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1. AUF DER PEACEMAKER
Оглавление»Es gibt nichts, das sich mit einem festen Willen nicht erreichen ließe.« (Buch der Weisheit)
»Ach, Herr Rothenfels, hätten Sie nachher wohl mal etwas Zeit für mich?«
Die junge Frau lächelte verlegen. Jonas sah auf und lächelte zurück. »Sicher, warum nicht! Nach der Abendandacht in der Kapelle?«
»Perfekt!« Sie warf ihre dunklen Locken mit einer aufreizenden Kopfbewegung in den Nacken. »Unsere letzten Gespräche haben mir wirklich sehr geholfen!«
»Das freut mich!«, gab Jonas betont höflich zurück. »Also dann bis nachher!«
Er wandte sich wieder seinem Teller zu.
Die Kadettin blieb einen Moment unschlüssig stehen, dann machte sie sich hüftschwingend davon. Trotz ihrer Leibesfülle war sie ein attraktives Mädchen und verstand es, die Blicke der anwesenden Soldaten auf sich zu ziehen.
Als sie den Raum verlassen hatte, dröhnte es vom Nachbartisch: »Hey, Seelenklempner, warum triffst du dich nicht mit ihr in deiner Kabine?«
Ein strohblonder Soldat mit bulligem Schädel sah sich beifallheischend im Kreis seiner Freunde um, schlug seine Fäuste in eindeutiger Geste aufeinander und lachte wiehernd.
Jonas stand auf. Mit seinen gerade mal 1,70 Metern war er keine imposante Erscheinung. Seine kurzen roten Haare und der sorgsam gestutzte Bart ließen ihn zusammen mit den leuchtend blauen Augen eher niedlich als bedrohlich erscheinen. Das wusste er nur zu gut. Doch er ging seelenruhig auf den Mann zu, sah ihm tief in die Augen und schwieg so lange, bis der andere unruhig auf seinem Platz umherzurutschen begann.
»Maat Lennox«, sagte er mit sanfter Stimme, »Sie haben wirklich keinen Grund, neidisch zu sein. Auch Ihnen stehe ich jederzeit zur Verfügung, wenn Sie ein Gespräch wünschen!«
Der Angesprochene sah verlegen zu Boden.
»Für den Anfang kommen Sie doch erst mal zur Andacht, das würde Ihnen bestimmt guttun!«
»Nein, danke, ich steh nicht auf diesen schwulen Kram!«
»Nun, wenn Sie denken, dass ich homosexuell empfinde, warum haben Sie dann solche Fantasien bezüglich meiner Gespräche mit Raumkadettin Obermayer?«
Jonas klopfte ihm väterlich auf die Schulter und kehrte zu seinem Tisch zurück. Im Stillen gab er dem Blonden recht. Als spiritueller Begleiter musste er auf Distanz bedacht sein, und diese Frau suchte eindeutig eine Nähe bei ihm, die über das gesunde Maß hinausging. Doch gerade deswegen war es wichtig, den anzüglichen Bemerkungen der Kameraden energisch entgegenzutreten. Eine junge Frau hatte es auch so schon schwer genug an Bord.
Er stocherte lustlos in seinem Auflauf herum.
»Gemüse aus eigener Ernte« stand auf der Speisekarte, als sei dies ein Qualitätsmerkmal. Wissenschaftlich gesehen stellte der Gemüseanbau im Weltraum eine beachtliche technische Leistung dar – geschmacklich jedoch gab es noch jede Menge zu verbessern. Jonas konnte das Substrat, auf dem die Früchte gezogen wurden, förmlich auf der Zunge spüren.
Er stand auf und entsorgte den restlichen Inhalt seines Tellers in den dafür vorgesehenen Behälter, der bereits drei viertel voll war. Dann stellte er das Tablett auf das Laufband und machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft, um die Abendandacht vorzubereiten.
Er hatte seine Kabine fast erreicht, als der Kommunikator an seinem Handgelenk zu vibrieren begann.
Ach nein, nicht jetzt! Jonas warf einen Blick auf das Display.
»Sie werden auf der Krankenstation in Sektor 12 benötigt«, lautete die knappe Botschaft.
Na gut, das hatte wohl Vorrang. Er machte kehrt und ging zurück zum Mover. Er bestieg die Kabine, nannte seinen Bestimmungsort und spürte, wie er erst in die Höhe gehoben und dann seitlich beschleunigt wurde. Ein Hologramm, das links von ihm in der Luft Wand schwebte, zeigte eine dreidimensionale Darstellung des Schiffes, in der ein wandernder roter Punkt die aktuelle Position markierte. Die Architektur der Peacemaker hatte Jonas anfangs verwirrt, mittlerweile fand er sich jedoch gut darin zurecht. Ihre Form – sie war ein gewaltiger Dodekaeder, ein Würfel mit zwölf Seiten und einer fünfeckigen Grundfläche – hatte den Vorteil, symmetrisch zu sein. Wenn man sich einmal die Lage der Sektoren und deren Zählung eingeprägt hatte, war alles ganz logisch.
Als sich die Tür nach kurzer Fahrt wieder öffnete, stand ein Sanitätssoldat davor, der ihm freundlich zunickte.
»Schön, dass Sie gleich gekommen sind«, sagte er. »Kabine F 23. McGregor hat schon mehrfach nach Ihnen gefragt. Sie kennen ja den Weg!«
Er brachte Jonas mit einem leichten Druck auf die Schulter in die richtige Richtung, dann stieg er selbst in den Mover und verschwand.
Der spirituelle Begleiter ging zielsicher den Korridor entlang, bog in den F-Gang ein und blieb vor der Tür mit der Nummer 23 stehen. Er hielt kurz inne, sammelte sich, dann klopfte er an und trat ein.
Waffenoffizier Alister McGregor hob den Kopf, als er eintrat. Obwohl Jonas ihn schon häufiger besucht hatte, musste er sich jedes Mal neu an den Anblick gewöhnen – eine Körperhälfte des Patienten war bis hinauf zum Gesicht verbrannt.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte Alister mit schwacher Stimme. »Ich fliege morgen nach Hause.«
»Das freut mich für dich!«
»Aber es ändert nichts daran, dass es mit mir zu Ende geht.«
»Ich weiß.«
Jonas nahm die Hand des Patienten und hielt sie fest. Sie fühlte sich kalt an.
»Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst. Die Dosis Synchrotron-Strahlung, die du abbekommen hast, hätte einen Elefanten umgehauen.«
»Ja, ich bin wirklich ein Glückspilz«, sagte Alister. Seine schwache Stimme klang sarkastisch. »Aber es ist okay. Ich habe meinen Frieden gefunden. Da wäre nur noch eine Sache … Kannst du dich bitte um Buddy kümmern, wenn ich nicht mehr da bin?«
Jonas durchfuhr es heiß und kalt. Alister war bekannt für seinen Spleen, dass er angeblich ein Haustier besaß, das außer ihm noch niemand gesehen hatte. Wie sollte er jetzt mit dieser Bitte umgehen? Er beschloss, einfach mitzuspielen. Man konnte Wahnvorstellungen nicht mit Argumenten beikommen.
»Klar, das mach ich. Kannst dich auf mich verlassen.«
Alister lächelte. »Ich danke dir. Du wirst es nicht bereuen. Buddy ist ein toller Freund. Auch wenn er sehr speziell ist.«
»Was ist er denn für ein Tier?«
»Eine Art Wombat.«
»Ein was?«
»Ein Wombat. Stammt aus Australien. Sieht aus wie ein zu klein geratener Bär.«
»Und was frisst der so?«
»Am liebsten Gras und Körnerfutter. Du findest alles in meiner Kabine. Ich habe eine Freigabe für dich eingerichtet. Du kannst die Tür mit deinem Transponder öffnen.«
Jonas brummte eine halbherzige Zustimmung.
Alister sah ihn prüfend an. »Du glaubst mir nicht, oder?« Er versuchte, sich auf seinem Bett aufzurichten, kapitulierte dann aber vor der Schwerkraft. »Du glaubst auch nicht, dass Buddy wirklich existiert.«
»Nun, also, um ehrlich zu sein – ich weiß es nicht.« Jonas lächelte verlegen.
»Nur weil ihn außer mir niemand sehen kann, bedeutet das noch lange nicht, dass es ihn nicht gibt. Dir als Pastor muss ich das doch wohl nicht erklären!«
»Spiritueller Begleiter«, korrigierte Jonas sanft.
»Meinetwegen, egal. Hör mir zu.« Es gelang dem Waffenoffizier, sich seitwärts ein wenig hochzudrücken. »Buddy kann sich sehr gut verstecken. Er ist mal aus einem Labor getürmt, wo sie gentechnische Experimente mit ihm angestellt haben, und ist seitdem Fremden gegenüber ziemlich misstrauisch. Du musst zuerst sein Vertrauen gewinnen. Und lass dich nicht von ihm täuschen, er ist klüger, als er aussieht.«
Der Kranke sank entkräftet zurück in seine Kissen.
»Machst du es? Kümmerst du dich um ihn?«
Jonas nickte. »Ich verspreche es dir.«
Was hätte er auch sonst sagen sollen?
Endlich zurück in seiner Kabine, ließ Jonas sich in den Schreibtischstuhl sinken und griff nach dem Sketchboard. Eine sanfte Hintergrundbeleuchtung glomm auf, als das Gerät die Bewegung registrierte, und signalisierte Eingabebereitschaft. Selbst Jonas’ krakelige Handschrift stellte für das System keine Schwierigkeiten dar. Alles, was er auf die Oberfläche kritzelte, wurde im Hintergrund in Buchstaben und Worte übersetzt und in eine Datei geschrieben.
Der wichtigste Glaube ist der Glaube an sich selbst, notierte Jonas. Nur wer an sich selbst glaubt, kann offen sein für das, was das Universum ihm schenken möchte.
Er stockte. Dies war definitiv einer seiner Lieblingsgedanken. Hatte er ihn vielleicht schon zu oft in den Andachten verwendet? Er blickte auf den Kommunikator, der in mattgrauen Ziffern die Bordzeit anzeigte. Noch 59 Minuten bis zur Andacht. Keine Zeit für Experimente.
Konzentriert skizzierte Jonas den weiteren Verlauf der kleinen Ansprache. Als er fertig war, tippte er mit seinem Stift auf den oberen Rand und wählte aus dem aufklappenden Menü einen Befehl aus. Prompt formierten sich die Zeichen auf dem Sketchboard neu. Die gekritzelten Notizen verwandelten sich in saubere Druckbuchstaben.
Er überflog das Geschriebene, nickte befriedigt und klappte das flache Board zusammen. Ihm blieben gut zwanzig Minuten bis zur Andacht, und er beschloss, vorher der Kabine von Alister einen Besuch abzustatten. Er wusste immer noch nicht so recht, was er von der ganzen Sache halten sollte, und musste sich eingestehen, dass er ziemlich neugierig war.
Der Mover brachte ihn nach Sektor 3, Deck 9, wo die Unterkünfte der technischen Besatzung lagen. Anders als auf seiner Etage, die in Orange gehalten war, dominierte hier Königsblau. Er ging den Korridor hinunter, bis er die Tür erreichte, auf der in nüchternen Buchstaben stand: »Leutnant im All Alister McGregor«.
Als der Sensor den Transponder erfasste, der unsichtbar in die Uniform eingewebt war, änderte sich die Schrift in »Willkommen, Herr Rothenfels!«, das Schloss knackte, und die Tür sprang auf. Gleichzeitig ging das Licht in der Kabine an und gewährte einen Blick ins Innere.
In Größe und Ausstattung unterschied sie sich kaum von seiner eigenen. Koje, Schreibtisch, Schrank, Durchgang zur kleinen Nasszelle. Das Zimmer war ausgeräumt und gesäubert, auf dem Bett stand eine gepackte Reisetasche.
Jonas öffnete den Spind. Die meisten Fächer waren leer, doch in den oberen befanden sich tatsächlich kleine Plastiksäcke mit Heu, daneben lagen Schachteln mit aufgedruckten Hamstern und Kaninchen. Eine davon war angebrochen. Jonas nahm sie heraus und schüttelte sie geräuschvoll.
Als Kind hatte er eine Katze besessen, einen schwarz-weißen Kater namens Ganymed. Der hatte dem Rascheln mit der Futterpackung niemals widerstehen können und es stets mit einem vernehmlichen Maunzen beantwortet. Aber welche Geräusche Wombats auch machten, es kam keine Reaktion.
Zweifelnd sah sich Jonas in der Kabine um. In diesen durchkonstruierten Behausungen aus Plastik und Stahl gab es keinen Winkel, der irgendeinem Tier ein Versteck bieten könnte. Höchstwahrscheinlich war dieser Buddy nichts weiter als die fixe Idee eines überforderten Hirns. Viele Besatzungsmitglieder entwickelten in der Einsamkeit des Weltraums ihre Marotten – aber es war schon erstaunlich, dass Alister so weit gegangen war, Futter einzukaufen und sogar einen Teil davon zu verbrauchen.
Mehr aus Pflichtgefühl denn aus Überzeugung nahm Jonas den metallenen Fressnapf heraus, der neben den Futterpackungen stand, füllte eine Handvoll Körner hinein und stellte ihn unter den Tisch. Dann verließ er die Kabine wieder und schloss sorgsam die Tür hinter sich. Er hatte zu tun.
Zehn Minuten vor der angesetzten Zeit erreichte Jonas den Andachtsraum. Drei Leute saßen bereits dort – Raumkadettin Stella Obermayer, José Batista, einer der Köche, und André Kussolini, ein schweigsamer Mitarbeiter des Wartungspersonals, der die irritierende Angewohnheit besaß, sich regelmäßig zu bekreuzigen.
Jonas verschwand im kleinen Nebenraum und legte sein Gottesdienstgewand an – eine weiße Tunika mit einer regenbogenfarbenen Stola.
Prüfend besah er sich von allen Seiten im Spiegel, rückte sein Gewand zurecht, dann fuhr er sich mit einer Bürste durch die kurzen roten Haare. Nicht dass diese Prozedur an seinem Äußeren viel verändert hätte, aber sie vermittelte ihm das Gefühl von Sicherheit.
Als er in den Andachtsraum zurückkehrte, hatte sich die Besucherzahl immerhin verdoppelt. Sechs Leute sind eine magere Quote bei 640 Besatzungsmitgliedern, dachte er missmutig. Aber wenn er ganz ehrlich war, musste er zugeben, dass er selbst diese Veranstaltung auch nicht besucht hätte.
Er liebte die persönlichen Gespräche mit den Soldaten und freute sich, wenn er ihnen hier und da weiterhelfen konnte – sei es bei Ärger mit den Vorgesetzten, Liebeskummer, Heimweh oder plötzlich aufbrechenden Lebensfragen. Meist tat es den Ratsuchenden schon gut, dass ihnen jemand aufmerksam zuhörte und dann und wann eine Frage einbrachte, die ihnen eine erweiterte Sicht auf ihr Problem bescherte. In diesen Dingen war er gut – während die Andachten mit ihren Ansprachen für ihn eher ein lästiges Pflichtprogramm darstellten.
Er beobachtete die Zeitanzeige auf seinem Kommunikator. Noch 30 Sekunden. Mit einem Wisch über das Display und einem Fingertipp rief er die Andacht-App auf. Eine Liste mit vorbereiteten Musikstücken erschien. Er aktivierte den ersten Titel, und der Bordcomputer ließ meditative Klänge aus den Lautsprechern ertönen. Exakt 3 Minuten später verebbten sie. Jonas trat nach vorn.
»Seid willkommen zur Abendandacht«, rief er mit ausgebreiteten Armen.
Ein wenig zu pathetisch, befand er selbstkritisch.
André bekreuzigte sich.
»Wir alle sind ein Teil des gleichen Universums, haben Anteil an dessen geheimnisvollen Kräften, sind das Ergebnis der Urelemente Feuer, Erde, Wasser, Luft. Doch hat die Weltenseele uns mit ganz besonderen Fähigkeiten ausgestattet – mit Bewusstsein und mit einem freien Willen. Darum soll es in der heutigen Andacht gehen. Ich lade euch ein, beim folgenden Musikstück in euch hineinzuspüren und Kontakt mit eurer Willenskraft aufzunehmen.«
Jonas tippte auf sein Armband, und eine eher aufwühlende Musik erklang. Es folgte ein kurzes Gedicht aus seiner Sammlung, ein weiteres Musikstück, die vorbereitete Ansprache und schließlich eine Zeit der Stille.
Am Ende folgte eine Art Segen: »So geht nun hin in der Kraft von tausend Sonnen, geliebte Töchter und Söhne des Universums. Haltet fest an der Macht eures Willens.«
Ein weiterer Tipp ans Handgelenk, und die Musik schwoll zum Schluss noch einmal dramatisch an. Sogleich fuhr der Bordcomputer die Helligkeit der bis dahin abgedimmten Lampen hoch. Die Andacht war vorbei. André bekreuzigte sich erneut und verließ schweigend den Raum. Die anderen Besucher folgten ihm eilig.
Nach wenigen Minuten stand nur noch die leicht verlegene Raumkadettin Obermayer im Raum.
»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie nach der Andacht etwas Zeit für mich hätten«, erinnerte sie ihn.
»Ich weiß.« Er setzte sein professionelles Lächeln auf. »Bitte, nehmen Sie Platz!«
Jonas rückte zwei der Stühle so zurecht, dass sie sich in einigem Abstand voneinander gegenüberstanden, und deutete mit einer einladenden Handbewegung auf einen davon. Dankbar folgte sie dem Wink und ließ sich ungraziös auf den Sitz plumpsen.
»Was kann ich für Sie tun?«, eröffnete Jonas das Gespräch.
Stella Obermayer schwieg und knetete ihre Hände. Mit einem freundlichen Lächeln hielt er das Schweigen aus.
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, begann sie endlich. »Manchmal fühle ich mich so einsam …«
Sie sah Jonas scheu an, der sich innerlich wappnete. Er hatte es befürchtet. Jetzt wollte sie ihm Avancen machen. Für’s Erste sagte er gar nichts, lächelte weiter und wartete ab.
»Mit meinen Kameraden mag ich darüber nicht sprechen. Ich habe Angst, dass sie mich auslachen und denken, ich sei dem Job nicht gewachsen.«
In ihren braunen Augen schimmerte es feucht. Fahrig wischte sie die Tränen mit dem Handrücken ab.
»Ich wollte immer zur Raumflotte«, fuhr sie fort. »Schon als kleines Mädchen habe ich davon geträumt. Und ich musste hart arbeiten, um die ganzen Prüfungen zu bestehen. Ich habe mich so gefreut, als ich es endlich geschafft hatte, auf die Peacemaker zu kommen. Die Arbeit hier macht mir ja auch Spaß. Aber … die Einsamkeit hier oben … Darauf war ich nicht vorbereitet. Manchmal stehe ich stundenlang am Screen und starre nach draußen. Und dann fühle ich mich so klein und unbedeutend …«
Jonas nickte unwillkürlich. Diese Regung war ihm sehr vertraut. »Stella, dafür brauchen Sie sich nicht zu schämen. Das Gefühl kennt jeder hier an Bord.«
Die Raumkadettin lächelte dankbar. »Meinen Sie wirklich?«
Jonas nickte erneut. »Natürlich sind alle Gespräche, die ich führe, streng vertraulich, aber so viel kann ich doch sagen, dass Sie bei Weitem nicht die Einzige sind, die damit zu kämpfen hat.«
Sichtlich befriedigt fuhr sie fort: »Manchmal bete ich in solchen Momenten. Das hat mir meine Oma beigebracht. Sie war eine sehr religiöse Frau. Leider ist sie schon lange tot. Sie betete immer zum ›Unser Vater im Himmel‹. Den Rest des Spruchs habe ich vergessen. Es war irgendwas mit Brot und Vergebung.«
Sie seufzte, blieb einen Moment stumm, anscheinend im Gedenken an ihre Großmutter.
»Ich improvisiere dann einfach, stelle mir vor, dass da irgendwo ein Vater ist, der mir zuhört, und erzähle ihm alles.«
Jonas schwieg.
»Sie glauben nicht an so etwas, oder?«, fragte sie. »An einen Gott, mit dem man reden kann und so. Jedenfalls sprechen Sie in Ihren Andachten nie darüber.«
Jonas lächelte. »Nein, diese Vorstellung gehört zu einem veralteten Religionskonzept, das so heute nicht mehr gelehrt wird.«
»Also ist es alles Unsinn, was mir meine Oma beigebracht hat? Sie war sich ihrer Sache immer so sicher.«
»Wenn diese Ansichten so für sie gepasst haben, dann waren sie auch richtig für sie. Alles, was den Menschen weiterhilft und ihnen Kraft und Zuversicht gibt, ist richtig. Es gibt nicht nur die eine Wahrheit. Das haben uns die letzten Kriege gelehrt. Was man jahrhundertelang für unumstößliche Wahrheiten gehalten hat, sind in Wirklichkeit nur verschiedene Blickwinkel auf dieselbe Sache. Entscheidend ist doch letztlich: Was gibt Ihnen Kraft und Zuversicht?«
Stella sah ihn an.
»Das ist es ja gerade«, sagte sie, »ich weiß es nicht. Manchmal scheint es mir, dass Oma recht hatte und es einen Gott gibt, der mich liebt und mit dem ich reden kann. Dann wieder sehe ich hinaus in die unendlichen Weiten und sage mir: Mach dir nichts vor. Da draußen ist nichts. Nichts bis auf die Kälte des Alls, von der uns lediglich ein paar Stahlplatten trennen. Ich meine – wir fliegen doch hier im Himmel herum. Wenn da irgendwo ein Gott wohnen würde, müssten wir ihn längst getroffen haben.«
»Wie geht es Ihnen bei diesem Gedanken?«
»Ich fühle mich klein und verletzlich und … irgendwie unbedeutend. Es macht mir Angst. Und dann esse ich, um mich zu beruhigen. Seitdem ich auf der Peacemaker bin, habe ich bestimmt schon zehn Kilo zugenommen.«
»Dann halten Sie sich lieber an das, was Ihnen guttut.«
Jonas wies auf das stilisierte Sonnensymbol, das an der Stirnwand des Andachtsraumes prangte.
»Die Mitte ist mit gutem Grund leer. Jeder kann und soll sie mit den Bildern füllen, die ihm guttun. Es gibt keine absolute Wahrheit. All unser Wissen ist Stückwerk.«
Stella blickte auf. »Diesen Satz hat meine Oma auch oft gesagt!«
Jonas lächelte. »Sehen Sie, am Ende sind wir vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt.«
Sie sah ihn dankbar an. »Herr Rothenfels, Sie glauben gar nicht, wie gut mir diese Gespräche mit Ihnen tun!«
Sie schob ihre Hand vor und berührte ihn am Knie. Abrupt stand Jonas auf.
»Ich freue mich, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte. Meine Kollegen und ich sind jederzeit gerne für Sie da!«
Sie sah ihn verletzt an. »Ich habe nicht von Ihren Kollegen gesprochen, sondern von Ihnen«, schmollte sie.
Die peinliche Situation fand ein jähes Ende, als die Bordsprechanlage losheulte.
»Alarm!«, sagte eine ausdruckslose Stimme. »Alle Diensthabenden sofort auf Gefechtsstation. Dies ist keine Übung!«
Stella erbleichte, drehte sich um und rannte fort. Auch Jonas machte sich auf den Weg. Sein Platz war in der Krankenstation.
Er hatte gerade den Mover bestiegen, der ihn zum Sanitätsrevier bringen sollte, als plötzlich ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Das Schiff erbebte, schlagartig verloschen alle Lichter. Jonas spürte, wie die Kabine zum Stillstand kam. Er versuchte, bewusst zu atmen, um nicht in Panik zu geraten. Ganz offensichtlich war nur der Strom ausgefallen. Darum war jetzt das Licht aus, und der Mover stand still. Vielleicht hatte das Schiff einen Treffer kassiert.
Jonas schluckte. Und er saß hier fest, hier in diesem Sarg. Sein Herz raste. Schon als Kind hatte er geschlossene Räume gehasst. Dies als Klaustrophobie zu bezeichnen fand er übertrieben, schließlich mochte niemand gerne eingesperrt sein.
Ihn beschlich ein Gefühl, als müsse er bald ersticken, als legten sich unsichtbare Hände um seinen Brustkorb und verhinderten die Atmung. Als Sanitätsassistent wusste er genau, was jetzt passieren musste. Der CO2-Gehalt in diesem winzigen Raum würde unaufhaltsam ansteigen, bis er, Jonas, das Bewusstsein verlöre und schließlich an Sauerstoffmangel stürbe. Immerhin: Es gab deutlich schlimmere Arten, diese Welt zu verlassen. Auch wenn er sich mit seinen 26 Jahren noch zu jung dazu fühlte.
Er verbot sich weitere Gedanken dieser Art und konzentrierte sich erneut auf seinen Atem. Bewusst in den Bauch hineinatmen, langsam wieder aus.
Es gibt hier jede Menge Sauerstoff. Du brauchst keine Angst zu haben.
Ein – aus. Ein – aus. Sein Pulsschlag kam allmählich zur Ruhe. Jonas glitt an der Wand der finsteren Kabine zu Boden und machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst.
Es gibt nichts, dass sich mit einem festen Willen nicht erreichen ließe. Heute Abend hatte er in der Andacht über dieses Thema gesprochen. Dieser Satz galt auch für seine aktuelle Situation. Er konnte gerettet werden, wenn er es wirklich wollte.
Raumkadettin Obermayer würde jetzt bestimmt für ihre Rettung beten, dachte er. Sie würde den Fantasiegott ihrer Oma anrufen und sich sicher und geborgen fühlen. Beneidenswert. Aber keine Option für ihn.
Schon das erste Jahr seines Studiums hatte ausgereicht, ihm alle Reste seines Kinderglaubens auszutreiben. Und so war es wohl auch beabsichtigt. Es sollte unbedingt verhindert werden, dass die alten, intoleranten Glaubensvorstellungen weiterlebten oder gar durch die staatlich ausgebildeten spirituellen Begleiter noch gefördert wurden.
Das Konzept war ebenso simpel wie wirksam: Die Kandidaten studierten zu Beginn ihrer Ausbildung Geschichte. Sie lernten die schrecklichen Folgen der Religion kennen, wurden mit Selbstmordattentaten und fanatischen Kriegstreibern konfrontiert, erfuhren von der heiligen Inquisition und deren Foltermethoden, von der Ausrottung ganzer Völker im Namen des jeweils einzig wahren Gottes, von der Unbarmherzigkeit, die die Aufteilung der Menschen in Kasten und der Glaube an das Karma mit sich brachten, und natürlich dem letzten Weltkrieg vor Beginn der neuen Zeitrechnung, der ein Krieg der Religionen gewesen war und die Menschheit beinahe ausgerottet hätte.
In späteren Semestern gewährte man ihnen dann Einblick in die verschiedenen »Heiligen Schriften« der Vergangenheit, die zu lesen normalerweise verboten war. Sie hatten sich zu oft als Werkzeuge spiritueller Brandstiftung erwiesen. Stattdessen gab es nun das eine »Buch der Weisheit«, in dem sich eine Blütenlese der besten Gedanken aus Religion und Philosophie fand, zusammengetragen zur Stärkung und Erbauung der Menschheit, die, wie sich herausgestellt hatte, ganz ohne Religiosität nicht auskam. Die großen Ereignisse im Leben, Geburt und Tod, Eintritt ins Erwachsenenalter und manches andere mehr schufen eine Nachfrage nach ritueller Gestaltung, was die Weltregierung zu der Einsicht geführt hatte, dass es besser sei, hier ein kontrolliertes Angebot zu schaffen, als religiösen Wildwuchs zu riskieren.
So war neben die Weltregierung die Weltkirche getreten, deren Geistliche wunderbare Rituale gestalten konnten und zugleich Sorge dafür trugen, dass friedensgefährdende religiöse Entwicklungen bereits im Keim erstickt wurden. Persönliche Gottesbilder wurden zwar als Privatsache akzeptiert, aber ihnen wurde keinerlei Forum geboten.
Paradoxerweise war es also gerade das Wissen um Glauben und Religion, das Jonas und seine Kollegen davon abhielt, gläubig zu sein.
Ein schreckliches Kreischen, wie von zerberstenden Metallteilen, lief durch das Schiff. Jonas erschauderte. Konnte die Peacemaker zerbrechen? Sie war doch der größte und mächtigste Schlachtkreuzer der ganzen Raumflotte! Eigentlich hätte sie nicht einmal getroffen werden dürfen. Wieder stieg die Panik in ihm hoch.
Doch bevor er sich weiter damit auseinandersetzen konnte, leuchtete endlich das Kabinenlicht wieder auf. Es knackte und ächzte in der Mechanik, ein anschwellendes Summen war zu hören. Als wäre nichts gewesen, setzte der Mover seine begonnene Fahrt fort.
Nach wenigen Minuten hatte Jonas das gewählte Ziel erreicht, die Tür glitt zur Seite, und er beeilte sich, hinaus auf den Flur zu gelangen. Dort herrschte Hochbetrieb. Überall Betten mit Verletzten. Blut. Stöhnen. Dazwischen wimmelte das medizinische Personal und versuchte alles Menschenmögliche, um den Verwundeten zu helfen.
»Rothenfels«, rief Oberstabsärztin Bartels, als sie ihn erblickte. »Sie melden sich in der POV!« Ihr weißer Kittel war mit Blutflecken übersät.
Bevor Jonas reagieren konnte, hatte sie sich schon wieder den Patienten zugewandt. Er hastete zu seinem Spind, streifte die vorgeschriebene Schutzkleidung über. Dann lief er den Korridor zur postoperativen Versorgung hinunter. Naturgemäß war es hier ruhiger als in der Aufnahme. Die Tür des Aufwachraums stand offen, drei Patienten lagen darin.
Im Vorzimmer saß ein braunhäutiger Sanitäter, der damit beschäftigt war, Daten auf einem Sketchboard einzugeben. Er hatte kurz geschnittene, leicht ergraute Haare. Trotz seines offensichtlichen Alters wirkte er durchtrainiert und fit. Das Namensschild auf seiner Schutzkleidung wies ihn als Samir Ahmadi aus.
»Na, da bist du ja endlich«, begrüßte er Jonas freundlich. »Wo hast du dich so lange herumgetrieben?«
»Ich hing im Aufzug fest«, brummte der. »Die Energie ging plötzlich weg.«
»Ja, wir haben einen Treffer in Sektor 10 kassiert. Die Piraten haben uns übel erwischt.«
»Wie konnte das passieren? Warum haben die Schutzschilde das nicht verhindert?«
»Keine Ahnung, ich bin Sanitäter und kein Abwehroffizier. Aber ich kann dir sagen, was hier los ist: jede Menge Brüche und Splitterverletzungen. Zwölf Soldaten werden vermisst, vermutlich hat sie der Treffer ins All hinausgesprengt. Da kommt wohl Arbeit auf dich zu.«
Jonas nickte. Eine Trauerzeremonie für die Gefallenen. Das hatten sie verdient. »Und was kann ich hier tun?«
Samir nickte mit dem Kopf in Richtung Aufwachraum.
»Nummer zwei braucht eine neue Infusion. Der daneben muss jeden Moment wach werden und wird feststellen, dass er keine Beine mehr hat. Besser, wenn er dann nicht alleine ist.«
Fünf endlose Stunden später ließ Jonas seine Schutzkleidung mit einem Seufzer der Erleichterung in den Schacht für die Wäscherei fallen. Das Elend, das er heute zu sehen bekommen hatte, machte ihm zu schaffen. Doch dafür war er schließlich spiritueller Begleiter geworden. Es tat den Menschen gut, ihn beim Erwachen zu sehen, auch wenn manche das nicht zugeben wollten und einige sogar versucht hatten, ihn mit derben Worten wegzuschicken. Er wusste ja, dass dieses Verhalten auf ihren Schock zurückzuführen war, und reagierte sehr verständnisvoll auf solche Ausbrüche. Doch jetzt fühlte er sich müde und ausgelaugt.
Auch Alister war heute Nacht gestorben – ganz friedlich im Schlaf, wie es hieß. Jonas hatte erst davon erfahren, als schon alles vorbei gewesen war.
Pflichtbewusst machte er einen Abstecher zu Alisters Kabine. Trotz seiner Erschöpfung war er neugierig, was wohl aus der Futterschüssel geworden sein mochte, die er zurückgelassen hatte. Noch immer wusste er nicht so recht, was er von dieser Buddy-Geschichte halten sollte.
Der Screen an der Kabinentür zeigte ein Foto von Alister McGregor, darunter standen Name und Dienstgrad sowie die Worte: »Wir trauern um einen treuen Kameraden«. Jonas musste schlucken.
Die Tür knackte leise, als der Sensor sein Transpondersignal erfasste. Jonas öffnete sie, und das Licht schaltete sich ein. Suchend blickte er sich um. Er war sich ganz sicher, dass er den Futternapf unter den Tisch gestellt hatte, doch dort stand er nicht mehr. Hatte hier etwa schon jemand die Kabine ausgeräumt?
Er blickte auf seinen Kommunikator – nein, um diese Zeit wohl eher nicht. Es war kurz nach ein Uhr Bordzeit. Jonas zog einen Stuhl heran und setzte sich, um zu überlegen.
Wieder kamen ihm die Bilder der schweren Verletzungen in den Sinn, denen er heute begegnet war. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. So beschloss er, erst einmal schlafen zu gehen und am nächsten Morgen wiederzukommen. Dann würde er sich um Alisters persönliche Dinge kümmern. Die Reisetasche stand noch genauso auf dem Bett, wie Jonas sie zuletzt gesehen hatte.
Gerade als er aufstehen und in seine Kabine gehen wollte, entdeckte er den vermissten Napf. Er stand unter dem Bett und war leer. Jonas hielt unwillkürlich den Atem an. Das konnte eigentlich nicht sein. Behutsam ließ er sich auf die Knie sinken und spähte in die Finsternis unter der Schlafstatt. Nichts zu sehen. Eigenartig. Allzu viele Verstecke bot die kleine Kabine nun wirklich nicht.
Er ging zum Schrank, holte die Futterschachtel heraus und schüttelte sie.
»Buddy«, rief er leise, »Buddy, Buddy, Buddy, komm, Buddy, Buddy!«
Nichts geschah. Jonas füllte den Napf auf und murmelte: »Alister ist leider gestorben, mein Freund. Von nun an werde ich mich um dich kümmern. Es würde die Sache ungemein erleichtern, wenn du jetzt herauskommen würdest.«
Doch es passierte immer noch nichts. Verwirrt ging er in seine Kabine.
Jonas hatte fest und traumlos geschlafen. Er stand auf, wusch sich und ging in die Offiziersmesse zum Frühstück. Es gehörte zu seinen Privilegien als spiritueller Begleiter des Schiffes, dass er nicht einer Messe fest zugeteilt war, sondern überall kommen und gehen durfte, wie es ihm beliebte.
Die Gesprächsfetzen, die er aufschnappte, drehten sich alle um dasselbe Thema: der hinter ihnen liegende Angriff der Piraten. Anscheinend war es ihnen gelungen, mit einer EMP-Bombe einen Teil der Schutzschilde außer Gefecht zu setzen und danach einen Torpedotreffer zu landen. Eine großartige Leistung, wenn man bedachte, dass die Peacemaker schon allein ihrer Form wegen kaum angreifbar war: Von welcher Seite man sich ihr auch näherte, immer stand man feuerbereiten Lasergeschützen gegenüber.
Am Kaffeeautomaten unterhielten sich zwei Waffenoffiziere darüber, dass die Piraten die Perseus, eines der Begleitschiffe, geentert und entführt hatten. Von den Besatzungsmitgliedern fehlte bislang jede Spur.
Während Jonas sein Brötchen aß – wie fast immer saß er allein am Tisch –, hörte er vom Nachbartisch, dass man nun mit einiger Sicherheit sagen konnte, woher die feindlichen Schiffe gekommen waren. Die Spuren ließen sich zum Planeten Kyros verfolgen, einer ehemaligen Sträflingskolonie, die gut drei Lichtjahre entfernt lag. Anscheinend verfügten die Piraten über Hyperraum-Technologie, was erklären würde, wieso sie so unerwartet auftauchen konnten.
Astrophysik war nicht Jonas’ Stärke. Er hatte Mühe, sich Dinge wie »Hyperraum« und »Raumkrümmung« vorzustellen, und behalf sich darum mit einem Vergleich, der ihm in seiner Ausbildungszeit einmal begegnet war: So wie ein U-Boot von der Wasserfläche verschwinden konnte, indem es einfach in die dritte Dimension abtauchte, so konnte auch ein Raumschiff durch die Hyperraum-Technologie von der Bildfläche verschwinden und an einer anderen Stelle wieder auftauchen, indem es die Dimensionen wechselte. Nutzte es dazu noch die Raumkrümmung, so konnte es ungeheure Distanzen in kürzester Zeit überwinden.
Bisher gab es in der Raumflotte allerdings keine Schiffe, die dazu aus eigener Kraft in der Lage waren. Die erforderliche Energie war zu groß, um sie auf einem Schiff zu erzeugen, und die Raumkrümmung zu schwierig zu berechnen, sodass eine exakte Navigation praktisch unmöglich war. Es bestand immer die Gefahr, sich beim Wiedereintritt in den euklidischen Raum in unliebsamer Nähe zu einer Sonne oder einem schwarzen Loch wiederzufinden.
Daher nutzte man Hypergate-Portale. Man durchflog sie einfach, und sie beförderten das Schiff in kürzester Zeit und mit großer Zuverlässigkeit zu dem jeweiligen Gegenpart, der an einem anderen, Lichtjahre entfernten Ort im All schwebte. Jonas stellte sich diese Einrichtung ähnlich wie den Mover auf der Peacemaker mit seinen unterschiedlichen Türen in den verschiedenen Sektoren vor, auch wenn er wusste, dass er damit eine gewaltige Errungenschaft auf einen lächerlich kleinen Nenner brachte.
Die Hyperraum-Technologie war der Schlüssel zur Eroberung des Alls, und die Peacemaker spielte eine wichtige Rolle dabei. Sie sicherte eines dieser Portale, durch das regelmäßig Frachtschiffe voller Erz und seltener Erden ins heimische Sonnensystem flogen, um auf dem ausgeplünderten Heimatplaneten weiteres Wirtschaftswachstum zu ermöglichen.
Nach dem Frühstück kehrte Jonas in seine Kabine zurück und begann, erste Ideen für die bevorstehende Trauerfeier zu sammeln. Das würde ein großes Ereignis werden, bei dem fast die ganze Mannschaft versammelt war.
Plötzlich signalisierte seine Kabinentür einen Besucher.
»Herein!«, rief er. Die Tür glitt auf. Ein Maat mit nervösem Lächeln stand davor; sein Namensschild wies ihn als Jalmar Varind aus. Jonas erinnerte sich dunkel, dass er neben Maat Lennox gesessen hatte, als von ihm diese Bemerkungen über die Raumkadettin gekommen waren.
«Bitte, kommen Sie doch herein!«, sagte er und deutete auf die zwei Sessel in seiner Kabine. Ein Luxus, der sonst nur höheren Offizieren zustand und seiner Funktion als spiritueller Begleiter geschuldet war.
Jalmar trat ein, sah sich nervös um. Er wirkte angespannt, als sei er auf der Flucht.
»Wenn du jemandem erzählst, dass ich hier war, wirst du es bereuen!«, knurrte er.
Nette Begrüßung, dachte Jonas und sagte: »Keine Sorge, das fällt unter meine Schweigepflicht. Setzen wir uns doch. Schluck Wasser?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, stellte Jonas zwei Gläser auf den Tisch und füllte sie aus einer Glaskaraffe.
Jalmar setzte sich auf die Vorderkante des Sessels. Nervös knetete er seine Hände, bis die Knöchel weiß wurden.
Jonas nahm ebenfalls Platz, trank einen Schluck und wartete geduldig.
»Es ist wegen der Prüfung morgen«, sagte Jalmar schließlich. »Ist vielleicht blöd jetzt, weil alle so fertig sind von dem Angriff und so. Aber zweimal bin ich schon durchgefallen. Wenn ich die ein drittes Mal in den Sand setze, kann ich die Beförderung vergessen.«
»Du bist aufgeregt.«
»Ja, und wie!«
»Hast du genug gelernt?«
»Ich denke schon. Ich habe den Stoff bestimmt schon fünf Mal wiederholt. Aber wenn ich in der Prüfung bin, ist mein Kopf plötzlich komplett leer. Dann stottere ich rum wie der letzte Idiot.«
»Es gibt aber auch Prüfungen, die du gut bestanden hast.«
»Klar, sonst wäre ich nicht hier.« Seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. »Die schriftlichen Prüfungen fallen mir nicht ganz so schwer wie die mündlichen. Aber Schiss habe ich davor auch.«
Er stockte und lächelte verlegen.
»Im wahrsten Sinne des Wortes«, fuhr er fort. »Wenn mir eine Prüfung bevorsteht, kann ich kaum noch was essen und hocke ständig auf dem Klo. Durchfall vom Feinsten.«
»Entschuldigung«, fügte er hinzu. »So genau wolltest du das wohl gar nicht wissen.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Jonas. »Dein ganzer Körper ist in Aufruhr, wenn es auf eine Prüfung zugeht. Das ist nichts Außergewöhnliches. Du sendest ihm starke Gefahrensignale, und er denkt, dass ihm jemand an den Kragen will.«
»Aber was kann ich tun?«
»Sprich mit deinem Darm. Sag ihm, dass keine Gefahr droht und alles in Ordnung ist.«
»Du willst mich verarschen.«
»Nein. Leg deine Hand auf deinen Bauch.« Jonas machte es vor. Zögernd tat Jalmar es ihm nach.
»Knete ihn ein bisschen, als wäre er ein verängstigtes Tier. Und dann versichere ihm, dass keine Gefahr droht.«
Jalmar machte ein paar ungeschickte Bewegungen, dann grinste er. »Du bist vielleicht ein komischer Vogel«, sagte er. »Aber es scheint zu helfen.«
Nach einer Weile fügte er hinzu: »Eigentlich habe ich gedacht, dass du mir einen Segen für die Prüfung gibst oder so was.«
»Oh, wenn du willst, kann ich das gerne auch noch tun.«
«Ja, bitte.«
Jonas tippte auf seinen Kommunikator, und das Sonnensymbol erschien an der Kabinenwand. Zugleich wurde das Licht gedimmt, sodass eine feierliche Stimmung entstand. Er stand auf, stellte sich hinter seinen Besucher. Dann legte er ihm eine Hand auf den Kopf und las die Worte von seinem Kommunikator ab:
»Mögen gute Mächte dich begleiten, die Kräfte des Universums an deiner Seite sein. Die Sterne, aus deren Schoß auch dein Leben kam, mögen dir deinen Weg zeigen und dir helfen, das Potenzial, das in dir schlummert, zur Entfaltung zu bringen – zu deinem Nutzen und zum Nutzen aller. So sei es, so geschehe es, so ist es.«
Jonas verstärkte einmal kurz den Druck seiner Hand, um den Worten körperlichen Nachdruck zu verleihen, dann packte er Jalmar an der Schulter.
»Diesmal wird deine Prüfung gelingen«, sagte er mit fester Stimme. »Du kannst Vertrauen haben.«
Er ließ seinen Besucher los und dimmte das Kabinenlicht wieder heller. Das Sonnensymbol verblieb an der Wand.
»Danke«, sagte Jalmar. »Du hast mir sehr geholfen.«
»Das freut mich«, antwortete Jonas. »Dafür bin ich ja da.«
Nachdem Jalmar gegangen war, wandte sich Jonas erneut seiner Vorbereitung der Trauerfeier zu. Er tat sich diesmal schwer damit. Der Tod von Alister machte ihm zu schaffen. Der Leutnant war so etwas wie ein Freund für ihn gewesen – einer der wenigen, die er hatte, denn er fühlte sich verpflichtet, auf dem Schiff eine professionelle Distanz zu den Besatzungsmitgliedern einzuhalten. Er verstand sich als eine Art Gegenüber zu ihnen, und das konnte er nicht sein, wenn die Nähe zu groß wurde.
Alister war eine Ausnahme. Sie waren sich schon Jahre zuvor in einer der Kneipen über den Weg gelaufen, in der die Raumkadetten den Frust ihrer Theorieprüfungen hinunterzuspülen pflegten. Er hatte sich als ein ausgezeichneter Kenner der keltischen Kultur und Geschichte gezeigt, zudem als ein angenehmer Gesprächspartner, mit dem Jonas halbe Nächte hindurch diskutieren konnte. Dann hatten sie sich einige Jahre lang aus den Augen verloren, bis sie sich schließlich an Bord der Peacemaker wiederbegegnet waren. Und nun musste er eine Trauerfeier für den alten Gefährten vorbereiten und, für die Gefallenen der Piratenangriffe gleich mit.
Jonas griff sich sein Sketchboard und machte sich auf den Weg zu Alisters Kabine. Vielleicht würde sich der Wombat hervorwagen, wenn er etwas länger dortblieb. Als er die Tür öffnete, fand er den Futternapf abermals leer. Er füllte ihn auf, setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben.
Wir sind Sternenstaub und geben am Ende unseres Lebens unsere Energie wieder an das Universum zurück. Nichts geht verloren. Wir sind Teil des großen kosmischen Kreislaufs. Die Erinnerungen aber, die wir bei den Menschen hinterlassen, denen wir etwas bedeuten …
Ein leises Kratzen ließ ihn innehalten. Er blickte zum Bett hinüber, unter dem zwei Knopfaugen ihn wachsam ansahen.
»Hallo, Buddy, ich bin Jonas und sorge jetzt für dich. Du kannst ruhig herauskommen.« Er sprach mit betont unaufgeregter Stimme.
Zögerlich schob sich ein pelziges Wesen unter dem Bett hervor, legte den Kopf etwas schief, was wie eine Frage wirkte, hielt kurz inne, dann tappte es zum Napf, wo es sich geräuschvoll über das Körnerfutter hermachte. Jonas saß ganz ruhig da und widerstand dem Impuls, das Tier zu berühren. Es sah tatsächlich aus wie ein zu klein geratener Bär, war vielleicht 80 cm lang. Und mindestens 20 kg schwer. Sein Fell war hellgrau und sah etwas struppig aus.
Als der Wombat die Schale leer gefressen hatte, blinzelte er Jonas mit seinen schwarzen Augen an, gähnte herzhaft und verschwand wieder unter dem Bett.
»Na immerhin ein Anfang«, murmelte Jonas, stand auf und kniete sich vor dem Bett nieder, um darunterzuschauen. Aber das Tier war spurlos verschwunden.
»Entschuldige, Alister, dass ich an deinen Worten gezweifelt habe«, sagte Jonas zu der Reisetasche, die noch immer auf dem Bett stand. Dann nahm er sein Sketchboard und ging.
Jonas bestieg den Mover und fuhr zum Observatorium in Sektor sechs. Hier war nur selten Betrieb, darum kam er oft hierher, wenn er etwas Stille brauchte. Die Schirme zeigten astronomische Objekte in atemberaubender Vergrößerung. Manchmal saß er stundenlang hier, um sie zu zeichnen. Vor allem am Orionnebel konnte Jonas sich kaum sattsehen. Die Farben und Strukturen, die immer neue Details preisgaben, je länger man sie betrachtete, erfüllten ihn durch ihre Schönheit und Größe mit Bewunderung und Staunen. Hier fühlte er sich dem Herzen des Universums besonders nahe.
Als er den Raum betrat, stellte er fest, dass er nicht alleine war. Im gedämpften Licht der Monitore erkannte er Raumkadettin Stella Obermayer. Sie saß an einem der Tische, ihren Kopf in die Hände gestützt. Von Zeit zu Zeit ging ein Zittern durch ihren Körper. Jonas ging zu ihr und legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. Sie wandte den Kopf, sah ihn an. Ihre Augen waren nass und rot.
»Wir waren zusammen auf der Akademie«, schluchzte sie, »Eirin und ich haben zur gleichen Zeit unser Examen gemacht, wir waren beide auf der Chairon und sind dann auf die Peacemaker gekommen. Sie hat gestern mit mir den Dienst getauscht, weil es mir nicht so gut ging, und jetzt ist sie tot. Eigentlich hätte ich in Sektor zehn sein sollen. Es ist meine Schuld!«
Sie stieß ein lang gezogenes Heulen aus. Dann stand sie auf und hängte sich Jonas um den Hals. Er musste alle Kraft zusammennehmen, um von der beleibten Frau nicht zu Boden gezogen zu werden.
»Halt mich fest«, flüsterte sie. Jonas nahm sie in die Arme. Als er ihre Wärme und ihre Weichheit spürte, lief ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Sie roch leicht nach einem blumigen Parfüm. Dann küsste sie ihn. Er wehrte sich nicht, im Gegenteil, er erwiderte ihren Kuss, ließ seine Zunge in ihren Mund wandern. Das Blut rauschte in seinen Ohren.
Gierig legte er seine Hände auf ihre üppigen Brüste. Es war wie im Traum. Von Weitem hörte er ihre Stimme. Sie rief etwas, das er nicht verstand. Er achtete nicht weiter darauf und machte sich ungeschickt daran, ihre Uniform aufzuknöpfen.
Eine Ohrfeige brachte ihn wieder zur Besinnung.
»Ich habe Nein gesagt«, fauchte Stella ihn an. »Was fällt Ihnen ein! Ich brauchte Nähe und Trost und Sie …«
Jonas war erschüttert. Ihm fehlten die Worte. Er versuchte, etwas wie eine Entschuldigung zu stammeln, aber Stella wandte sich von ihm ab und begann ihre Uniform zu richten.
»Sie haben mir einen Knopf abgerissen«, jammerte sie. »Wie konnten Sie mir das antun!«
»Stella, bitte, ich weiß auch nicht, was mit mir los war, es tut mir leid …«
»Pah! Und ich habe Ihnen vertraut. Ich dachte, sie wären anders als andere Männer!«
Dann stapfte sie hinaus. Jonas starrte ihr fassungslos hinterher.
*****
Der kleine Wachraum von Evinin war vollgestopft mit Monitoren und elektronischen Geräten aller Art, die einen seltsam zusammengesetzten Eindruck machten. Tatsächlich stammten sie aus unterschiedlichen Raubzügen und Eroberungen.
Tarek, der junge Wachhabende, lümmelte sich in einem bequemen Kommandosessel, der einst dem Kapitän der Aurora gehört hatte, und spielte 3-D-Tetris. Er war kurz davor, einen neuen persönlichen Highscore zu erreichen, und versuchte konzentriert, die merkwürdig geformten Steine unterzubringen, die ihm seit dem letzten Level entgegenpurzelten. Ein Seitenblick auf den Monitor der Raumüberwachung ließ ihn zusammenzucken. Er zeigte Aktivität im Hypergate an. Prompt fielen zwei Steine an eine ungünstige Stelle, und das Spiel war vorüber. Tarek fluchte leise, dann wandte er sich den anderen Anzeigen zu.
Das Gate meldete den Durchflug von vier Schiffen – was ein Problem darstellte, weil von ihrer Flotte nur drei Schiffe unterwegs waren. Nähere Informationen konnte er erst in einigen Minuten erwarten, wenn sich das Gate sich wieder geschlossen hatte.
Tarek ließ seine Hand unschlüssig über dem Alarmknopf schweben. Bei einem Fehlalarm musste er mit Bestrafung rechnen, ebenso wenn er seine Beobachtung zu spät weitergab.
Seine Finger trommelten nervös auf der Tischplatte. Das Hypergate war gut 50 Millionen Kilometer entfernt – selbst die schnellsten Schiffe brauchten für diese Entfernung mindestens 30 Minuten. Zeit genug für die Alarmstaffel. Er brauchte Fakten, bevor er seinen Kopf riskierte.
Mit einer schnellen Geste schloss er das Tetrisspiel und räumte die Reste seines Imbisses zusammen, für den Fall, dass ein Vorgesetzter hier auftauchte. Tarek verspürte wenig Lust auf Knüppelschläge.
Da endlich tat sich etwas auf einem der Monitore. Vier schmale Rechtecke erschienen, eines etwas länger als die anderen. Tarek ertappte sich dabei, wie er versuchte, sie im Geist übereinanderzustapeln. Er tippte auf den Screen, um weitere Informationen abzurufen, aber produzierte damit lediglich eine kleine Infobox »Data not available«.
Seufzend lehnte er sich in seinen Sessel zurück und starrte die Anzeigen an. Ungeduld brachte ihn nicht weiter. Sobald die Sensoren die Schiffe analysiert hatten, würden sie es melden. Er konnte nur hoffen, dass er es hier nicht mit einem Vergeltungsschlag der Union zu tun hatte. Sie hatten lange Glück gehabt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Raumflotte ihren Schlupfwinkel finden und angreifen würde.
Das Funkgerät erwachte zum Leben. »… Xator Seifuko … schwerer Kreuzer …«
Die Durchsage war nicht zu verstehen. Vermutlich war das Gate noch offen gewesen, als der Spruch abgesetzt worden war, und hatte den Funkverkehr gestört. Tarek langte nach der Sendetaste, aber ließ seine Hand wieder sinken, als ihm einfiel, dass es gut drei Minuten dauern würde, bis seine Signale das Schiff erreichen konnten.
Auf dem Monitor öffnete sich ein Fenster mit Daten.
Schwerer Kreuzer ›Perseus‹, Kennung: U-SK-4302. Kommandant: unbekannt
Wieder zuckte seine Hand zum Alarmknopf. Die Kennung verriet ein Schiff der Raumflotte.
Kreuzer ›Qorxu‹, Kennung: Kom-K 2301. Kommandant: Xator Seifuko
Zerstörer ›Amir‹, Kennung: Kom-Z 1801. Kommandant: Hakan Celik
Zerstörer ›Ridvan‹, Kennung: Kom-Z 1802. Kommandant: Faris Alijev
Was war hier los? Wurden ihre Schiffe verfolgt? Wenigstens bestand keine unmittelbare Gefahr für den Planeten. Mit einem einzelnen schweren Kreuzer sollten ihre Abfangjäger schon fertigwerden.
Das Funkgerät knackte und gab ein kratzendes Geräusch von sich, dann stabilisierte sich das Signal. Xators Stimme klang durch den Raum.
»Ich wiederhole. Hier spricht Xator Seifuko. Wir haben einen schweren Kreuzer der Union erbeutet. Es besteht keine Gefahr. Wir sind auf dem Weg nach Liman.«
Tarek jubelte. Er drückte die Sprechtaste. »Hier Kyros Control. Wir haben verstanden. Meinen Glückwunsch, Herr Kommandant!«
Jetzt hielt ihn nichts mehr davon ab, zum Khan zu laufen. Gute Nachrichten überbrachte er gern.
*****
In dieser Nacht schlief er sehr unruhig. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, schließlich hörte er jemanden seinen Namen rufen.
Jonas! Jonas!
Die Stimme erschien ihm so realistisch, dass er hochfuhr, das Licht einschaltete und sich suchend umsah. Natürlich war niemand zu sehen.
Du hast bloß geträumt, sagte er sich, aber dennoch wollte das unbehagliche Gefühl nicht weichen. Seufzend löschte er das Licht, schloss die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch jetzt begannen die Gedanken in seinem Kopf zu kreisen.
Was würde auf ihn zukommen?
Wartete ein Disziplinarverfahren auf ihn?
Verdammt, wie hatte er sich nur so gehen lassen können! Selbst wenn Stella einverstanden gewesen wäre, hätte er sich ihr niemals in dieser Weise nähern dürfen. Das war ein klarer Verstoß gegen die Dienstvorschriften. Als Seelsorger war für ihn jede erotische Nähe zu Ratsuchenden absolut tabu. Wenn es ganz dumm lief, konnte dies den Abschied von der Peacemaker bedeuten, das Ende seines Lebenstraumes, das Ende seiner Karriere. Eine unehrenhafte Entlassung wegen sexueller Belästigung. Die Kommandantin verstand keinen Spaß an diesem Punkt. Er schlug die Hände vors Gesicht; so fest, dass es wehtat.
Jonas!
Wieder rief jemand seinen Namen, obwohl er diesmal ganz sicher war, nicht zu träumen.
Jonas?
Er hörte es ganz deutlich, aber nicht mit den Ohren – es kam ihm eher so vor, als spräche die Stimme direkt in seinem Kopf. War er dabei, durchzudrehen?
Jonas, ich weiß, dass du mich hören kannst!
Er verspürte den Impuls, schreiend davonzulaufen, beherrschte sich aber und vergrub sich stattdessen unter seinem Kissen. Er presste die Hände auf die Ohren, summte vor sich hin, irgendeine improvisierte Melodie, ganz egal, nur keine Stille, nur diese Stimme nicht mehr hören müssen.
Nach einer ganzen Weile, in der nichts Aufregendes passiert war, entspannte er sich allmählich. Er legte sich wieder auf den Rücken und lauschte.
Nichts. Er vernahm nur ein leichtes Rauschen in seinen Ohren und ein fernes Summen der gewaltigen Antriebsaggregate der Peacemaker.
Schließlich hielt er die Spannung nicht mehr aus.
»Wer bist du, und was willst du?«, fragte er in die Dunkelheit hinein, obwohl er sich albern dabei vorkam. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Erkennst du, dass Schuld mehr ist als ein veraltetes Konzept?
Jonas durchflutete es heiß und kalt. Das war das Thema seiner vorletzten Andacht gewesen: Es gäbe keine Schuld im althergebrachten Sinne, es gäbe nur Lernprozesse und damit verbundene Fehler, die nötig seien, um sich weiterzuentwickeln. Er war recht stolz gewesen auf diese Rede. In seiner aktuellen Lage kam sie ihm jedoch plötzlich ziemlich hohl vor.
»Was willst du mir damit sagen? Wer bist du?« – Seine eigene Stimme klang merkwürdig fremd. Er horchte minutenlang in die Stille seiner Kabine hinein, doch die Antwort blieb aus.
Unruhig setzte Jonas sich auf die Bettkante. Was geschah hier mit ihm?
Es müssen meine Schuldgefühle sein, die sich zu Wort melden, dachte er. Ich muss was dagegen unternehmen, muss mit Stella sprechen, ihr erklären, wie alles gekommen ist. Ihr sagen, dass es mir leidtut. Gleich morgen früh.
Er griff nach seinem Sketchboard. Als es die Bewegung registrierte, glomm es sanft auf, der Dunkelheit der Kabine angepasst. Jonas wischte über die Oberkante und aktivierte die Mannschaftsdatenbank, auf die er als spiritueller Begleiter Zugriff hatte. Er rief den Datensatz von Stella Obermayer auf. Sektor 9, Deck 8, Kabine B 42.
Das passte. Die Messe, in der sie ihn angesprochen hatte, lag auch im Sektor 9. Er beschloss, am Morgen dort zu frühstücken. Vielleicht würden sie sich zufällig über den Weg laufen.
Er gähnte, doch er spürte, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. So rief er die Fachbibliothek auf und las Artikel über Psychosen und das Hören von Stimmen, bis das Signal zum Wecken ertönte.
Sein erster Weg an diesem Morgen führte ihn in Alisters Kabine. Buddy saß mitten im Raum und sah ihn erwartungsvoll an.
»Na, das ist aber fein, dass du mit dem Versteckspiel aufgehört hast«, sagte Jonas mit Kinderstimme. »Komm her, ich gebe dir ein feines Fresschen!«
Buddy blieb sitzen. Aufmerksam beobachtete er jede Bewegung. Jonas blickte in seine Augen, und plötzlich überkam ihn das eigenartige Gefühl, ein uraltes, weises Wesen vor sich zu haben. Diese putzigen Knopfaugen schienen Dinge gesehen zu haben, die jenseits aller Vorstellungen lagen.
Jonas besann sich auf seine Fachartikel und schüttelte sich.
»Entschuldigung«, sagte er zu Buddy, »jetzt projiziere ich meine Unterlegenheitsgefühle sogar schon auf dich.«
Mit einem großen Schritt stieg er über den Wombat hinüber, der nach wie vor bewegungslos in der Mitte des Raumes saß und anscheinend beschlossen hatte, sich für den Rest des Tages nicht mehr zu bewegen. Jonas nahm den Napf, leerte den verbliebenen Inhalt der Futterschachtel hinein, dann stellte er ihn wieder auf den Fußboden.
»Guten Appetit«, sagte er und strich dem Tier freundlich über den Rücken. Es fühlte sich so struppig an, wie es aussah.
»Ich gehe jetzt wieder. Ich muss gleich noch jemanden in der Messe treffen.«
Jonas zuckte zusammen. Für einen Moment hatte es so ausgesehen, als hätte der Wombat energisch seinen Kopf geschüttelt.
Er ist nur ein Tier, rief er sich zur Ordnung. Wahrscheinlich hat es ihn gejuckt oder so.
Dennoch verließ er die Kabine mit einem unguten Gefühl.
*****
»Mein Khan.« Ehrerbietig verbeugte sich der junge, dünne Mann, so gut es ihm mit seinem Gehstock möglich war. Dabei rutschte ihm beinahe die Brille von der Nase, was er im letzten Moment verhindern konnte.
»Was gibt es, Raschad? Die Schiffe werden bald hier sein.« Der großgewachsene, breitschultrige Anführer, in dessen dichtem schwarzem Haar sich allmählich die ersten Silberstreifen zeigten, war gerade damit beschäftigt, seine Paradeuniform zu richten.
»Ich habe es gehört und möchte Euch zu dem großartigen Erfolg Eures Sohnes beglückwünschen.«
»Ja, ja.« Der Khan wedelte ungeduldig mit der Hand. »Komm zur Sache.«
»Können wir uns einen Augenblick setzen? Ich möchte Euch gern etwas zeigen.« Raschad glühte sichtbar vor Begeisterung.
»Meinetwegen.« Bakur schloss mit einiger Mühe den obersten Kragenknopf, der von seinem schwarzen Bart überragt wurde, und deutete auf den kleinen Besprechungstisch. Der junge Mann platzierte sein Sketchboard darauf. Ein kurzer Wisch ließ eine komplizierte Grafik in die Luft steigen.
Der Khan legte die Stirn in Falten und betrachtete das Gewirr aus verschiedenfarbigen Linien. Raschad schwieg respektvoll. Nervös fuhr er sich über sein glatt rasiertes Kinn. Er wusste aus schmerzhafter Erfahrung, dass der Anführer sich von voreiligen Erklärungen in seiner Intelligenz beleidigt fühlte und sich dann mit Ohrfeigen Ruhe zu verschaffen pflegte.
»Eine Wirtschaftsprognose?«, fragte der schließlich.
»Ganz recht, mein Khan. Wie ihr sicherlich gleich erkannt habt, geht es um die Abhängigkeit der Komanda von der Wirtschaftsleistung der Kolonie. Abgesehen von den Tributlieferungen ist sie ein wichtiger Handelspartner – genau genommen unser einziger –, sodass unsere wirtschaftlichen Schicksale miteinander verknüpft sind …«
»Komm zur Sache, Raschad, und erzähl mir nichts, was ich schon weiß. Was willst du?«
»Eine engere Beziehung zur Kolonie. Wenn wir enger zusammenarbeiten würden, sozusagen auf Augenhöhe …«
»Vergiss es. Diese Wilden haben uns Tribut zu zahlen und fertig. Ich wünsche keine Beziehung, die darüber hinausgeht.«
»Aber …«
In den schwarzen Augen blitzte es bedrohlich. Raschad schluckte den Rest seiner Bemerkung eilig herunter.
»Ganz wie Ihr meint, mein Khan. Danke für Eure Zeit.«
Mit einer Handbewegung beendete er die Präsentation, nahm sein Sketchboard und den Gehstock an sich und schlurfte aus dem Raum.
*****
Als Jonas die Messe in Sektor 9 betrat, schienen schlagartig alle Gespräche zu verstummen. Er blickte in ein Meer von ablehnenden Gesichtern – oder bildete er sich das nur ein? Verdammt, er wusste nicht mehr, wie weit er seinen Wahrnehmungen noch trauen konnte. Seine Schuldgefühle spielten ihm einen Streich nach dem anderen. Hatte dahinten wirklich jemand so etwas gesagt wie: »Was will der denn hier?«
Jonas ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Etwa zwei Drittel der Tische waren besetzt, aber Stella war nicht hier. Er ging an den Tresen, zapfte einen Cappuccino am Kaffeeautomaten und setzte sich an einen der leeren Tische. Während er an seinem Becher nippte, spürte er, wie seine Spannung ein wenig nachließ. Es war früh am Morgen, 5:30 Uhr Bordzeit, die Menschen waren um diese Zeit einfach noch nicht so gesprächig. Und falls er richtig gehört haben sollte, konnte die Bemerkung auch einfach damit zu tun haben, dass er erst vorgestern hier zu Abend gegessen hatte. Normalerweise schaute er höchstens einmal in der Woche in jeder Messe vorbei.
Er holte sich einen weiteren Cappuccino und ein belegtes Brötchen. Die ganze Zeit über behielt er die Tür im Blick, doch Stella tauchte nicht auf. Vielleicht hatte sie Spätschicht oder dienstfrei.
Allmählich leerte sich der Saal, gleich war auf den meisten Stationen Dienstbeginn. Jonas beschloss, Stella in ihrer Kabine zu besuchen. Er stellte sein Geschirr weg, bestieg den Mover und fuhr zum Deck 8 hinunter, wo die Mannschaftsquartiere lagen.
Die Etage war in Lindgrün gehalten. Jonas bog in den B-Gang ab und ging an den verschlossenen Kabinentüren vorbei, bis er Nummer 42 erreichte.
»Raumkadettin Stella Obermayer« zeigte das Display an der Tür. Jonas klopfte, doch alles blieb ruhig. Anscheinend war Stella nicht da. Er beschloss, zu seiner Kabine zurückzukehren und weiter an der Rede für die Trauerfeier zu arbeiten. Es hatte wohl keinen Zweck, hier länger rumzustehen.
Als er sich zum Gehen wandte, kamen ihm drei Soldaten entgegen – einen davon erkannte er. Es war Maat Dave Lennox.
»Hey, Seelenklempner, läufst du der Kleinen jetzt schon bis in ihre Kabine nach?«, dröhnte er. Mit einer schnellen Bewegung packte er Jonas am Kragen und drückte ihn gegen die Wand.
»Hör mal, ich sage es dir nur einmal«, sagte er. Er kam mit seinem Kopf so dicht heran, dass sich ihre Stirnen fast berührten und Jonas nicht umhinkonnte, den unangenehmen Atem seines Angreifers zu riechen. »Lass deine Finger von Stella, oder es wird dir leidtun.«
Er hob seine Linke und wollte Jonas einen Fausthieb verpassen, doch der riss seinen Arm hoch und fing den Schlag ab. Lennox sah ihn überrascht an.
»Lass uns doch erst mal über die Sache reden«, sagte Jonas. »Das hier bringt doch nichts. Ich will gar nichts von Stella, ich wollte nur etwas mit ihr klären.«
Der Griff an seinem Kragen lockerte sich.
»Ich verstehe ja, dass du sie magst, und ich will dir da auch gar nicht in die Quere kommen«, fuhr Jonas fort, wobei er sich um eine beruhigende Stimmlage bemühte – etwa so, wie er mit einem wütenden Schäferhund gesprochen hätte. »Wirklich nicht.«
Lennox ließ ihn los und warf seinen Gefährten einen verunsicherten Blick zu. Einer machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf.
»Nur für den Fall, dass du es vergessen solltest«, sagte der Maat und schlug ein weiteres Mal nach Jonas’ Gesicht; diesmal mit rechts. Jonas fing den Schlag erneut ab und setzte zum Gegenangriff an. Im letzten Moment drehte Lennox den Kopf beiseite, sodass die Faust ihn nur leicht streifte.
»Ihr habt gesehen, dass er mich angegriffen hat!«, sagte er zu seinen Begleitern. Dann ging er auf Jonas los. Der packte die Hände seines Angreifers und hielt sie mit aller Kraft fest.
»Hört auf damit«, presste er zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Lennox war stark. »Wir kommen beide vor die Innere, wenn wir uns hier prügeln.«
»Wir prügeln uns doch gar nicht«, lachte der Maat. »Ich bin gar nicht hier. Meine Freunde werden das bezeugen.« Er knallte seine Stirn gegen Jonas’ Nasenbein, dann rammte er ihm das Knie in den Unterleib. Keuchend ging der spirituelle Begleiter der Peacemaker zu Boden, wo er sich wimmernd krümmte. Der Schmerz war unbeschreiblich.
»Wir sehen uns, Seelenklempner«, sagte Lennox und trat ihm zum Abschied in die Rippen. »Und vergiss nicht, hier stehen drei Aussagen gegen eine.«
Nachdem sie gegangen waren, ließ Jonas seinen Tränen freien Lauf. Er weinte vor Schmerz und Scham und Wut und Enttäuschung darüber, nach allem, was er für die Menschen hier an Bord getan hatte, nun so behandelt zu werden.
Glücklicherweise blieb es in dem Flur ruhig. Niemand kam vorbei, der ihn so hätte sehen können. Irgendwann rappelte sich Jonas auf und humpelte zum Mover, der ihn zurück zu seiner Kabine brachte. Dort legte er sich aufs Bett und schlief bald ein. Die wenigen Stunden Schlaf der vergangenen Nacht zeigten ihre Auswirkungen.
Wieder weckte ihn eine Stimme.
Jonas! Jonas!
»Ja, was ist?« Schlaftrunken versuchte Jonas herauszufinden, ob er noch träumte oder ob dies die Wirklichkeit war. Seine schmerzenden Rippen und das Pochen im Nasenbein gaben ihm eine unmissverständliche Antwort.
Bevor er sich dagegen wappnen konnte, fuhr die Stimme fort: Ich möchte, dass du etwas für mich tust. Du musst dieses Schiff verlassen und eine Botschaft für mich ausrichten.
Jonas fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen, und er würde, hilflos mit den Armen rudernd, ins Nichts stürzen. Das hier war sein Leben. Hier wurde er gebraucht. Es war ganz und gar undenkbar, von der Peacemaker zu gehen, um irgendwelchen Einflüsterungen zu folgen. Andererseits wusste er aber auch nicht, wie er dieser Stimme entkommen konnte. Vermutlich sollte er professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, doch das würde mit Sicherheit den Abschied von seinem Dienst zur Folge haben.
»Wer bist du?«, fragte er ängstlich. »Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«
Du weißt, wer ich bin.
Ach wirklich?, dachte Jonas. Wenn es so wäre, hätte ich ja wohl kaum diese Scheißangst, durchzudrehen. Ob die Stimme auch meine Gedanken lesen kann? Das kann sie bestimmt, schließlich kommt sie aus den Tiefen meiner Psyche. Vielleicht hilft sachliches Argumentieren.
Laut sagte er: »Aber ich kann dieses Schiff nicht verlassen. Jetzt nicht. Ich habe eine große Trauerfeier auszurichten!«
Womöglich bist du nicht so wichtig, wie du glaubst?
Jonas war überrascht und empört zugleich. Verzweifelt suchte er nach Worten der Entgegnung, doch ihm wollte einfach kein passendes Argument einfallen.
Stunden später schreckte er hoch, als er das leise »Pling!« seines Kommunikators hörte. Er wischte sich die Augen und las: Mitteilung der Kapitänin: Trauerfeier für die gefallenen Kameraden morgen 11:00 Uhr in der Sportarena Sektor 7.
Ungläubig starrte er das Display an. Diese Veranstaltung fiel in seinen Verantwortungsbereich. Er hatte zwar bereits mit den Vorbereitungen dafür begonnen, war aber noch längst nicht fertig. Wie konnte es sein, dass der Termin mit ihm nicht vorher abgesprochen worden war?
Er aktivierte den Kommunikator, ließ ihn eine Verbindung zur Brücke herstellen. Nach dem dritten Klingelton meldete sich eine jugendliche Stimme.
»Walters.«
»Hier ist Jonas Rothenfels. Ich möchte gerne mit Kapitänin Fairchild sprechen.«
»Die Kommandantin ist zurzeit beschäftigt. Ich bin ihr persönlicher Referent. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Eben erhielt ich die Nachricht, dass morgen eine Trauerfeier für die gefallenen Kameraden stattfinden soll.«
»Um elf Uhr in der Arena. Das ist richtig.«
»Aber wieso bin ich als der zuständige spirituelle Begleiter darüber nicht informiert worden?«
»Weil die Kapitänin die Ansprache selbst halten wird.«
Jonas überlief ein Schauer. Wieder fühlte er sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
»Nun, das ist natürlich ihr gutes Recht, aber trotzdem hätte ich erwartet, dass sie sich vorher mit mir abstimmt.«
»Unsere Kommandantin hat nach dem Angriff der Piraten jede Menge zu tun. Unter uns gesagt, würde ich sie in dieser Angelegenheit nicht weiter behelligen.« Die Stimme des Referenten bekam einen drohenden Unterton.
»Aber – es kann sich dabei doch wohl nur um ein Versehen handeln!«, beharrte Jonas. »Bestimmt ist ihr in ihrem Stress einfach entfallen, dass ich für die Trauerfeier verantwortlich bin.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Wie bitte?«
»Ich sage es Ihnen nur ungern, und von mir haben Sie es nicht gehört, aber ihre Worte waren: ›Ehe ich mir das Gelaber von diesem Rotzfels antun muss, halte ich die Rede doch lieber selbst.‹«
»Danke für Ihre Offenheit«, zwang Jonas sich zu sagen, dann beendete er die Verbindung. Er brauchte dringend Urlaub.
Jonas, meldete sich die Stimme zu Wort.
»Nein, lass mich in Ruhe. Du bist nicht real!«
Ich möchte, dass du einen Auftrag für mich ausführst.
»Einen Auftrag? Was für einen Auftrag?«
Jetzt, wo du erkannt hast, dass Schuld Gewicht hat, fliege zum Planeten Kyros und verkünde Bakur Khan, dass er von seinem mörderischen Vorhaben ablassen soll. Es brächte großes Unheil über ihn und den Rest der Galaxis.
»Ich soll was? Bist du wahnsinnig? Hast du eine Vorstellung davon, was die Piraten mit mir anstellen werden, wenn sie mich in die Finger bekommen?«
Ich habe einem meiner Engel befohlen, dich zu beschützen.
»Engel gibt es nicht!« Jonas schrie es fast.
Die Stimme schwieg. Jonas dachte einen Augenblick nach, dann fasste er einen verzweifelten Entschluss. Das Hören von Stimmen war ein deutliches Zeichen von Erschöpfung. So konnte es nicht weitergehen. Er griff zum Kommunikator und stellte einen Antrag auf Heimaturlaub zum nächstmöglichen Zeitpunkt.
In den letzten drei Jahren hatte er auf Urlaub verzichtet, weil er wusste, dass er hier an Bord unersetzlich war. Die Raumflotte stellte keine Vertretungsdienste. Angeblich wegen Personalknappheit. Da hatte er die Soldaten, die ihm anvertraut waren, nicht einfach alleine lassen können. Doch nun ging es nicht anders. Er brauchte dringend Erholung. Die Mannschaft musste irgendwie ohne ihn auskommen. Es waren ja nur drei Wochen.
Der Kommunikator summte.
Antrag genehmigt. Abflug Versorgungsschiff morgen 14.00 Uhr.
Das war gut, so blieb ihm etwas Zeit zum Packen. Außerdem hatte er noch ein anderes wichtiges Problem zu lösen.
Jonas machte sich auf den mittlerweile vertrauten Weg zu Alisters Kabine. Er trat ein, und kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stürmte Buddy auf ihn zu. Zutraulich rieb der Wombat seinen Kopf an Jonas’ Bein.
»Ja, ja, du bekommst dein Futter«, sagte er lachend. Die Zuneigung des kleinen pelzigen Tieres war eine Wohltat für seine Seele. Leicht fiel es ihm nicht, ihn hier zurückzulassen.
»Hör mal, Buddy«, sagte er, während er die Körner in den Napf füllte. »Ich muss auf eine Reise gehen. Leider weiß ich noch nicht, wen ich fragen könnte, aber ich werde bestimmt jemanden finden, der sich in der Zwischenzeit um dich kümmert.«
Buddy schüttelte leicht seinen Kopf und sprang mit einem Satz aufs Bett. Dort stützte er sich mit den Vorderbeinen auf die Reisetasche und sah Jonas aufmerksam an.
»Du hast genau verstanden, was ich gesagt habe«, stellte der verwundert fest. »Und du willst, dass ich dich mitnehme.«
Diesmal gab es keinen Zweifel. Buddy nickte eindeutig. Jonas griff nach der Tasche und öffnete sie. Überrascht stellte er fest, dass sie fast leer war. Lediglich etwas Wäsche befand sich darin, auf eine Art zerdrückt, die es wie ein Nest wirken ließ.
»Alister wollte dich mitnehmen, aber dann kam ihm dieser Unfall dazwischen …«, sagte er nachdenklich.
Buddy drängte sich an ihm vorbei, kletterte in die Tasche, kuschelte sich in die Mulde und blinzelte zu Jonas hinauf.
»Na gut, ich nehme dich mit. Aber ein bisschen dauert es noch. Das Schiff fliegt erst morgen Mittag. Bis dahin muss ich mir etwas einfallen lassen, wie wir dich durch die Kontrollen bekommen.«
Diesmal hätte Jonas schwören können, dass Buddy mit einem Auge gezwinkert hatte.
Er brauchte wirklich dringend Urlaub.
*****
Der Khan überprüfte ein letztes Mal im Spiegel den Sitz seiner Uniform und trat dann hinaus auf den Balkon, von wo aus er den größten Teil Evinins überblicken konnte. Auf den Gassen summte es vor Aufregung. Die Menschen strömten zum Raumhafen, wo hinter der Absperrung des Rollfeldes bereits ein chaotisches Gedränge herrschte. Frauen, verhüllt mit schwarzen Kopftüchern, erfüllten die Luft mit lebhaftem Geschnatter. Kinder wuselten in der Menge herum. Einige wenige Alte standen gelassen am Rand und beobachteten das Treiben. Bakur Khan konnte vom Balkon seines Hauses alles gut verfolgen. Er lächelte.
Plötzlich erhob sich ein lautes, vielstimmiges Rufen. »Sie kommen, sie kommen!«
Bakur kniff die Augen zusammen und suchte den Himmel in östlicher Richtung ab. Doch er sah nur die blasse schmale Sichel von Cavab, dem kleineren der beiden Monde von Kyros. Sie wirkte leicht verzerrt.
Müde strich sich der Khan über das Gesicht.
Meine Augen lassen nach, dachte er düster. Gerade mal 52, und ich komme mir manchmal schon wie ein alter Mann vor.
Endlich erkannte er eine Handbreit links von Cavab einen leuchtenden Punkt, der sich allmählich vergrößerte. Dann tauchte daneben ein zweiter, etwas schwächerer auf, schließlich ein dritter. Zweifellos, das waren die Shuttles, die seine Männer vom Raumhafen auf Liman zurückbrachten.
Der erste Lichtpunkt hatte sich jetzt zu einer brennenden Fackel weiterentwickelt, die eine schwarze Rauchspur hinter sich herzog.
»Nicht so schnell, Jungs«, murmelte Bakur und raufte seinen schwarzen Bart. »Diese Hitzeschilde halten nicht alles aus.«
Nun hingen drei Fackeln am Himmel und zeichneten ein beeindruckendes Muster an das rötliche Firmament. Endlich setzten sie zu einer eleganten Kurve an. Die Flammen verlöschten, die Rauchfahnen wurden kleiner.
Bakur verließ seinen Balkon und eilte zum Flughafen. Die Menschen, an denen er vorüberging, grüßten ihn ehrerbietig, doch er beachtete sie nicht. Er betrat den VIP-Bereich, eine kleine hölzerne Tribüne am Rand des Rollfeldes.
»Salam, mein Khan!«
Ein grauhaariger, elegant gekleideter Mann stand auf und verbeugte sich.
»Salam, Alim!« Bakur legte dem Wesir freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Schön, dass du da bist.«
»Wie könnte ich diesen Moment verpassen? Ein doppelter Sieg gegen die Union; dieser Tag wird in die Geschichte eingehen!«
»Ja, Xator hat sich in seinem Kommando hervorragend bewährt. Er wird ein großartiger Nachfolger sein.« Bakur lächelte stolz.
»Wenn es an der Zeit ist, mein Khan. Wir wollen doch nichts überstürzen.«
Das Lächeln auf Bakurs Gesicht erlosch. »Ich war jünger als er, als ich Khan wurde.«
»Das ist richtig. Aber du hattest keine Wahl. Als dein Vater fiel, musste eine rasche Entscheidung getroffen werden, damit unsere heilige Komanda nicht auseinanderfällt.«
»Auch mir könnte etwas zustoßen!«
»Das sei ferne, mein Khan.« Der Wesir neigte sein Haupt.
»Ja, ja. Dennoch soll meine Nachfolge gut vorbereitet sein. Du weißt genau, wie lange es dauert, bis ein Anführer reif genug ist, um die Komanda zu führen. Er muss Erfahrungen sammeln und sich das Vertrauen der Männer erarbeiten, und dafür braucht er Erfolge.«
»Das ist klug gedacht, mein Khan. Du solltest nur darauf achten, dass dir dein Nachfolger das Amt nicht vor der Zeit streitig macht.«
Bakur fuhr auf. Seine Augen blitzten.
»Was willst du damit sagen? Xator ist mein Ziehsohn. Er würde sich niemals gegen mich erheben!«
Der Wesir verneigte sich. »Verzeiht mir, mein Gebieter. Ich wollte Euren Sohn ganz gewiss nicht beschuldigen. Es war nur die Besorgnis eines alten Mannes.«
»Genug jetzt.«
Der Khan wandte sich ab und beobachtete die herannahenden Shuttles, deren Triebwerke nun deutlich zu hören waren. »Ein Treffer auf die Peacemaker und ein erbeuteter schwerer Kreuzer. Das kann man wohl als Erfolg bezeichnen, denke ich.«
Alim Badawi neigte respektvoll sein graues Haupt und schwieg.
Der Lärm schwoll an und übertönte den Jubel der Menge. Die Shuttles setzten auf und kamen im Antigravfeld bald zum Stillstand.
Es waren plumpe Raumfahrzeuge, die aussahen wie übergroße Reisebusse mit Stummelflügeln. Aber sie erfüllten ihren Zweck, der darin bestand, Mannschaften schnell und zuverlässig zur Mondbasis und wieder zurückzubringen.
Nachdem das Bremsfeld sie freigegeben hatte, rollten die Shuttles an den Rand der Absperrung, wo sie im gleichmäßigen Abstand voneinander stehen blieben. Die Türen schwangen auf.
Begleitet vom Beifall der Menge, strömten die Kämpfer im Laufschritt heraus und stellten sich in perfekt ausgerichteten Reihen vor ihren Raumfähren auf. Xator erschien als Letzter. Als der junge breitschultrige Mann aus der Tür trat, stieß er in Siegerpose seine Faust gen Himmel. Prompt erreichte der Jubel eine ohrenbetäubende Lautstärke.
Dann griff der Khan zum Mikrofon.
»Die Komanda begrüßt ihre Helden!«, rief er, und seine Stimme hallte über den Platz. »Willkommen zu Hause. Ihr habt einen großartigen Sieg errungen.«
Der Rest seiner improvisierten Rede ging darin unter, dass das Rollfeld von den Zuschauern gestürmt wurde. Unter lauten Rufen umarmten Mütter ihre Söhne, Frauen ihre Männer und Kinder ihre Väter. Milde lächelnd sah der Khan zu, wie die militärische Ordnung seiner Krieger im Chaos versank. Dann machte auch er sich auf den Weg, schritt würdig auf die Shuttles zu und schloss seinen Ziehsohn in die Arme.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte er und hielt ihn an beiden Schultern vor sich. »Dein erstes Kommando war ein voller Erfolg. Al Kahar hat dich reich gesegnet.«
»Wir müssen reden«, presste Xator heraus. Seine verkniffene Mine stand im Kontrast zum allgemeinen Jubel.
»Später.« Der Khan blickte prüfend zum Himmel. Die rote Sonne stand kurz davor, den Horizont zu berühren. »Erst einmal ist es Zeit für das Abendgebet. Führe deine Männer ins Gebetshaus.«
Eine halbe Stunde später saß Bakur Khan auf seinem Ehrenplatz im Gebetsraum.
Seine Krieger standen in Zwölferreihen vor ihm, perfekt ausgerichtet, die Anführer in den vorderen Reihen.
»Al Kahar ist groß!«, rief Bakur und hob die Hände empor. Ein vielstimmiger Chor antwortete ihm. »Al Kahar ist groß!«
In vollkommen synchronisierter Bewegung sanken alle Männer auf ihr rechtes Knie. Xator, als der ranghöchste anwesende Offizier, begann zu sprechen.
»Wir dienen Al Kahar, dem Allmächtigen, der zu uns gesprochen hat durch die heiligen Propheten. Wir bekennen Amir Abdul Salam als seinen letzten Gesandten. Der Segen Gottes sei über ihm. Wir dienen Bakur Khan, seinem Bevollmächtigten, und folgen willig seinen Befehlen. Der Segen Gottes bleibe auf ihm.«
Die Männer sanken auf beide Knie, ihre Stirn berührte den Boden.
»Preis sei Al Kahar, dem alles Bezwingenden. Niemand kann ihm widerstehen. Preis sei Amir Abdul Salam, seinem Propheten.«
Wie auf Kommando standen die Männer auf, die geballten Fäuste in Höhe ihrer Gürtel.
»Rache und Vernichtung den Vernichtern der heiligen Schriften!«
Die Beter rissen ihren rechten Arm hoch; in den Händen hielten sie imaginäre Säbel.
»Tod allen Ungläubigen und Zerstörung den Feinden des Glaubens!«, Xator brüllte es fast.
Der imaginäre Säbel kam in Bewegung und hieb einen unsichtbaren Kopf ab.
Es schloss sich eine Folge von Vorstößen und Paraden an, Fußtritte zum Kopf und zum Bauch unzähliger Gegner, trickreiche Wendungen und Sprünge, die die gut 120 Mann in exakter Choreografie aufführten, bis sie schließlich wieder in der Grundposition ankamen, in aufrechter Haltung, die Fäuste in Höhe der Gürtel geballt. Auf einigen Gesichtern zeigten sich Schweißperlen.
»Al Kahar ist groß!«, riefen sie ein letztes Mal, die rechte Faust in den Himmel gereckt. Die Gebetszeit war zu Ende.
Der Khan wartete schweigend, bis Alisha die mit Tee gefüllten Gläser vor ihnen auf den Tisch gestellt und den Raum lautlos wieder verlassen hatte.
Er blickte sich in der kleinen Runde um, die aus ihm, seinem Wesir Alim, Xator und den beiden Zerstörerkommandanten Hakan und Faris bestand.
»Wie man hört, hat Al Kahar euch einen großen Sieg geschenkt. Ihr sollt dafür belohnt werden. Doch zuerst erstattet Bericht. Xator?«
»Ich verlange keine Belohnung, sondern eine Bestrafung für Hakan«, platzte er heraus. »Er hat meine Befehle missachtet.«
»Er hat einen schweren Kreuzer erbeutet«, sagte Alim. »Er ist ein Held. Und du willst ihn bestrafen?«
»Er hatte klare Anweisungen, auf mein Eintreffen zu warten. Stattdessen hat er eigenmächtig gehandelt und damit seine Mannschaft gefährdet.«
»Hakan?« Die rabenschwarzen Augen des Khans fixierten den Kommandanten, der unbehaglich zu Boden starrte.
»Es stimmt, mein Khan. Bei der Einsatzbesprechung hat Xator angeordnet, dass alle Schiffe gemeinsam angreifen. Doch nach dem Hypersprung wurden wir getrennt. Seine Qorxu war weit weg und die Perseus direkt vor uns. Ich musste eine Entscheidung treffen.«
»Augenblick.« Der Khan hob die Hand. »Was soll das heißen, dass ihr nach dem Hypersprung getrennt wurdet?«
»Es war ein ungeregelter Sprung, mein Khan. Xator hat die Hypergatebindung aufgelöst, sodass wir nicht durch das korrespondierende Gate geflogen, sondern direkt im Weltraum rematerialisiert sind. Darum wurden wir auch getrennt. Die Qorxu hat eine viel größere Masse als die beiden Zerstörer.«
»Ich verstehe. Bitte lasst mich jetzt einen Moment mit Xator allein.«
Die Männer erhoben sich, legten ihre rechte Hand aufs Herz, verbeugten sich vor dem Khan und verließen den Raum.
»Du hast einen ungeregelten Sprung durchgeführt?«, zischte der Khan. »Ist dir klar, welches Risiko damit verbunden ist?«
»Wer nichts wagt, der kann auch nichts gewinnen. Das hast du mir beigebracht! Außerdem gibt es neue Gleichungen für den Hypersprung. Man kann ihn jetzt viel präziser berechnen als früher.«
»Das haben wir gesehen. Deswegen waren eure Schiffe auch nach dem Sprung verstreut. Du kannst von Glück sagen, dass du nicht in einer Sonne gelandet bist oder in einem Meteoritenfeld!«
»Du übertreibst. So ein Risiko besteht heute nicht mehr. Und außerdem – ohne den Sprung hätte der ganze Angriff nicht funktioniert. Es ging nicht nur um das Überraschungsmoment. Sondern die Raumwellen des Sprunges haben die Peacemaker für einen Moment komplett wehrlos gemacht. EMP ist nichts dagegen!«
Xators Augen leuchteten. »Bakur, wir haben einen Volltreffer auf die Peacemaker gelandet! Das Schiff, von dem es immer hieß, dass es unangreifbar sei! Überleg mal, was das heißt!«
»Mir ist klar, was das heißt. Sie werden Jagd auf uns machen. Sie werden nicht ruhen, bis sie Evinin gefunden haben, und uns vernichten. Die Energiespuren deines Sprunges werden ihnen den Weg weisen.«
»Nein. Vertrau mir. Die haben jetzt die Hosen voll.«
»Wir werden sehen. Nun weiter: Warum willst du einen verdienten Mann bestrafen?«
»Er hat sich meinem Befehl widersetzt. Und er ist ein unnötiges Risiko eingegangen, nur seines persönlichen Ruhmes wegen.«
»Er hat korrekt gehandelt. Auch die Perseus war vom Hypersprung geblendet. Hätte er auf dich gewartet, hätte er seine Chance vertan. Ich werde diesen Mann belohnen und nicht bestrafen.«
»Aber …«
»Schweig jetzt. Das ist meine Entscheidung, und du wirst sie akzeptieren.«