Читать книгу Omega - Jörg H. Trauboth - Страница 11

KAPITEL 1 SCHREI

Оглавление

Karina Marie verließ mit Pia im Kinderwagen die Bank. Sie war in großer Eile, denn sie erwartete ihren Mann Marc vom Einsatz zurück. Vielleicht würden sie sich hinter dem kleinen Park sogar noch auf der Straße treffen. Er würde natürlich stoppen, herausspringen und als erstes die kleine Pia aus dem Kinderwagen heben, ihren wunderbaren Babygeruch einatmen und sie zärtlich und sanft beschmusen. Pia würde ihren Vater anstrahlen und an seine US-Fliegerbrille grapschen. Sie war sein Sonnenschein. Dann würde er – Pia haltend – seine Frau in die Arme nehmen und ihr etwas ins Ohr flüstern.

Sie schmunzelte in sich hinein, denn es wäre ein Code gewesen, den nur sie kannte. So würde es sein. Sie wollte gerade den Park verlassen und in ihre Straße einbiegen.

Plötzlich legte sich von hinten ein Arm um ihre Schultern und hielt sie fest. Sie erstarrte in panischer Angst, nahm das Messer im Augenwinkel nicht wahr und schon gar nicht den Schnitt. Ihr Kopf knallte auf den Kiesweg, und ihre langen, schwarzen Haare verfärbten sich im Blut, das in einem ersten Stoß wie eine Fontäne aus ihrem Hals schoss und sich als hässliche dunkelrote Lache langsam unter dem Kinderwagen ausbreitete. Ihre Augen waren seltsam geöffnet, fast staunend. Pia sah interessiert auf die Mutter herunter und winkte ihr ungelenk mit beiden Ärmchen zu.


Jelkes Handy meldete sich mit dem schlimmsten aller Alarmtöne. Fünfmal kreischend laut, jeweils kurz unterbrochen und so durchdringend, dass die Musik ihrer Lieblingssängerin Maria Dolores Pradera in ihrem Kopfhörer sofort zur Nebensache wurde. Augenblicklich saß sie kerzengerade und las:

LEITSTELLE NOTFALLSEELSORGE ANRUFEN!

Die Nachricht war ungewöhnlich, denn üblicherweise bekam sie direkt den eigentlichen Einsatzauftrag übermittelt, wie: Plötzlicher Tod, Suizid, Verkehrsunfall und zeitsparend auch immer direkt die Adresse vom Ort des Geschehens. Auf dem Wege würde sie von der Leitstelle ein erstes Briefing bekommen, sofern es überhaupt Informationen gab.

»Einsatz, Jelke! Bist du abmarschbereit?«, fragte die freundliche Männerstimme von der Zentrale. Die Frage war überflüssig. Jelke, die beliebte Erzieherin im Kindergarten der benachbarten evangelischen Kirche, war heute an ihrem freien Tag im Dienstplan der Notfallseelsorge eingetragen und musste sicherstellen, innerhalb von dreißig Minuten am Einsatzort zu sein.

»Wir haben dir einen Streifenwagen geschickt, der bringt dich ins Polizeipräsidium, dort erwartet dich Kriminalhauptkommissar Ganter Holms.«

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Mord in Blankenese. Überbringen einer Todesnachricht. Holms wird dich vorbereiten.«

»Mit Jacke oder ohne?«

»Mit! Stell’ dich auf einen Riesenrummel ein!«

Eigentlich musste sie dringend zur Toilette, doch dafür blieb wohl noch Zeit im Präsidium.

Sie griff ihre lilafarbene Einsatzjacke und den Einsatzkoffer, knallte die Tür hinter sich zu und eilte das Treppenhaus hinunter, während von oben eine Frauenstimme aus der offenen Tür der Nachbarwohnung fragend rief, wer denn wohl gestorben sei.

Obwohl Jelke schon über einhundert Mal auf diese Art alarmiert worden war, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Sie konnte diese Erstaufregung nicht unterdrücken, doch die würde sich, wenn sie vor jener Schicksalstür stehen würde, in der die Welt noch in Ordnung war, in gespannte Ruhe verwandeln. Hoffentlich.

Wie gut, dass Ganter Holms dabei war. Sie kannte ihn von einigen Einsätzen, schätzte seine besonnene, ruhige Art. Er würde an einer unbekannten Tür klingeln, sich vergewissern, dass die richtige Ansprechperson vor ihnen stand und sich als Kriminalhauptkommissar der Hamburger Polizei sowie Jelke Lorberg als Notfallseelsorgerin vorstellen. Mit dem Öffnen der Tür würde augenblicklich eine bis dahin geordnete Welt in der Wohnung ins Chaos stürzen. Die Ansprechperson würde angesichts der Aussage, man sei von der Polizei und der Notfallseelsorge, erstarren, schreien oder vielleicht sogar kollabieren.

Vielleicht würden beide auch einfach nur ruhig hineingebeten.

In der Wohnung würden sie nur eine Person oder auch ganz viele antreffen, vielleicht Kinder, vielleicht Kranke. Möglicherweise ständen sie in einer ordentlichen oder gänzlich verschmutzten, übel riechenden Wohnung. Oder sie würde ein multikulturelles Szenario mit sehr vielen schreienden Menschen erwarten. Wie auch immer. Sie müssten sich auf jede Situation einstellen.

Holms würde behutsam aber schnörkellos die Todesnachricht überbringen. Er würde nicht von Leiche, sondern der verstorbenen Person sprechen, so wie er es gelernt hatte. Aber – wie viele seiner Kollegen – schätzte auch er diese hochoffizielle Pflicht nicht, denn er litt regelmäßig mit, insbesondere, wenn Kinder vom Leid betroffen waren.

Einmal hatten die beiden erlebt, wie der alkoholisierte Bruder des Toten den Polizeibeamten Ganter Holms in der Überbringungsphase der Todesnachricht heftig am Hals würgte und schrie, er solle nicht so einen Unsinn reden. Holms gelang es kaum, ihn abzuwehren. Seine Hand glitt schließlich zur Waffe. Jelke half damals erfolgreich zu deeskalieren. Sie sagte nur einen Satz: »Ich weiß, wie sehr du deinen Bruder liebst.«

Der Mann hing anschließend weinend in ihren Armen. Holms beließ es dabei.

Doch meistens lief es ruhig ab. Holms würde nach der ersten Schockphase erläutern, dass der Leichnam in die Rechtsmedizin käme und in einigen Tagen mit der Freigabe des Toten zu rechnen sei. Beide würden in leere Augen blicken, die nur das eine signalisierten: »Das ist nicht wahr! Bitte, lieber Gott, lass’ es nicht wahr sein!«

Erfahrungsgemäß würde Ganter Holms bereits in der ersten halben Stunde an Jelke übergeben, seine Kontaktdaten hinterlassen und sich mit seinem aufrichtigen Beileid von den Hinterbliebenen verabschieden. Er würde sich in der Haustür noch einmal prüfend umsehen, ob seiner Kollegin irgendeine Gefahr drohen könnte.

Nun wäre sie allein auf sich gestellt und würde mit ihrer seelsorgerischen, feinfühligen Arbeit beginnen. Jelkes Seelsorge hätte gar nichts mit Kirche oder irgendeiner Religion zu tun, sondern nur mit ihrer Sorge, einer aus dem Takt geratenen Seele zu helfen. Ihr Auftrag wäre erfüllt, wenn es gelänge, das seelische Gleichgewicht ihres Gegenübers wenigstens etwas wiederherzustellen und in das Leben zurückzuführen.

Sie hatte sich oft gefragt, ob der therapeutische Ansatz, eine fremde, vollkommen erschütterte Person in wenigen Stunden zu stabilisieren, nicht vermessen sei. Doch mit einer einfühlsamen Fragetechnik nach dem SAFER-Modell gelang es ihr meistens. Sie würde im ersten Schritt Stabilisieren, im zweiten helfen, die Situation zu Akzeptieren, sodann im dritten die Erkenntnis Fördern, dass extreme Verhaltensweisen normal seien. Sie würde im vierten Schritt daran arbeiten, Bewältigungsstrategien zu Entwickeln mit dem Ziel, fünftens verlorene Selbstständigkeit Rückzugewinnen.

Doch es gab Einsätze, in denen SAFER gar nicht gelingen wollte. Jelke traute sich dann, die bewährte Methodik mutig über Bord zu werfen, um mit ihrer ganz persönlichen empathischen Art und Lebenserfahrung Ruhe ins seelische Chaos zu bringen und alles zu tun, um ein posttraumatisches Belastungssyndrom zu verhindern.

Zuweilen, wenn die Erschütterung gar nicht so groß war, fungierte sie lediglich als Expertin für die notwendigen organisatorischen Folgemaßnahmen. Auch das gab es: Sozialarbeit ohne Seelsorge.

Nach zwei oder drei Stunden würde sie die Wohnung mit all ihren nagenden Zweifeln verlassen, ob sie hinter der Tür eine wirkliche Hilfe gewesen war. Vielleicht würde man sich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Doch wenn sie beim Verabschieden ein gutes Gefühl hatte oder sogar später eine positive Rückmeldung bei der Notfallseelsorge eintraf, wäre es wieder da, das Gefühl der Dankbarkeit, dass man Menschen am empfundenen eigenen Abgrund helfen konnte und auch das der Demut, jeden geschenkten guten Tag ohne Leid genießen zu dürfen.

Wenn die Krisenintervention jedoch die eigene Psyche überfordern würde, könnte Jelke eine Supervision in Anspruch nehmen. Das war bisher nicht nötig gewesen.

Doch dieses Mal würde es ganz anders kommen. Schlimmer, als Jelke es sich je hätte vorstellen können.


Sie rasten mit Blaulicht zum Präsidium Richtung City Nord nach Winterhude. Der Beamte auf dem Beifahrersitz sprach mit der Leitstelle. Er drehte sich kurz zu Jelke und meinte:

»So geht das schon den ganzen Tag. Aber dieser Mord an einer jungen Frau und Mutter im Park schlägt alles. Hier läuft gerade eine Großfahndung. Hoffentlich erfolgreich!«

Dabei deutete er in den Himmel auf einen Polizeihubschrauber vom Typ Eurocopter 135.

»Es gibt offensichtlich erste Hinweise. Sonst wäre der nicht in der Luft. Mit unseren Libellen erreichen wir in sieben Minuten jeden Punkt innerhalb Hamburgs.«

Jelke verzichtete darauf, Fragen zu stellen. Sie fragte sich selbst, wie viele Menschen wohl notfallseelsorgerisch in dieser Mordangelegenheit betroffen sein könnten, als die Meldung durchkam:

»Informieren Sie bitte die Notfallseelsorgerin Frau Jelke Lorberg. Wir versuchen, weitere Unterstützung zu bekommen!«

Der Wachhabende im Eingang des Präsidiums winkte Jelke kurz zu, man kannte sich, sie wurde erwartet. Die Türen öffneten sich, und Jelke eilte zum Büro von Kriminalhauptkommissar Ganter Holms.

Der große, graubärtige, gepflegte Mann begrüßte sie – sichtbar erleichtert über ihr schnelles Eintreffen.

Er mochte diese mittelgroße Frau mit dem blonden, gelockten und halblangen Haar über ihrer lilafarbenen Einsatzjacke und ihrer ruhigen und bestimmten professionellen Art. Sie ging ihm gerade bis zur Schulter, und trotzdem waren sie beide auf Augenhöhe bei ihrer gemeinsamen Arbeit.

Holms, Anfang fünfzig, war seit einigen Jahren Witwer und Jelke mit ihren gut dreißig Jahren immer noch Single. Er hatte einmal kurz überlegt, ob er sie nicht einmal privat zum Essen einladen sollte. Aber gleichzeitig fürchtete er, dass damit ihre Beziehung belastet werden könnte. Sie galten im Präsidium als psychosoziales Dream-Team für schwierige Fälle. Doch Jelke faszinierte ihn. Er war mit dem Thema noch nicht durch.

»Hallo Jelke, du hast es vielleicht schon gehört, in Blankenese wurde vor etwa einer Stunde eine junge Frau in der Nähe ihres Hauses bestialisch ermordet.«

Dabei zeigte er auf ein Foto auf seinem Schreibtisch.

»In ihrem Kinderwagen fehlt das Kind. Wir wissen, wer die Frau ist, und wir haben eine Videoaufzeichnung vom möglichen Attentäter. Bisher haben wir es nicht geschafft, den Ehemann zu erreichen. Deswegen fahren wir jetzt direkt zum Wohnhaus, bevor er es durch die Medien erfährt.«

Holms wollte sich gerade seine Schirmmütze greifen, als Jelke sich das Polizeifoto genauer ansah. Sie nahm es in die Hand, erschrak, schnappte nach Luft, wollte reden. Doch aus ihrem Hals kam nur ein leises Stöhnen.

Holms sah sie besorgt an und dann auf den blutdurchtränkten Kopf der Toten.

»Das solltest du dir besser nicht antun.«

Jelke wankte. Sie war jetzt kreidebleich. Holms sah, dass sie Gefahr lief, zusammenzubrechen. Er drückte sie sanft aber bestimmt auf den Stuhl.

Jelke versuchte wiederum, etwas zu sagen. Aber sie stammelte nur: »Ich kenne sie, sie ist, mein Gott, sie ist …«

Holms sah sich um.

Der nächste Wasserhahn befand sich am Ende des Flures. Er öffnete seine geliebte, etwas speckige Ledertasche, in der er wie immer eine Thermoskanne mit Tee in den Dienst brachte, und führte einen gefüllten Becher an ihren Mund.

»Beruhig’ dich, Jelke. Was meinst du? Du kennst sie?«

Jelke schaute zu ihm hoch. Ihre Augen waren voller Tränen. »Ja, Ganter. Es ist meine Freundin Karina Marie. Das Baby ist mein Patenkind.«

»Heiliger Strohsack! Auch das noch! Dann bist du draußen, Jelke! Sieht so aus, als bräuchtest du selbst Beistand.«

Er überlegte, wen er schnell heranrufen könnte, doch zunächst unterbrach er diese Gedanken.

»Wie heißt das Kind?«

Jelke riss sich zusammen.

»Pia, sie heißt Pia, mein Gott …«

»Pia Anderson, richtig?«

»Ja, die Tochter von Karina Marie und Marc.«

»Wie alt ist dein Patenkind Pia?«

»Acht Monate«, stammelte sie, »wisst ihr, wo das Kind ist?« »Nein, Jelke, das wissen wir nicht. Hast du ein Bild von Pia?« Sie wischte sich durch ihre nassen Augen, scrollte durch ihre Bildergalerie, während Ganter ihr über die Schulter schaute. Jelke, so schlecht es ihr gerade auch ging, war in dieser Phase ein unerwartetes Geschenk für die Ermittler.

Er zeigte auf ihr Handy: »Die beiden Bilder, Jelke, schick’ sie mir bitte auf mein Smartphone!«

Er eilte zu seinem Computer. Wenig später waren die Fotos von Pia Anderson im Netz des Polizeipräsidiums.

Jelke hatte das Gefühl, hilfreich sein zu können. Es tat ihr in diesen schrecklichen Minuten gut.

Er kam wieder zu ihr herüber. Sie schien etwas gefasster zu sein.

Behutsam legte er seine Hand auf ihre Schulter.

»Geht es etwas besser?«

»Danke, Ganter, ich muss das wohl durchstehen. Es ist eben einfach nur entsetzlich und unbegreiflich.«

»Hast du eventuell die Handynummer vom Vater des Kindes? Sein Büro ist nicht besetzt, seine mobile Nummer wird gerade aufgeklärt, aber so ginge es schneller.«

»Ist mir klar, Ganter«, sagte sie leise, immer noch unter dem Eindruck des katastrophalen Ereignisses, »es gibt nur ganz wenige Menschen, die seine Nummer kennen. Seit seinem Coup vor einem Jahr ist er auf Tauchstation.«

»Ich erinnere mich vage«, meinte Holms.

Durch die Tür eilte ein Kollege herein: »Unterlagen zu eurem Fall!«

Holms blätterte kurz durch und strich zufrieden durch seinen Bart.

»Ich denke, Jelke, das ist er … schau’ hier.«

Jelke sah das Foto auf einem Personendatenblatt und nickte. »Ja, das ist Marc. Mein Gott, wir müssen sofort zu ihm!«

»Meinst du wirklich, dass du das schaffst? Notfallseelsorgerin für den Mann deiner ermordeten Freundin?«

Er hoffte insgeheim, dass sie sich das zutraute, zumal es schwierig sein dürfte, auf die Schnelle einen geeigneten Ersatz für sie zu bekommen. Da wäre noch Daniela Becker-Dubois, eine Psychotherapeutin, die eng mit dem Landeskriminalamt zusammenarbeitete. Aber die war für heute abgemeldet.

Jelke schloss einen kurzen Augenblick die Augen. Sie hatte gelernt, sich durch Atmung und Konzentration herunterzubringen. Was für eine Tragödie! Ihre Freundin ermordet, das Kind verschwunden, der Vater vermutlich unvorbereitet. Welche Krisenintervention würde für ihn die beste sein? Eine fremde Person, die ihn bei der Überbringung der Todesnachricht psychologisch auffängt? Oder eine vertraute Person, die die Familie durch und durch kennt?

Wahrscheinlich die letztere Option. Falls er damit einverstanden wäre, müsste sie sich zusammenreißen, um die seelsorgerische Professionalität nicht mit der privaten Beziehung zu vermengen. Sie fragte sich, ob sie das schaffen würde, nicht nur in den ersten Stunden, sondern auch in der Folgezeit.

Sie schaute Holms fest und bestimmt an. »Ich werde Marc Anderson zur Seite stehen, wenn er das möchte. Ich bin bereit!«


Marc war auf dem Weg vom Marinestützpunkt Eckernförde zurück nach Hamburg. Es waren anstrengende zwei Tage bei den Kampfschwimmern der Marine gewesen. Wochenlang war an dem Szenario gefeilt worden, und dann war alles schiefgegangen. Er hatte mit seinem Team, der Maritime Security Services (MSS), seinen Auftrag nicht erfüllt. Allerdings hatten sich die Kampfschwimmer aus Eckernförde etwas einfallen lassen, womit nun wirklich nicht zu rechnen gewesen war.

Marcs Männer waren – so das Übungsszenario – im Rahmen der Feinddarstellung in die Rolle von Piraten geschlüpft. Mit modernster Waffentechnik ausgestattet, hatten sie ein Schiff geentert und dessen Besatzung in ihre Gewalt genommen. Nun liefen die Lösegeldverhandlungen mit der Reederei. Die Aufgabe der Piraten war es, das Schiff gegen Befreier zu verteidigen, wobei nicht klar war, ob die Angreifer wasserseitig oder aus der Luft kommen würden.

Marc hatte mit Tom, Hermy, Ale, Thunder und Mike, alles ehemalige Elitesoldaten, jede denkbare Option durchgespielt. Sie rechneten mit einer Annäherung von Hubschraubern und einem Abseilen aus der Luft, mit einer Annäherung über oder unter Wasser, vielleicht sogar mit einem Unterwasser-Scooter abgesetzt aus einem U-Boot.

Die Marine hatte sich viel vorgenommen, denn der Respekt vor den zivilen Kollegen war enorm. Schließlich hatte Marcs Team in einer waghalsigen Aktion die Passagiere der Luxusyacht SUNDOWNER befreit, auf der seine schwangere Frau, die Hotelmanagerin Karina Marie, und die Familie des US-Präsidenten George F. Summerhill von Terroristen gefangen gehalten wurden. Die Kaperung wurde nicht zuletzt durch das Eingreifen von Navy SEALs ein voller Erfolg. Das deutsche Team wurde vom US-Präsidenten im Weißen Haus ausgezeichnet, und obwohl Marc jeden Pressekontakt ausgeschlagen hatte, konnte nicht verhindert werden, dass über ihn und Karina Marie über Wochen berichtet wurde.

Bei einem großen Streaming-Dienst wurde überlegt, über den inzwischen legendären Marc Anderson eine Serie zu drehen. Zwei Staffeln waren praktisch gewährleistet, denn vor dem spektakulären Entern der SUNDOWNER hatte er Karina Marie, damals Lebensgefährtin eines deutschen Unternehmers, bereits ebenfalls einmal befreit und dabei lieben gelernt. Action, Liebe und Politik könnte man gut vermarkten, einschließlich der Geburt des Babys Pia, so die Einschätzung der Manager. Doch Marc hatte abgelehnt. Sein Erfolg lag auch in der professionellen Diskretion seines Sicherheitsunternehmens begründet.

Der Tag auf dem Übungsschiff in der Rolle der Piraten verging, ohne dass etwas geschah. Offensichtlich spielte die Gegenseite mit der Zeit. Also Sichern nach allen Seiten, Wasseroberfläche prüfen, auf Geräusche achten. Es blieb still.

Eine stockfinstere Nacht bei bewegter See brach ein. Kein Problem mit den Nachtsichtgeräten, nur anstrengender, vor allem nach fünfzehn Stunden Wache ohne Pause. Marc stand auf der Brücke, hinter ihm der Übungsleiter mit dem Clipboard in der Hand, als die Meldung von Tom kam: »Taucher Backboard, Entfernung fünfzig!«

Marc sah die Köpfe unter ihren Tauchermasken in den Wellen hoch- und hinunterschaukeln. Er schaute genauer, es waren mindestens vier.

Wie vorher eingeübt, feuerten Marc, Ale und Thunder, das ALPHA 1-Team, gezielt über das elektronische Erfassungssystem auf die wippenden Köpfe. ALPHA 2 – Mike, Hermy und Tom – teilten sich auf und sicherten die anderen Seiten des Schiffes. Doch merkwürdigerweise zeigte die elektronische Zielerfassung nicht einen einzigen Treffer. Ale setzte das Fadenkreuz noch einmal genau auf einen Kopf in den Wellen. Schuss!

Keine Trefferbestätigung.

Inzwischen waren die Angreifer fast am Schiff.

Plötzlich erkannte Marc, was hier geschah. Unter den Taucher-Köpfen war überhaupt kein Körper. Aber eine Leine, und die wurde von je einem kleinen Scooter zum Schiff dirigiert. Er wollte gerade an sein Team den Befehl zur Neupositionierung durchgeben, als sehr lebendige und martialisch aussehende Kampfschwimmer in die Brücke eindrangen, zusammen mit dem überwältigten ALPHA 2-Team, während unten an Backboard die Dummys dümpelten und an Bord gezogen wurden.

Marc nahm resignierend die Hände hoch.

»Übungsende!«, befahl der Leitungsoffizier und griente Marc an. Marc lachte anerkennend zurück. Die Männer der Maritime Security Services waren mit einem einfachen Trick reingelegt worden.

Er war so alt wie die Militärtaktik schlechthin: Tarnen, Täuschen, überraschender Angriff an unerwarteter Stelle. Die Kampfschwimmer der Marine waren mit zwanzig Mann auf der Steuerbordseite und am Heck aufgeentert. Das Überwältigen der drei verteilten Piraten war geradezu ein Kinderspiel.

Trotzdem war die Übung von großem Wert. MSS hatte wieder viel über die neuesten Waffen und Techniken gelernt, und man musste auch einmal verlieren können.

»Besser im Training als live«, tröstete Ale seinen Berliner Kumpel Thunder.

Am Montag wartete bereits ein neuer Auftrag auf das Team. Das Schiff einer Hamburger Reederei sollte in Indonesien Marcs Security an Bord haben. Bis dahin wollte sich Marc intensiv seiner Familie widmen.

Marc bog in die Elbchaussee ein. Noch zweimal abbiegen, dann würde er bei seinen beiden Mädels sein und das Wochenende einläuten.

Er wunderte sich, dass so viel Polizei unterwegs war. Seine Verwunderung nahm spürbar zu, als er durch das offene Schiebedach über Blankenese einen kreisenden Polizeihubschrauber erblickte. Nach Verkehrsstau sah das nicht aus, eher nach einer großangelegten Polizeiaktion. Zu Hause würde er aus den News erfahren, was hier gerade passierte.

Im NDR lief Take It Easy von den Eagles. Marc liebte diesen Song, durch den er eine unglaublich positive Energie verspürte. Er kannte den Text, sang ihn laut mit und wippte, so gut das beim Fahren möglich war, im Rhythmus des Songs mit den Händen mit.

Klar, die Übung war nicht so gelaufen, wie er es für MSS gehofft hatte, aber … take it easy. Er hatte so viel Glück in seinem Leben am Limit erfahren dürfen, dass einige sehr schmerzhafte Erfahrungen, besonders in den Einsätzen beim Kommando Spezialkräfte, längst in den Hintergrund getreten waren. »Glück«, dachte er, »ist eigentlich etwas Momentanes, bei mir offensichtlich nicht.«

Er war glücklich, seitdem er, Karina Marie und Pia eine Familie waren. Dieses Lebensglück sollte noch größer werden, denn Karina Marie war zum zweiten Mal schwanger. Sie wollten mindestens zwei Kinder haben. Mit Anfang dreißig und finanziell bestens ausgestattet, blickten beide hoffnungsvoll nach vorne in eine Zukunft auf der Sonnenseite des Lebens.

Er stutzte. Auf der Höhe seines Hauses ein einziges Blaulichtgewitter. Streifenwagen, Feuerwehr, Notarzt, Absperrung. Davor ein Medienübertragungswagen. Ein kalter, grässlicher Schauer kroch wie in Zeitlupe von seinem Kopf über den Nacken direkt in sein Herz hinein. Er wollte es nicht wahrhaben. Es ging nicht um irgendein Haus, es ging um sein Haus, das aber dort stand wie immer. Nicht abgebrannt oder in Trümmern, nur von vielen Menschen in Uniformen und Einsatzjacken umgeben.

»Bitte umkehren!«, sagte der Beamte freundlich durch die offene Scheibe. »Die Straße ist gesperrt.«

»Ich wohne in dem Haus! Was ist passiert?«

Der Beamte wollte ihn gerade zurechtweisen, dann schaute er ihn prüfend an.

»Wie ist Ihr Name?«

»Marc Anderson, und dort wohne ich mit meiner Familie!« Der Beamte sprach kurz mit der Einsatzleitung. Er beugte sich mit einem Gesicht, das Schlimmes ahnen ließ, zu Marc. Aber er sagte nichts, und Marc fragte nicht. Solange es nicht ausgesprochen ist, ist es nicht wahr. Eine schlimme Wahrheit muss man nicht suchen. Sie kommt, wann und wie sie will. Kalt, herzlos und mit gnadenloser Brutalität ohne jegliche Rücksicht auf den Betroffenen.

»Sie können durchfahren, Herr Anderson, Sie werden erwartet.« Beinahe hätte er noch ein »mein herzliches Beileid« und »ich wünsche Ihnen viel Kraft« nachgeschoben, aber im selben Augenblick eilten zwei Menschen auf den Wagen zu, ein Reporter mit Kameramann.

»Sie sind doch Marc Anderson! Was sagen Sie zu …«

Der Polizist drängte sie energisch weg und Marc fuhr mit versteinertem Gesicht zu seinem Haus, während die Einsatzkräfte zur Seite wichen, um ihm Platz zu machen.

Am Türeingang erkannte er einen Polizeibeamten und die Freundin der Familie, Jelke Lorberg, in der lilafarbenen Einsatzjacke der Notfallseelsorge.

Die Katastrophe bekam zunehmend ihr grausiges Gesicht.

Bitte lass’ es nicht wahr sein … Bitte nicht meine Familie …

Er öffnete ruckartig die Wagentür und sprang heraus. Jelke und der Polizist standen bereits bei ihm.

»Was ist passiert? Wo ist Marie?«

»Herr Anderson, ich bin Hauptkommissar Holms. Bitte lassen Sie uns ins Haus gehen.«

Marc wollte nicht akzeptieren. Die Wahrheit jetzt! Aber der liebevoll weisende Blick von Jelke, dann die Menschen in der Nähe wie auch seine eigene verinnerlichte Professionalität sagten ihm, dass er jetzt ohne weitere Fragen ins Haus gehen sollte.

Sie standen vor der Eingangstür. Er wollte wie immer klingeln, bis ihm an den Blicken der beiden klar wurde, dass niemand im Haus war. Einen kurzen Augenblick war er erleichtert. Wenigstens kein Überfall im Haus …

Er öffnete mit dem Code die Tür, deaktivierte dadurch das Einbruchmeldesystem, das, in Verbindung mit Videokameras und Strahlern, das Haus wie einen Hochsicherheitstrakt schützte. Dieser Rundumschutz war ihm nach all den Erfahrungen immer wichtig gewesen.

»Bitte kommen Sie herein.«

Er schloss die Tür hinter den beiden.

Im Haus war es still.

Totenstill.

Er führte sie zur Sitzgarnitur. Doch er setzte sich an Maries kleinen Schreibtisch so, als solle die entsetzliche Realität nicht zu ihm kommen.

»Jelke, was ist passiert? Sag’ es mir ohne Umschweife. Ist etwas mit Marie?«

Holms überlegte kurz, ob er, wie in der Dienstvorschrift klar geregelt, die schreckliche Nachricht amtlich überbringen sollte oder sie ausnahmsweise durch Jelke auszuführen sei. Er entschied sich für die Beibehaltung der Rollen und damit für den formalen, offiziellen Weg.

»Herr Anderson, wir haben eine sehr schlimme Nachricht für Sie. Ihre Frau ist tot.«

Er saß an ihrem Lieblingsplatz, Augen geschlossen, Arme auf der Lehne, fahles Gesicht. Um ihn herum drehte sich alles. Kurze, heftige Atemstöße, viel zu viele mit der Gefahr der akuten Hyperventilation.

Jelke erkannte das, aber wartete ab. Holms wollte fortfahren, doch Jelke schüttelte fast unbemerkt mit dem Kopf. »Noch nicht«, signalisierte sie.

Von der Elbe drang ein Sirenenton herauf. Die Abendsonne warf ein warmes Licht durch die Sprossenfenster auf den gedeckten Esstisch. Nebenan schlug eine Glasenuhr viermal an.

Marc presste die Lippen und seine Hände zusammen, er stoppte die Atmung für lange zehn Sekunden und atmete dann tief langsam ein und aus. Sein Blick streifte den Blumenstrauß auf ihrem Schreibtisch und erfasste unter seinem Foto einen Zettel:

Falls du schon da bist, bin mit Pia noch schnell zum Einkaufen und zur Bank. Ich liebe dich von hier bis ins Universum. Marie .

Der Raum begann sich wieder zu drehen. Er ließ es nicht zu. Handeln!

»Jetzt bitte die ganze Wahrheit …«

»Ihre Frau wurde vor etwa zwei Stunden unten im Park mit einem Schnitt durch den Hals tödlich verletzt. Passanten haben sie aufgefunden. Der Kinderwagen war leer.«

Marc blickte den Beamten mit weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen an.

»Marie … mit einem Schnitt durch den Hals …«

»Es tut mir so leid«, sagte Holms.

»Wo ist mein Kind?«

»Wir wissen es nicht, Herr Anderson, die Großfahndung läuft. Wir haben von der Bank eine sehr kurze Videosequenz, die den mutmaßlichen Täter zeigt, wie er in den Park geht. Von dem Attentat selbst gibt es kein Bildmaterial. Im Kinderwagen lag dann noch ein Zettel.«

»Was steht da drauf?«

Holms versuchte, es schonend zu sagen:

»Allahu Akbar! Ali Naz!«

Der Name war kaum gefallen, da sprang Marc auf. Ein einziger markerschütternder Schrei erscholl durch das Haus:

N E I N … !!!

All die im Auto aufgestaute Angst, die Angst vor dem Undenkbaren, brach heraus.

Er weinte hemmungslos. Sein Herz raste, sein Körper zitterte. Kalter Schweiß.

Anzeichen einer schweren Kreislaufstörung mit Schock.

Jelke hoffte, dass es nur eine vagotone Schockphase war, aus der er wieder herauskommen würde. Ganter sah sie besorgt an. Sie dachten beide kurz daran, den Rettungswagen anzufordern. Doch Jelke wollte noch abwarten. Vor ihr stand ein Elitesoldat, der seinen besten Freund im Kampf verloren hatte und damals handeln musste, um nicht selbst getötet zu werden. Sie hoffte auf seine bewährte Stressbewältigungstechnik. Immer war er für alle ein Fels in der Brandung. Aber jetzt war er so stark am Boden zerstört, dass seine Erschütterung auch sie erfasste, so sehr, dass sie für einen kurzen Augenblick Gefahr lief, ihre Beherrschung zu verlieren. Sie hätte so gern mit ihm geweint, aber es war genau der falsche Moment, Entsetzen und Trauer zu teilen. Denn hier bei diesem Einsatz ging es allein um sein Entsetzen. Trotzdem war sie jetzt gerade alles andere als eine stabile Notfallseelsorgerin.

Holms erkannte Jelkes Wanken und sagte:

»Herr Anderson, es tut mir unendlich leid. Ich fühle von Herzen mit Ihnen. Sagt Ihnen der Name Ali Naz etwas?«

Marc blickte Holms fassungslos an und ließ sich auf das Sofa fallen. Seine Worte kamen leise und stockend:

»Ali Naz? Sie kennen den nicht? Das ist der iranische Terrorist, der die SUNDOWNER gekapert hatte … Ich verstehe das nicht … Den gibt es doch nicht mehr … Er wurde doch bei einem Vergeltungsschlag der Amerikaner im Iran getötet …«

Und dann brach es weinend aus ihm heraus:

»Aber er ist nicht tot! Er ist überhaupt nicht tot! Er hat Rache an mir genommen. Es ist meine Schuld!«

Jelke hockte sich vor ihn.

»Warum ist es deine Schuld, Marc?«

»Ein paar Minuten früher, und ich hätte ihren Tod verhindert! Nur ein paar verdammte Minuten früher!«

Holms wollte das entkräften, aber Jelke winkte ab.

Marc starrte sie an: »Jelke, sag’ mir, dass es nicht stimmt. Karina Marie darf nicht tot sein …«


Polizeipräsident Hendrik Mann hatte nach Kenntnis des Bekennerschreibens von Ali Naz sofort die Brisanz des Falles für seine Behörde erkannt. Die Befreiungsaktion der Geiseln durch Marc Anderson aus den Händen der von Ali Naz gekauften Terrorgruppe berührte auch Hamburg, spätestens als der Bürgermeister der Hansestadt das gesamte Befreiungsteam ins Rathaus gebeten hatte. Hendrik Mann bewunderte insgeheim Anderson, obwohl der, wie er dem Bürgermeister zugesteckt hatte, »mehr Glück als Verstand bei seiner Befreiungsaktion hatte.«

»Helden ohne Glück gibt es nur selten,« hatte der Bürgermeister wiederum kommentiert und »diese Stadt liebt ihre Helden, vor allem, wenn sie nach hanseatischer Manier so unprätentiös auftreten wie dieser junge Mann.«

Der Polizeipräsident sah durch die Runde der fünfzehn schnell aber sorgfältig ausgesuchten Beamtinnen und Beamten aus den Abteilungen LKA 1 bis 7. Die Stelle des Leiters des Landeskriminalamtes war vakant, so übernahm der Polizeipräsident die Einführung selbst.

»Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie in der SoKo KILO MIKE. Warum gerade KILO MIKE? Die Bezeichnung steht nach dem internationalen Buchstabieralphabet für Karina Marie, den Vornamen der getöteten Frau Anderson.

Dieses Tötungsdelikt zeichnet sich durch zweierlei aus. Erstens durch einen möglicherweise internationalen Hintergrund und zweitens durch ein enormes Medieninteresse. Joe Weber, Leiter des LKA 4 aus der Abteilung Kapitaldelikte, wird Sie jetzt über den Stand der Erkenntnisse informieren.«

Kriminaloberrat Weber, ein äußerst erfahrener, aber in den eigenen Reihen wegen seiner knallharten Art nicht immer geschätzter Kriminalbeamter, trat nach vorne. Er hatte nur sechzig Minuten Zeit gehabt, sich einzuarbeiten und die SoKo zusammenzustellen. Und ständig trafen neue Meldungen ein.

Auf dem Bildschirm erschienen eine Karte von Blankenese und diverse Fotos.

»Karina Marie Anderson wurde gegen 16.00 Uhr an dieser Stelle umgebracht. Wir können davon ausgehen, dass sich in dem Kinderwagen zuvor ein kleines Kind, Name Pia Anderson, Tochter von Karina Marie und Marc Anderson, befunden hat. Das Opfer wurde mit einem Schnitt durch den Hals getötet. Der Hals wurde vorderseitig durchtrennt und der Kopf im Wesentlichen nur noch durch die Wirbelsäule und die umliegenden Muskeln gehalten. Das erinnert stark an Tötungsrituale islamistischer Terroristen. Im Kinderwagen das Bekennerschreiben mit dem Text, den Sie hier sehen. Glücklicherweise liegt uns das Video der Bank am Rande des Parks vor, die die mutmaßliche Täterperson aufgezeichnet hat.«

Das Video zeigte, wie Karina Marie mit dem Kinderwagen den Vorraum der Bank betrat, Geld abhob und die Bank über den kleinen angrenzenden Park in Richtung Wohnhaus verließ.

»Wie Sie sehen, ist die verdächtige, vermummte Person nur ganz kurz und so ungünstig aufgezeichnet worden, dass wir kaum Anhaltspunkte haben. Wir nehmen an, dass diese Person das Opfer durch den Park verfolgt und die Tat am Ende des Parks begangen hat. Wir wissen nicht, wie die Person den Tatort verlassen hat. Es gibt derzeit keine Zeugen.«

»Gehen wir denn davon aus, dass dieser Ali Naz der Täter sein könnte? Und überhaupt, der soll doch tot sein«, wollte jemand wissen.

»Das Erstere wissen wir nicht«, sagte Weber, »die Fahndung hat bisher keine greifbaren Ergebnisse gebracht. Doch zunächst zu Ali Naz. Wer es noch nicht weiß, er stand als Kommandeur den iranischen Revolutionsgarden vor und – soweit uns bekannt ist – hat er in einem Terrorakt zusammen mit seinen Kommandeuren seinen obersten Religionsführer Mohammed Husseini ermordet. Er hat Terroranschläge gegen die USA mit Mittelsmännern der Hisbollah aus dem Libanon geführt und versucht, den US-Präsidenten politisch zu erpressen. Als Faustpfand nahm er sich bekanntlich die Hamburger Luxusyacht SUNDOWNER, auf der sich Sohn und Tochter des Präsidenten, die Enkelkinder und ein Gästeehepaar befanden sowie Karina Marie Anderson als Hotelmanagerin. Den Rest darf ich als hinlänglich bekannt voraussetzen. Sehen Sie hier.« Er zeigte Bilder von etlichen Pressemeldungen und einen TV-Ausschnitt aus einem Bericht des Norddeutschen Rundfunks.

»Nun zu dem zweiten Teil Ihrer Frage. Die Amerikaner flogen einen Vergeltungsangriff auf Ali Naz und seine versammelten Kommandeure bei der jährlichen großen Militärparade im iranischen Ahvaz. Angeblich wurden alle getötet, auch Ali Naz. Zumindest lassen das zuverlässige US-Quellen verlauten.«

»Dann gibt es doch nur diese Möglichkeiten«, antwortete ein Mann aus Webers LKA 4, »entweder der Mann ist tot, dann agiert hier einer seiner Getreuen in seinem Namen, oder der General hat tatsächlich überlebt und nimmt jetzt Rache.«

»Oder …«, ergänzte jemand aus der Runde, »er musste gar nicht überleben, weil er von dem Angriff wusste, und auf der Tribüne saß ein Doppelgänger. Jetzt taucht das Original auf, und Ali Naz macht öffentlich, dass er wieder im Spiel ist.«

Der Leiter LKA nickte bestätigend.

»Interessanter Aspekt. Danke, weitere erste Einschätzungen?«

»Vielleicht setzen wir zu hoch an«, meinte jemand, »und es handelt sich um einen, der mit dem Geschehen überhaupt nichts zu tun hat und hier einfach aufspringt.«

»Auch möglich« meinte Weber, »aber eher unwahrscheinlich. Dagegen spricht die Entführung des Kindes. Natürlich wollen wir brennend gern wissen, ob Ali Naz lebt. Eine Anfrage zur Klärung geht in diesem Augenblick über den Staatsschutz an unsere amerikanischen Freunde, die über das Attentat bereits informiert sind. Aber wir hier in Hamburg haben einen anderen Job. Wir müssen unbedingt den Zusammenhang zum Täterbekenntnis Ali Naz aufklären. Noch suchen wir ein Phantom.«

Allgemeines Nicken in der Runde.

»Unabhängig von der Beantwortung dieser wichtigen Frage deuten die bisherigen Erkenntnisse klar darauf hin, dass es sich um ein Tötungsdelikt mit terroristischem Hintergrund handelt, egal durch wen ausgeführt. Sei es durch Ali Naz, einer Auftragsperson oder einen sogenannten Einsamen Wolf. In allen Optionen scheint es eine Beziehungstat mit Zielrichtung Marc Anderson zu sein.«

»Oder«, sagte der junge Beamte mit Schulterholster und der Sonnenbrille im Haar aus dem Bereich LKA 2-Einsatz, »das ist erst der Anfang einer Attentat-Serie.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Weber nachdenklich, »sehr gut erkannt. Auf dem Radar des oder der Täter könnten in der Tat theoretisch alle Beteiligten stehen, die etwas mit dem Scheitern der terroristischen Aktion gegen das Schiff zu tun haben.«

»Richtig, und zwar alle Deutschen, zum Beispiel die Leute von der Maritime Security Services, das Personal der Reederei und auch US-Amerikaner«, sagte der junge Mann.

»Die Frage ist«, meinte jemand aus Webers Abteilung, »warum nimmt sich der Täter nicht gleich Marc Anderson vor, sondern seine Frau?«

»Ist doch klar, Kollege« erwiderte eine Kommissarin, ebenfalls aus der Abteilung Einsatz, »er trifft Anderson dort, wo er am verletzbarsten ist. Die Täterseite weiß natürlich aus den Medien, dass Anderson diese Frau zweimal gerettet hat und macht sich jetzt zum Zerstörer seines Lebens. Aber sie lässt ihn leben, noch. Hier kommt das acht Monate alte Kind ins Spiel. Der oder die Täter haben noch etwas vor. Keine Entführung ohne Forderung.«

»Vielleicht wird es nie eine Forderung geben«, sagte jemand von ganz hinten, »vielleicht wurde das Kind verschleppt, oder es ist bereits tot.«

»Das glaube ich nicht«, meinte die Kommissarin, »das Baby musste überleben. Der oder die Täter haben einen Plan.«

»Okay«, sagte Weber, »Sie sehen, das wird hier ganz großes Kino. Mord, Kindesentführung, islamistischer Hintergrund, internationale Verflechtungen. Es gibt also viel zu tun. Aber fangen wir ganz unten an, so wie wir es gelernt haben. Ein Kleinkind unbemerkt zu versorgen, das geschieht nicht einfach mal so. Also Spurenauswertung, ermitteln in alle Richtungen, auf Täterkontakt bei Anderson einstellen, präventive Gespräche mit allen Betroffenen und bitte alles, was wir über Ali Naz und seine Komplizen in unserer Stadt herausfinden können. Hat noch jemand eine Frage?«

»Wenn nicht, dann Herr Mann – Sie noch zum Abschluss?« »Gerne. Wir werden zusätzlich den Generalbundesanwalt informieren. Noch aber ist das eine Sache unserer Behörde. Ich setze absolute Verschwiegenheit voraus. Medienarbeit ist Chefsache. Ich werde diese SoKo bis auf Weiteres eng begleiten. Joe Weber hat die volle Unterstützung des Hauses. Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr wieder. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren!«


Jelke hatte Marcs Schuldvorwurf nicht kommentiert, wissend, dass sie niemandem Schuldgefühle nehmen konnte. Im Gegenteil, so konnte Marc die Illusion aufrechterhalten, dass in Zukunft so etwas nicht mehr passieren kann, wenn er besser aufpassen würde. Hauptsache er redete, sprach sich aus. Das Relativieren der starken, bohrenden Schuldgefühle, so hatte sie erfahren, würde ohnehin später von selbst eintreten, wenn alles wieder normal liefe. Wenn.

Marc hatte sich etwas gefangen. Er war sogar in die Küche gegangen und hatte gefragt, ob jemand einen Kaffee haben möchte. Er selbst wollte einen Tee trinken, doch die Hand zitterte so stark, dass Jelke dazu kam und ihm die Zubereitung abnahm.

»Wo ist meine Frau jetzt, Herr Holms?«

»Sie wurde in die Rechtsmedizin gebracht und wird dort obduziert.«

»Wann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie sieht sie aus?«

»Ich weiß es auch nicht, Herr Anderson. Aber was ich vermittelt bekommen habe ist, dass alles sehr schnell ging und sie nicht gelitten hat.«

»Sagen Sie das, um mich zu beruhigen?«

»Nein, das ist Fakt.«

»Ich möchte sie auf jeden Fall noch vor der Obduktion sehen.«

»Das werde ich durchgeben.«

»Und wirklich keine Hinweise zu Pia?«

»Leider nein, Herr Anderson. Die Kollegen arbeiten intensiv. Sobald wir etwas wissen, sind Sie der Erste, der es erfährt.« »Danke, Herr Holms, ich brauche jetzt eine Pause.«

»Natürlich, Herr Anderson, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich fühle mit Ihnen. Ich wünsche Ihnen alle Kraft und Gottes Segen.«

Marc sah ihn verbittert an und sprach leise: »Den brauche ich jetzt wirklich nicht, der hat mir gerade meine Familie genommen.«

Er schwankte leicht, doch es gelang ihm, den Polizeibeamten zur Tür zu bringen. »Danke, Herr Holms, für Ihren Einsatz.«

Marc hockte zusammengesunken auf der Couch. Das Zittern seines Körpers verstärkte sich. Jelke eilte in die Küche, kam mit einem Glas Wasser zu ihm und legte sanft ihre Hand auf seine Schulter, so, als wolle sie das Zittern abmildern. Als Nächstes würde sie ihn bitten, sich auf die Couch zu legen, die Beine anzuwinkeln, und sie würde ihn zudecken. Doch das schien nicht nötig. Noch nicht. Sie reichte ihm das Wasser. Er blickte sie kurz wie aus weiter Ferne an, schien zu verstehen, trank.

Schüttelfrost. Sie legte eine Decke über ihn.

Jelke sagte nichts. Kein Wort der Beruhigung, kein Wort des Trostes, kein Wort über das verschwundene Kind, kein Wort über die tief empfundene Schuld.

SCHULD.

Schuld hatte ihn in Sekundenbruchteilen mit einem galaktischen Sog in das schwärzeste aller Löcher des Universums gezogen. Marc war nicht mehr in seiner alten Haut. Schuld hatte die Regie übernommen.

Niemand sagte etwas.

Die Notfallseelsorgerin war einfach nur da. Sie gab keine Ratschläge, Analysen oder Deutungen. Ihre völlige Zurückhaltung war nicht feige oder Ausdruck der Unsicherheit, ganz im Gegenteil. Sie wartete. Irgendetwas würde passieren. Aber nicht proaktiv von ihrer Seite, sie wartete auf eine Aktion von Marc.

Hier geschah, was Jelke in der Ausbildung als für sie schwerste psychosoziale Intervention überhaupt gelernt hatte: qualifiziertes Schweigen. Wenn notwendig über lange Zeit. Es war sogar möglich, dass überhaupt nicht geredet wurde. Darauf stellte sie sich jetzt ein.

Er legte sich auf die Seite – von ihr abgewandt.

»Bleib’ bitte hier«, sagte er unvermittelt.

»Ich bleibe, solange du möchtest.«

»Marie ist deine beste Freundin, Pia ist dein Patenkind.«

»Ja, Marc.«

Ihr Herz schlug bis zum Halse. Er hatte logischerweise die persönliche Beziehungsebene hergestellt.

»Wie wirst du damit fertig?«

»Schlecht, Marc, miserabel. Doch jetzt geht es um dich.«

Er warf die Decke zur Seite und sprang auf.

»Ich muss sehen, wo es passiert ist!«

Jelke war kurz entsetzt aber realisierte auch, dass er so versuchte, die Situation anzunehmen und war doch noch vollkommen instabil.

»Okay, dann machen wir das.«

Sie wusste nicht, was am Tatort wenige hundert Meter weiter geschehen würde und fragte sich, ob das wirklich eine gute Idee sei. Doch Marc war nicht aufzuhalten. Sie ging voraus zur Tür, öffnete sie und warf sie sofort wieder ins Schloss.

Draußen standen Journalisten und Fotografen.

Einer rief: »Können Sie uns sagen, wo das Baby ist?«

Marc drängte Jelke – völlig die Beherrschung verlierend – zur Seite, riss die Tür auf und schrie in die Kameras:

»Ihr Bastarde, lasst uns in Ruhe!«

Jelke zog ihn energisch zurück, schloss die Tür und führte ihn zur Couch.

Er kippte in die Kissen. Ein erneuter Schüttelfrost überkam ihn. »Entschuldige, Jelke. Es ist zu viel. Ich weiß nicht, wie ich das klar kriegen soll.«

»Soll ich dir etwas zu essen machen?«

»Danke, nein. Wir gehen nachher zum Tatort, wenn die Meute weg ist.«

»Ich mach’ dir trotzdem ein Brot. Du entscheidest, ob du es möchtest. Darf ich an den Kühlschrank gehen?«

Er antwortete nicht. Es war ihm vollkommen gleichgültig.

Sie saßen sich gegenüber. Er bekam keinen Bissen herunter, vergrub seinen Kopf in den Händen, versuchte sich zu konzentrieren. Es war nicht möglich. Sein Gehirn war wie abgestellt. Dann rasten die Gedanken wieder wie wild, überschlugen sich.

Er rannte zur Toilette. Jelke hörte, wie er sich erbrach.

Er kam zurück, sah sie verweint an. »Jelke, sag’, dass es nicht wahr ist. Das ist alles ein furchtbarer Irrtum. Marie ist mit Pia bei ihren Eltern. Sie ist bei den Eltern, ganz bestimmt.«

Sie kam zu ihm, schaute ihn so fest und eindringlich an, wie es ihr möglich war.

»Nein, Marc, Karina Marie ist tot. Ich bete, dass Pia lebt und ihr nichts geschieht.«

Er beugte sich zu ihr herunter. Sie ließ ihn an ihrer Schulter weinen.

Nach einer Weile sagte er fast flüsternd: »Wir müssen ihre Eltern benachrichtigen.«

Marc hatte selbst die Jokerfrage in der Erstberatung initiiert. Benachrichtigung von Angehörigen oder Freunden bedeutete Handeln. Wer benachrichtigte, war gleichgültig, Hauptsache, die Notwendigkeit war bewusst geworden. Es war der erste kleine Schritt zurück in die Welt da draußen.

»Ein Kollege ist bereits bei ihnen«, erwiderte sie.

»Das ist gut, danke, Jelke, danke, ich könnte das jetzt nicht. Mein Gott, ihre Mutter ist dement und der Mann schwer herzkrank.«

»Das ist ein wichtiger Hinweis, Marc. Ich werde das durchgeben. Ist sonst noch jemand zu informieren? Das muss nicht jetzt sein.«

»Sie hat sonst niemanden mehr. Ich auch nicht.«

Es klingelte an der Haustür.

Jelke war darauf eingestellt, Medien abzuweisen. Sie schaute durch das seitliche Fenster.

Draußen standen Tom, Ale, Thunder, Hermy und Mike.

»Marc, dein Team möchte dich besuchen, ist das okay für dich?«

Er nickte.

Marc stand auf und blickte seine Brüder so abwesend an, wie sie ihn noch nie erlebt hatten. Weder im Kampf, noch im Training, weder im Gespräch noch in vertrauter Runde. Dieser Mann hatte ganz offensichtlich seinen Kompass verloren.

Einer nach dem anderen kam zu ihm, fast wie aufgereiht. Der Hüne Tom, Marcs Weggefährte von Anfang an, legte die Hand auf Marcs Schultern. Sie sahen sich an. Es gab nichts zu sagen.

Der Berliner Ale heulte. »Mann Alter, so ’ne Scheiße.« Beinahe wäre ihm sein Standardspruch über die Lippen gegangen: »Det kriegen wir hin.«

Thunder stieß ihm rechtzeitig in die Seite und legte seinerseits den Kopf an Marcs Stirn. Dann heulte auch er.

Hermy nahm Marc in den Arm. Er streichelte ihn liebevoll.

Mike konnte mit der Situation am wenigsten umgehen. Er ging durch das Zimmer … auf und ab. Dann wollte er Marc einen Faustcheck geben, er war völlig durch den Wind. Marc blickte hinter ihm her. Jelke glaubte für einen winzigen Moment, in Marcs Augen ein sanftes Lächeln gesehen zu haben. Aber es war wohl ein Irrtum.

»Entschuldigt mich, ich muss unter die Dusche«, sagte Marc, »in der Küche steht Bier.«

Die fünf hockten mit der Notfallseelsorgerin um den Couchtisch herum. Sie hatte Tom angerufen, der sofort die anderen alarmiert hatte. Alle machten umgehend auf dem Weg vom Stützpunkt nach Hause kehrt. Sie wollten nur eines, Marc zur Seite stehen, wussten jetzt aber nicht, wie man das macht. Sie hatten bei ihm alles gelernt, um siegreich zu überleben, aber nicht, wie man mit der Trauer eines Marc Anderson umgeht.

Jelke wies sie in die Geschehnisse ein. Als sie den Namen »Ali Naz« aussprach, war es vollkommen still im Raum. Keiner brauchte weiter zu fragen. Sie wussten, das ging sie alle an. »Was machen wir jetzt?«, fragte Thunder.

»Ich denke«, meinte Jelke, »er möchte nachher für sich sein, wir sollten ihn fragen.«

Marc kam herunter. Er war barfuß, seine Haare waren nass, sein Gesicht wie zerstört. Er trug eine Trainingshose und ein T-Shirt, das er im Schrank zufällig zu fassen bekommen hatte. Es war mit einem großen griechischen »O« bedruckt.

Weder er noch seine fünf Brüder dachten sich etwas dabei, außer Jelke, die die christliche Bedeutung von Alpha und Omega kannte. Sie sagte nichts dazu.

Sie rückten für ihn zur Seite, aber er hockte sich abseits auf den Fußboden an die Wand.

»Möchtest du auch ein Bier?«, fragte Ale. Er verneinte.

Seit der Überbringung der Todesnachricht waren keine drei Stunden vergangen, aber es kam Marc vor wie eine Ewigkeit.

Tom war an die Bücherwand gegangen, direkt auf das Porträtfoto von Karina Marie zu. Jelke sah das. Tom wollte Abschied nehmen. Sie fragte vorsichtig zu Marc herüber: »Ist das okay, wenn wir sie in unsere Mitte nehmen?«

Marc nickte.

Sie stand da als Schwarz-Weiß-Foto, lachend mit Pia auf dem Arm, als sie gerade vier Wochen alt war.

»Ich habe eine Kerze dabei, auch okay?«, fragte sie.

Marc überlegte, dann nickte er wieder.

Jelke hatte ein Ritual begonnen. Sie fragte aber nicht weiter, zum Beispiel, ob man gemeinsam beten wolle. Im Gegensatz zu Karina Marie war Marc nicht gläubig. Die Kirche war ihm so fremd, wie die Vorstellung an einen Gott.

Die Männer schwiegen. Tom hätte gern laut ein Gebet gesprochen, aber er traute sich nicht. So saßen sie vor der Kerze und blieben jeder für sich.

Sie hatten den Lebensweg der beiden in entscheidenden Phasen miterlebt. Am längsten Tom, der mit Marc zusammen Karina Marie an der Küste Algeriens aus den Händen des damaligen Islamischen Staates befreit hatte. Alle waren bei der Hochzeit der beiden in der weißgeschmückten evangelischen Kirche in Blankenese dabei gewesen, wo Karina Marie bereits getauft worden war. Sie hatten Spalier gestanden. Sie waren auch in derselben Kirche zur Taufe von Pia erschienen.

Mike erinnerte sich, wie sie sich vor Karina Maries Befreiung von der SUNDOWNER im Wasser in den Arm genommen und skandiert hatten: »Einer für alle, alle für eine, für Karina Marie!« Mike musste innerlich schmunzeln. Er hatte bei dem Wort alle damals einen Schwall Meerwasser geschluckt.

Sie waren so oft mit dem Tod konfrontiert. Aber es betraf immer die anderen.

Marcs Kopf sank herunter. Nach einer Weile raffte er sich auf, ging zur Kerze und drückte sie aus. Wohl, weil er das Treffen beenden wollte. Aber es war vielleicht mehr. Nur Jelke wusste um die wichtige Bedeutung, wenn ein Trauernder das Licht auslöscht.

»Ich muss in die Falle. Es wäre schön, wenn ihr mir die Medien draußen vom Halse haltet. Und Jelke, könntest du heute im Haus bleiben? Das Bett im Gästezimmer hat Marie bezogen.«

Er hatte kaum den Namen ausgesprochen, da drohte er wieder wegzusacken. Tom sprang auf ihn zu und führte ihn die Treppe hoch. Marc nahm es dankbar an.

ALPHA 1 sicherte in dieser ersten Nachthälfte das Gebäude, dann übernahm ALPHA 2. Am nächsten Morgen würden sie sich bei Jelke kurz abmelden. Jelke meldete ihrerseits den Einsatz bei der Notfallseelsorge als beendet, holte ihr Nachtzeug aus ihrer Wohnung und kam nur wenig später zurück. Sie sah, dass die Tatortreiniger die Straße wieder gesäubert hatten, nur die Reste einer Kreidestrichzeichnung waren noch zu sehen. Es war gut, dass Marc das nicht mehr wahrnehmen musste.

Jelke saß allein im Wohnzimmer und schaute sich um. Alles, was sie in diesem Haus sah, zeigte die Handschrift ihrer besten Freundin. Die leichten skandinavischen Möbel und Lampen, die weiße, schlichte Bücherwand mit umfangreicher Reiseliteratur und Bildbänden von Schiffen. Die Glaskunst an den Sprossenfenstern, deren zarte weiße Gardinen, der kleine Kapitänsschreibtisch, das Geschenk ihres Vaters und Pias Wiege, deren Kleidungsstücke und Spielsachen, die so herumlagen, als würde sie gleich hereinlaufen.

Wo war Pia wohl? War sie verschleppt worden? Wie würde sie behandelt werden, und worum ging es hier?

Sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt einen Schluck Alkohol gebrauchen könnte und fand auf einem Beistelltisch eine angebrochene Flasche Eierlikör. Sie wusste, dass Karina Marie ihn selbst gemacht hatte. Er schmeckte wunderbar.

Jelke war tief gläubig. Was immer geschah, vom Anfang bis zum Ende, ergab für sie einen Sinn. Sie zürnte nicht mit ihrem Gott, dass er dieses entsetzliche Unglück zugelassen hatte, sie nahm es an. Schon deshalb, weil sie in ihrem Leben einen Gott sah, der sie frei agieren ließ, und sie stets, so glaubte sie, wieder aufhob, wenn sie gefallen war. Glaube und Vertrauen waren ihr Fundament, nicht ihre Zweifel, sonst hätte sie gar keine seelsorgerische Tankstelle für andere Menschen sein können.

Am Telefon sah sie, dass der Anrufbeantworter blinkte. Sie würde es Marc gleich morgen früh sagen. Morgen würde er vermutlich Karina Marie sehen wollen. Wie sie wohl ausschauen würde? Würde er das aushalten können?

Und sie selbst? Was alles würde danach noch passieren?

Sie wusste nicht annähernd, wie tief sie noch fallen würde.


Omega

Подняться наверх