war.

Der Priester verschwand in der Sakristei, ohne daß Ramman bemerkte, daß die Messe gelesen war und die wenigen Betenden gingen. Das junge Mädchen bekreuzte sich mit einer entzückenden Gebärde und schritt zur Tür. Er bewunderte ihren katzenartigen Gang und ihre schönen Beine. Sie stieg die Stufen der Treppe wie eine Artemis herab.

Er folgte ihr, um diesen Anblick so lange wie möglich zu genießen. Ein Meisterwerk von denen, die er so sehr in Italien bewundert hatte, ging in Fleisch und Blut vor ihm, beim Lichte des Morgens. Die Mädchen von Avignon waren immer berühmt wegen ihrer Schönheit: diese erschien ihm wunderbar. Er wurde nicht müde, sie zu betrachten, und erstaunte, daß nicht jeder auf seinem Wege umkehrte, um ihr zu folgen. Er füllte seine Augen mit dieser Schönheit, als wolle er den Widerschein bis zum Tode bewahren.

Das junge Mädchen blieb vor einem großen Hause des 17. Jahrhunderts stehen. Es dauerte eine Weile, bis geöffnet wurde. Ramman holte sie ein und trat zurück, um das Wappen zu lesen, das über der Tür modelliert war. Er las es mit lauter Stimme:

– Auf blauem Felde, das mit zahllosen goldenen Sternen besäet ist, eine Wölfin in natürlichen Farben, aus dem unteren Teil des Wappens wachsend, begleitet von drei silbernen Lilien, die den Schild von unten nach oben teilen.

Sie hatte sich umgedreht. Augen aus Topas schossen einen stolzen Strahl. Den Mund geöffnet, die Augen vergrößert, die Hände ausgestreckt, fühlte er nicht die schneidende Verachtung: er war versteinert von diesem wunderbaren Antlitz mit der leuchtenden Haut, der gebieterischen Nase, den runden Wangen, den roten Lippen. Vor der Pforte, die sich krachend schloß, blieb er einen Augenblick wie betäubt stehen. Wenn die Laura des Petrarca ihm als Gespenst begegnet wäre, sie hätte ihn weniger erregt. Zum ersten Male erschien ihm das menschliche Wesen so schön wie die künstlerische Schöpfung.

Die Miene eines Passanten, der über sein Stehenbleiben erstaunte, brachte ihn zum Bewußtsein. Er kannte die Geschichte der Provence. Das Wappen der Tür hatte ihm einen Namen geliefert: es war ein Fräulein von Romanil!

Mit den Kreuzzügen und den Begleitern des Jean de Brienne5 brachte dieser Name die älteste Civilisation des Abendlandes, den romanischen Gedanken, in Erinnerung. Romanil, Signe und Pierrefeu waren im 12. Jahrhundert die Schlösser des Lichtes, im Sinne Dantes. Edle, schöne, tugendhafte Frauen versuchten eine Religion der Liebe zu schaffen: Platonikerinnen, neben denen unsere »Preziösen« nur als Puppen erscheinen. Ein Wort bezeichnet diese Damen in den Chroniken, das ist »Edelfrau«. Die Liebeshöfe, welche sie schufen, haben, im Verein mit der Frömmigkeit, die moderne Civilisation geschaffen.

Diese Gedanken strömten Rammans Geiste zu, während er, den Hut in der Hand, mit dem Schritte eines Schlafwandlers, durch das Stadttor ging und die Rhône hinabstieg.

Am Ufer beugte er sich nieder, füllte drei Male seine hohlen Hände und ließ das Wasser, das sich in der Sonne perlte, langsam tropfen, nach einer Vorschrift des Hesiod6. In seinem Innern bat er diese Welle, diesen Himmel, diese Erde, ihn aufzunehmen. Gebet, Beschwörung, Regung waren zärtlich und feierlich; vor allem sagte er damit seinen Dank, daß er bei den ersten Schritten in der Stadt diese unvergleichliche Tochter der Rhône erblickt hatte. Eine solche Begegnung, köstlich für jeden tiefen Geist, erhielt eine einzigartige Bedeutung für diesen jungen Mann und fügte sich magisch in das Mosaik seiner Wünsche.

Er kam nach Avignon, um, ein geistiger Antäus, in der Berührung mit der mütterlichen Erde Kraft zu suchen; um die befruchtenden Strömungen der heimatlichen Luft in sich aufzunehmen. Er war einer von den zehntausend Jünglingen, die, im Schatten geboren und in Mangel erzogen, hoffen, mit der Feder sowohl den Preis ihres Lebens wie den Preis der Unsterblichkeit zu gewinnen. Diesen unsicheren Talenten gesellt sich eine Unfähigkeit für die gewöhnliche Arbeit. Man übt die Kunst, weil man keinen Beruf hat: aber die Einfältigen glauben, daß die wahren Talente durchdringen. In der Gesellschaft geht es zu wie auf dem Felde: der Widerstand ist dem schlimmsten Unkraut eigen. Was durchdringt, im eigentlichen und bildlichen Sinne, das ist die Quecke, das zähe Gewächs mit den tiefen Wurzeln: und im Reiche der künstlerischen Werte vergehen köstliche Seelen und feine Geister, ohne eine Spur zu lassen, erstickt oder zerbrochen durch den Erfolg des Pöbels. Ramman gehörte nicht zu jenem Geschlecht der Abenteurer, die mit einem Siebentel Tabak nachts ihre Zeit herausfordern und vor einem halben Ries Papier schwören, Paris zu erobern. Da er ein wirklich innerliches Wesen war, von künstlerischem Gefühl, mäßigte tiefe Pietät seine Wünsche. Seine große Originalität, seine radikale Unabhängigkeit vom Urteile Anderer: diese Empörung verbarg er unter einfachem und taktvollem Wesen. In dem nebeligen Dünkirchen hatte seine Menschenscheu keine Feindschaft erregt. Als er die Schule verließ, nahm er die Gewohnheit des Schweigens an, die er so streng übte, daß sein Verkehr sich auf drei Menschen beschränkte: den Leiter des Seminars, der sein Beichtvater war, einen armen Bildhauer seines Alters und einen greisen Okkultisten, der den Namen Desiderius angenommen hatte und seine Vergangenheit verbarg.

André Ramman, Arzt in Marseille, starb, als sein Sohn zwölf Jahre zählte. Da die Witwe ein Haus in Dünkirchen erbte, entschloß sie sich, den Süden zu verlassen. In dem freudlosen Handelshafen wuchs das Kind heran in Weisheit und Menschenscheu. Die Provinz erhält, bevor sie auflöst: sie bietet den stolzen oder schüchternen Naturen weder Versuchungen noch Leichtfertigkeiten. Der Jüngling war rein: er hatte nur die Empfindungen erlebt, die geeignet waren, ihn zu überzeugen, die sich auf sich selbst beschränkten, ohne daß sich die Phantasie berauschte oder die Leidenschaft erwachte – das mußte man den Tieren überlassen. Er hatte sich für die Keuschheit begeistert, wie andere sich für die Sünde erhitzen. Deshalb machte die Kirche den tiefen und köstlichen Eindruck. Von der Schönheit träumend, wie man von der Frau träumt, studierte er die Lehren und die Bilder, die sie darstellen. Wenn er im Atelier des Bildhauers dieser prometheïschen Arbeit der Finger folgte, welche den Ton kneten und die Form adeln, erwarb sein Auge an den mittelmäßigen Modellen die Begriffe der Form: er kannte die Plastik fast ebenso gut wie die Theologie. Deshalb erzitterte sein ganzes Wesen, als ihm die vollkommene Form in Fräulein von Romanil erschien.

Das war ein Meisterwerk, ein dreifaches Meisterwerk von Ebenmaß, von Färbung, von Ausdruck. Im Geiste sah er wieder, wie sich die Mundwinkel hoben, wie die Nüstern bebten, wie der Blick höhnte, wie die Verachtung aus den Poren dieser wunderbaren Haut sprang, um ihm »Flegel« zuzurufen.

Welche Kraft der Ächtung, welch ruhiger und unversöhnlicher Stolz! Diese strahlende und strenge Jungfrau lieben? Er glaubte ihrer nicht würdig zu sein: das war ein vollkommenes Tier, eine ursprüngliche Pantherin, zugleich eine Patrizierin wie eine Wilde. Er dachte nur an sie auf das Zeugnis der Augen und empfand keine Neugier nach ihrer Seele. Der erste Plan ist immer selbstsüchtig: wir sehen in einem Menschen zuerst einen Vorteil; nur die Besten denken nachher auch an den Andern. Die Erscheinung in der Kirche entsprach wie eine Vorsehung den Umständen seines Aufenthaltes. Während er sein erstes Buch schrieb, würde er in Avignon leben, immer beherrscht, aber auch ermattet, weil die Ausführung unsicher war und Zweifel brachte. Unschätzbar war die Anregung für die Arbeit an dem Roman, wenn er jeden Morgen bei der Messe von sieben Uhr Fräulein von Romanil betrachten und die Strömungen der Vollendung, der Wollust in feinstem Zustande einatmen konnte: so würde er sein Schaffen durch einen unschätzbaren Eindruck fördern.

Im Wirtshaus, das auf der großen Landstraße liegt, plaudert Niccolo Macchiavelli7 mit den Gästen; er kehrt nach dem Essen dorthin zurück; mit einem Müller, einem Schlächter und zwei Kalkbrennern verbringt er den Tag, »cricca« und Triktrak spielend; und um einen Quattrino hört man sie von San Casciano schreien. Später legt er sein Hofgewand an und dringt in das Heiligtum der großen Männer aus der Vergangenheit. »Mit Wohlwollen von ihnen aufgenommen, nähre ich mich mit dieser Kost, die allein mir zukommt.« Trotz diesem edlen Satze ist der florentiner Sekretär kein Aristokrat: heute würde er ins Café gehen und Lomber spielen.

Ramman brachte die bestimmte Absicht mit, sechs Monate zu verbringen, ohne ein Wort mehr zu wechseln, als unbedingt nötig war: die Klosterregel des Schweigens befolgte er aus Neigung. Er hätte gelitten, wenn er mit seinen einsiedlerischen Gewohnheiten hätte brechen müssen. Diese Züge von klösterlicher Strenge hatten ihre Quelle in der Furcht vor der Gemeinheit: er litt unter der Alltäglichkeit der Menschen und der Leere der Gespräche. Wenn er in Avignon einen leidenschaftlichen Forscher treffen sollte, wäre es auch ein Münzensammler, würde er gern mit ihm verkehren; aber einem Umgang ohne solches Interesse würde er das Selbstgespräch vorziehen. Die Wahl von Avignon, durch die Erinnerungen an seine Kindheit diktiert, wurde erklärt durch die unvergleichlichen Geister dieser Stadt: die war ein einzigartiges Theater für den Charakter der Personen, die Kraft der Leidenschaften und das Interesse der Dramen.

Lazarus, Martha, Maria Magdalena, Nicodemus, Joseph von Arimathia, durch die unreinen Juden in eine Barke ohne Mast noch Steuer geworfen und in Marseille landend: welch unvergleichliche Fabel! Dieser Tod, den Magdalena in der Grotte von Sainte Baume und Martha in Avignon erlitt! Joseph von Arimathia und Nicodemus den Graal auf dem Felsen von Baux bewachend! St. Ruf, der Sohn des Kyrenaikers, und die zehn heiligen Bischöfe der Stadt: Benezet, der Gründer des Ordens der Brückenbauer, und Peter von Luxemburg, der mit achtzehn Jahren starb und schon mit zwölf Jahren eine eiserne Kette um seine Lenden trug! Die ganze Geschichte ist über die Terre des Cavares dahingegangen: der Römer hat dort gebaut, der Deutsche hat dort geplündert, Theoderich hat dort geherrscht, der Sarazene ebenfalls. Und welche Abenteuer hat das Königreich Arles durchgemacht! Die drei Schandtaten des Mittelalters, der Kreuzzug gegen die Albigenser, die Inquisition der Dominikaner, die Ermordung der Tempelherren, entwickeln sich in Avignon. Ein Bertran de Born nimmt es mit den italienischen Condottieri auf; und die neun Päpste der Rhône, leichter zu studieren als die von Rom, sieht man beinahe. Luther selbst hält sich bei den Augustinern von Pernes auf. Nirgends waren die protestantischen Kriege so wild, die jakobinischen grausamer; es gab dort sogar einen weißen Terror.

Die Ideen haben geblüht und wunderbare Früchte getragen. Der Eros des Platon hat die geschlechtlichen Sitten bis kurz vor den Kreuzzügen beherrscht; die Liebesmystik wurde in der Provence geboren, und wenn das »Neue Leben« von 1265 stammt, so hat Petrarca, der große Troubadour, der einundzwanzig Jahre eine Provenzalin besang, dem Abendland das Ideal der einzigen Liebe offenbart. Eine neue Venus ist aus dem Schaum der Rhône geboren, am Fuße des Palastes der Päpste, eine Venus, die feiner war als Aphrodite: denn die »Königin der Engel« hat die Geschlechtlichkeit selbst geläutert, da ihr Kult in den Herzen wirkte.

Die erlauchtesten Geister würden nicht genügen, selbst wenn sie das Gefolge bildeten für den Kopf, der sie beschwört: es muß auch Ruhestätten für diese Procession geben: das sind die alten Kirchen und Kapellen. Welche Hilfsquelle! Man braucht nur eine Pforte aufzustoßen, um in die übernatürliche Welt einzutreten, wenigstens in deren Vorhalle. Dort ist das Schweigen, der Schatten, ein leiser Duft von Weihrauch und Alter; dort sind Säulen, Altäre, aufragende Formen für das Mysterium; schließlich die Frische einer Oase, welche die Seele durchdringt, selbst wenn sie nicht vorbereitet ist.

Der junge Mann wußte die heiligen Stätten zu genießen: er brachte dorthin kein vages Künstlertum. Er betete zuerst zu Ehren des Schutzpatrons des köstlichen Hauses, dann zu Gunsten der Künstler, die dort gearbeitet hatten, und widmete ein Ave den Seelen in der Hölle.

Nachdem er diese Grüße dargebracht, hörte er. Ein altes Sanktuarium murmelt wie der Wald: das so viele Male beschworene Geheimnis flüstert, ein Echo der Hauche, die so viele flehende Münder ausgeatmet haben. Seine schönsten Gedanken kamen ihm, wenn er vor dem Altar stand und träumte.

Nachdem er die Kirche genossen, suchte er noch ein Mal die Fassaden auf, selbst die, welche unter Ludwig XIV. in schlechtem lateinischen Stil gebaut waren, die verzierten Giebel einer Madonna. Er freute sich über die großen Mauern eines Hospizes oder Klosters, die traurig und heimlich sind, die dem Leben den Rücken kehren und hartnäckige Gebete oder entsagendes Elend schützen; über die toten Straßen, wo nur sein Schritt das Pflaster beunruhigt, wo nur sein Schatten einzudringen scheint, Straßen ohne Fenster, mit wenigen Türen, wo sich die Katze in Ruhe ergeht. Mit Achtung machte er Halt, um das liebe Tier nicht zu beunruhigen, über dessen Begegnung er befriedigt lächeln mußte wie ein Ägypter. Avignon paßt für den, der den Lebenden ausweicht und mit den edlen Toten wandert. Der Stadtwall mit seinen sieben Toren und seinen neununddreißig Türmen bietet eine schöne Folge von Bildern, besonders vom Ufer der Rhône aus.

Nachdem er seine heidnische Feier im alten Flusse verrichtet hatte, folgte Ramman dem Quai; er ging durch den gedrückten Bogen der berühmten Brücke; erkannte die Treppe mit den 128 Stufen wieder, die den Roc des Doms erklimmt und die er vor zehn Jahren zu seinem Vergnügen hinaufzuspringen pflegte8.

Mit Freuden schritt er zwischen dem gelben Wall und dem stark fließenden Strome dahin. Eine Weile blieb er stehen, um jenseits der Barthelasse, die ihre Üppigkeit wie eine Insel der Seligen ausbreitet, den Bergfried Philipps des Schönen, mit dem klaren und gebieterischen Profil, und die dicken Türme des Fort André zu bewundern.

Welch glühende Leidenschaften hatten unter dieser schönen Sonne geflammt, welch zügelloser Ehrgeiz, welch dunkle Intrigen, welch wilde Ausschweifungen! Wieviel in den Himmel verliebte Seelen hatten auf die Welt verzichtet und, mitten zwischen Dunghaufen und Fleischkammern, einen reinen Traum verfolgt.

Ah, wie schön war es, allein zu wandern, in der lieben Begleitung seiner Gedanken!

Am Ausgang des Boulevard Saint Lazare verläßt der Wall den Fluß und wendet sich zur Seite; neben den mit Zinnen versehenen Mauern liegen nur noch staubige Gärten.

Durch das Imbert-Tor trat er wieder in die Stadt und fand zu seiner Freude jene Färbergasse wieder, wo die unsterbliche Sorgue mit ihren klaren frischen sanften Wellen rauscht: sie kommt aus dem Vaucluse und wird ewig das Lied des Dichters wiederholen, der sein glühendes Herz über sie beugte9.

Eine Brustwehr verbirgt sie und alte Maulbeerbäume überdachen sie. Man hört sie nur, wenn sie von den Rädern getroffen wird; an einigen Stellen überschreiten sie kleine Brücken. Die eine von ihnen führt in einen großen Gang, an dessen Ende sich die Kapelle der »Grauen Büßer« öffnet.

Es ist das ein sechseckiges Gebäude, das sich auf der rechten Seite durch ein Schiff verlängert, in dem die geweihte Hostie beständig ausgestellt ist. Viel Gemälde an den Wänden und eine völlige Stille machen diese Kapelle zu einer unvergleichlichen Stätte des Gebets: es steigt dort empor, das fühlt man.

Als er wieder hinausging, grüßte er das Querschiff in dem schönen Stil der Franziskaner, in dem Laura de Noves beigesetzt wurde und das derselbe Fluß bespült, in dem sie sich badete10.

Auf der rue de la Masse, die durch ihre plötzlichen Wendungen auffällt und durch ihre alten Häuser imponiert, erreichte er St. Didier. Er erinnerte sich an eine kleine gotische Kanzel, die seine Kinderaugen entzückte.

Die rue des Fourbisseurs führte ihn nach St. Pierre; er grüßte die hübsche Jungfrau des Portals.

Mittag schlug. In vier schönen und kurzen Stunden hatte er einige von diesen Punkten berührt, die er Ruhestätten der Erinnerung nannte.

Bei einem kleinen Wirt aß er an der Seite von Arbeitern: er zog es vor, sich unter die Handwerker zu mengen, als sich den Bürgern zu nähern.

Dann stieg er hinab, ohne ein Ziel zu haben, zwischen der Kathedrale und dem Museum Calvet zögernd. Der Gedanke, Fräulein von Romanil mit den Werken der Kunst zu vergleichen, entzückte ihn: nachdem sie einen Augenblick durch die religiösen und monumentalen Eindrücke aus seinem Geiste verdrängt war, nahm die »weiße Wölfin« wieder davon Besitz.

Am Donnerstag ist das köstliche Gebäude von Villeneuve für das Publikum geöffnet. Er suchte seine dionysische Fromme, das Studium des Museums auf später verschiebend und sich den Werken, die seiner Besessenheit fremd waren, versagend. Im Saal der Renaissance hielt ihn ein italienisches Basrelief im Geschmack des Laurana lange fest: das Profil einer jungen Patrizierin, feiner als die Simonetta von Pallapolo, im Marmor selbst »Sancta Helena« genannt. Diese reizenden und stolzen Züge entsprachen weder dem roten Blut noch der Katzenart: das war zwar eine Blonde, »candida«, aber nicht die »flava«, mit den goldenen Augen, die vor Stolz funkelten.

Unter den Malereien entzückte ihn eine Skizze von David. Der sterbende Joseph Barra ist ein köstlicher Akt, der den Zauber eines Androgyns hat: das Geschlecht schwankt und verliert sich in eine erstaunliche Darstellung der jugendlichen Anmut. Ramman sah darin etwas vom Körper seiner Beterin: deren Glieder waren runder und ihre Modellierung war von anderer Art.

Im Saal der Portraits von Vaucluse, neben einem schlecht gemalten Petrarca, konnte eine seltsame Gestalt mit sonderbarer Frisur, deren Kleid schwarz und weiß gewürfelt war, die alte Copie eines Portraits der Laura sein, jedoch nicht desjenigen, das Simone Memmi für den Dichter machte. Der Hals ist rund und stark, die Nase zu groß, gescheit und gütig; die Augen springen vor und sind halb geschlossen, als seien sie etwas geschwächt; der Mund ist ganz klein und das Kinn unwahrscheinlich gespitzt: ein lymphatischer Typus, etwas geziert und gezwungen, eine köstliche und hübsche, aber blasse und kindliche Seele enthüllend.

Den Skulpturen, selbst der Kassandra von Pradier, fehlte Stil, um mit dem vornehmen jungen Mädchen verwandt zu sein. Die Portraits, Maria Mancini von Largillière, die Montespan von Mignard erschienen ihm gewöhnlich, weil sie einen weltlichen Ton hatten.

Aus diesem Besuch des Museums zog er den Schluß, daß Fräulein von Romanil eine Gestalt des Märchens und nicht des Romans war, ein Wesen der Fabel und nicht der Geschichte, eher vom Mythos als vom Leben, kurz mehr himmlisch als menschlich.

*

Als er zum Hause Pierrefeu zurückkehrte, sagte ihm der Pförtner, er könne eintreten.

Er bewunderte das Geländer aus Schmiedeeisen und einen ungeheuern Spiegel in geschnitztem Rahmen, der wahrscheinlich die Treppe schmückte, weil er nicht in die Zimmer paßte. Auf dem Flur zog er das breite Band einer Klingel von altmodischem Ton. Eine Dienerin von offenem Wesen, sauber unter ihrer provenzalischen Haube, ließ ihn das wenig geschmückte Vorzimmer und einen Speisesaal mit Anrichten, die ländlich waren, aber aus schillerndem Holze und mit glänzenden Beschlägen, durchschreiten und in einen großen Salon treten, in dem bequeme und abgenutzte Möbel mit alten und schönen Nachbarschaft hielten. An der Wand hingen Familienportraits.

Die Dame, die erschien und mit einladender Gebärde auf einen Sessel wies, war sehr schön: statt der alten Jungfer, die man ihm angezeigt hatte, sah er eine große Dame, die üppig war, ohne plump zu sein. Kaum einige weiße Strähnen leuchteten in den schönen schwarzen Haaren: sie mochte gegen fünfzig sein. Eine matte Hautfarbe, dunkle Augen von friedlichem Ausdruck, die etwas langsame und vornehme Gebärde verwirklichten die alte Idee von Courtoisie. Mit Erstaunen erinnerte Ramman sich an die Worte der Jausserande de Claustral: »Adelaïde ist eine alte Jungfer, wie ich jetzt eine alte Frau bin.« Fräulein von Pierrefeu erschien dem jungen Manne liebenswürdig, das heißt, würdig der Liebe. Seine Beschäftigung mit der Plastik, durch die Begegnung des Morgens belebt, ließ ihn bald ahnen, daß der Körper dieser Frommen der Umarmungen würdig war, selbst für einen Künstler.

– Mein Herr, sagte sie mit dieser Stimme des Südens, die etwas singt, die Empfehlung der Jausserande de Claustral ist allmächtig. Wie kann ich Ihnen dienen?

– Ich bringe die Grüße und Erinnerungen Ihrer Jugendfreundin. Sie wissen nicht, daß sie seit mehreren Jahren Witwe ist?

Er gab die Einzelheiten, die er wußte, rühmte die in Lyon heimisch gewordene Provenzalin und fand kein Ende.

Fräulein von Pierrefeu erinnerte ihn an den Zweck seines Besuches.

– Lassen Sie mich erst ausdrücken, welches Vertrauen Sie mir einflößen! Sie sind sehr gut: das springt durch die Augen zum Herzen. Statt einer nur höflichen Dame finde ich eines dieser seltenen Wesen, die den Sinn für das Gute haben und es mit Freuden üben: ich wage einen Gewinn daraus zu ziehen.

– Dieses schnelle Urteil paßt zu Ihrer Jugend! Sie sagen mir sofort ins Gesicht, daß ich ein seltenes Wesen zu sein scheine?

– Gewisse Gefühle holen ihr Verdienst aus der Unmittelbarkeit; wenn ich Sie nicht um etwas zu bitten hätte, würde ich Ihnen klar und deutlich meine Zuneigung erklären.

Sie lächelte.

– Das ist geschehen: ich stoße diese Erklärung nicht zurück! Ohne länger zu zögern, sagen Sie, was Sie herführt.

– In Marseille geboren, wo mein Vater Arzt war, habe ich meine Studien im Collège Saint Joseph11 von Avignon begonnen. Kaum hatte sich mein Vater hier niedergelassen, als er starb. Materielle Gründe zwangen meine Mutter, sich nach Dünkirchen zurückzuziehen. Ein Sohn der Rhône, habe ich unter dem Himmel des Nordens geseufzt. Um ein Leben zu beginnen, verfügte ich nur über eine gute Erziehung und das Talent des Schreibens. Ich entschloß mich, nach Avignon zu gehen, für sechs Monate, um dort den Roman zu schreiben, den ich in Paris drucken will. Ich besitze eine schöne Note von tausend Franken; ich bin mäßig, anständig, fleißig; und ich bitte Sie mir zu helfen, daß ich ein Zimmer finde, ruhig, nicht zu armselig und nicht zu teuer, wo ich fünfzehn Stunden täglich arbeiten kann. Heute Morgen angekommen, will ich mich so bald wie möglich einrichten …

Sie hatte ihn mit sichtbarem Interesse angehört.

– Sie kommen von Dünkirchen nach Avignon, um Ihren ersten Roman zu schreiben: das ist seltsam!

– Haben denn die, welche nicht seltsam sind, überhaupt etwas zu sagen?

– Waren Sie nicht heute Morgen um sieben Uhr in der Messe von St. Agricola? Ich glaube einen jungen Mann in schwarz dort bemerkt zu haben.

– Es ist logisch, daß man sich die Vorsehung gewinnt, wenn man in eine Stadt kommt.

– Das ist ein gutes Zeichen. Sie sind also religiös. Das macht es leichter, Sie zu logieren! Wenn Sie das Café besuchten, wenn Sie Besuche empfingen, nicht etwa von Dirnen, sondern von Freunden, könnte ich Sie nicht unterbringen … wo ich möchte.

– Ich kenne niemanden in Avignon und ich bin entschlossen, als Einsiedler zu leben; ich liebe die Einsamkeit als ein Wesen, das etwas stolz, empfindlich und arm ist.

Fräulein von Pierrefeu verbarg ihre Verlegenheit nicht; er fühlte, daß sie sogar etwas nervös wurde, und darüber erstaunte er.

– Ich suche, sagte sie, was am besten für Sie passen würde …

– Stille, Sonne, ein ziemlich großer Tisch, ein Stuhl und das Bett eines Mönches.

Die Verwirrung, die er bemerkte, verstärkte sich.

– Wie groß auch mein Wunsch ist, mein Papier auszubreiten und mir zu sagen: »Da ist das Sprungbrett, das mich aus meiner Niedrigkeit und Armut erheben wird«, ich werde heute Abend im Hotel schlafen und morgen werde ich sehen, was Sie mir angeben.

– Mein lieber Herr, Sie haben freundlich damit begonnen, daß Sie mir Ihre Zuneigung erklärten: kann ich aufrichtig sein und Ihnen eine Erklärung machen, frei von Höflichkeit, eine Erklärung des Mißtrauens? Sind Sie wirklich ein junger Mann, der solide ist, für sich lebt und nur arbeiten will … den ich in einem Hause unterbringen könnte, wie es das meinige ist? Sie haben keinen schlechten Eindruck auf mich gemacht. Im Gegenteil! Ihr Alter allein beunruhigt mich. Wenn ich nicht mißtrauisch wäre, wüßte ich, wo Sie wohnen könnten …

– Wie soll ich Sie von meiner Sittsamkeit überzeugen?

– Der Brief von Jausserande, Ihr Besuch der Messe, Ihre Haltung sprechen für Sie, und mein Zögern entwertet das, was ich tun möchte. Ah, Sie bringen mich in Verlegenheit!

Sie läutete.

Er sprach ihr sein Bedauern aus. Er habe wirklich nicht gedacht, ihr Verdruß zu bereiten.

– Oh nein, Sie haben keine Schuld!

Die Magd erschien.

– Virginia, du erinnerst dich an meine gute Freundin Fräulein von Claustral …

– Fräulein Jausserande? Ja, gewiß!

– Sie schickt mir Herrn Ramman; er will einige Monate in Avignon arbeiten; es handelt sich darum, ihn zu logieren.

Es folgte ein Gespräch zwischen dem adeligen Fräulein und der Dienerin: Namen von Personen und Straßen wurden genannt, die für den etwas ängstlich gewordenen jungen Mann kein Interesse hatten. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Traurigkeit an. Da seine Augen sich in düstere Überlegung verloren, vergaß er seinen Eindruck zu verbergen. Fräulein von Pierrefeu sah es und wurde gerührt.

Er war des Interesses würdig, dieser junge Schriftsteller, der sich »etwas stolz, empfindlich und arm« genannt hatte! Die fromme Dame fühlte sich zu ihm hingezogen; und gerade deshalb zögerte sie.

Das Gespräch mit Virginia wollte nicht enden. Ohne die Ursache von so viel Umständen zu vermuten, ahnte er, weil das Fräulein nervös war, irgend ein Hindernis, das nicht ausgesprochen wurde. Sie fürchtete, einen Unbekannten unter ihren Schutz zu nehmen, in ein allzu konservatives Haus einzuführen.

Er stand auf.

– Mein Fräulein, ich mache Ihnen zu viel Umstände; ich werde selbst auf die Suche gehen; bis heute Abend werde ich Avignon durchstreift haben.

Dieser Haltung gegenüber zögerte Fräulein von Pierrefeu nicht mehr.

– Schauen Sie sich erst etwas an!

Sie stieg in die zweite Etage. Er folgte ihr, ohne zu begreifen, Kummer im Herzen. Sie erklärte ihm:

– Sie werden den Speicher eines Kunsthändlers sehen! Die Räume sind dieselben wie meine, nur ist die Decke etwas niedriger; ich habe niemals vermietet, weil ich meine Ruhe liebe; die Tapete war alt und zerrissen, ich habe sie durch Kalk ersetzt. Das unbeschreibliche Durcheinander besteht aus Pfändern, die hochgeborene Leute mir anvertrauten als Sicherheit für Darlehen, die sie dann nicht zurückzahlten, oder aus Einkäufen, die ich machte, um bedrängten Familien zu helfen. Ich gebe nur etwas auf Erinnerungen, mögen sie auch häßlich sein: Sie haben sicher bemerkt, welch arge Mischung mein Salon aufweist. Hier giebt es genug, mit dem ich ihn verbessern könnte, wenn ich wollte … ich habe nicht den Wunsch. Da ist das Vorzimmer, dort der Speisesaal, der Salon, genau wie unten …

Ramman folgte ihr, erstaunte Blicke auf das wirre Durcheinander von Dingen richtend, die er hier nicht vermutet hatte: schlechte Gemälde in prächtigen Rahmen, stilvolle Sessel und Stühle, Waffen, Nippsachen: nichts ersten Ranges, aber echte Antiquitäten. Beim ersten Eindruck wurde er gepackt, weil sein künstlerischer Geschmack solch alten Hausrat stets begehrt hatte, ohne ihn erwerben zu können. Warum zeigte sie ihm diesen Speicher?

Virginia war nachgekommen.

– Dieser Raum würde ein Studio sein, sagte die Dame, auf den Salon zeigend.

– Oh, mein Fräulein, das Vorzimmer würde mir genügen.

– Was, Sie würden damit zufrieden sein …?

– Wenn es Gott gefiele, daß ich Ihnen Vertrauen einflöße, würde ich sagen: schließen Sie das Übrige und vermieten Sie mir das Vorzimmer. Mir würde wohl sein, in diesem Frieden, bei diesem Licht. Diese unbescheidene Bitte sollte ich nicht wagen. Eine geheime Stimme sagt mir, daß dieses Haus gesegnet ist. Sie benutzen diese Etage nicht: überlassen Sie mir das Vorzimmer, ich werde mir Bett, Tisch und Stuhl verschaffen, und ich werde glücklich, sehr glücklich sein.

Sein Blick traf den der Dienerin: das alte Gesicht lächelte.

– Virginia, sagte er, ich werde Ihnen keine Umstände machen.

Er empfand eine solche Lust, dort zu wohnen! Er wäre verzweifelt gewesen, wenn er jetzt hätte verzichten müssen.

– Herr Ramman, holen Sie Ihr Gepäck, sagte die Dame einfach.

Er traute seinen Ohren nicht: er empfand eine so lebhafte Dankbarkeit, daß er zuerst nicht sprechen konnte. Dann sagte er mit langsamer Stimme:

– Sie tragen als Wappen einen Turm, aus dem drei goldene Flammen schießen, mit der Losung »In petra per ignes«; Ihre Ahnfrau Rostange hat vor acht Jahrhunderten den »Liebeshöfen« vorgesessen: erlauben Sie dem bescheidenen Nachkommen der Troubadoure, die edle Hand zu küssen, die ihn aufnimmt.

Fräulein von Pierrefeu hatte eine sehr schöne Hand: er drückte mit Inbrunst seine Lippen darauf. Die Hand zitterte: seine Sache war gewonnen, und mehr, als er gehofft hatte.

*

Eine Stunde später brachte der Pförtner den Koffer und die Bücherpakete, während Virginia ein Bett in den Salon stellte, der mit seinen geweißten Wänden, seinem Getäfel Louis XV. und seinen Pfeilerspiegeln seltsam aussah.

Ein großer flacher Schreibtisch, dessen Kupferbeschläge verschwunden, dessen Leder beschädigt war, der aber den Stil Pompadour zeigte, nahm die Mitte des weiten Raumes ein, nebst einem Rohrstuhl aus derselben Zeit. Die ausgepackten Bücher zierten drei Seiten des Tisches; rechts lag der Papierstoß, das Material für sein Werk, mit Tintenfaß und Federn; links stand das Portrait seiner Mutter; in der Mitte eine kleine Madonna aus Holz, kunstlos, aber rührend: der zukünftige Schriftsteller sah seine Werkstätte mit der Freude eines Kindes.

– Wo werden Sie sich waschen? fragte Virginia.

– In der Küche, da habe ich das Wasser unter der Hand.

Dieser große Raum hatte zwei Fenster, die auf den Hof blickten; er half der Dienerin ihn aufzuräumen.

– Wie glücklich werde ich hier sein, Virginia!

Er wußte, daß Vertraulichkeit das Herz einer Provenzalin gewinnt. Diese persönliche Rasse nimmt die Rangordnung eher als eine andere hin, wenn der Obere sich die Mühe macht, sie zu verführen; sie muß von jemandem sagen können, daß er nicht stolz ist, um ihm gut zu dienen.

– Sie haben nicht an das Nötigste gedacht, Herr Ramman.

– Das Nötigste, Virginia, für einen Arbeiter ist die Werkstätte.

– Und das Essen?

Die Magd amüsierte sich über diese Sorglosigkeit und ging weiter:

– Wenn das Fräulein es erlaubt, könnte ich …

– Nein danke, Virginia, das Fräulein ist schon so gütig gewesen, ich werde in irgend ein Restaurant gehen …

Virginia schüttelte den Kopf.

– Sie haben es nötig, daß man sich mit Ihnen beschäftigt, denn Sie sind wie ein Kind.

– Es ist so schön, verwöhnt zu werden, Virginia: das ist das einzige Gute des Lebens.

Sofort setzte er sich an den Tisch, stützte sich auf, streckte sich aus, fuhr mit der Hand über das Papier, über die Bücher, wie ein Organist, der die Register versucht. Dann legte er das erste Heft des Papierstoßes vor sich hin und schrieb diesen Titel »Mandragora«.

Er war so vertieft, daß er Fräulein von Pierrefeu nicht kommen hörte, bis sie ihn begrüßte:

– Schon bei der Arbeit!

Er stand auf, mit dem Eifer der Höflichkeit, die seine Gewohnheit war und welche die Dankbarkeit noch steigerte.

– Haben Sie in Ihrem an Wohltaten reichen Leben eine lebhaftere Freude bereitet, als ich empfange?

– Kommen Sie zum Essen! sagte sie so einfach, daß er es an Verständnis hätte fehlen lassen, wenn er sich gewehrt.

Bei Tisch blickte er sie mit einer Zärtlichkeit an, daß sie die Augen senkte.

– Mein Fräulein, wie soll ich Ihnen meine Dankbarkeit für einen solchen Empfang ausdrücken? Er löst tausend materielle Schwierigkeiten, vor allem aber belebt er mich. Wenn ich jetzt kein schönes Buch schreibe, bin ich ein Dummkopf, unwürdig der Gunst, die der Himmel mir durch Ihre gütigen Hände gewährt … Ihre Hände sind wunderbar!

Er betrachtete sie offen.

– Sie verschwenden Ihren Dank, essen Sie lieber, sagte sie.

– Ich bin sehr hungrig, aber dem Herzen wird so warm neben Ihnen, daß man nur noch Gefühl ist.

Dieser jugendliche Eifer, von wirklicher Anmut in den Manieren begleitet, drang seiner Wirtin ins Herz, bestärkte sie in ihrem Wohlwollen. Soviel Dankbarkeit rührte sie zu Tränen.

Da schnitt Virginia die Frage an, wo Herr Ramman künftig speisen solle. Die Dienerin wollte gern mehr arbeiten; an trüben Tagen würde sie sich nicht darüber beklagen.

Ramman war mit seinen eigenen Gefühlen zu sehr beschäftigt, an diesem an Erregungen so reichen Tage, um den Empfindungen eines Andern zu folgen. Er hatte diese Dame und ihre Dienerin gewonnen. Jede in ihrer Art hatte Freude an seiner Jugend und an dem Gedanken, ihn zu pflegen, ihn zu verwöhnen.

Man einigte sich dahin, daß er sich morgens selbst sein kleines Frühstück machte; mittags und abends um sieben Uhr würde Virginia ihm seine Mahlzeit auf einem Tablett hinauftragen.

Im Salon, wo er einen im Hause gemachten Johannisbeerlikör ablehnte, zog er aus seiner Brieftasche die Note von tausend Franken und legte sie Fräulein von Pierrefeu hin.

– Da ist mein Reisegeld: ich werde gehen, wenn es aufgezehrt ist.

– Sie wollen im voraus bezahlen, welche Idee!

– Mein Fräulein, ich kann höchstens Virginia bezahlen: bitte, wollen Sie ihr geben, was ihr zukommt. Für die Hauptsache, fürchte ich, bin ich nicht zahlungsfähig.

– Sie müssen etwas Taschengeld haben!

– Ich habe noch etwa sechzig Franken.

Fräulein von Pierrefeu weigerte sich nicht mehr, entschlossen, ihm bei der Abreise seine volle Barschaft zurückzugeben.

Mit dem Überschwingen seiner Jugend und der Erregung über das zärtliche Interesse, das er einflößte, sprach Ramman aufrichtig von seiner Kindheit und maßvoll von seinen Hoffnungen.

Sie fand ihn bezaubernd und hörte ihm zu. Um zehn Uhr bemerkte sie, daß sie sich nicht erinnern konnte, einen so angenehmen Abend erlebt zu haben.

– Erlauben Sie mir, etwas Ordnung in der zweiten Etage zu machen? Da stehen Bilder auf der Erde, die an die Wand gehören.

– Mein lieber Herr Ramman, ich überlasse Ihnen alle Räume: machen Sie da Ordnung oder Unordnung. Bis heute Abend war es nur ein Speicher, jetzt sind Sie der Herr: lassen Sie Ihre Phantasie frei walten.

Er freute sich wie ein Kind.

– Oh, das wird wunderschön werden!

Er nahm ihre Hand, umschloß sie ernst mit seinen Händen und sprach mit überraschender Würde in der Stimme:

– Seien Sie gesegnet für die tiefe und dauerhafte Freude, die Sie mir gewähren, für den Beistand, den Sie mir leisten, für die köstliche Barmherzigkeit Ihrer Gastfreundschaft: ich werde meinem Gebet morgens und abends ein »Ave« für meine Wohltäterin hinzufügen.

Diese Worte drangen unaufhaltsam in das milde Herz der frommen Dame: die wirren Regungen ihres Mitgefühls wurden geweiht. Sie gestand sich, daß sie diesen jungen Mann, den sie vor acht Stunden noch nicht kannte, adoptiere: er nahm schon mehr Platz in ihrem Leben als in ihrem Hause ein.

Ramman konnte sich nicht entschließen, schlafen zu gehen. Eine Öllampe in der Hand, schritt er durch die Zimmer, jedes Geräusch vermeidend: er vermochte nicht bis morgen zu warten, um all die schönen Dinge zu entdecken, die seine Spielsachen geworden waren.

Schließlich ermüdet, warf er sich am Fuße seines Bettes auf die Knie und richtete eine schöne Danksagung an die Mutter der Gnade und die Schutzengel.

Als er sich niedergelegt hatte, löschte er seine Lampe noch nicht: der Anblick seines Arbeitstisches entzückte ihn. Wie ein Vorwurf zeichnete sich die Gestalt des Fräuleins von Romanil ab, die er vergessen hatte, seit er in das Haus Pierrefeu eingetreten; und er schlief mit etwas Furcht ein: er war wirklich »zu glücklich«!

1. Strindberg löste ihr Rätsel in seinen »Schwedischen Miniaturen«.

2. Zwei franz. Adelsgeschlechter.

3. Peladan, Der Androgyn (deutsch erschienen).

4. Kátharer (griech. katharós, rein), Sekte vom 10. bis 15. Jhrh., welche die reine Lehre Jesu wiederherstellen wollte. Aus Katharer wurde das deutsche Wort »Ketzer«.

5. König von Jerusalem, starb 1237 als Kaiser von Konstantinopel.

6. Hesiod, Werke und Tage 737: Nie durchwandle des ewigen Stroms schönfließende Wasser, eh' du mit Andacht gebetet, das Aug' in die Fluten gesenkt hast und dir die Hände gewaschen im lieblichen hellen Gewässer.

7. Harden, Zukunft, 8. Juli 22, offenbart das wahre Wesen des Mannes. Gesamtausgabe jetzt bei Georg Müller.

8. Peladan, Androgyn (deutsch erschienen).

9. Petrarca zog sich von Avignon in das Seitental der Rhône zurück, in das »geschlossene Tal«, Vaucluse, vallis clausa, das von der Sorgue durchströmt wird.

10. Petrarca, Kanzone: Frische, helle, süße Fluten, wo sie ihre schönen Glieder badet', die allein mir Weib geschienen!

11. Peladan, Androgyn (deutsch erschienen).

Die Jungfrauen von Avignon

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