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99,9 % - Menschengöttin, Menschenskind!

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Anni alias „Sieben“, eine der Wiener 99,9-Prozent der 2020er Jahre, führte jahrzehntelang Tagebuch. In diesem anonymisierte sie ihre Freundin Gina mit der Bezeichnung „Tara“. Den Namen der hinduistischen und tibetisch-buddhistischen Göttin hatte sie nach der ersten, spontan-euphorischen Wahl bewusst und mit Überzeugung weiter benutzt, ohne dass es Gina jemals geahnt oder erfahren hätte. Hätte diese von der großen Wertschätzung gewusst, sie würde die Ehre weit von sich gewiesen haben, göttliche Eigenschaften verpasst zu bekommen, die doch sicherlich der Göttin viel besser anstehen - jedenfalls Ginas bescheidener Meinung nach. Das hätte sie behauptet, ohne Taras Eigenschaften überhaupt zu kennen. Anni aber kannte ihre Freundin lange und gut genug, um zu wissen, wie sie „tickt“. Deswegen behauptet Anni stur und steif, Gina besäße die Paramitas Sanftmut und Geduld, Güte, Großzügigkeit, Fleiß und Rechtschaffenheit sowie Weisheit und noch einige mehr in lupenreiner Form und im Übermaß. Und wie sonst sollte man einen solchen Menschen nennen, wenn nicht Tara!? Diese Person kann doch nur eine Menschengöttin sein, Menschenskind!

Anders als Anni, die (aus guten Gründen, die sie noch erörtern würde) nie Unterschiede zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen machte, hätte Gina behauptet, ihre Eigenschaften und ihr Aussehen wären die eines „ganz normalen“ menschlichen Wesens. Wie sieht denn eigentlich eine „Normalo“ aus? Sieht sie etwa anders aus als ein Über-drüber-Typ, ein Gott, eine Göttin? Anni glaubte das nie. Vielmehr kam sie zu dem Schluss, dass sich jemand mit dieser Selbstbeschreibung, ein Normalo zu sein, bloß unbewusst klein mache. Dass sich jemand selbst im Verhältnis zu Gottheiten erniedrigt, wird zwar als Bescheidenheit gelobt, doch es erklärt nicht das Warum und Woher dieses Verhaltens. Vielleicht ist Bescheidenheit das falsche Wort? Warum meinte Gina, zwischen ihr und einer Göttin oder allgemeiner zwischen einem „Normalo“ und den Mächten wäre ein haushoher Unterschied? Warum geht sie automatisch davon aus, die Reichen und Mächtigen regierten die Welt? Woher kommen denn diese anscheinend allgemein akzeptierten Differenzierungen, die Anni so sehr gegen den Strich gehen?

Was ist denn eigentlich ein „ganz normaler“ Mensch äußerlich und innerlich? Wie würde jemand Ginas Aussehen beschreiben? Mit Sicherheit fiele es ihm leicht. Gina ist hellhäutig, schwarzhaarig, blauäugig, mittelgroß, mittelschlank, eine Frau mit üppiger Oberweite, weichen Lippen, einladenden Hüften und einem feinen Bäuchlein. Anni würde ergänzen, dass Gina auf trainierten Beinen einer begeisterten Joggerin fest in der Welt stehe, ihre Armmuskeln gut entwickelt seien – trainiert durch die viele körperliche Arbeit, die sie seit mehr als zwei Jahrzehnten leiste – sei es das Tragen ihres Kindes, das Einsortieren von Waren in die Regale des Einkaufszentrums oder das Heben von PatientInnen. Befriedigende Gartenarbeit stählte ihren gesamten Körper. Also ja: In ihrem Aussehen, in den Tätigkeiten und Fähigkeiten unterscheidet sich Gina alias Tara wirklich nicht besonders von anderen „normalen“ Frauen, die Kinder großziehen und/oder einer bezahlten Beschäftigung nachgehen und vielleicht noch - so wie Gina - mit Gartenarbeit beschäftigt sind. Mag sein, dass Gina in diesem oberflächlichen Sinne ein „ganz normaler“ Mensch ist. Für ihre FreundInnen ist sie aber nicht gewöhnlich. Wären sie ihr sonst ein Leben lang treu verbunden? Und blieben Ginas Gefährten und Liebhaber sonst so lange an ihrer Seite? Warum das so ist, kann allerdings nicht mit einem Wort beschrieben werden.

Ginas Vorzüge treffend zu beschreiben, ist seltsam schwierig. Mit derselben Schwierigkeit schlägt sich jemand herum, der begründen möchte, warum er sich in einen bestimmten Menschen verliebte. Es fehlen demjenigen die richtigen Worte für das Warum, und dem kritischen Zuhörer fehlen die Worte ob der lächerlichen Argumentation. Das liegt daran, dass es fast unmöglich ist, alle Attribute der zu beschreibenden Person stimmig zu verknüpfen. Obwohl sich die Menschen in grundlegenden Verhaltensweisen so sehr ähneln, bleibt zugleich das Individuelle in seiner Wirkung auf das Gesamte kaum fassbar. FreundInnen von Gina würden allerdings übereinstimmend deren Fröhlichkeit, Güte und Stärke, Großzügigkeit und Wahrhaftigkeit lobend erwähnen. Gewissenhaft und fleißig ist sie sowieso. Negative Eigenschaften – sollte es sie geben - interessieren die FreundInnen nicht besonders. Was Fremde vielleicht bemängeln, akzeptieren Freunde ganz selbstverständlich, etwa deswegen, weil es Ihnen lieber ist, von Gina alles Unangenehme undiplomatisch direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, als Gefahr zu laufen, „auf einer Schleimspur auszurutschen“, wie Anni einmal meinte.

Tatsächlich sind in Gina Widersprüche friedlich, ja harmonisch vereint. Seit jeher erledigt sie ohne viel Murren das, was gerade notwendig ist. Sie ist meistens vernünftig („wenns um etwas geht“), häufig ein wenig unvernünftig („wenns lockerer sein darf“). Lebenslustig umarmt sie die positiven Chancen und mitfühlend ihre Nächsten – als ihre Nächsten bezeichnet Gina allerdings die Zwei- und auch die Vierbeiner, und das unterscheidet sie von vielen „gewöhnlichen“ Menschen. Die Fliegen und Gelsen aber klatscht Gina erbarmungslos tot. Dabei ist sie so reaktionsschnell, dass sie so manche Gelse mit der Hand im Flug fängt. Dafür heimste sie schon oft die Bewunderung der weniger erfolgreichen JägerInnen von Plagegeistern ein. Gina fühlte sich deswegen dennoch nie als Übermensch. Wäre sie einer, könnte sie Schicksalsschläge genauso gut abwehren wie Gelsen. Doch leider treffen sie solche Schläge genauso hart wie die anderen Pechvögel. Apropos Schläge - eines ist gänzlich ausgeschlossen: auf die zweite Wange ließe sich Gina niemals schlagen. Es wäre auch obsolet. Sobald Gina bei sich selbst einen groben Fehler erkennt, „rudert“ sie zurück, entschuldigt sich „ohne scheinheilig herum zu druckseln“, denn wer das mache, sei für sie ein Feigling und bei ihr „unten durch“. Das gab sie einmal unumwunden zu. Anni versteht diese Haltung vollkommen: Wer mit sich selbst ehrlich ist, verlangt dasselbe von anderen. Gina ist eine überaus starke Frau, ein charakterlich gefestigte Persönlichkeit. Stark ist dieser Mensch aber auch im wörtlichen Sinn. Sie packt zu, wenn „Not am Mann“ ist. Und sie steht „ihren Mann“. Einmal half sie einem Freund, vom 2. Stock einen Vollholz-Kasten zum Transporter zu schleppen. Stufe um Stufe mobilisierte sie all ihre Kraft und schaffte etwas, woran der dritte im Bunde – ein junger Mann namens Markus – kläglich gescheitert war. Dabei hatte Gina damals noch keine anderen Lasten geschleppt und auch nicht Gartenarbeit verrichtet, weil ihre Eltern diese Dinge für sie erledigten. Gewöhnt war sie diese Arbeit wirklich nicht. Die Tragegurte schnitten ihr in das zarte Fleisch der Schulter – einmal rechts, dann links, doch sie biss die Zähne zusammen, stöhnte auf oder brüllte höchstens bei jedem Befehl, den Kasten anzuheben, kurz auf wie eine Löwin, die zum Kampf ansetzt. Ähnlich machte es ihr guter Freund, nur klang sein Aufstöhnen einige Oktaven tiefer. Solch eine Kraft wohnt nur in Menschen mit eisenhartem Willen. Nur sie sind in der Lage, größte Stärke zu mobilisieren. Gina würde sagen „Wo kein Wille, da kein Weg.“ Wer zaudert, ist ihr suspekt, und sie würde ihn ermutigen, sich zu trauen und sich etwas zuzutrauen. „Probiers einfach!“, sagte sie vielleicht, oder aufmunternd „No!“ Doch perfekt müsse niemand sein, schränkte an dieser Stelle Gina breit grinsend ein. Sie selbst ginge „nicht um die Burg“ mit ihren Schwächen hausieren. Da müsste sie doch jede kleine Eitelkeit fahren lassen, die doch sonst niemandem weh tue und ihr selbst Spaß mache. „Zelbstzerfleischung“ sei nicht ihr Ding, sagte sie einmal einem Seminarleiter in einem Selbsterfahrungskurs, der ein wenig die Stimmung auflockern wollte und die TeilnehmerInnen aufforderte, von ihren Schwächen zu erzählen. Nein, so weit würde Gina nicht gehen wollen. Man dürfe sie nicht missverstehen. Letztendlich gab sie – gutmütig wie sie ist – doch noch ihre häufigen Frisörin-Termine und die Liebe zu den Erdbeer-Bomben als höchstpersönliche Schwäche preis - das war es auch schon. Wozu hätte sie ausposaunen sollen, dass sie gerne im Sommer nackt hinter dem Haus auf der Liege in der Sonne lag, dass sie ihre Beine ungern rasierte und Liebhaber bevorzugte, die das mochten. Eigentlich fühlt sich Gina von Lastern beladen, aber die würden schließlich keinem weh tun und daher „Schwamm drüber“. Aber um etwas wieder gutzumachen, dazu wäre sie sich nicht zu gut. All das ergibt eine sympathische Mischung, es ist die Marke „Blend Gina“, die sehr geliebt wird von Familienmitgliedern, sehr beliebt bei FreundInnen ist und sehr begehrenswert für potentielle Partner.

Gina ist also eindeutig nicht aus Prinzip „tierisch ernst“ - das bestätigen ihre Familienangehörigen, FreundInnen, NachbarInnen und ArbeitskollegInnen augenzwinkernd. Doch es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich „nach der Decke zu strecken“, was eine gewisse düstere Ernsthaftigkeit von ihr einfordert, die in schwachen Momenten den Panzer des Frohsinns durchlöchert wie einen Schweizer Käse. „Echte Depression“ sollte daraus nicht werden, hoffte Gina vornehmlich in den letzten beiden Jahrzehnten mehr als einmal. Manchmal legte sich dennoch dieser dunkle Schleier der Schwermut bleiern auf ihre Seele. Umgehend zwang sie aber ihre Gedanken wieder ins Licht, weil „Trübsal blasen“ ja doch nichts brächte (wie sie es Anni gegenüber erklärte und dabei trotzig mit der Faust auf den Tisch hieb, dass die Weingläser klirrten). Stattdessen befahl sich Gina in solchen Momenten selbst: „Mundwinkel nach oben!“ Und schon sprudelte tief aus den Eingeweiden ein glucksendes Lachen empor, das die ZuhörerInnen stets von neuem für Gina einnahm. Anni beobachtete einmal während einer U-Bahn-Fahrt, wie Ginas Strahlen die anderen Fahrgäste fröhlich stimmte, und ihr umgehend – wenn auch verunsichert - vollkommen Fremde zulächelten.

Anni weiß, warum Gina über sich selbst lachen kann. Die „Mundwinkel nach oben“ sind nur ein Teil der Praxis. Dieses Menschenkind verinnerlichte vielmehr den Gedanken, dass sich niemand allzu wichtig nehmen sollte. Das Wissen um die eigene relative Bedeutung für die Menschheit und für diese Welt half Gina stets von Neuem, ihre Tiefs zu überwinden. Sie hätte die Weisheit der Sandkorn-Mensch-Parallele (die nicht von ihr stammt, aber sie wusste nicht zu sagen, von wem), die ihr aber so sehr half, das Leben leicht zu nehmen, gerne allen vermittelt. Ihre Angehörigen, FreundInnen und Bekannten profitierten längst davon. „Mundwinkel nach oben“ ist auch deren Devise geworden. Allerdings übersahen manche in diesem Zusammenhang die Stelle, wo es um die Bedeutung des Sandkorns ging und beschränkten sich auf den Teil mit dem Menschen, der nur einer von vielen sein sollte. Sie hatten irgendwann den Irrglauben inhaliert, der Mensch wäre die angebliche Krone der Schöpfung. Gina aber fühlt sich als ein Sandkorn. Man könnte überspitzt formulieren, ihre Weisheit beziehe sie aus dem Wissen um dieses Sein. Für Gina heißt es, sich dessen bewusst zu sein, nur ein Wesen unter vielen zu sein. Gerade wegen der Nicht-Beherzigung dieser Weisheit durch die meisten Menschen erwuchs der Welt seit jeher Ungemach, meinte sie einmal. Anni schränkte begütigend ein wenig den Radius des Kreises der Nicht-Weisen ein: Aus der Richtung der sich selbst ungeheuer wichtig nehmenden Menschen (der Reichen, der Mächtigen, der sogenannten Eliten) trafen etliche schwerwiegende Schwierigkeiten die Welt besonders hart. Diese Leute negierten beispielsweise den äußerst qualvollen und tödlich harten „Alltag“ der Tiere in der Massen-Nutztierzucht oder die zunehmende Verarmung der arbeitenden Bevölkerung, die Verschmutzung der Umgebung von Ölquellen, Fabriken etc., um sich an allem und jedem zu bereichern. Anni suchte – anders als Gina – nach den „wahren“ Schuldigen für so manche Misere. Sie behauptete, diese Leute würden sich im Hintergrund halten und PolitikerInnen vorschieben, um unerkannt abkassieren zu können. Sie argumentierte, dass KonsumentInnen viel Fleisch nur deswegen kauften, weil billiges Fleisch angeboten wurde. Um immer billigeres anbieten zu können, züchteten die Profiteure unter Qual-Bedingungen etc. Das war nur ein Beispiel, das Anni gerne anführte, um die Leute zu Mitgefühl für andere Lebewesen zu gewinnen. Ein großer Teil der Gesellschaft benimmt sich als Neidgesellschaft. In dieser würde Annis Strategie sicherlich besser wirken, als wenn man nur um Mitleid mit den Gequälten betteln würde. Ja, sie betonte es so oft wie möglich, der Konsum von billigem Fleisch mache die Reichen noch reicher. Die Menschen aber mache es krank. Dazu gab es sogar offizielle Studien, die das belegten. Anni wünschte nicht, immer nur sinnlos zu lamentieren. So würde sich nichts an den Missständen ändern. Man musste stichhaltige Argumente anführen, wollte man viele Menschen von etwas überzeugen. Man müsste sich der Mittel bedienen, die man jeweils greifbar hätte.

Tatsächlich erfordert die Bewältigung des Alltags pragmatisches Vorgehen von Anni, Gina und ihresgleichen, sozusagen ein opportunes Verhalten von jenen, die unter prekären Verhältnissen leiden. Das mag ein Grund für den Wunsch vieler Menschen sein, Reichtum zu erlangen. Sie glauben manchmal – unvernünftig wie sie nun einmal sind - viel Geld würde ihnen das Überleben ermöglichen, den Alltag erleichtern,und Glück in ihr Leben bringen. Das stimmt aus Ginas Sicht eindeutig so nicht. Zum Überleben benötigt man erstens wenig, den Alltag erleichtern kann einem zweitens die Hilfsbereitschaft anderer Menschen und drittens ist das Glück „ sowieso ein Vogerl“. Viele Arme und Reiche aber sind dermaßen auf den Reichtum fixiert, dass sie ein Leben in Unzufriedenheit führen – das findet Gina wirklich sehr unvernünftig. Diese Leute werden ihrer Meinung nach nie das Glück finden. Sie suchen die falschen Zutaten, und sie suchen am falschen Ort.

Ein vernünftiger Mensch trägt die Bereitschaft in sich selbst, sich an vielen Dingen erfreuen zu wollen, an großen und an kleinen. Oder er hat nichts. Manche Mitmenschen denken auch, es gebe keine halbe Vernunft, selbst sind sie immerzu „tierisch ernst“, und sie verlangen von anderen Ernsthaftigkeit, um dem Ernst des Lebens angemessen zu begegnen. Doch Gina ist ein Beleg dafür, dass ein Mensch wichtige Dinge von den unwichtigen zu unterscheiden weiß. Diese kluge Frau wandelt auf Senecas philosophischer Ebene, ohne von dessen Erkenntnissen je gelesen zu haben. Er, geboren im Jahr 4 v. Chr. und selbst einer der Mächtigen seiner Zeit, schrieb über das falsche und das gute Leben in dem Text „De brevitate vitae“ (Von der Kürze des Lebens), um sich selbst zu ermahnen, nicht den Allüren der Macht- und Geldgierigen zu erliegen und darüber das zu übersehen, was wirklich wichtig im Leben wäre. Man hätte nicht auf Senecas Weisheit warten müssen, hätte man schon damals eine Frau wie Gina nach dem wahren Glück befragt. Weil aber gerade das in jenen Zeiten undenkbar war, brachte sich die Menschheit um die Weisheit der einen Hälfte der Menschheit. Mehr noch, da war es schon zu spät für die klugen Überlegungen der vielen Ginas. Die Menschheit hatte sich schon an die Dummheit gewöhnt, die da heißt, man müsse zu seinem Glück Macht und Reichtum nachjagen und dabei gezwungenermaßen andere knechten, übervorteilen, unterdrücken oder töten. Manche sprechen dabei von der Macht des Stärkeren. Wie primitiv! Die ersten Menschen hätten nicht überlebt, wenn einer den anderen unterdrückt hätte. Diese unsere Vorfahren und Vorfahrinnen mussten einander unter allen Umständen beistehen. Jedes Mitglied war wertvoll für das Grüppchen der umherziehenden Menschen. Das leuchtet ja noch allen ein. Doch irgendwann kippte das gute Miteinander.

Über Tausende von Jahren residiert nun schon die „Kurzsicht“ in den meisten menschlichen Gesellschaften, einer müsse dem anderen etwas abjagen, um selbst mehr zu besitzen. Anni hatte schon zu schätzen versucht, wie lange die Primitivität währte und kam auf eine sehr lange Dauer. Bald nach den ersten Menschengruppen begann die Abwärtsentwicklung. Die größeren Menschengruppen waren der Nährboden für die Macht- und Besitzgier einiger weniger. Ihre wahre Beute waren die anderen Menschen beziehungsweise die Verhinderung von deren Wohlergehen. Diese Art der Primitivität währt bis heute. Allgemein spricht man allerdings gerade von der Zeitsspanne der letzten Jahrtausende als von der Ära der Zivilisation. Sie wird definiert als die Zeit, in der (sozial und materiell) verbesserte Lebensbedingungen der Gesellschaft durch Technik und Wissenschaft ermöglicht werden. Es ist reines Wunschdenken, von Zivilisation zu sprechen und die ganze Welt zu meinen. Annis Meinung nach flackerten echte zivilisatorische Momente zwar auf, erloschen jedoch wieder, sobald die verbesserten Lebensbedingungen nur einigen wenigen Personen oder Gruppen zuteil wurden, das heißt, sobald die besseren Lebensbedingungen der einen auf Kosten von anderen gingen, sobald technische und wissenschaftliche Fortschritte nicht allen ein besseres Leben ermöglichten, sobald die Fortschritte nur die Gier einiger Privilegierter befriedigen halfen. Seltsam fand es Anni, dass sich die meisten Menschen Europas der 1980er und 1990er Jahre und die EuropäerInnen des dritten Jahrtausends zivilisiert fühlten, obwohl die Lebensbedingungen der meisten immer schlechter wurden und jene von sehr wenigen (bereits reichen) Personen immer besser wurden.

Gina ist als Mitglied der europäischen Gesellschaft und der Menschheit indirekt mitbetroffen von der grassierenden allgemeinen Dummheit, die sie etwas freundlicher als den „Irrweg der Gier“ bezeichnet. Die Gierigen stürzen andere ins Unglück und sich selbst ins Messer. Oder glauben sie etwa, sie könnten ewig so weiter machen?! Gina ist eindeutig klüger als die Gierschlunde. Sie selbst ist überzeugt, Geld und Reichtum trage nur zu einem geringen Teil zum Glück bei. Nicht einmal Gesundheit kann man sich immer um Geld kaufen. Sie weiß es genau, denn obwohl sie ihr „letztes Hemd“ hergegeben hätte, um ihrer Mutter das Leiden zu ersparen, gab es letztendlich keine Rettung für die Kranke. Anni findet Gina wirklich weise. Eine fertiggestellte Handarbeit, eine gelungene Zeichnung, ein blühendes Zweiglein, eine Tasse duftenden Kaffees, Zuneigung und geliebte Menschen sind Gina viel wichtiger als Geld und Gut. Doch sie sagte nicht nein, bekäme sie mehr davon – sie ist ja nicht verrückt. Mehr davon hieße doch bloß, das Ungleichgewicht bei der Verteilung von Reichtum gerade zu rücken.

Gerne erinnert sich Gina an die „guten alten Zeiten“ zurück, als sie noch „alles“ hatte. Sie ist ein Kind der 1960er Jahre. Da produzierte die Angst vor dem Kommunismus (Gina meinte daher „er war zu etwas gut.“) bei den Kapitalisten Europas großen Druck, der Bevölkerung ein schönes Stück vom Kuchen zugestehen zu müssen, wollten sie nicht alle ihre Felle davon schwimmen sehen. Gina will sich nicht beschweren, mag es auch nicht ganz gerecht zugegangen sein, so doch relativ. Aber „alles“ hatte sie natürlich auch in der Kindheit und Jugend nicht. Wenn sie ihre Erinnerung nicht täuscht (die irgendwann in den 1970ern bewusst einsetzte), hatte sie allerdings von allem mehr als genug. Als sie noch mit den Eltern im gemeinsamen Haushalt lebte, war das Leben tatsächlich leicht und unkompliziert für sie, war geradezu ein Traum. Alles, was für ein sehr schönes Leben nötig war, gewährleisteten die Einkommen der Eltern. Der Vater verdiente sehr gut als Manager und die Mutter als Chemikerin. Man kann mit Fug und Recht behaupten, Gina wurde nach Strich und Faden verwöhnt. Vergleicht sie sich mit dem Sohn von einem wohl-situierten Steuerberater-Ehepaar aus ihrem Bekanntenkreis, so wurde dieses Kind ebenso verwöhnt, doch dessen Weg führte in die Abhängigkeit von harten Drogen und in ein Desaster. Am Geld konnte es nicht gelegen haben...

Und Gina? Probierte sie in ihrer „Sturm- und Drang-Zeit“etwa keine Drogen? Sie hätte mit einem deutlichen „Jein“ geantwortet, denn was ist schon eine Haschischzigarette? Viele reagierten da anders. Sie verurteilten jeden und jede, die „so etwas“ tat. Die Scheinheiligkeit von manchen Menschen, die schon das Rauchen eines Joints verteufelten, fand Gina armselig. Nun, eventuell handelte es sich gar nicht um Scheinheiligkeit. Vielleicht war es einfach nur das kritiklose Übernehmen von Meinungen anderer? Vielleicht dachten die meisten Leute einfach nur nicht nach? Aber hätte sie das etwa entschuldigen sollen? Hm, Gina zeigte tatsächlich so eine Ader, immerzu Entschuldigungen für die Fehler anderer zu suchen, bestätigt Anni leidgeprüft. Anni war nicht immer Ginas Meinung, sondern nahm hin und wieder die Gegenposition ein, sobald Gina wieder eine Diskussion lostrat und Leute entschuldigte, die Annis Meinung nach kein Mitleid verdienten. Anni trat nicht immer, aber immer öfter eher für Gerechtigkeit ein als für pauschal gewährte Gnade. Anni ärgerte sich zwar selbst über die allgemeine Vorstellung, Joints wären zu verteufeln und die Volksdrogen Tabak und Alkohol nicht. Von den Unmengen gerauchter Zigaretten aus Tabak (mit noch giftigeren Zusatzstoffen) und literweise genossenem Alkohol schwiegen die „Gewohnheitstiere“ und kamen nie auf die Idee, ihre Einstellung zu hinterfragen. Warum die Allgemeinheit mit ihrer Kurzsicht aber wie eine Herde einer Leitkuh nachtrottete, das allerdings interessierte Anni viel mehr, das Thema hatte sie geradezu in Bann gezogen. Nichts würde sie davon abhalten können, dieses Thema zu analysieren oder wenigstens – soweit es ihre Zeit zuließ - darüber ein wenig nachzudenken. Gina hingegen hätte lieber die Leutchen pardonniert, denn dann hätte sie weiter unbeschwert fröhlich durchs Leben schweben können und auf niemanden böse sein müssen. Nicht, dass Anni oder Gina jemals auf den Gedanken verfallen wären, jemandem das Rauchen oder Trinken zu verbieten. Niemals hätten sie das getan. Ginge es nach Gina oder Anni, dann hätte jeder Mensch so leben sollen, wie er es für richtig hielt. Nur eine Grenze sollte es dabei geben. Die eigene Freiheit hört dort auf, wo die Freiheit des anderen Menschen beginnt. Anni und Gina sind sich darin einig. Warum funktioniert das nicht überall, können sie sich nicht erklären. Es könnte so leicht sein – mit oder ohne Drogen...

Glücklicherweise genoss Gina selbst seit geraumer Zeit nur die „Droge“ Musik, das aber jeden Tag. Sie musste nur an ihre Lieblingslieder denken, erstrahlte sie schon wie ein Weihnachtsengel in voller Festbeleuchtung. Die Lieblingssongs warfen sofort ihr inneres Kraftwerk an und ließen pure Freude durch den Körper strömen. Musik half ihr sogar beim Denken. Vom Glück erfüllt sprangen ihre „grauen Zellen“ sozusagen fröhlich herum und trafen unverhofft auf andere, die sie sonst nie „zu Gesicht“ bekommen hätten. Beim Musik-hören oder beim Tanzen oder „Shaken“ bekam Gina die besten Ideen ihres Lebens. Den Gedanken an die „traurigen Gestalten“, die ohne eigene Ideen zu haben, immer nur der Allgemeinheit nach dem Mund redeten, verdrängte Gina bisher jedes Mal so schnell sie konnte, weil es ihr unnütz schien, ihre Kraft in Form von Ärger auf Leute zu verschwenden, mit denen man Geduld haben sollte. Ja, geduldig und gütig zu sein, das gefiel ihr. Es fiel ihr nicht schwer. Sie konnte gar nicht anders. Ihre Frohnatur gebot es ihr geradezu. Und ihre Freundlichkeit und Fröhlichkeit waren geradezu ansteckend. Diese Eigenschaften waren immer Ginas großes Plus. Nein, Gina war nie ein Kind von Traurigkeit, von Natur aus nicht. Weniger Taschengeld und Geldgeschenke von Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln hätten ihr auch genügt. Sie genoss es dennoch, unbeschwert durch das Leben zu tanzen – sozusagen von Disco zu Disco - und sich alle Wünsche zu erfüllen, die nun einmal für die Tochter begüterter Eltern selbstverständlich „erschwinglich“ waren.

Irgendwann begann eine Zeit, da konnte sich Gina die schönen Dinge des Lebens immer seltener leisten. Sie nahm es zur Kenntnis, ohne zu lamentieren. Das entspricht ihrem bescheidenen Wesen, ihrem Frohsinn, ihrer Anpassungsfähigkeit und der ihr innewohnenden uralten Weisheit, die eines Guru würdig wäre: Für dieses Menschenkind birgt jeder Tag in den Falten seines Mantels aus Stunden und Minuten die Sekunden der Fröhlichkeit - manchmal leider sehr gut versteckt. Gina ist unbedingt bereit, die Gelegenheiten zu ergreifen und die auftauchenden glücklichen Momente voll auszukosten, am liebsten Sekunde auf Sekunde. Nur leider bleibt für Spaß „in letzter Zeit wenig Zeit“, wie sie sagt. In den 1980er Jahren war sie fast ohne Sorgen. Danach setzte ein schleichender Wandel ein. Sie hätte nicht sagen können, ob es davon kam, dass sie langsam „erwachsener“ wurde, oder davon, dass sich etwas in der Gesellschaft veränderte. Sie arbeitete immer mehr, der Einkaufswagen wurde aber nicht mehr so voll wie früher. Sie hatte keine Zeit, zu ergründen, warum das so war. Sie musste sich „einfach mehr ins Zeug legen“, um das Manko auszugleichen. Sie würde „einfach ganz pragmatisch an die Sache herangehen“. Nun, „einfach“ war nichts daran, wie sie nachträglich zugab.

Nicht zu leugnen ist, dass Gina seit geraumer Zeit von einer Aufgabe zur nächsten hetzt. Ihre ganze Kraft fließt seit Jahren in den Kampf ums Überleben, dabei müssen Wünsche nach purer Fröhlichkeit ein wenig nach hinten gereiht werden. Ihre Vitalität hat Gina aber längst noch nicht verloren. Ihre FreundInnen würden sagen, sie sprühe aus jeder ihrer Poren. Lange hält es dieser Mensch nicht aus, deprimiert zu sein oder zu jammern. Und wenn sich diese wunderbare Person dabei „erwischt“, schnellen ihre Mundwinkel gewohnheitsmäßig blitzschnell nach oben. Und schon stahlt ihr Antlitz lebensbejahende Wärme aus, die jeden berührt.

Menschengöttin, Menschenskind!

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